Die Gartenlaube (1854)/Heft 43
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No. 43. | 1854. |
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Nach der Entfernung des wackern Mannes fühlte sich Marianne einsam und verlassen auf der Welt, ihr war, als ob mit dem einzigen Freunde des Verstorbenen ihre letzte Stütze entschwunden sei. Der Oberst hatte wie ein Einsiedler gelebt, außer einigen Geschäftsfreunden war Niemand in der Residenz, der sich eines vertrauten Umganges mit ihm rühmen konnte. So kam es, daß sein Tod nur von den ihm nahe stehenden Personen und den zu dem Schlosse gehörenden Landleuten betrauert ward. Der trockene Gerichtshalter versah wie immer seine Amtsgeschäfte, und fragte ihn Jemand, wer wohl die künftige Herrin sein werde, so zuckte er lächelnd mit den Achseln, ohne zu antworten. Seit dem Begräbnißtage sah man Franziska nicht mehr auf Adersheim. Marianne, obgleich tief gebeugt von Schmerz, leitete gewissenhaft die innern wirthschaftlichen Angelegenheiten. Aber sie fand keine Beruhigung in der Erfüllung ihrer Pflicht; das sonst so heimische Haus erschien ihr jetzt wie eine Zufluchtsstätte, die man ihr nur gezwungen bewilligt hatte, und eine Art Schaamgefühl trieb ihr das Blut in die Wangen, wenn sie daran dachte, daß sie von der Großmuth Franziska’s abhängig geworden sei. In dem Betragen der Dienstleute glaubte sie bald eine scheue Ehrfurcht zu bemerken, bald ein Nachkommen ihrer Anordnungen aus Mitleid. Der alte Kammerdiener schlich traurig und gebückt durch die weiten Räume des Hauses, es schien, als ob der Tod seines Herrn ihm alle Lebenslust geraubt, als ob der schwere Schlag ihn bis zum Sterben erschüttert hätte. Es gab keinen Menschen, dem sie ihr Herz ausschütten konnte, und selbst Philipp, ihr Jugendgespiele, den nun keine Geschäfte mehr nach Adersheim führten, blieb aus.
Vier Tage waren seit dem Begräbnisse verflossen, als sie, von einem unerklärlichen Dränge getrieben, Hut und Mantel ergriff, und das Schloß verließ. Sie schlug den Fußweg über die Wiese ein, der zu der kleinen Meierei des alten Eckhard führte. Der Landmann war nicht nur ihr Pathe, er war auch weitläufig mit ihr verwandt. Der trübe Herbsttag hatte einen Nebelschleier über der Landschaft ausgebreitet, die Luft war still und kalt, und von den Bäumen sank geräuschlos das letzte braune Laub herab. Gedankenvoll betrat sie ein Wäldchen, das sie noch von dem Ziele ihrer Wanderung trennte. Da erklangen plötzlich Schritte in kurzer Entfernung, und nach einer Minute trat ihr Philipp in der Krümmung des Weges entgegen. Als er Mariannen erblickte, ward sein gebräuntes Gesicht purpurroth, wie bestürzt zog er seine verschossene Tuchmütze, und trat ehrerbietig mit entblößtem Haupte in das Gras, um der jungen Dame den schmalen Fußpfad frei zu machen.
Philipp war ein junger Mann von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren. Sein Gesicht war etwas mager und bleich, ohne gerade krankhaft auszusehen. Das Haupt bedeckten blonde, natürlich gekräuselte Haare. Die hohe Stirn und das scharfblickende dunkele Auge unter starken Brauen verriethen einen festen, entschlossenen Charakter. Sein Wuchs war schlank und kräftig, und alle seine Bewegungen verriethen eine männliche Energie, wenn sie auch nicht frei waren von den Unbeholfenheiten des Landmanns.
„Guten Tag, Philipp!“ flüsterte sie, indem sie stehen blieb, und ihm die Hand reichte.
Er wagte es kaum, mit seiner von der Arbeit abgehärteten Hand die zarten Handschuhe des jungen Mädchens zu berühren. Aber mit bewegter Stimme erwiederte er den Gruß.
„Wohin gehst Du, Philipp?“ fragte freundlich Marianne, die den Grund seiner Befangenheit errieth.
„Nach dem Kirchhofe. Ich will nach den Blumen auf dem Grabe des Herrn Oberst sehen. In der verflossenen Nacht haben wir den ersten Frost gehabt – sie werden wohl verwelkt sein.“
Diese Aufmerksamkeit, schlicht und einfach ausgesprochen, rührte Mariannen tief; sie mußte weinen. Als sie das weiße Batisttuch von dem Gesichte nahm, sah sie auch in Philipp’s Augen Thränen.
