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Der 2. Glaubensartikel/Gestorben und begraben

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« Gekreuziget Hermann von Bezzel
Der 2. Glaubensartikel
Niedergefahren zur Hölle »
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Jes. 53, 8. 
Gestorben und begraben.


 In einer einsamen Waldbucht an der Bergstraße, unfern dem Orte Auerbach, das so vielen schon freundliche Linderung und erquickliche Stille bereitet hat, liegt, von Eichen umrauscht und von Birken umsäumt, eine einsame Stätte, die im Volksmund den Namen „Not Gottes“ führt. In alter Zeit stand dort, wahrscheinlich auf Anregung des aus Speyer herübergekommenen Bernhard von Clairvaux erbaut, eine Kapelle, welche dem Leiden des Herrn Christus geweiht war. Die Kapelle ist längst zerfallen. Aber eine erlauchte Frau hat an der Stelle, die das Volk „Not Gottes“ heißt, ein wunderbar liebliches und feierliches Kruzifix aufrichten lassen. Und nun weiß das Volk wieder, warum der längst verklungene Name: „Not Gottes“ an dieser Stelle genannt wird. Es ist der Tiefsinn des Volksglaubens, die tiefgrabende Poesie des Volksgemüts, welche an der Stätte, da man das Kreuz Jesu Christi aufrichtet, von der „Not Gottes“ spricht; „denn Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selbst.“ (2. Kor. 5, 19.) Und Gott hat, da der Sohn litt, des Sohnes Not ertragen und erfahren.

 Not Gottes! Drei Worte mögen der Gemeinde dargeboten werden, drei Worte, die sie von altersher kennt.

 Das eine Wort: und er schlief.
 Das andere Wort: und es ward Nacht.
 Und das dritte Wort: gestorben und begraben.


I.
 Und er schlief. Vom Evangelium des vorigen Sonntags (Matth. 8, 23–27) und seiner rührenden Einfalt, welche die Ohnmacht| des Menschensohnes und die Allmacht des Gottessohnes nebeneinander stellt, kommt ihr dieses wunderbar armselige Wort. Der Herr, der als Hüter Israels nicht schläft noch schlummert (Ps. 121, 4), der Meister, der die Nacht im Gebete zubrachte und dann mit seinem Vater rang, bis die Morgenröte aufging, der Heilige Gottes, dessen Seele, wenn auch äußerlich vom Schlaf umfangen, zu seinem Vater wachte, und dessen Lobgesang mitten in der Nacht gehört wurde, war so von der Arbeit übermannt und von der Sorge um das Wohl des Lebens und das Leiden der Welt überschüttet, daß er dem Schlafe sich ergab, er ganz allein. Jesus schläft, während die Menschen wachen! Jesus ruht, während die Menschen rudern; Jesus ist in der Stille, während es draußen stürmt; Jesus ist in der Ruhe, während die Woge schwillt! – Welch eine Not Gottes! So müde ist Gottes Sohn geworden, daß er den Vorwurf nicht mehr scheut, müde zu sein, während andere noch die Müdigkeit überwinden. So arm ist Gottes eingeborner Sohn, daß er, alles um sich her vergessend, der Armut der Natur Tribut zahlt und einschläft. Der Sturm kann ihn nicht wecken, das Meer in seinem Brausen und Brüllen ihn nicht stören: Jesus schläft. Und seitdem hat es die Gemeinde Jesu immer wieder mit heiliger Scheu und tiefinnerlichem Mitleid überwältigt: was muß durch deine Seele, du Schmerzensmann und Fürst der Leiden, gegangen sein, daß du schlafen konntest, während wir dem Schlafe wehrten, daß du ruhen mochtest, wo wir ruhelos waren!
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 So oft ich an dieses Evangelium herangetreten bin, habe ich mir gesagt: Menschen können so nicht erfinden, Künstler können so nicht malen. Wenn wir Jesum im Sturm darzustellen hätten – wie glorios würden wir ihn auf Goldglanz malen, es stürmt, und er ist unbewegt; die Welle wächst, und er sieht ihr ruhig zu; die Jünger beten, und er steht aufgerichtet: so würden wir ihn schildern. Aber die Wahrheit schildert anders: Wellen steigen,| Wogen wachsen, Herzen beben – und er schläft! Das ist die Not Gottes, wie sie sich, so kindlich arm und so menschlich leidvoll, ganz in das Bedürfnis und die Forderung der Stunde ergibt. Das ist die Not Gottes, die nie an sich und immer nur an andere denkt, daß sie sich vom Leid überwältigen läßt. Faßt es zu Herzen, was es heißt: Jesus schläft. Man kann es nicht aussinnen, was eingetreten wäre, wenn nun der Sturm das Fahrzeug zerschellt und die Wellen das Schifflein ins Meer versenkt hätten, was dann gewesen wäre, wenn der Sohn des allmächtigen Gottes in die Tiefe gefahren wäre. Hoffnungen hat er erweckt – Hoffnungen hat er getäuscht; Versprechen hat er gegeben – Versprechen hat er gebrochen. Auf dem Meeresgrunde bleichen die Gebeine dessen, der die Welt zu erlösen verheißen hatte!

