Der 2. Glaubensartikel/Gekreuziget

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Der 2. Glaubensartikel
Gestorben und begraben »
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Kol. 1, 18-20.
Gekreuziget!


 Es gibt kein Wort in der deutschen Sprache, das so verschiedenartige Empfindungen erweckt, als das erst in unserer Sprache entstandene, geschaffene, gleichsam von Gottes Geist geborene Wort: „Kreuz.“ Wir denken an das Schwerste, was dem Menschen auferlegt werden und widerfahren kann; wir denken an das Größte, was für den Menschen getragen und geschehen ist; wir denken an das rauhe, harte, einschneidende Holz, das auf unsere Schultern drückt und uns bis aufs Herz verwundet; wir denken wiederum an den großen, seligen Sieg, der am Kreuz errungen und von ihm gefestigt worden ist. Wir scheuen uns, dies Wort ins Leben zu nehmen und freuen uns, dies Wort im Leben zu haben. Wir ängsten uns um dieses Wort und wir danken, daß dasselbe Wort den höchsten Trost und die größte Freude nicht nur, sondern auch den ewigen gewissen Frieden, der die Welt überwindet, verbürgt und versiegelt. Nehmt das Kreuz Jesu Christi aus eurem Leben, dieses mißfarbene, mißgestaltete Holz des Fluches und der Schmach, und wenn euer Leben mit Rosen bekränzt und von Glanz erfüllt und von irdischer Majestät überstrahlt wäre, es bliebe doch ein Leben voll ungelöster Widersprüche und voll der schwersten Rätsel ohne Lösung und ohne Kraft. Seitdem aber in diese arme Welt das Kreuz eingesenkt ist – Zeichen der Schmach und des Sieges, Inbegriff der Torheit und der Weisheit, göttlicher Torheit und darum göttlicher Kraft – seitdem sprechen wir: nichts ist größer, freudiger und friedsamer als das Kreuz, und, unter dem einfachsten Worte des Glaubensartikels stehend, sagen wir heute: Gekreuziget! Jesus trug das Kreuz und litt das Kreuz und verklärte das Kreuz.


