Das Sankt Rochusfest
Sankt Rochus war aus Montpellier gebürtig, und hieß sein Vater Johann, die Mutter aber Libera, und zwar hatte dieser Johann nicht nur Montpellier, sondern auch noch andere Orte unter seiner Gewalt, war aber ein frommer Mann und hatte lange Zeit ohne Kindersegen gelebt, bis er seinen Rochus von der heiligen Maria erbeten, und brachte das Kind ein rotes Kreuz auf der Brust mit auf die Welt. Wenn seine Eltern fasteten, mußte er auch fasten, und gab ihm seine Mutter an einem solchen Tag nur einmal ihre Brust zu trinken. Im fünften Jahre seines Alters fing er an, sehr wenig zu essen und zu trinken; im zwölften legte er allen Ueberfluß und Eitelkeit ab und wendete sein Taschengeld an die Armen, denen er sonderlich viel Gutes that. Er bezeigte sich auch fleißig im Studieren und erlangte bald großen Ruhm durch seine Geschicklichkeit, wie ihn dann auch noch sein Vater auf seinem Totenbette durch eine bewegliche Rede, die er an ihn hielt, zu allem Guten vermahnte.
Er war noch nicht zwanzig Jahre alt, als seine Eltern starben, da er dann all sein ererbtes Vermögen unter die Armen austeilte, das Regiment über das Land niederlegte, nach Italien reiste und zu einem Hospital kam, darinnen viele ansteckende Kranke lagen, denen er aufwarten wollte; und ob man ihn gleich nicht alsobald hineinließ, sondern ihm die Gefahr vorstellte, so hielt er doch ferner an, und als man ihn zu den Kranken [78] ließ, machte er sie alle durch Berührung mit seiner rechten Hand und Bezeichnung mit dem heiligen Kreuz gesund. Sodann begab er sich ferner nach Rom, befreite auch allda nebst vielen anderen einen Kardinal von der Pest und hielt sich in die drei Jahre bei demselben auf. Als er aber selbst endlich auch von dem schrecklichen Uebel befallen wurde und man ihn in das Pesthaus zu den anderen brachte, wo er wegen grausamer Schmerzen manchmal entsetzlich schreien mußte, ging er aus dem Hospital und setzte sich außen vor die Thüre hin, damit er den anderen durch sein Geschrei nicht beschwerlich fiele; und als die Vorbeigehenden solches sahen, meinten sie, es wäre aus Unachtsamkeit der Pestwärter geschehen; als sie aber hernach das Gegenteil vernahmen, hielt ihn jedermann für thöricht und unsinnig, und so trieben sie ihn zur Stadt hinaus, da er denn, unter Gottes Geleit, durch Hilfe seines Stabes allgemach in den nächsten Wald fortkroch. Als ihn aber der große Schmerz nicht weiter fortkommen ließ, legte er sich unter einen Ahornbaum und ruhete daselbst ein wenig, da denn neben ihm ein Brunnen entsprang, woraus er sich erquickte. Nun lag nicht weit davon ein Landgut, wohin sich viele Vornehme aus der Stadt geflüchtet, darunter einer Namens Gotthardus, welcher viele Knechte und Jagdhunde bei sich hatte. Da ereignet sich aber der sonderbare Umstand, daß ein sonst sehr wohlgezogener Hund ein Brot vom Tische wegschnappt und davonläuft. Obgleich abgestraft, ersieht er seinen Vorteil den zweiten Tag wieder und entflieht glücklich mit der Beute. Da argwöhnt der Graf irgend ein Geheimnis und folgt mit den Dienern. Dort finden sie denn unter dem Baum den sterbenden frommen Pilger, der sie ersucht, sich zu entfernen, ihn zu verlassen, damit sie nicht vom gleichen Uebel angefallen würden. Gotthardus aber nahm sich vor, den Kranken nicht ehe er gesund von sich zu lassen, und versorgte ihn zum besten.
Als nun Rochus wieder ein wenig zu Kräften kam, begab er sich vollends nach Florenz, heilte daselbst viele von der Pest und wurde selbst durch eine Stimme vom Himmel völlig wiederhergestellt. Er beredete auch Gotthardus dahin, daß dieser sich entschloß, mit ihm seine Wohnung in dem Walde aufzuschlagen und Gott ohne Unterlaß zu dienen, welches auch Gotthardus versprach, wenn er nur bei ihm bleiben wollte; da sie sich denn eine geraume Zeit mit einander in einer alten Hütte aufhielten, und [79] nachdem endlich Rochus den Gotthardus zu solchem Eremitenleben genugsam eingeweiht, machte er sich abermals auf den Weg und kam nach einer beschwerlichen Reise glücklich wieder nach Hause und zwar in seine Stadt, die ihm ehemals zugehört und die er seinem Vetter geschenkt hatte. Allda nun wurde er, weil es Kriegszeit war, für einen Kundschafter gehalten und vor den Landesherrn geführt, der ihn wegen der großen Veränderung und armseligen Kleidung nicht mehr kannte, sondern in ein hart Gefängnis setzen ließ. Er aber dankte seinem Gott, daß er ihn allerlei Unglück erfahren ließ und brachte fünf ganze Jahre im Kerker zu; wollte es auch nicht einmal annehmen, wenn man ihm etwas Gekochtes zu essen brachte, sondern kreuzigte noch dazu seinen Leib mit Wachen und Fasten. Als er merkte, daß sein Ende nahe sei, bat er die Bedienten des Kerkermeisters, daß sie ihm einen Priester holen möchten. Nun war es eine sehr finstere Gruft, wo er lag; als aber der Priester kam, wurde es hell, darüber dieser sich höchlich verwunderte, auch, sobald er Rochus ansahe, etwas Göttliches an ihm erblickte und vor Schrecken halbtot zur Erde fiel, auch sich sogleich zum Landesherrn begab und ihm anzeigte, was er erfahren; und wie Gott wäre sehr beleidigt worden, indem man den frömmsten Menschen so lange Zeit in einem so beschwerlichen Gefängnis aufgehalten. Als dieses in der Stadt bekannt geworden, lief jedermann häufig nach dem Turm. St. Rochus aber wurde von einer Schwachheit befallen und gab seinen Geist auf. Jedermann aber sah durch die Spalten der Thür einen hellen Glanz hervordringen; man fand auch bei Eröffnung den Heiligen tot und ausgestreckt auf der Erde liegen und bei seinem Haupt und den Füßen Lampen brennen; darauf man ihn auf des Landesherrn Befehl mit großem Gepränge in der Kirche begrub. Er wurde auch noch an dem roten Kreuz, so er auf der Brust mit auf die Welt gebracht hatte, erkannt, und war ein großes Heulen und Lamentieren darüber entstanden. Solches geschah im Jahre 1327 den 16. August; und ist ihm auch nach der Zeit zu Venedig, allwo nunmehro sein Leib verwahret wird, eine Kirche zu Ehren gebaut worden.