„Ich werde Dich begleiten,“ sagte sie leise.
„Du willst mit mir umkehren?“ fragte Philipp erstaunt, der kaum glauben mochte, daß er fähig sei, auch nur so viel Einfluß auf die vornehme Dame auszuüben, daß sie von dem einmal eingeschlagenen Wege abwich. Er betrachtete dies als eine große Herablassung.
Schweigend nickte sie mit dem Haupte. Sie trat den Rückweg an. Philipp folgte. Als der Pfad breiter wurde, ging sie neben ihrem Begleiter her.
„Ich wollte zu Euch gehen, Philipp, um zu fragen, warum keiner von Euch auf das Schloß kommt. Habt Ihr mich denn ganz vergessen?“
„Vergessen?“ fragte der junge Mann. „Ich wäre gern alle Tage gekommen, wenn ich nur gewußt hätte, daß ich nicht störe. Vater meint, ein Trauerhaus dürfe man nicht so oft besuchen.“
„Ach, Philipp, Deine Gegenwart hätte meinen Schmerz gelindert. Seit dem Tode meines Wohlthäters ist es in dem Schlosse ganz anders geworden, die Leute wissen nicht, wofür sie mich halten sollen, und mir fehlt der Muth, gegen irgend einen mein Herz auszuschütten. Ach,“ fügte sie seufzend hinzu, „wie hat sich Alles geändert! Man weiß, daß ich nichts weiter bin, als eine arme Waise. Solltest Du noch nicht gehört haben, daß Franziska von Adersheim die künftige Herrin des Schlosses ist?“
[506] „Ja; aber ich wollte es nicht glauben.“
„Es ist die Wahrheit.“
Der junge Mann vermochte nicht zu antworten; er kämpfte mit einer gewaltigen Bewegung. Nach einer Pause rief er: „Sie wird es nicht wagen, Dir Kummer zu bereiten! Wenn sie nur ein wenig Dankbarkeit gegen den Mann empfindet, der ihr ein so großes Vermögen hinterlassen hat, so muß sie seine Tochter – und Du bist die Tochter des Obersten – achten und ehren!“
„Darauf rechne ich nicht,“ antwortete sie in einem schmerzlich milden Tone. „Sobald die Erbschaftsangelegenheit geordnet ist, verlasse ich das Schloß. Der selige Oberst hat so viel Gutes an mir gethan, daß ich ferner nichts mehr erwarten kann.“
Philipp schwieg einen Augenblick. Hätte Marianne zur Seite gesehen, so würde sie bemerkt haben, daß sich des jungen Mannes eine große Bestürzung bemächtigt hatte. Sein großes Auge starrte zu Boden und seine Lippen zitterten.
„Du willst fort?“ fragte er dann leise und mit bewegter Stimme.
„Ich muß, Philipp, so schwer mir der Abschied von dem Orte meiner Kindheit auch wird.“
„Und wohin willst Du gehen?“ fragte er kaum hörbar.
„Ich vertraue auf Gott und gute Menschen. Die kurze Zeit, die mir noch hier zu bleiben vergönnt ist, werde ich größtentheils im Kreise Deiner Familie zubringen.“
Hier stockte das Gespräch. Philipp hatte nicht den Muth zu reden, und Marianne war von dem Gedanken an die Trennung so ergriffen, daß sie aller Fassung bedurfte, um ihre Thränen zurückzuhalten. Sie standen an dem Gitter des ländlichen Friedhofs, dessen Thor geöffnet war. Der Todtengräber war beschäftigt, ein Kindergrab zu graben. Als er Marianne erblickte, stellte er die Arbeit ein, und zog ehrerbietig seinen Hut.
Das Feld des Todes war mit kleinen Hügeln und weißen und schwarzen Kreuzen bedeckt. Man sah weder prunkenden Marmor noch vornehme Besucher, welche kokettirend zierliche Blumen auf die Gräber setzen; allein so viel ist gewiß, daß hier manche aufrichtige Thräne die einsamen Furchen benetzt. Die beiden jungen Leute gingen schweigend durch die zusammengesunkenen Hügelreihen, um deren einfache und verwitterte Holzmonumente sich der Brombeer rankte. Plötzlich blieb Marianne bei einem Doppelgrabe stehen, das sich von den Übrigen durch ein niederes Holzgitter auszeichnete. Zwei Kreuze ragten darüber empor. Auf dem einen standen mit noch kaum leserlichen Buchstaben die Namen „Georg Lorenz“, auf dem andern „Elisabeth Lorenz“.