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I.
 Zum ersten Male kommt bei dem Herrn Jesus das Wort „Kreuz“ vor bei Matth. 10: „Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der ist mein nicht wert“ (Matth. 10, 38.) Das ist das Allererste, was der Herr Jesus, sobald er zum Selbstbewußtsein und zur Erfassung seiner eigenen Persönlichkeit gelangt war, in sich einnahm, daß er in der Nachfolge seines himmlischen Vaters das Kreuz tragen müsse. Es war Kreuz, als er auf Erden kam: hinter ihm die Freude der Heimat, vor ihm die Angst der Fremde; hinter ihm die Stille der Gottesruhe, vor ihm der Widerspruch der Sünder; hinter ihm alles Reiche, Reine und Schöne, um ihn alles Unwerte, Unedle und Unreine. Und er trug das Kreuz. Anfänglich klein und unscheinbar, wuchs es unter den Händen des gehorsamen Herrn zu einer Tageslast heran, die ihn sagen ließ: „Es ist genug, daß ein jeder Tag seine eigene Plage habe.“ (Matth. 6, 34.) Durch den Widerspruch der Sünder, durch den Unverstand der Jünger, durch die Unklarheit seiner Umgebung, durch die Heimatlosigkeit, die ihn auf Erden nirgends Ruhe finden ließ, durch die bitteren Gegensätze, in die er, der Reine, zur Sünde hingestellt ward, wuchs das Kreuz empor. Und ob er gleich an jedem neuen Tag seines Lebens die Aufgabe ernster und ihren Ernst schwerer und ihre Verantwortung reicher fand, er trug das Kreuz; denn er hatte es sich einmal gelobt und wollte es für immer halten: „Vater, dein Wille geschehe!“ (Matth. 26, 42.) Und wenn aller Menschenwille ihm Glück verhieß und der Eigenwille ihm Frieden zusicherte und das Gefallen an ihm selber ihn lockte – er hat alles weggelegt um des einigen Ruhmes willen, daß er gehorsam wäre seinem Herrn. Das ist das Kreuz, das der Herr Jesus trug. Aus der täglichen Pflicht des Gehorsams, aus dem Ernst der Selbsthingabe und Selbstaufopferung wurde das Kreuz nicht kleiner, sondern immer schärfer umrissen. Immer deutlicher und| sichtbarer trat vor ihn das Schwerste, was er sich denken konnte, ja so schwer, daß er es sich überhaupt nicht denken konnte: die Furchtbarkeit, von Gott verlassen zu sein. Man merkt es an seinen Abschiedsreden, wie langsam ihm das Kreuz deutlich wird, das er leiden soll. So wächst der Herr Christus durch den Gehorsam in den Ernst des Leidens hinein, bis er endlich, auf Golgatha angelangt, seines Kreuzes volle Größe und Schwere erfaßt. – Ach, man hört es und man liest es so leicht hin: „Er trug sein Kreuz.