 Aber in dieser Armut und Ohnmacht liegt Allmacht und Reichtum. Er schläft, weil auch dem Schlafe die heilige Treue nicht gebricht. Er schläft, weil auch der Ruhe die Allmacht nicht entweicht. Er schläft, weil er auch im Schlafe die Seinen schützt; er ruht, weil seine Ruhe den Seinigen Frieden bringt. Wenn der Meister schläft, so ist die Gefahr nicht groß; wenn der Arzt ruhig ist, so ist die Krankheit nicht zum Tode. Wenn er, der Heiland, sich in den Frieden des Schlafes birgt und bettet, dann kann der Feind die Seinen nicht besiegen. Jesus schläft, das sei nicht Gegenstand deiner Trauer und deiner Angst, sondern deiner innerlichen und seligen Friedensgewißheit: „Weil er schläft, darum werde ich wohl bleiben, er hilft mir frühe.“ (Ps. 46, 6.)


II.
 Und das zweite Wort der Not Gottes: „und es ward Nacht.“ (Joh. 13, 30). Ich bin das Licht der Welt, spricht er. Wie wenn der Morgenstern frühe aufgeht, jugendlich froh, frühlingsmäßig, groß, eine Fülle von Möglichkeiten in sich bergend, eine Menge von Licht in sich beschließend, langsam, siegreich, der Sonne voraufleuchtend,| bis sie selbst wie ein Held aufsteigt, den Weg des Tages zu laufen und zu leiten, so ist Jesus der Herr als das stille Licht über den Fluren Bethlehems aufgegangen. Und wo man ihn sah, da ging es durch die Herzen: sehet, welch ein Stern! Und der Erhöhte weist keine liebere, keine zartere Erinnerung, als daß er an Bethlehems Armut denkt, er, die Wurzel des Geschlechtes David, ein heller Morgenstern! (Offenb. 22, 16.) So zart und so fromm, so licht und so rein, so unberührt vom Lärm des Tages und vom Staub der Sünde, so im Äther der Heiligkeit regierend, so in der Fülle des Glanzes thronend, so weit, weltabgeschieden von all dem Unguten, das uns niederzieht, geht er seine Bahn, der heilige Morgenstern. Und nun wird er nicht bloß Führer aller Leuchten, Feldherr aller Lichter und Erstling all derer, die da schlafen, sondern er wird die Fülle des Lichts. Ich bin das Licht der Welt! Wo es in der Welt wirklich leuchtet – nicht mit dem Flammenzucken des Aufruhrs, nicht mit der unheimlichen Stichflamme der Aufklärung, nicht mit dem unruhvollen Scheine des Irrlichtes, – sondern wo es wirklich in der Welt aufleuchtet, reine Gedanken, große Gesinnung, heilige Pläne, ernste Gelübde, selige Verheißungen, wahrhafte Großtaten, da steht, ob man es glaubt oder nicht, ob man es weiß oder nicht, Jesus im Hintergrunde; denn er ist das Licht der Welt. Und wenn irgend in einem Menschenherzen ein Gedanke der Liebe erwacht, die stärker ist als der Tod (Hoh. 8, 6), ein Gedanke der