Als nun im Jahre 1414 zu Konstanz ein Konzilium gehalten wurde und die Pest allda entstand, auch nirgends Hülfe vorhanden war, ließ die Pest alsobald nach, sobald man diesen Heiligen anrief und ihm zu Ehren [80] Prozessionen anstellte. Bei Bingen wurde ihm die Rochuskapelle im Jahre 1666 zum Andenken an das Aufhören einer furchtbar wütenden Pest erbaut; sie wurde ein Wallfahrtsort. Aber zu großer Betrübnis der Gegend war dieses Gotteshaus während der Freiheitskriege verwüstet worden, wenn auch nicht aus Willkür und Mutwillen, so doch, weil hier ein Posten die ganze Gegend überschauen und einen Teil derselben beherrschen konnte. So war das Gebäude denn aller gottesdienstlichen Erfordernisse, ja, aller Zierden beraubt, durch Bivuaks angeschmaucht und verunreinigt, ja, durch Pferdestallung geschändet worden.
Deswegen aber war der Glaube an den Heiligen nicht gesunken, welcher auf Gelübde hört und Pest und ansteckende Krankheiten abwendet. Freilich war an Wallfahrten hierher nicht zu denken gewesen, denn vorsichtig und argwöhnisch verbot der Feind alle frommen Auf- und Umzüge als gefährliche Zusammenkünfte. Beförderten sie doch Gemeinsinn und begünstigten Verschwörungen. Von 1789 bis 1813 konnte daher kein Fest bei der St. Rochuskapelle gefeiert werden. Doch wurden benachbarte Gläubige, welche von dem Vorteile örtlicher Wallfahrt sich überzeugt fühlten, durch große Not gedrängt, das Äußerste zu versuchen. Hiervon erzählen die Rüdesheimer folgendes merkwürdige Beispiel. In tiefer Winternacht erblickten sie einen Fackelzug, der sich ganz unerwartet von Bingen aus den Hügel hinauf bewegte, endlich um die Kapelle versammelte und dort, wie man vermuten mußte, seine Andacht verrichtete. Inwiefern die damaligen französischen Behörden dem Drange dieser Gelobenden nachgesehen, da man sich ohne Vergünstigung dergleichen wohl kaum unterfangen hätte, ist niemals bekannt geworden, sondern das Geschehene blieb in tiefster Stille begraben. Alle Rüdesheimer jedoch, die ans Ufer laufend von diesem Schauspiele Zeugen waren, versicherten, seltsamer und schauderhafter in ihrem Leben nichts gesehen zu haben. Am 16. August 1814 sah man an einer Seite der Kapelle des heiligen Rochus noch Rüststangen. Doch wurde die Kapelle des heiligen Rochus gerade damals vom Kriegsverderben wieder hergestellt. Mit allem für die Andacht der Wallfahrer Nötigen ward die Kirche versehen. Ein italienischer Gipsgießer schwenkte schon einen Tag vor dem Feste und in etwas weiterer Entfernung sein wohlbeladenes Brett gar kühnlich im Gleichgewichte. Die darauf schwebenden Figuren waren [81] nicht etwa, wie man sie in Norddeutschland wohl antrifft, farblose Götter- und Helden-Bilder, sondern der frohen Gegend gemäß bunt angemalte Heilige. Die Mutter Gottes thronte über allen. Aus den vierzehn Nothelfern waren die vorzüglichsten auserlesen. Der heilige Rochus in schwarzer Pilgerkleidung stand voran, neben ihm sein brottragendes Hündlein. Die ganze umliegende Gegend war in Bewegung, alte und neue Gelübde dankbar abzutragen. In der Kapelle des heiligen Rochus wollte man seine Sünden bekennen und Vergebung erhalten. Auch sollte der gehinderte, unterbrochene, ja oft aufgehobene Wechselverkehr der beiden Rheinufer, der am besten durch diesen Heiligen unterhalten wurde, glänzend wiederhergestellt werden. Mancher wollte auch nur in der Masse der zu erwartenden Fremden längst vermißten Freunden wieder begegnen.
Eine Gesellschaft aus Wiesbaden, in welcher sich der Dichter Goethe als Kurgast befand, wollte dem Feste gleichfalls beiwohnen. Man hielt die letzte Rast im Gasthofe zur Krone zu Rüdesheim. Er war an einem alten Turme angebaut und ließ aus den vorderen Fenstern rheinabwärts, aus der Rückseite rheinaufwärts blicken. Doch suchten die Gäste bald in’s Freie zu kommen. Ein vorspringender Steinbau war der Platz, wo man die Gegend am reinsten überschaute. Flußaufwärts sah man von hier aus die bewachsenen Auen in ihrer ganzen perspektivischen Schönheit; unterwärts am gegenseitigen Ufer Bingen, weiter hinabwärts den Mäuseturm im Flusse.
Von Bingen heraufwärts erstreckt sich nahe am Strome ein Hügel gegen das obere flache Land. An seinem östlichen Ende sieht man die dem heiligen Rochus gewidmete Kapelle.