“ Wer ein Jünger Gottes sein will, der wähle nicht das Kreuz, das ihm gefällt und suche nicht das Holz zum Kreuz, das ihm beliebt, sondern er verleugne sich selbst. Man kann auch im Leiden sich schmeicheln; man kann in selbstgewählter Aufgabe sein eigenes Ich meinen; man kann an seine Pflichten sich verlieren, in seinen Gehorsam sich ganz hingeben und es ist doch nichts, was Gott gefällt. Das ist das Große an unserem Herrn, daß er nie eine Aufgabe sich selbst wählte, keine leichte und keine schwere, nie eine Arbeit für sich selbst nahm, nie eine Pflicht sich selbst stellte, sondern daß er aus dem Alltag, der ihn umgab und aus der Umgebung, die ihn ängstete, sich das Kreuz von seinem Vater schenken ließ. Er wollte große Schritte zur Ewigkeit machen und der Vater hieß ihn länger in der Zeitlichkeit verweilen. Er wollte mit einem Male sein Volk erlösen und der Vater hieß ihn zuerst das Volk erlernen. Er hätte gern die Menschheit mit einem Male vollendet. Was wäre es ihm Großes gewesen, wenn er alle Zeiten und alle Orte, alle Lande und alle Völker mit einem einzigen großen Opfer seinem Vater als verklärt hätte zu Füßen legen dürfen! Aber der Vater wollte es nicht und litt es nicht und hieß ihn das Kreuz der Armseligkeit und der Erfolglosigkeit tragen. An jedem Abend sich sagen müssen: „Ich denke, ich arbeite vergeblich!“ (Jes. 49, 4.) Am Schlusse jedes Lebensjahres sich gestehen sollen: „Ich bringe meine Kraft unnützlich zu!“ (Jes. 49, 4.) In seiner ganzen Lebensführung| nicht mehr Sterne sehen, die leuchten, sondern nur Wellen, die drohen; nicht mehr Freundlichkeiten, die stärken, nur Stürme, die schrecken; in der ganzen Lebensführung immer einsamer werden, um zuletzt ganz allein zu stehen, das heißt man: „das Kreuz tragen“. Und die Gemeinde Jesu Christi steht dabei und spricht: „Wahrlich, er hat gelitten draußen vor dem Tore!“ (Hebr. 13, 12.) Es haben andere auch gelitten. Es kennt die Antike großes, ernstes Leiden, es kennt die Geschichte der Menschheit wundersames Martyrium. Aber über dem Leiden der Antike und dem Martyrium der Menschheit liegt der Glanz der Eigenwahl und der Selbstopferung eigenen Entscheides. Auf Jesu Kreuz aber steht geschrieben: „Gehorsam! Nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ Und der Gehorsam, der den fremden Willen ganz zu dem eigenen macht, der das, was am schwersten ist, am ernstlichsten erfaßt, ist der Gehorsam dessen, der das Kreuz trägt. Daß ich es dir recht klar zu machen versuche: wie schwer trägst du vielleicht an einem einzigen Menschen. Wie bittest du den Herrn, daß er die Plage von dir nehme. Gib mir ein schwereres Kreuz, eine größere Aufgabe, aber laß nur nicht meine Kraft an diesen Kleinlichkeiten zerbröckeln und zermürben. Ich will alles für dich leisten; ich will die schwersten Aufgaben alle zu lösen suchen. Nur diese alltägliche, ganz ungeformte, sich mir alle Tage aufs neue erbietende Aufgabe nimm von mir! Und der Herr nimmt sie nicht. Paulus hat dreimal gebeten, daß Gott die Plage von ihm nehme und der Herr hat sie ihm tiefer eingegraben und näher gebracht. Seht, da erkennen wir ein wenig, soweit eben Menschen Jesum erkennen können, was es heißt: er trug das Kreuz, bis er es litt.