„Meine Aeltern!“ flüsterte Marianne, in stilles Weinen ausbrechend.
Die Zeit der Jugend, so weit sie sich deren erinnern konnte, ging deutlich vor ihrer betrübten Seele auf. Sie sah Vater und Mutter in dem armseligen Häuschen am Walde, den kleinen Philipp, der lächelnd durch die niedere Thür eintrat, um seine Gespielin abzuholen, und endlich sich selbst in den ärmlichen Kleidern, die im Sommer kaum hinreichten, um die Blößen zu bedecken.
Mit einer innigen, unbeschreiblichen Wehmuth gedachte sie dieser traurigen, aber dennoch glücklichen Zeit. Vater und Mutter schlummerten im Grabe, und das Häuschen am Walde war verfallen – nur Philipp noch stand ihr zur Seite mit entblößtem Haupte und feuchten Blickes die Ruhestatt betrachtend. Der junge Mann erschien ihr wie ein heiliges Vermächtniß, selbst wie die einzige Stütze, an die sich das Herz anklammern konnte. Er trauerte mit ihr um die entflohenen Freuden der Kinderjahre, er empfand mit ihr das Drückende der Gegenwart – er allein. Das Gitter um die geliebten Gräber hatte er angefertigt, und die beiden Kreuze waren von seiner Hand geschnitzt und beschrieben. Noch nie hatte sie des schlichten Landmanns Bedeutung für ihr Herz so klar und tief empfunden, als in diesem Augenblicke, wo eine entscheidende Wendung ihres Geschickes bevorstand. Wie überwältigt von den anstürmenden Empfindungen und Gedanken reichte sie ihm die Hand.
„Laß uns weitergehen!“ flüsterte sie.
Sie gingen um die Dorfkirche mit ihrem viereckigen Thurme, spitzem Schieferdache und ihren winkeligen Strebepfeilern. Die Kirche von Adersheim gehört zu den klassischen Gotteshäusern jener Gegend, das heißt, sie ist im grauen Alterthume erbaut, in verschiedenen Kriegen vertheidigt und erobert worden, und enthält die Familiengruft der Herren von Adersheim, eines der ältesten edeln Geschlechter. Zu dieser Gruft gelangt man durch ein Eisengitter, das die untere Thurmhalle abschließt. Die Halle enthält einen großen Sarkophag von Stein, der so lange die Hülle des Letztverstorbenen birgt, bis ein neuer Todesfall die Räumung desselben erfordert. Am Begräbnißtage des Barons Friedrich von Adersheim, des Pflegevaters unserer Marianne, hatte man den Baron Anton, den Großvater Franziska’s, in dem unter der Kirche befindlichen Gewölbe beigesetzt. Der letzte der Herren von Adersheim lag jetzt in dem Sarkophage, es gab keinen mehr, der ihm seinen letzten Platz streitig machen konnte.
In diese Halle traten Philipp und Marianne. Wie erstaunten sie, als sie eine Fülle frischer Blumen ausgestreut fanden. Der Ort der Verwesung duftete lieblich wie ein Gewächshaus.
„Man ist mir schon zuvorgekommen,“ sagte Philipp traurig.
„Der gute Oberst,“ flüsterte Marianne gerührt, „besitzt auch außer uns noch Freunde, deren Hand liebend seine Ruhestätte schmückt. Ich möchte sie kennen lernen.“
In diesem Augenblicke trat der Todtengräber ein.
„Wer hat die Blumen gestreut?“ fragte ihn das junge Mädchen.
„Ein Herr, wahrscheinlich aus der Stadt,“ war die Antwort. „Ich mußte ihm das Gitter öffnen, und darum finden Sie es noch nicht wieder verschlossen.“
„Wann war er hier?“
„Vor kaum einer Viertelstunde.“
„Habt Ihr ihn früher schon im Dorfe gesehen?“
„Nein. Er kam mir vor wie ein Offizier von der Garde, denn er war noch jung, schlank gewachsen, und trug einen schwarzen Schnurr- und Backenbart. Diese Herren haben immer so etwas Eigenthümliches, das sich nicht verkennen läßt. Ich bin früher auch Soldat gewesen, und darum weiß ich das. Der alte Mann, der die Blumen trug, und sein Bedienter zu sein schien, nannte ihn Herr von Linden. Mehr weiß ich nicht von ihm.“
Marianne erinnerte sich Walther’s von Linden, der ihr während ihres Aufenthaltes in der Residenz, so oft sich die Gelegenheit dazu bot, die größten Aufmerksamkeiten bewiesen hatte; da sie wußte, daß er in keiner Beziehung zu dem Oberst gestanden, daß er vielmehr oft in Franziska’s Gesellschaft gesehen worden, und daß man sich erzählte, er mache ihr den Hof, so suchte sie die Erklärung dieser Demonstration in seinem zärtlichen Verhältnisse zu der reichen Erbin. Sie ahnte nicht, daß sie selbst ihrer Feindin Grund zur Eifersucht gegeben hatte.