Die Gesellschaft aus Wiesbaden besuchte an diesem Tage das weit sich erstreckende Rüdesheim hinabgehend das alte römische Kastell, welches sich durch seine treffliche Mauerung dort erhalten hat. Man trat daselbst in einen brunnenartigen Hof. Der Raum ist eng, hohe schwarze Mauern steigen wohlgefügt in die Höhe, rauh anzusehen, denn die Steine sind äußerlich unbehauen, eine kunstlose Rustica. Die steilen Wände sind durch neuangelegte Treppen ersteiglich; in dem Gebäude selbst findet man einen eigenen Kontrast wohleingerichteter Zimmer und großer, wüster, von Wachfeuern und Rauch geschwärzter Gewölbe. Man windet sich stufenweise durch finstere Mauerspalten hindurch und findet zuletzt auf turmartigen Zinnen [82] die herrlichste Aussicht. Nun wandeln wir in der Luft hin und wieder, indessen wir Gartenanlagen, in den alten Schutt gepflanzt, neben uns bewundern. Durch Brücken sind Türme, Mauerhöhen und Flächen zusammengehängt, heitere Gruppen von Blumen und Strauchwerk dazwischen; sie waren diesmal regenbedürftig wie die ganze Gegend.
Als die Gesellschaft am Abend in den Gasthof zurückkehrte, hörte sie ein fortwährendes Kanonieren von der Kapelle her. Dieser kriegerische Klang gab Veranlassung, später an der Wirtstafel dieses hohen Hügelpunktes ganz besonders als eines militärischen Postens zu gedenken. Indessen hatte sich im Gasthofe ein Fremder eingefunden und mit zu Tische gesetzt. Einige Anwesende ergingen sich um so unbefangener zum Lobe des Heiligen, als sie auch den Fremden für einen Wallfahrer hielten. Allein zu großer Verwunderung der Gesellschaft fand sich, daß er, obgleich Katholik, doch gewissermaßen ein Widersacher des Heiligen sei. An einem 16. August, als am Fasttage, da so viele den heiligen Rochus verehrten, brannte ihm das Haus ab. Ein anderes Jahr an demselben Tage wurde sein Sohn blessiert. Den dritten Fall wollte er nicht bekennen.
Ein kluger Gast versetzte darauf: bei einzelnen Fällen komme es hauptsächlich darauf an, daß man sich an den eigentlichen Heiligen wende, in dessen Fach die Angelegenheit gehöre. Der Feuersbrunst zu wehren, sei St. Florian beauftragt; den Wunden verschaffe St. Sebastian Heilung; was den dritten Punkt betreffe, so wisse man nicht ob St. Hubertus vielleicht Hülfe geschafft hätte. Im übrigen sei den Gläubigen genugsamer Spielraum gegeben, da im ganzen vierzehn heilige Nothelfer aufgestellt worden wären. Man ging die Tugenden derselben durch und fand, daß es nicht Nothelfer genug geben könne.
Um dergleichen selbst in heiterer Stimmung immer bedenkliche Betrachtungen loszuwerden, trat man hinaus unter den brennend gestirnten Himmel und verweilte so lange, daß der darauf folgende Schlaf als Null betrachtet werden konnte, da er die Gäste, noch vor Sonnenaufgang verließ. Sie traten sogleich wieder heraus, um nach den grauen Rheinschluchten hinzuschauen. Ein frischer Wind, günstig den Herüber- wie Hinüberfahrenden, blies von dort her ins Angesicht.
Schon jetzt waren die Schiffer sämmtlich rege und beschäftigt. Die [83] Segel wurden bereitet; man feuerte von oben, den Tag anzufangen, wie man ihn abends angekündigt hatte. Schon zeigten sich einzelne sogar gesellig verbundene Figuren als Schattenbilder am klaren Himmel um die Kapelle und auf dem Bergrücken, aber Strom und Ufer waren noch wenig belebt. Jedoch bald darauf waren die Abfahrenden schon in lebhafter Bewegung. Sie strömten massenweise an Bord, und ein überfülltes Schiff nach dem andern stieß vom Ufer. Drüben am Ufer her sah man Scharen ziehen, Wagen fahren; Schiffer aus den oberen Gegenden landeten daselbst, denn bergaufwärts wimmelte es bunt von Menschen, welche bemüht waren, auf mehr oder weniger jähen Fußpfaden bergan zu steigen. Fortwährendes Kanonieren deutete auf eine Folge wallfahrender Ortschaften.
Nun war es Zeit! Auch die Gesellschaft aus der Krone zu Rüdesheim befand sich mitten auf dem Flusse. Segel und Ruder von ihrem Schifflein wetteiferten mit Segel und Ruder von hundert anderen Schiffen. Dann stiegen die Fremden aus. Den steilsten, im Zickzack über Felsen springenden Stieg erklommen sie mit Hundert und aber Hunderten, langsam, öfters rastend und scherzend.
Oben um die Kapelle fand man Drang und Bewegung. Man gelangte selbst mit hinein. Der innere Raum bildete ein beinahe gleiches Viereck, jede Seite von etwa dreißig Fuß, das Chor im Grunde vielleicht zwanzig. Hier stand der Hauptaltar, nicht modern, aber im wohlhäbigen katholischen Kirchengeschmacke. Er stieg hoch in die Höhe, und die Kapelle überhaupt hatte ein recht freies Ansehen. Zwei ähnliche Altäre in den nächsten Ecken des Hauptvierecks waren nicht beschädigt, – alles wie vorzeiten. Die Menge bewegte sich von der Hauptthür gegen den Hochaltar, wandte sich dann links, wo sie einer im Glassarge liegenden Reliquie große Verehrung bezeigte. Sie betastete den Kasten, bestrich ihn, segnete sich und verweilte so lange sie konnte; aber einer verdrängte den andern, und so ward auch die Gesellschaft aus Wiesbaden im Strome vorbei zur Seitenpforte hinausgeschoben.