II.
 Im Tragen des Kreuzes liegt noch persönliches Tun, im Leiden des Kreuzes liegt die Größe heiliger Gelassenheit, die alles mit| sich tun läßt. Er litt das Kreuz! Und die Kirche versenkt sich in das Wort: „Gekreuziget“; denn sie weiß, nichts ist schimpflicher in jenen Tagen gewesen, da der Herr über die Erde ging und nichts ist häßlicher bis auf den heutigen Tag geblieben, als der Tod am Kreuze. Der Tod vor dem Feinde, der Tod im Kriegsgetümmel, auf der Walstatt ist mit dem Lorbeer umkränzt und mit Ehren bedeckt, der Tod für das Vaterland und die gerechte Sache, für des Volkes Ehre und für des Landes Wohlfahrt ist ein ritterlich großes Werk. Aber einsam draußen verröcheln, unbekannt und ungenannt und unbeklagt, ohne Ansehen der Menschen, hingegossen in des Todes Staub und hingegeben in der Vernichtung Schmach, das ist das schmählichste, was ihm widerfuhr. Keine Todesart konnte den Heiligen Gottes so vor der Welt entehren, als die am Kreuze. Und so oft die Welt das Kreuz ansieht, ob es nun von der Kunst verklärt oder von der Dichtung verherrlicht, oder von Klang und Sang umtönt ist, immer wendet sie sich von diesem Zeichen der Schmach: ein Gottessohn stirbt wie ein verworfener Verbrecher. Anderer Tod ist mit Ehren umlaubt, anderer Sterben ist von Tränen getröstet, andere gehen dahin unter Klage und Dank der Ihren. Er hat draußen vor dem Tore, allein, vom Feinde umgeben und von den Scharen der Hölle umringt, gelitten. Welch eine Schmach! Und noch jetzt, da er zur Rechten der Majestät erhöht ist, wird sein Kreuz umlästert, umspottet und umzweifelt und geleugnet. Das ist die Schmach, die die Treue erleidet, das ist die Schande, die dem Gehorsam widerfährt.
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 Und nicht bloß der schmählichste Tod ist der Kreuzestod, sondern auch der schmerzlichste ist es. Als Alexander der Große in Tyrus etliche kreuzigen ließ, war das Wehegeschrei dieser Sterbenden so gewaltig, daß man in der Stadt die Türen verriegelte, um den Ton der Klage nicht mehr zu hören. Entstellt, verunstaltet, mit der Schmach des Leidens bedeckt, mit den Zügen des| Schmerzes durchfurcht, mit der Angst des Sterbens gequält, hat er gerungen mit der Wirklichkeit des Leidens: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matth. 27, 46.) Der schmerzlichste Tod am Kreuze! Was war das für den heiligen, so fein angelegten Herrn, bei dem, daß ich menschlich rede, jeder Nerv heilig und jedes Teilchen seines Leibeslebens verklärt war, daß ihm solches durch Mark und Bein schneidendes Weh widerfuhr! Denn all die Nägel trieb ihm die Sünde ins Fleisch, und all die Marter tat ihm die Gottesferne an, und er hat es gelitten, so daß er nicht mehr einem Menschen ähnlich war: „Wir sahen ihn, da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.“ (Jes. 53, 2.) Nichts von verklärten Leiden, nichts von gloriosem Schmerz, nichts von triumphierender Größe der in sich selbst abgeschlossenen Leidensstärke, sondern: „Ich bin ausgegossen wie Wasser, ich bin vertrocknet wie ein Scherbe.“ (Ps. 22, 15 u. 16.) „Ihr Menschen, seht, ob ein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mich getroffen hat.“ (Klag. 1, 12.) Wahrlich, der schmerzlichste Tod am Kreuze! Und die Kirche weiß: er ist deswegen am Kreuze erhöht, damit er aller Welt sichtbar würde. Bis auf diese Stunde steht mitten in der Welt der Kunst und der Schöne, mitten in der Zeit der Ästhetik, mitten in einem Geschlechte, das so reich an Zartgefühl ist, unansehnlich, alle Schönheitsempfindung zum Protest herausfordernd, das Kreuz, und am Kreuze hängt Gottes eingeborner Sohn, dessen Kreuzestod so aller Welt sichtbar wird. Seht, was für ein Leid ist das! So oft wir die Passion Jesu Christi bedenken, geht es uns durch die Seele, daß er, zwischen Himmel und Erde schwebend, in seinem Schmerz und seiner Schmach allen sichtbar wird; alle, die da vorübergehen, schütteln den Kopf und sprechen: „Andern hat er geholfen, ihm selber kann er nicht helfen!“ (Matth. 27, 42.) Und so unmittelbar an des Zweifels Grenze, so herausfordernd in des Widerspruches Größe und Gewalt ist dieses Kreuz hingestellt. Ist das Gott? Kann| ein Gott so leiden? Ist das nur ein von Gott Gesandter? Ist das ein Mensch, der nun schon durch 1800 Jahre nicht durch andere Mittel wirken will, als durch das Jammerbild eines Kreuzes? Ist das nicht Gegensatz gegen alles menschliche Empfinden, daß ihr Erlöser am Kreuze hängt? Wie gerne wollte man sich jede Todesart gefallen lassen, die da mit dem Aufschrei des Sieges ein Leben ruhmreich beschlösse! Wie würde die Welt dem Märtyrer zujauchzen, der hin zu den feindlichen Reihen schritte und die Speere der Feinde in seine Brust bohrte! So aber hängt er mit ausgebreiteten Armen und angeschmiedeten Füßen hilflos, heillos, kraftlos, aller Schöne bar und aller Herrlichkeit verlustig, allem, was groß ist, widersagend, einsam am Kreuze. „O Welt, sieh hier dein Leben am Stamm des Kreuzes schweben!“