„Die lachenden Erben,“ dachte sie, „nahen sich der Gruft des Erblassers, um scheinbar ihre Trauer an den Tag zu legen.“
Weiter gab sie dem Umstande keine Bedeutung. Sie verrichtete ein kurzes Gebet, und verließ mit Philipp, den der Bericht des Todtengräbers trüb gestimmt hatte, die Gruft.
„Man gestattet uns nicht,“ flüsterte Marianne ihm zu, „daß wir allein das Grab schmücken. Mögen sie immerhin,“ fügte sie unter Thränen hinzu – „wir bewahren das Andenken an den geliebten Todten in unserm Herzen, und diese Feier vermag Niemand zu beeinträchtigen.“
Unter schmerzlichem Schweigen verließen sie den Gottesacker. Ohne daß eine Verständigung erfolgt, schlugen sie den Weg nach Philipp’s Gehöft ein, daß sie nach einer Viertelstunde erreichten.
Die hochbejahrten Aeltern des jungen Mannes nahmen Mariannen mit einer rührenden Freude auf, denn sie betrachteten sie als die Vermittlerin ihres Wohlstandes. Gewaltsam wurde sie in das beste Zimmer geführt; dort mußte sie sich in dem mit Kattun überzogenen Lehnsessel niederlassen, den die alte Bäuerin nur Sonntags zu benutzen pflegte, wenn sie die Arbeitskleider abgelegt hatte. Marianne hatte seit länger als einem Jahre das Gütchen nicht besucht – wie verändert fand sie heute Alles. Das Stübchen war sauber und geschmackvoll eingerichtet, unter den einfachen Möbeln befand sich ein Sopha, und an den schneeweißen Wänden hingen Lithographien unter Glas und Rahmen. Mutter und Sohn hatten sich entfernt, um ein Vesperbrot für den seltenen Besuch zu besorgen.
„Dieses Zimmer hat unser Philipp eingerichtet,“ erzählte der alte Landmann in der Freude seines Herzens. „Er meinte, man müsse die Mutter auf ihre alten Tage pflegen, und wenn einmal ein Besuch von dem Schlosse käme, könne man ihn doch nicht in einer Gesindestube empfangen. Und er hatte Recht, denn der selige [507] Herr Oberst hat uns oft besucht. Wo Du sitzest, Marianne, hat er gar oft gesessen, seine Pfeife geraucht und geplaudert. Dann unterhielten wir uns von vergangenen Zeiten, und vorzüglich von dem Unglücke, das ihm mit Deinem armen Vater passirt ist. Ach, der gute Herr konnte es gar nicht vergessen, ich hatte immer große Mühe, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Den Philipp hatte er gern; das muß einmal ein tüchtiger Landwirth werden, sagte er. Und der Philipp hat sich das gemerkt. Alle neuen Bücher, welche die Gelehrten über Landwirthschaft geschrieben, hat er sich angeschafft. Wenn wir schlafen, sitzt er hier und studirt, und was er in den Büchern gelesen, das macht er auf dem Felde. Unser ganzer Hof ist nach dem neuen Schnitte eingerichtet, und wahrlich, es kommt viel Gutes dabei heraus. Unsere Aecker, Wiesen und Viehzucht sind die besten in der ganzen Gegend. Wie oft kommen die Nachbarn, um Philipp zu fragen, wie er dies oder das angefangen hat. Aber sieh nur einmal, wie viel Bücher er hat. Es steckt ein schönes Geld darin.“
Bei diesen Worten schob der Greis einen grünen Vorhang zurück, und Marianne sah eine ziemlich zahlreiche Bibliothek. Sie stand auf und las die auf dem Rücken verzeichneten Titel. Da fand sie landwirthschaftliche Schriften, naturhistorische und geographische Werke, deutsche, französische und englische Grammatiken und Wörterbücher, selbst Schiller’s und Goethe’s Werke in prachtvollen Einbänden. Marianne drückte laut ihre Verwunderung aus.