tragenden, vergebenden, verzeihenden Liebe, wo irgendein Mensch Geduld und Hoffnung faßt, da ist es Jesus, der das Herz regiert. Und wo auf einsamem Sterbelager eine Seele, die sich allein wähnte und in ihrem Alleinsein vergrämt ward, von dem Frieden hört, da ist das Licht gekommen. Und wo die Torheit der Menschen von einer längst verschollenen, längst totgeglaubten Persönlichkeit, halb schmerzlich und mitleidsvoll, halb höhnend spricht: lebt der auch noch?, da tritt die mitteilsame, die| tröstende, die liebreiche Erbarmung ein, und das Licht der Welt durchflutet das finstere Verließ, durchstrahlt die einsame Kammer, glänzt und leuchtet, glüht und scheint über einem unbedeutenden Sterben: der Morgenstern ist gekommen, Morgenglanz der Ewigkeit ist angebrochen. Das Licht der Welt. Und von diesem Licht heißt es: „es ward Nacht.“ (Joh. 13, 30.) Ihr wißt, wo dieses Wort steht. Der Herr Jesus hat eben seinen Jüngern in wundersamer Weise die Beichte gehört und die Vergebung ihnen gespendet. Unter ihnen wie ein Diener hat er ihnen in dieser Stunde gedient, indem er sie zur Aussprache kommen ließ, und hat ihre Missetat getragen, indem er sie in Worte fassen ließ. Unter seinen Jüngern, wie ein Diener, hat er das Sklavengewand angelegt und ihnen die Füße gewaschen, vom Erdenstaub befleckt, von der Erdensünde verunreinigt. Und dann, nachdem er so in majestätischer Dienstbarkeit und in dienender Majestätsfülle ihre Beichte gehört und Vergebung zugesprochen hatte, hat er sein hochwürdiges, teueres Sakrament, nicht der einzelnen Seele, nicht der einzelnen Gemeinde, sondern der ganzen Welt eingestiftet. In der Nacht, da er verraten ward, da wuchs über die Ärmlichkeit der Gegenwart die Herrlichkeit der Zukunft hinaus, und über die Unzureichendheit der Mittel die Größe der Gabe. Und über dem armen Herrn, der sich zum Sterben rüstet, ward ausgegossen der Geist der Gabe und der Kraft, der Geist der Liebe und der allumfassenden Treue. Unser Herr Jesus. Die Gemeinde weiß nichts Höheres, begehrt auch nichts Größeres, als daß sie bis hinein zur Todesstunde das eine Wörtlein sagen darf: unser Herr Jesus, weil er zu ihr das eine Wörtlein sagt, vor dem alle Angst zerrinnt wie ein Schemen, und die Not wie ein Gespenst verschwindet: für dich und deine Sünde in den Tod gegeben. Und bei allem Jammer über Geschehenes und bei aller Klage über Begangenes und bei jedem Weh über ihre Sündenlast, bleibt die Seele anbetend bei dem Wörtlein stehen: unser,| mein Herr Jesus! und begehrt nichts weiter und wünscht nicht mehr zu hören, als: auch für deine Sünde in den Tod gegeben.