Diese Gesellschaft wurde von einem in der Gegend sehr angesehenen nassauischen Beamten geführt. Zu demselben traten einige ältere Männer aus Bingen. Sie rühmten ihn als einen guten und hülfreichen Nachbar, ja, als den Mann, der ihnen das damalige Fest mit Anstand zu feiern [84] erst möglich gemacht habe. Bei dieser Gelegenheit erfuhr die Gesellschaft, daß nach Aufhebung des Klosters Eilingen die inneren Kirchenerfordernisse, Altäre, Kanzel, Orgel, Bet- und Beichtstühle an die Gemeinde zu Bingen zu völliger Einrichtung der Rochuskapelle um ein Billiges überlassen worden war. Da man sich nun von protestantischer Seite dergestalt förderlich erwiesen hatte, so hatten sämmtliche Bürger von Bingen gelobt, gedachte Stücke persönlich herüber zu schaffen. Sie waren denn auch nach Eilingen gezogen und hatten alles sorgfältig abgenommen. Der Einzelne hatte sich kleinerer, mehrere der größeren Teile bemächtigt. So hatten sie, Ameisen gleich, Säulen und Gesimse, Bilder und Verzierungen herab an das Wasser getragen. Dort waren sie, gleichfalls dem Gelübde gemäß, von Schiffern eingenommen, übergesetzt, am linken Ufer ausgeschifft und abermals auf frommen Schultern die mannigfaltigen Pfade hinaufgetragen. Da nun das alles zugleich geschah, so hatte man, von der Kapelle herabschauend, über Land und Fluß den wunderbarsten Zug sehen können, indem Geschnitztes und Gemaltes, Vergoldetes und Lackirtes in bunter Reihenfolge sich bewegte; dabei genoß man des angenehmen Gefühls, daß jeder unter seiner Last und bei seiner Bemühung Segen und Erbauung für sein ganzes Leben hoffen durfte. Die Orgel wurde damals noch nicht mit herübergeschafft, sollte aber später auf einer Galerie, dem Hauptaltare gegenüber, Platz finden. Auf diese Weise löste sich erst das Rätsel, wie es möglich war, daß alle diese Zierden schon verjährt und doch wohl erhalten, unbeschädigt und doch nicht neu in einem erst hergestellten Raume sich damals zeigen konnten.
Der damalige Zustand des Gotteshauses war den Reisenden um so erbaulicher, als sie dabei an den besten Willen, wechselseitige Beihülfe, planmäßige Ausführung und glückliche Vollendung erinnert wurden. Denn daß alles mit Ueberlegung geschehen war, erhellte aus folgendem. Der Hauptaltar aus einer weit größeren Kirche sollte hier Platz finden. Die Verehrer des heiligen Rochus entschlossen sich, die Mauern um mehrere Fuß zu erhöhen, wodurch sie einen anständigen, ja reichlich verzierten Raum gewannen. Der ältere Gläubige konnte nun auf dem linken Ufer an demselben Altar knieen, vor welchem er von Jugend an auf dem rechten gebetet hatte.
[85] In jenem Kloster war auch die Verehrung der Gebeine des heiligen Ruprecht üblich gewesen. Diese Überreste des heiligen Ruprechts, die man sonst zu Eilingen gläubig berührt und als hülfreich gepriesen hatte, fand man nun hier wieder. Und so manchen belebte ein freudiges Gefühl, einem längst erprobten Gönner wieder in die Nähe zu treten. Hierbei bemerkte man wohl, daß es sich nicht geziemt hätte, diese Heiligtümer in den Kauf mit einzuschließen oder zu irgend einem Preis anzuschlagen; nein, sie kamen vielmehr durch Schenkung als fromme Zugabe gleichfalls nach St. Rochus.
Bald wurden auch unsere Reisenden vom Gewühl ergriffen; tausend Gestalten stritten sich um ihre Aufmerksamkeit. Diese Völkerschaften waren an Kleidung und Tracht nicht von einander verschieden, aber von der mannigfaltigsten Gesichtsbildung. Das Getümmel jedoch ließ keine Vergleichung aufkommen. Allgemeine Kennzeichen suchte man vergebens in der augenblicklichen Verworrenheit. Man verlor den Faden der Betrachtung, man ließ sich ins Leben hineinziehen.
Eine Reihe von Buden, wie sie ein Kirchweihfest erfordert, stand unfern der Kapelle. Voran geordnet sah man Kerzen, gelbe, weiße, gemalte, dem verschiedenen Vermögen der Weihenden angemessen. Gebetbücher folgten, Officien zu Ehren des Gefeierten. Rosenkränze aller Art fanden sich häufig. Sodann aber war auch für Wecken, Semmeln, Pfeffernüsse und mancherlei Buttergebackenes gesorgt. Durch Galanteriewaaren und Spielsachen sollten Kinder verschiedenen Alters angelockt werden.
Die Prozessionen dauerten fort. Dörfer unterschieden sich von Dörfern. Die Kinder waren schön, die reifere Jugend nicht. Die alten Gesichter erschienen sehr ausgearbeitet; mancher Greis befand sich darunter. Sie zogen mit Angesang und Antwort. Fahnen flatterten, Standarten schwankten, eine gewaltige und mitunter ganz große Kerze erhob sich Zug für Zug. Jede Gemeinde hatte ihre Mutter Gottes, von Kindern und Jungfrauen getragen, neu gekleidet, mit vielen rosenfarbenen, reichlichen, im Winde flatternden Schleifen geziert. Anmutig und einzig war ein Jesuskind, welches ein großes Kreuz hielt und das Marterinstrument freundlich anblickte. „Ach!“ rief ein zartfühlender Zuschauer, „ist nicht jedes Kind, das fröhlich in die Welt hineinsieht, in demselben Falle?“ Sie hatten es [86] in neuen Goldstoff gekleidet, und es nahm sich als Jugendfürstchen gar hübsch und heiter aus.
Eine große Bewegung aber verkündete, nun komme die Hauptprozession von Bingen herauf. Man eilte den Hügelrücken ihr entgegen, und nun erstaunte man auf einmal über den schönen herrlich veränderten Landschaftsblick in eine ganz neue Scene. Hier die Stadt, an sich wohl gebaut und erhalten, Gärten und Baumgruppen um sie her, am Ende eines wichtigen Thales, wo die Nahe herauskommt! Und dort der Rhein, der Mäuseturm, der Ehrenfels! Im Hintergrunde die ernsten und grauen Felswände, in die sich der mächtige Fluß eindrängt und verbirgt!