 Es gehört Glaube dazu, unter diesem Kreuze, unter diesem Holze der Schmach und Schande zu stehen und zu sprechen: Dieses ist mein Heiland! „Mein Lebetage will ich dich aus meinem Sinn nicht lassen!“ Ich verstehe es nur zu gut, wie so viele aus unserem Geschlechte an diesem Kreuze mit Mißbehagen vorübergehen, weil uns dabei zugemutet wird, in der Schmach des Schmerzes die Heilung unserer Seelen zu erblicken, in diesem Bilde der Zerrissenheit und des Jammers unsern Herrn zu erkennen! Aber etliche Arme, die überall angeklopft haben und überall betrogen und getäuscht wurden, etliche Verstoßene und Verlorene, Verlassene, die die Welt nicht verstehen kann und will und die an sich selbst verzweifelt sind, gehen bettelnd zu diesem Kreuze und sprechen: „Erkenne mich, mein Hüter, mein Hirte, nimm mich an!“

 Sieh, er ist am Kreuze gestorben, aller Welt sichtbar. Nun kannst du wählen, nun kannst du dich entscheiden, ob du zu seiner Rechten stehen und sprechen willst: „Herr, gedenke meiner!“ (Luc. 23, 42), oder ob du zu seiner Linken treten und sagen willst: „Ich| kenne nichts Törichteres als das Kreuz!“ – Indem der Herr so zwischen Himmel und Erde hängt, ist sein Leiden und sein Tod nicht bloß höchste Schmach und bitterster Schmerz und größte Sichtbarkeit, sondern auch ein prophetisches Ding: „Ich, wenn ich erhöhet werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen.“ (Joh. 12, 32.) Er ist ja doch erhöht und wenn es gleich nur einige Fuß breit ist. Er ist ja doch über die Erde erhöht, die Erde kann ihn nicht fassen und nicht halten: „Am Kreuze hängst du angehaft’t, die Erd’ bewegest du mit Kraft!“ Es ist wirklich so: er ist der Erde entnommen und der Sichtbarkeit wird er langsam entrückt, denn er hat die Welt überwunden. Und je mehr er von der Erde emporgehoben wird, desto mehr zieht des Himmels Herrlichkeit und der Heimat Größe, die er uns erschlossen und bereitet hat, in das arme, wunde Herz und in die gottferne Seele: „Ich, wenn ich erhöhet werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen.“ Und nun kommen die Zweifler, die bei ihm Ruhe suchen wollen und die Leugner, denen der Widerspruch allzu gewaltig geworden ist, die Armen, die allen Standpunkt der Welt als verfehlt erkannt haben und nun unter dem Kreuze einen Standpunkt suchen, sie alle kommen herzu und sprechen: „Hast du denn keinen Segen für mich?“ Und er antwortet: „Ich will euch alle zu mir ziehen!“ Das ist ein prophetisches Wort. Wenn einer aus der oberen Heimat zu uns käme, müßte er auf die Frage: „Was hat dich heimgebracht?“ unbedingt antworten: „Das Kreuz Jesu Christi hat mich aufwärts gezogen und sein Blut machte mich rein von aller Sünde!“ (1. Joh. 1, 7.) Das ist kein frommes Märlein, das ist kein alter Glaubenssatz, den wir immer wieder der Gemeinde vortragen, weil wir keinen anderen wüßten, sondern weil wir keinen anderen wissen wollen, keinen anderen wissen dürfen, weil wir keinen andern wissen mögen, denn allein den, der uns selber froh und frei und reich gemacht hat. „Jesus, für meine Sünde in den Tod gegeben.“ Und diese Prophetie ist eine| mittlerische: er will Himmel und Erde versöhnen, Sünde und Gnade vereinen, er will Elend und Heimat verbinden, Gottferne und Gottesnähe vereinigen. Mensch und Gott zusammenbringen: „Siehe, da, mein Vater, das ist Menschenleid! Siehe da, o Mensch, das ist Vaterglück! Siehe da, o Vater, das ist die geängstete Seele einer vielumtriebenen Zeitlichkeit! Siehe da, o Mensch, das ist die Ruhe, die dem Volke Gottes bereitet ist!“ Jesus, zwischen Erd und Himmel hangend, Jesus, zwischen Heimat und Fremde leidend, Jesus, zwischen größten Gegensätzen verschmachtend, ist gekommen, sie alle zur höchsten Einheit zu erheben und zu verklären zu der Einheit:

Ich bin durch ferne Zeiten
Wohl gar durch Ewigkeiten
In meinem Geist gereist.
Nichts hat mir’s Herz gewonnen.
Als da ich angekommen
Auf Golgatha. Gott sei gepreist!

 So hat er das Kreuz erlitten, und als es Abend ward, da war die letzte Last getragen und über dem stillen Kreuze, da die ewige Liebe gelitten hatte, steht hinfort: „Jesus, einmal gestorben, kann nicht mehr sterben! (Rm. 6, 9 u. 10.) Der Tod kann nicht mehr über ihn herrschen.“ (Rm. 6, 9.) Weil er das Leid durchkostet hat, hat er es besiegt. Weil er den Schmerz durchlitten hat, hat er ihn überwunden. Weil er die Tiefen der Hölle durchmessen hat, hat er sie überbrückt. Weil er die Angst bis auf die Neige erfahren und durchkostet hat, darum ist sie beendet.