 Und in dieser heiligen, gebefreudigen Stunde, in der Stunde, da er eine Gabe spendet, die Welt, Sünde, Tod und Hölle in sich beschließt, wird es Nacht. Eben noch das Licht, das alle Herzen durchflutet, eben noch die Leuchte, aus der Ewigkeit für die Ewigkeit entzündet, eben noch das Licht, das den verirrten Wanderer an sich lockt, wird er in Nacht versenkt. Seine Jünger werden an ihm irre. Der eine erwählt die Verleugnung, der andere den Verrat, die übrigen verließen ihn. Der Dank für die Stiftung seines allgegenwärtigen Heilswunders ist die Untreue des Zweifels, und das Lob für seine Großtat, die er in das wundersame Zeichen des Liebesgeheimnisses einsetzte, ist die verleugnende, ihn preisgebende Ungeduld. Da ward es Nacht. Da ward es Nacht im Herzen des ewigen Lichtes: „Du hast mir Mühe gemacht mit deinen Sünden und hast mir Arbeit gemacht mit deiner Missetat.“ (Jes. 43, 24.) Und alle Engel bezeugen es, und alle höllischen Gewalten bestätigen es, und der Vater der Wahrheit bekräftigt es: ja, Mühe mit der Sünde und Arbeit mit der Missetat!

 Aber wenn nur diese Mühe gesegnet und diese Arbeit von Erfolg gekrönt wäre! In dieser Nachtstunde, da unser aller großer Fürbitter um eine kurze Wachsamkeit seiner Jünger bittet, da heißt es: „ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich!“ (Jes. 49, 4.)

 Da ward es Nacht, als ihm der Feind seine Erfolge zeigte; das ist dein Judas und das ist dein Petrus und das sind deine andern Jünger alle: „sie verließen dich und flohen.“ (Mk. 14, 50.) Da ward es Nacht, als über dem kurzen Schlaf dort im Schifflein die Jünger in Müdigkeit gerieten und die Treue mit Undank vergalten. Da ward es Nacht, als schweigend das Kreuz erschien und vor ihm aufstieg, der Hohn der Heiden, die Angst des Leidens, als die Gewalten der Hölle, die Schrecken des Todes ihn umfingen, und es war niemand, der ihn tröstete.


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III.
 Und nun hebt das Glaubensbekenntnis an – Sterbegeläute ohnegleichen, als ob alle Sterbeglocken der Welt auf einen Ton gestimmt wären, ein de profundis aus der Tiefe, daß das Herz zerspringen und in tausend Nöten vergehen möchte. Unser Herr ist gestorben! Gott hat die Fähigkeit des Sterbens angelegt, die Fülle alles Lebens geht durch das enge Tor der Todesnotwendigkeit. Der, den alle Engel ihren Lebensquell und alle Himmel ihren Lebenshort und alle Ewigkeiten ihres Lebens Bronn nennen, versiegt und versickert im Sande: „ich bin ausgeschüttet wie Wasser, vertrocknet wie ein Scherben.“ (Ps. 22, 15 u. 16.) Er ist gestorben, und ob er gleich sagt: „ich bin die Auferstehung und das Leben!“ (Joh. 11, 25), und ob er gleich das Leben im Saum seines Gewandes wallen sieht, ob auch gleich vor seinem Blick die Grüfte sich auftun und die Totenbahren ihm ihren Raub geben müssen: er stirbt! Und unter seinem Kreuze stehen etliche und können das Rätsel nicht fassen, arme Frauen, die nur sehen, was ein tränendes Auge sehen kann, wiedergefundene Jünger, die nur erleben, was das Leiden erleben darf, etliche Ferne, sie sagen: Gottes Sohn stirbt! Und zwar stirbt er unter dem ganzen Ernste, unter dem zermalmenden Weh eines unverdient verdienten Todes. Auf sich sehend kann er sprechen: „wer kann mich einer Sünde zeihen?“ (Joh. 8, 46.) Auf uns sehend sagt er: „Der Tod ist der Sünde Sold.“ (Rm. 6, 23.) Auf sich sehend kann er bis in die Todesstunde hinein rufen: „Vater, in deine Hände! (Luk. 23, 46) und auf uns sehend spricht er: „warum hast du mich verlassen?“ (Matth. 27, 46.) Und so stirbt er. Und während auf Erden nur ein kurzes Erlöschen der Sonne und ein Grollen der Erde und ein Reißen etlicher Felsen und ein Sichauftun etlicher verschollener Gräber im kleinen Raum das größte Werk bezeugt und verkündet, geht es wie ein Jauchzen durch die Tiefen der Hölle, und wie eine große Leidens- und| Todesklage durch die Räume des oberen Heiligtums: Gottes Sohn ist tot! und damit ist die Welt nicht zerfallen, sondern gerettet. Gottes Sohn ist tot! und damit ist die Welt nicht vereinsamt, sondern während er in einsamer Todesstille verharrt, hat über sein Kreuz und Grab hinüber die ewige Gottesgröße ihre Hand dem armen, sterblichen Sünder gereicht: „mein Sohn! und er wird mich nennen mein Vater, mein Gott!“