Die Prozession kam herauf, gereiht und geordnet wie die übrigen: vorweg die kleinsten Knaben, Jünglinge und Männer hinterdrein. Dazu der heilige Rochus getragen, im schwarzsammetnen Pilgerkleide und einem langen Königsmantel von gleichem Stoff, unter welchem ein kleiner Hund, das Brot zwischen den Zähnen haltend, hervorschaute. Sogleich folgten mittlere Knaben in kurzen schwarzen Pilgerkutten, Muscheln auf Hut und Kragen, Stäbe in den Händen. Dann traten ernste Männer heran, weder für Bauern noch für Bürger zu halten. An ihren ausgearbeiteten Gesichtern erkannte man vielmehr die Schiffer: Menschen, die ein gefährliches, bedenkliches Handwerk, wo jeder Augenblick sinnig beachtet werden muß, ihr ganzes Leben über sorgfältig betreiben.
Ein rotseidener Baldachin wankte herauf. Unter ihm verehrte man das Hochwürdigste, vom Bischof getragen, von würdigen Geistlichen umgeben, von österreichischen Kriegern begleitet, gefolgt von zeitigen Autoritäten. So ward vorgeschritten, um dies Fest zu feiern, welches 1814 eine politisch-religiöse Bedeutung hatte und für ein Symbol gelten sollte des wiedergewonnenen linken Rheinufers, sowie der Glaubensfreiheit an Zeichen und Wunder. Bei diesem wundersamen und heiteren neuen Ereignisse waren die Kinder sämmtlich froh, wohlgemut und behaglich. Die jungen Leute dagegen traten gleichgültig einher. Geboren in böser Zeit wurden sie an nichts erinnert, und wer sich des Guten nicht erinnert, der hofft nicht. Die Alten aber waren alle gerührt wie von einem glücklichen, für sie unnütz zurückkehrenden Zeitalter. Daraus ist zu ersehen, daß des Menschen Leben nur insofern etwas wert ist, als es eine Folge hat.
[87] Nun aber ward von diesem edlen und vielfach würdigen Vorfall der Betrachter in unschicklicher Weise abgezogen durch einen Lärm im Rücken, durch ein wunderliches, heftiges und gemeines Geschrei. Auch hier wiederholte sich die Erfahrung, daß ernste, traurige, ja schreckliche Schicksale oft durch ein unvorhergesehenes abgeschmacktes Ereigniß, ein lächerliches Zwischenspiel, unterbrochen werden.
An dem Hügel rückwärts entstand ein seltsames Rufen. Es waren nicht Töne des Haders, des Schreckens, der Wut, aber doch wild genug. Zwischen Gestein und Busch und Gestrüpp lief eine aufgeregte Menge hin und wieder. Halt! – Hier! – Da! – Dort! – Nun! – Hier! – Nun heran! – so schallte es mit allerlei Tönen. Hunderte beschäftigten sich mit hastigem Ungestüm durch Laufen und Springen, Jagen und Verfolgen. Erst in dem Augenblicke als der Bischof mit dem hochehrwürdigen Zuge die Höhe erreichte, ward das Rätsel gelöst.
Ein flinker derber Bursche lief hervor, einen blutenden Dachs behaglich vorzuweisen. Das arme schuldlose Tier, durch die Bewegung der andringenden fremden Menge aufgeschreckt, abgeschnitten von seinem Bau, wurde am schonungsreichsten Feste von den immer unbarmherzigen Menschen im segensvollsten Augenblicke getötet. Gleichgewicht und Ernst war jedoch alsobald wiederhergestellt und die Aufmerksamkeit auf eine neue, stattlich heranziehende Prozession gelenkt. Denn indem der Bischof nach der Kirche zu wallte, trat die Gemeinde von Lidenheim so zahlreich als anständig heran.
Alles drängte sich nun gegen die Kapelle. Unsere Reisenden, durch die Menge seitwärts geschoben, verweilten im Freien, um an der Rückseite des Hügels die weite Aussicht zu genießen, die sich in das Thal eröffnet, in welchem die Nahe ungesehen heranschleicht. Hier beherrscht ein gesundes Auge die fruchtbare mannigfaltige Gegend bis zu dem Fuße des Donnersberges, dessen mächtiger Rücken den Hintergrund majestätisch abschließt.
An dieser für die Aussicht so günstigen Stelle standen Gezelte, Buden, Bänke und Schirme aller Art aufgereiht. Ein willkommener Geruch gebratenen Fettes drang den Fremden entgegen. Sie fanden eine thätige junge Wirtin, eines Metzgers Tochter, die damit umging, in einem weiten glühenden Aschenhaufen frische Würste zu braten. Durch eigenes Handreichen [88] und die unablässige Bemühung flinker Diener wußte sie einer solchen Masse zuströmender Gäste genug zu thun. Auch die Reisenden aus Wiesbaden, mit fetter dampfender Speise, mit frischem Brote reichlich versehen, bemühten sich, an einem geschirmten langen und schon besetzten Tische Platz zu finden.
Freundliche Leute rückten zusammen, und man erfreute sich einer angenehmen, ja liebenswürdigen Gesellschaft, die von dem Ufer der Nahe zu dem erneuerten Feste gekommen war. Muntere Kinder tranken Wein wie die Alten. Braune Krüglein mit dem weißen Namenszuge des Heiligen machten im Familienkreise die Runde. Auch unsere Reisenden hatten solche Krüglein angeschafft und setzten sie wohlgefüllt vor sich nieder. Da wurde ihnen der große Vorteil solcher Volksversammlungen klar, wodurch bei einem etwas höheren Interesse aus einem großen weitschichtigen Kreise so viele einzelne Strahlen nach einem Mittelpunkte hingezogen werden. Dabei thun sich sogar neue Kenntnisse auf, und man unterrichtet sich selbst von mehreren Provinzen. Durch solche Betrachtungen wurde aber der Genuß des Weines nicht unterbrochen. Die Gesellschaft sandte ihre leeren Gefäße zu dem Schenken, welcher sie ersuchen ließ, Geduld zu haben, bis die vierte Ohm angestochen sei. Die dritte war in der frühen Morgenstunde schon verzapft worden.