III.
 Und das letzte: Jesus, der sein Kreuz trägt und sein Kreuz leidet, verklärt das Kreuz. Es ist doch etwas Wundersames, daß seit unseres Herrn Leiden und Sterben sich Menschen| finden, die sich des Leidens rühmen. Es ist doch eine eigenartige Erscheinung, daß seit dem Karfreitag Apostel und Evangelisten, Propheten und Märtyrer, zarte Frauen und erlauchte Männer, große Geister und erhabene Forscher nichts anderes rühmen und nichts anderes zu rühmen begehren als ihr Kreuz. Um nur einen zu nennen, der uns allen am teuersten ist, Luther. „Das habe ich jetzt gelernt,“ sagt er, „daß am Hofe meines Herrn Christus nur das Kreuz Hoffarbe ist, und daß er auf Erden keine andere Farbe seines Hofgewandes ausgibt als das Kreuz; darum will ich das Kreuz nehmen.“ – Nenne es Berufskreuz, nenne es Kreuz, das dir dein Charakter auflegt, Kreuz des Bekenntnisses, heiße es Kreuz deines täglichen Lebensganges: jetzt auf einmal fällt auf das ärmste Kreuz, das du nicht einmal deinem treuesten Freunde zeigen magst, und auf die entlegenste Lebensaufgabe, die du nicht einmal dem teuersten Menschen ganz sagen kannst, ein verklärendes Licht: „Jesu geh voran, auf der Lebensbahn.“ „Soll’s uns hart ergeh’n, laß uns feste steh’n!“ Jetzt wird auf einmal der Chor derer, die das Kyrie eleison mitten im Leide gesungen mit dumpfverhaltener Stimme, zu einem Chor derer, die ihr Hosianna mit schon hellerem Tone anstimmen, weil sie überwinden, und endlich klingt es aus in das jubelnde Halleluja, weil sie überwunden haben. Jetzt nimmt der einzelne Christ jeden Morgen das altgewohnte Kreuz auf und sieht es an, nicht mehr als lästige Pflicht, nicht mehr als schwere, unbehagliche und unbequeme Arbeit, sondern als eine lichte, Gott zu dankende und von oben empfangene Gnade: „Jesus würdigt mich, ihm nach das Kreuz zu tragen.“ Jetzt begegnen sich Eheleute, die sich am Altare nicht bloß für die lichten Tage, da man einander versteht, sondern auch für die Zeiten, da man einander nimmer zu deuten vermeint, Treue gelobten und sagten: „Wir wollen das Kreuz miteinander anfassen.“ Und es gibt keinen Streit, wer ein größeres und wer ein geringeres| Teil davon hat, sondern beide fassen mit gleichen Händen und mit gleicher Treue. Und um den Mittag ist das Kreuz unentbehrlich geworden und am Abend des letzten Tages, da es zu Ende geht mit der Gemeinschaft des Lebens, rühmen die Eheleute: das Kreuz hat uns nicht getrennt und nicht gefernt, sondern im Kreuz haben wir uns und unsern Gott verstanden.
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 Jetzt nimmt der Mann, dem ein Beruf von seinem Heiland angewiesen worden ist, das Kreuz, das so einsam in sein Leben hineinragte, am Anfang wie eine große schwere Last an sein Herz, in sein Gemüt und in seinen Willen und ehe der Tag vergeht, ist er das Kreuz so gewöhnt, daß er es nicht mehr missen könnte: „Das Kreuz hat mich stark gemacht, ich wäre erschlafft am Tage der heiteren, freundlichen Führung, aber am Tage des Widerspruches werde ich gestärkt.“ Jetzt kommt die ärmste Magd und der einfachste Tagelöhner und der Mann, dessen man Greuel hat, und die alte Frau im einsamen Kämmerlein, die niemand achtet, es kommen die Enterbten und Verlorenen und Verlassenen, jetzt kommen sie alle in dem erlauchten Purpurgewande des Leidens. Woher sind diese alle gekommen? Es sind die, welche die königliche Gestalt des Kreuzes an sich tragen. Da erblickt man, daß die christliche Kirche nicht aus Koryphäen des Geistes, nicht aus Triumphatoren des Genies, nicht aus Dichtern und Denkern sich zusammensetzt, sondern aus der Schar derer, deren die Welt nicht wert war. Sie stehen bei Gott in Gnaden, weil sie den Mut gewannen, ihm das Kreuz nachzutragen. Und so fällt auf das ganze rätselreiche Leben, auf das Leben, das uns so oft eine Last ist und doch eine Lust sein müßte, ein versöhnender und verklärender Schein. Um den Abend geht es durch den Weinberg: „Das Kreuz ist Sieg!“ Man fragt nicht mehr: „Was hast du geleistet? Was hast du gearbeitet? Was hast du erreicht?“ sondern man fragt: Was hast du gelitten?“ Und der einzelne kann dann| sprechen: „Leiden war das nicht, was in deiner Nähe geschehen durfte, Schmerz heißt das nicht, wozu du mich beriefst!“