 Wunderbar! Nicht aus Menschensinn und nicht aus Menschenmeinung! Den Reinen läßt Gott allein und den Unreinen zieht er an sein Herz. Den ewig Heiligen läßt er in den Tod versinken, als wäre er ihm nie nahe gestanden, und all die Fernen der Welt, all die Verkommenen der Erde, all die Verwahrlosten und Ungetreuen, das Heer der Sünder, die Menge der Gottverlassenen und Verlorenen ruft er: „Kommet her zu mir!“ Sie kommen am Kreuze vorüber: dort schläft ihr Herr. Sie ziehen am Marterholze vorbei in ungezählten Scharen: dort ist ihr König gestorben. Sie wallen seitdem durch die Jahrhunderte immer wieder, immer wieder am Kreuze vorbei, und das Einzige, was sie sagen können, ist: „wir danken dir, Herr Jesu Christ!“ Und St. Johannes, ehe er stirbt, schreibt in sein Tagebuch, und sein Tagebuch haben wir und sollen es durchlesen, durchleben, durchleiden und durchlieben: „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde!“ (1. Joh. 1, 7.) Und er sagt weiter: „Ob jemand sündiget, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christ, der gerecht ist.“ (1. Joh. 2, 1.)

 Das ist die Not Gottes, daß der Vater die Sünder zu seinen Kindern und seinen Sohn zum Fluch machen muß. Das ist die Not Gottes, daß die Heiligkeit den Heiligen verwirft und den Unheiligen annimmt. Und wiederum: das ist die Not Gottes, daß die Reinheit am Kreuze den Tod des Sünders erleidet.

 Und damit niemand zweifle und alle Zweifler genesen, fährt das Glaubensbekenntnis schüchtern und doch so tiefgründig fort –| was sage ich, nicht nur der Glaubensartikel, sondern die Heilige Schrift, ja fährt der Herr der Geschichte weiter: begraben. „Laß du die Toten ihre Toten begraben“ (Luk. 9, 60), sagt der Herr zu dem Jünger und er selbst wird in ein kühles Grab gesenkt. Und dieses Grab ist seitdem aller Zweifel Ruheort und aller Trostlosen Rast und Frieden und aller Schwergeängsteten liebster Aufenthalt geworden: „So ruhest du, o meine Ruh in deiner Grabeshöhle und erweckst durch deinen Tod meine tote Seele.“

 Seht, alles, was der Feind zum Hohn des Heiligen, zur Schmach des Allmächtigen, zur Vernichtung des Lebens getan hat, ist schließlich zu seiner Verherrlichung geworden, auf daß man siehet: „der rechte Gott wohnt zu Zion.“ (Ps. 84, 8.) Das Holz der Schmach ist nun der Lebensbaum geworden; das Grab des Gestorbenen ist der Friede der Seinen.