So konnte es denn nicht fehlen, daß ein Hauptgegenstand des Gespräches der Wein blieb. Da erhob sich denn sogleich ein Streit über den Vorzug der verschiedenen Gewächse. Hier war es erfreulich zu sehen, daß die Magnaten unter den Weinen keinen Rangstreit hatten. Hochheimer, Johannisberger, Rüdesheimer lassen einander gelten. Nur in Bezug auf die Weine geringeren Ranges herrscht Eifersucht und Neid. Hier ist denn besonders der sehr beliebte rote Aßmannshäuser vielen Anfechtungen unterworfen. Ein Weinbesitzer von Ober-Ingelheim behauptete, der ihrige gebe jenem nur wenig nach. Der Eilfer, das heißt der Ober-Ingelheimer Wein von 1811 sei köstlich gewesen, davon sich kein Beweis mehr führen lasse, weil er schon ausgetrunken sei. Dies wurde von den Beisitzenden gar sehr gebilligt, weil man rote Weine gleich in den ersten Jahren genießen müsse.
Nun rühmte dagegen die Gesellschaft von der Nahe einen in ihrer Gegend wachsenden Wein, der Montzinger genannt. Er soll sich leicht [89] und angenehm wegtrinken, aber doch, ehe man sich’s versieht, zu Kopfe steigen.
An dem Tische, wo sich die Reisenden befanden, wurde über die Zahl der anwesenden Besucher und Wallfahrer gestritten. Nach Einiger Meinung sollten 10 000, nach Anderer mehr und dann noch mehr an jenem Tage auf dem Hügelrücken durcheinander wimmeln. Ein österreichischer Offizier mit militärischem Blicke bekannte sich zu dem höchsten Gebot. Noch mehrere Gespräche kreuzten sich.
Verschiedene Bauernregeln und sprichwörtliche Wetterprophezeiungen, welche im Jahre 1814 eingetroffen sein sollten, verzeichnete Goethe in sein Taschenbuch. Auch hier mögen sie Platz finden, weil sie auf die Landesart am Rhein und auf die wichtigsten Angelegenheiten seiner Bewohner hindeuten: Trockner April ist nicht der Bauern Will. – Wenn die Grasmücke singt, ehe der Weinstock sproßt, so verkündet es ein gutes Jahr. – Viel Sonnenschein im August bringt guten Wein. – Je näher das Christfest dem neuen Monde zufällt, ein desto härteres Jahr soll hernach folgen; so es aber gegen den vollen und abnehmenden Mond kommt, je gelinder es sein soll. – Die Fischer haben von der Hechtsleber dieses Merkmal, welches genau eintreffen soll: wenn dieselbe gegen das Gallenbläschen zu breit, der vordere Teil aber spitz und schmal ist, so bedeutet es einen harten und langen Winter. – Wenn die Milchstraße im Dezember schön weiß und hell scheint, so bedeutet es ein gutes Jahr. – Wenn die Zeit von Weihnachten bis drei König neblig und dunkel ist, sollen das Jahr darauf Krankheiten folgen. – Wenn in der Christnacht die Weine in den Fässern sich bewegen, daß sie übergehen, so hofft man auf ein gutes Weinjahr. – Wenn die Rohrdommel zeitig gehört wird, so hofft man auf eine gute Ernte. – Wenn die Bohnen übermäßig wachsen und die Eichbäume viel Frucht bringen, so giebt es wenig Getreide. – Wenn die Eulen und andere Vögel ungewöhnlich die Wälder verlassen, und häufig den Dörfern und Städten zufliegen, so giebt es ein unfruchtbares Jahr. – Kühler Mai giebt guten Wein und gutes Heu. – Nicht zu kalt und nicht zu naß, füllt die Scheuer und das Faß. – Reife Erdbeeren um Pfingsten bedeuten einen guten Wein. – Wenn es in der Walpurgisnacht regnet, so hofft man auf ein gutes Jahr. – [90] Ist das Brustbein von einer gebratenen Martinsgans braun, so bedeutet es Kälte, ist es weiß, Schnee.
Ein Bergbewohner, welcher diese vielen auf reiche Fruchtbarkeit hinzielenden Sprüche, wo nicht mit Neid, doch mit Ernst vernommen, wurde gefragt, ob auch bei ihnen dergleichen gang und gäbe wäre? Er versetzte darauf: mit so viel Abwechselung könne er nicht dienen, Rätselrede und Sagen sei bei ihnen nur einfach und heiße:
Morgens rund,
Mittags gestampft,
Abends in Scheiben;
Dabei soll’s bleiben
Es ist gesund.
Es sollen sich diese Reime auf die allzu häufige Kartoffelnahrung beziehen. Indessen freuten sich die Anderen über diese glückliche Genügsamkeit und manche versicherten, daß es Zeiten bei ihnen gäbe, wo sie zufrieden seien es ebenso zu haben.
Nun stand manche Gesellschaft gleichgültig auf und verließ den fast unübersehbaren Tisch. Andere grüßten und wurden gegrüßt. So verlor sich die Menge nach und nach. Nur die sich besonders liebgewonnen hatten, zauderten. Man verließ sich ungern, ja, man kehrte einigemal gegen einander zurück, das angenehme Weh eines solchen Abschiedes zu genießen, und versprach sich endlich zu einiger Beruhigung ein unmögliches Wiedersehen.
Außer den Zelten und Buden empfand man damals dort in der hohen Sonne sogleich den Mangel an Schatten, welchen jedoch bereits eine große neue Anpflanzung junger Nußbäume auf dem Hügelrücken dem heutzutage lebenden Geschlechte reichlich zusagte.
Eine neue Bewegung deutete auf ein neues Ereignis; man eilte zur Predigt, alles Volk drängte sich nach der Ostseite. Dort war das Gebäude noch nicht vollendet, hier standen noch Rüststangen, schon während des Baues diente man Gott. Ebenso war es, als in Wüsteneien von frommen Einsiedlern mit eigenen Händen Kirchen und Klöster errichtet wurden. Jedes Behauen, jedes Niederlegen eines Steines war Gottesdienst. Kunstfreunde erinnern sich der bedeutenden Bilder von Lesueur, [91] des heiligen Bruno Wandel und Wirkung darstellend. Also wiederholt sich alles Bedeutende im großen Weltgange, der Achtsame bemerkt es überall.