 Es wäre unnatürlich, wenn ich am heutigen Tage, da unsere Gebete und Wünsche dem deutschen Kaiser gelten, nicht seiner am Schlusse gedächte, gedächte mit all der Treue, die ein deutscher Mann für seinen Kaiser im Herzen hat und im Herzen bewegt.

 Als am 18. Januar 1861 der Großvater unseres Kaisers dort in Königsberg in der alten Kirche seiner Väter, in der auch der erste Preußenkönig Friedrich III. gekrönt ward, die Krönung empfing, da, so erzählt er selbst, ging ein Schauer durch seine Seele, als er die Krone der Hohenzollern auf sein Haupt legen wollte. Und in der Stunde, da er bebte vor der Verantwortung – denn Goldkronen sind noch immer Dornenkronen gewesen für den, der sie recht trägt – fiel sein Blick auf das Haupt des dornengekrönten Heilandes und er sprach bei sich selbst: „Wenn du, Herr Jesus, die Dornenkrone getragen und sie zu einer Königskrone ohnegleichen gewandelt hast, so hilf auch mir die goldene Krone tragen, daß sie in Dornen und Leiden dir zur Ehre gereiche!“ Der Herr hat in 27 jähriger, reichgesegneter Regierung den alten Kaiser seines Gebetes Erhörung finden lassen: „Ich will dich tragen bis ins Alter und bis du grau wirst; ich will’s tun, ich will heben und will tragen und will erretten.“ (Jes. 46, 4.)

 Unser kaiserlicher Herr hat vielleicht die Unmittelbarkeit des kindlichen Glaubens von seinem Großvater nicht geerbt. Aber die tiefe Ehrerbietung vor dem, der über alle Könige herrscht, hat ihn nicht verlassen. Über dem Schlosse zu Berlin auf der Kuppel sind die Worte aus Phil. 2 angebracht und leuchten hinab in die Reichshauptstadt für jeden, der sie lesen will: „In dem Namen Jesu sollen sich beugen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind!“ (Phil. 2, 10.) Das ist das Bekenntnis unseres Kaisers.

|  Gott lasse ihn die Treue erfahren, die er denen erzeigt, die ihn bekennen. Gott stärke ihn in dem schrecklichen Ringen seiner Seele und erscheine ihm zum Schilde, wenn alle menschliche Hilfe sich ihm entzieht. Gott helfe durch den Namen des Siegers Jesus unserm teueren Kaiser zum Siege über sich selbst, leite ihn nach seinem Rat und nehme ihn endlich mit Ehren an. (Ps. 73, 24.) Es ist ein gewaltiger Gedanke, daß heute viele Tausende ihre Kniee vor dem Herrn Christus beugen, daß er einen Menschen segne. Es ist kein Byzantinismus, es ist die Unmittelbarkeit der Liebe, die Funken schlägt, mit der wir unseres Kaisers heute gedenken. Und indem wir für ihn beten, bitten wir: „Erhalte ihn bei dem Einigen, daß er deinen Namen fürchte! (Ps. 86, 11.) Gekreuzigter, laß ihm dein Kreuz je länger und je lieber sein!“
Amen.



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