 Und begraben! Aber schon spielt um das geschlossene Grab der Morgenschein eines neuen und ewigen Tages; schon regt sich um die schlummernden Gebeine das Geheimnis eines ewigen Frühlings. Von allen Seiten, die den Verstorbenen beweinen, von allen Nöten, die mit ihm ins Grab gesenkt sind, aus allen Sünden, die er mit sich in den Tod genommen hat, blüht und grünt es ihm entgegen, lauter Ehrenpreis des Gekreuzigten:

Liebe, die sich tot gekränket
Und für mein erkaltet Herz
In ein kaltes Grab gesenket,
Ach, wie dank’ ich deinem Schmerz!

 Die Not Gottes ist sein Triumph geworden, und das Grab des Ärmsten unter den Menschen hat der Menschheit ihren Reichtum gegeben, und an dem Stein im Garten des Joseph von Arimathia hat die arme Kirche ihren Grund- und Eckstein gewonnen: „seht, ich lebe und habe überwunden!“

|  Seht, meine Christen, das ist Gottes Not, die er überwand. Und nun ist noch eine Not Gottes, die der Prophet in ein kurzes Fragewort fügt: „wer glaubt unserer Predigt? Und wem wird der Arm des Herrn offenbart? (Jes. 53, 1.)“

 Es war vor wenigen Tagen, als ich im Mausoleum des Kaisers Friedrich und seiner englischen Gemahlin, und wiederum an der Grabstätte König Friedrich Wilhelms IV. und seiner erlauchten bayerischen Gemahlin stand. Das ist eine Predigt ohne Worte. Hier wie ein Geheimnis: der Hoffnung Armut. So prunkvoll und so herrlich, so sinnig und so zart das Mausoleum in der Friedenskirche in Potsdam sich erhebt, mit den wunderbarsten Farben, in Marmor und Gold, fein, rein und schön, und so mächtig die Pietà von Rietschel herüberwinkt auf die beiden Sarkophage des erlauchten Kaiserpaares, so wenig geht es durch den Raum wie Hoffnung. Und herüber in dieses einsame, in kaltem Prunk leuchtende Grabmal schaut jenes einsame Gemach, in dem der größte aller Preußenkönige sein Leben aushauchte, das letzte Gemach droben in Sanssouci. Die eine Grabstätte predigt der Hoffnung Armut. Und an den andern Gräbern steht in einfacher Ausführung mit schlichten, nüchternen Buchstaben: „Hier ruht im Glauben an seinen einigen Herrn, Hirten und Heiland weiland König Friedrich Wilhelm IV., der auf Verdienst Jesu Christi eine ewige Vergebung und eine selige Auferstehung erwartet.“ Und neben ihm seine fromme Gemahlin: „eins mit ihrem Gemahl im Glauben der Kirche wartet sie auf eine selige Auferstehung und freut sich im Frieden der Heimat“ – so ungefähr lauten die beiden Inschriften. Mitten zwischen diesen beiden Gegensätzen hat die Seele wieder das Gleichgewicht gefunden: „gestorben für unsere Sünde nach der Schrift“ (1. Kor. 15, 3) und begraben in die Schmach der Erde, damit er alle Suchenden zu sich ziehe und alle Gramverlorenen tröste und allen Heimatfernen die Heimat bereite.

|  Not Gottes – Friede der Seelen; Einsamkeit Christi – Gemeinschaft des Lebens. Gottesferne und Kreuzesschmach – Himmelsnähe und ewiges Leben. Das sind die Gegensätze, die der Heiland am Kreuze in seinem heiligen Leiden und Sterben vereint hat.

Jesu, meines Lebens Leben,
Jesu, meines Todes Tod,
Der du dich für mich gegeben
In die tiefste Seelennot,
In das äußerste Verderben,
Nur daß ich nicht möchte sterben,
Tausend, tausendmal sei dir,
Liebster Jesu, Dank dafür.

Amen.



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