Diejenigen, welche der Predigt zuhörten, schauten zu dem reinen Gewölbe des Himmels hinauf. Das klarste Blau war von leicht hin schwebenden Wolken belebt. Alle standen auf hoher Stelle. Die Aussicht rheinaufwärts war licht, deutlich und frei. Den Prediger hatte die zahlreiche Gemeinde zur Linken über sich. Er sah sie vor sich rheinabwärts. Der Raum für die Zuhörer war eine große unvollendete Terrasse, ungleich und hinterwärts abhängig. Der Redner überschaute von oben eine wundersame stillschwankende Woge von Menschen. Der Platz, wo der Bischof der Predigt zuhörte, war nur durch den hervorragenden Baldachin bezeichnet, er selbst in der Menge verborgen und verschlungen. Die steinerne Kanzel, außen an der Kirchmauer von Kragsteinen getragen, war nur von innen zugänglich.
Der Prediger trat hervor, ein Geistlicher in den besten Jahren. Die Sonne stand hoch, daher ihm ein Knabe den Schirm überhielt. Er sprach mit klarer, verständlicher Stimme einen rein verständigen Vortrag. Seine Rede zeigte einen milden, Thätigkeit fordernden Geist und ist später von dem Dichter Goethe folgendermaßen aufgezeichnet worden:
„Andächtige, geliebte Zuhörer! In großer Anzahl besteigt ihr an dem heutigen Tage diese Höhe, um ein Fest zu feiern, das seit vielen Jahren durch Gottes Schickung unterbrochen worden. Ihr kommt, das vor kurzem noch entehrt und verwüstet liegende Gotteshaus hergestellt, geschmückt und eingeweiht zu finden, dasselbe andächtig zu betreten und die dem Heiligen, der hier besonders verehrt wird, gewidmeten Gelübde dankbar abzutragen. Da mir nun die Pflicht zukommt, an euch bei dieser Gelegenheit ein erbauliches Wort zu sprechen, so möchte wohl nichts besser an der Stelle sein, als wenn wir zusammen beherzigen, wie ein solcher Mann, der zwar von frommen, aber doch sündigen Eltern erzeugt worden, zur Gnade gelangt ist vor Gottes Thron zu stehen und für diejenigen, die sich im Gebet gläubig an ihn wenden, fürbittend Befreiung von schrecklichen, ganze Völkerschaften dahinraffenden Übeln, ja vom Tode selbst, erlangen kann?
Er ist dieser Gnade würdig geworden, so dürfen wir mit Zutrauen [92] erwidern, gleich allen denen, die wir als Heilige verehren, weil er die vorzüglichste Eigenschaft besaß, die alles übrige Gute in sich schließt, eine unbedingte Ergebenheit in Gottes Willen.
Denn obgleich kein sterblicher Mensch sich anmaßen dürfte, Gott gleich, oder demselben auch nur ähnlich zu werden, so bewirkt doch schon eine unbegrenzte Hingebung in seinen heiligen Willen die erste und sicherste Annäherung an das höchste Wesen.
Sehen wir doch ein Beispiel an Vätern und Müttern, die, mit vielen Kindern gesegnet, liebreiche Sorge für alle tragen. Zeichnet sich aber das eine oder das andere darunter durch Folgsamkeit und Gehorsam besonders aus, befolgt ohne Zaudern und Fragen die elterlichen Gebote, vollzieht es die Befehle sofort und beträgt sich dergestalt, als lebte es nur in und für die Erzeuger, so erwirbt es sich große Vorrechte. Auf dessen Bitte und Fürbitte hören die Eltern und lassen oft Zorn und Unmut, durch freundliche Liebkosungen besänftigt, vorübergehen. Also denke man sich, menschlicher Weise, das Verhältnis unseres Heiligen zu Gott, in welches er sich durch unbedingte Ergebung emporgeschwungen. Eine solche Ergebung in den Willen Gottes, so hoch verdienstlich sie auch gepriesen werden kann, wäre jedoch nur unfruchtbar geblieben, wenn der fromme Jüngling nicht seinen Nächsten so wie sich selbst geliebt hätte. Denn ob er gleich, vertrauensvoll auf die Fügungen Gottes, sein Vermögen unter die Armen verteilte, um als frommer Pilger das heilige Land zu erreichen, so ließ er sich doch von diesem preiswürdigen Entschluß unterwegs ablenken. Die große Not, worin er seine Mitchristen findet, legt ihm die unerläßliche Pflicht auf, den gefährlichsten Kranken beizustehen, ohne an sich selbst zu denken. Er folgt seinem Beruf durch mehrere Städte, bis er endlich, selbst vom wütenden Übel ergriffen, seinen Nächsten weiter zu dienen außer Stand gesetzt wird. Durch diese gefahrvolle Thätigkeit nun hat er sich dem göttlichen Wesen abermals genähert; denn wie Gott die Welt in so hohem Grade liebte, daß er zu ihrem Heil seinen einzigen Sohn gab, so opferte St. Rochus sich selbst seinen Mitmenschen.
Aber auch diese wichtige und schwere Handlung wäre von keinen seligen Folgen gewesen, wenn St. Rochus für so große Aufopferungen einen irdischen Lohn erwartet hätte. Solche gottseligen Thaten kann nur [93] Gott belohnen und zwar in Ewigkeit. Die Spanne der Zeit ist zu kurz für grenzenlose Vergeltung. Und so hat auch der Ewige unsern heiligen Mann für alle Zeiten begnadigt und ihm die höchste Seligkeit gewährt, nämlich anderen, wie er schon hienieden im Leben gethan, auch von oben herab für und für hülfreich zu sein.
Wir dürfen ihn daher in jedem Sinne als ein Muster betrachten, an welchem wir die Stufen unseres geistlichen Wachstums abmessen. Habt ihr nun in traurigen Tagen euch an ihn gewendet, und glückliche erlebt durch göttliche Huld, so beseitiget allen Übermut und anmaßliches Hochfahren; aber fragt euch demütig und wolgemut: haben wir denn seine Eigenschaften vor Augen gehabt? haben wir uns beeifert ihm nachzustreben?
Ergaben wir uns zur schrecklichsten Zeit, unter kaum erträglichen Lasten, in den Willen Gottes? Unterdrückten ein aufkeimendes Murren? Lebten wir einer getrosten Hoffnung, um zu verdienen, daß sie uns nun so unerwartet als gnädig gewährt sei? Haben wir in den gräßlichsten Tagen pestartig wütender Krankheiten nicht nur gebetet und um Rettung gefleht? Haben wir den Unserigen näher oder entfernter Verwandten und Bekannten, ja Fremden und Widersachern in dieser Not beigestanden um Gottes und des Heiligen willen unser Leben dran gewagt? Könnt ihr nun diese Fragen im stillen Herzen mit Ja beantworten, wie gewiß die meisten unter euch redlich vermögen, so bringt ihr ein löbliches Zeugnis mit nach Hause.
Dürft ihr sodann, wie ich nicht zweifle, noch hinzufügen: wir haben bei allem diesen an keinen irdischen Vorteil gedacht, sondern wir begnügten uns an der gottgefälligen That selbst, so könnt ihr euch um desto mehr erfreuen, keine Fehlbitte gethan zu haben und dem Fürbittenden ähnlicher geworden zu sein. Wachset und nehmet zu an diesen geistlichen Eigenschaften auch in guten Tagen, damit ihr zu schlimmer Zeit, wie sie oft unversehens hereinbricht, euch zu Gott durch seinen Heiligen mit Gelübde und Gebet wenden dürfet. Und so betrachtet auch künftig die wiederholten Wallfahrten hieher als erneute Erinnerungen, daß ihr dem Höchsten kein größeres Dankopfer darbringen könnt, als ein Herz gebessert und an geistlichen Gaben bereichert.“
[94] Die Aufmerksamkeit auf jedes Wort war groß. Alle einzeln herangekommenen Wallfahrer und alle vereinigten Gemeindeprocessionen standen hier versammelt, nachdem sie vorher ihre Standarten und Fahnen an die Kirche zur linken Hand des Predigers angelehnt hatten zu nicht geringer Zierde des Ortes. Erfreulich war es aber, nebenan in einem kleinen Höfchen sämmtliche herangetragene Bilder auf Gerüsten erhöht zu sehen. Drei Muttergottesbilder von verschiedener Größe standen neu und frisch im Sonnenschein. Die langen rosenfarbenen Schleifenbänder flatterten munter und lustig im lebhaftesten Zugwinde. Das Christuskind im Goldstoffe blieb immer freundlich. Der heilige Rochus schaute seinem eigenen Feste ruhig zu. Er war jetzt mehr als einmal vorhanden, doch stand die Gestalt im schwarzen Sammetkleide wie billig voran.
Die Predigt hatte gewiß für alle heilsam geendigt. Jeder hatte die deutlichen Worte vernommen und jeder die verständigen praktischen Lehren beherzigt. Der Bischof, der bisher im Freien unter seinem Baldachin geweilt hatte, kehrte zur Kirche zurück. Man vernahm aus derselben den Wiederhall des Te Deum. Das Ein- und Ausströmen der Menge war höchst bewegt, das Fest neigte sich zu seiner Auflösung. Die Processionen reihten sich um abzuziehen; die Lidenheimer, welche zuletzt angekommen waren, entfernten sich zuerst. –
Noch jetzt wird das St. Rochusfest gefeiert. Wenn die erste Traube reift, die dann den Altar des Heiligen schmückt, welchen das Volk, wie es heißt, auch als Schutzheiligen der Rebe verehrt, so gewinnt die kahle Höhe ein anderes Ansehen. Eine Stadt von Zelten entsteht, die für des Leibes Bedürfnis reiche Erquickungen darbietet, und die gewerbliche Thätigkeit entfaltet sich schon mehrere Tage vorher, Alles zu ordnen und zu bereiten, was dem müden Wallfahrer Labe gewähren kann. Endlich bricht der Morgen des Festes an. Das harmonische Geläute von Bingen und allen naheliegenden Orten des Rheingaues grüßt ihn, und der köstliche „Resonanzboden des Rheines“ trägt die ergreifenden, wundersamen Töne hinauf zu der steilen Höhe, das Gemüt dessen ergreifend und erhebend, der hier steht um die Festzüge und Processionen zu schauen, die mit wehenden Fahnen und Standarten, mit Musik und festlichen Gesängen sich der Kapelle nahen, welche auf des Berges Höhe ihre Thore öffnet.
[95] Der Dichter Goethe zog im Jahre 1814 mit der ruhigen und ernsten Binger Prozession nach Bingen hinab. In dem herrlich gelegenen Bingen angelangt, fand er jedoch daselbst keine Ruhe. Er wünschte vielmehr, wie er sagt, nach so viel wunderbaren, göttlichen und menschlichen Ereignissen sich geschwind in das derbe Naturbad zu stürzen. Ein Kahn führte ihn „die Strömung flußabwärts.“ Ueber[1] den Rest des alten Felsendammes, den Zeit und Kunst besiegten, glitt er hinab. Der märchenhafte Turm, auf unverwüstlichen Quarzsteinen gebaut, blieb ihm zur Linken, die Ebernburg rechts. Bald aber kehrte er für diesmal zurück, „das Auge voll von jenen graulichen, abschießenden Gebirgsschluchten, durch welche sich der Rhein seit ewigen Zeiten hindurcharbeitete.“ So wie den ganzen Morgen, begleitete ihn auch auf dem Rückwege die hohe Sonne, obgleich aufsteigende vorüberziehende Wolken zu einem ersehnten Regen Hoffnung gaben. Wirklich strömte endlich alles erquickend nieder, sodaß die Gesellschaft aus Wiesbaden auf ihrer Rückreise die ganze Landesgrenze neu belebt fand. So hatte denn, sagt Goethe, der heilige Rochus, wahrscheinlich auf andere Nothelfer einwirkend, seinen Segen auch außer seiner eigentlichen Obliegenheit reichlich erwiesen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Üeber