„Siehst Du die zwölf schönen Bücher mit den Goldbuchstaben?“ fragte lächelnd der Greis.
Marianne las den Namen Schiller.
„Nun?“ fragte sie.
„Diese Bücher hat ihm der Herr Oberst vor einem Jahre zu Weihnachten geschenkt. Sie müssen wohl sehr schön sein und dem Philipp gefallen, denn so oft er Zeit hat, liest er darin.“
Philipp trat ein; er trug einen Korb mit auserlesenen Aepfeln. Als er Mariannen vor der Bibliothek erblickte, ward er verlegen.
Dem jungen Mädchen entging dies nicht.
„Philipp,“ sagte sie, „Du hast mir verschwiegen, daß Du eine so ausgewählte Büchersammlung besitzest. Ich hätte gern das Meinige dazu beigetragen –“
„O, ich habe noch viel zu thun, ehe ich mit diesen Büchern fertig werde. Mir bleibt zum Studiren nicht viel Zeit, wenn ich die Oekonomie nicht vernachlässigen will. Was ich bis jetzt gethan, ist der Rede nicht werth. Vielleicht komme ich im nächsten Winter ein wenig weiter.“
Jetzt erschien auch die Mutter, und man setzte sich zu Tische. Auf alle Fragen, die Marianne an Philipp über seine Studien richtete, gab er eine ausweichende Antwort, es schien, als ob er sich seiner Bestrebungen schämte und sie geheim halten wollte. Bei dem trüben Himmel brach der Abend früh an, und Marianne bereitete sich zur Rückkehr vor.
„Darf ich Dich begleiten?“ fragte Philipp schüchtern.
„Wenn Du mir die Gefälligkeit erzeigen willst!“ antwortete sie in einem höflichen Tone.
Diesmal erschien der junge Mann in einem bessern Rocke und mit dem Hute in der Hand. Marianne nahm von den beiden alten Leuten einen innigen Abschied und versprach, das nächste Mal früher zu kommen, damit man länger plaudern könne.
Ach, Marianne,“ sagte Vater Eckhard, indem er ihr die Hand drückte, „ich wollte, Du könntest immer bei uns bleiben.“
„Das wird nicht gut gehen!“ fügte das Mütterchen hinzu.
„Warum?“
„Wer einmal an das Leben im Schlosse gewöhnt ist –“
„Darüber sprechen wir später!“ fiel Marianne rasch ein. „Nun lebt wohl, bis auf Wiedersehen.“
Die beiden jungen Leute verließen die Meierei. Während sie über den reinlichen Hof gingen, sahen ihnen Vater und Mutter nach.
„Ein hübsches Mädchen!“ murmelte Eckhard. „Es kommt mir ordentlich schwer an, sie Du zu nennen. Hätte ich sie nicht oft in ihres Vaters Häuschen gesehen und hier im Hofe, wo sie mit unserm Sohne spielte, ich würde kaum glauben, daß sie Lorenz’s Tochter wäre. Es freut mich, daß sie auf unsern Philipp noch so viel hält.“
„Das ist wahr,“ meinte Mutter Eckhard. „Aber auch der Philipp hat sie gern. Hast Du gesehen, wie er sich geputzt hatte, um sie nach dem Schlosse zu begleiten?“
„Höre, Alter,“ flüsterte das Mütterchen mit lächelndem Gesichte, „ich habe längst daran gedacht, und heute ist mir es wiedereingefallen, als ich die beiden jungen Leute vor mir stehen sah – –“
„Was?“ fragte der greise Landmann gespannt.
„Daß sie ein Paar werden könnten!“
„Frau, bist Du toll?“ rief Eckhard in einem Tone, der verrieth, daß er zwar die Ansicht ebenfalls hegte, sie aber nicht auszusprechen wagte.
„Warum denn, lieber Mann?“
„Philipp ist kein Mann für Marianne, und Marianne ist keine Frau für Philipp. Sie ist in der Stadt und er auf dem Lande erzogen. Uebrigens, Frau, hüte Dich, eine Sylbe darüber zu äußern, daß es unser Philipp hört – er ist kein gewöhnlicher Bauer, das Mädchen gefällt ihm – mir scheint, er könnte sich leicht etwas in den Kopf setzen, und das wäre ein Unglück.“
„Für wen ein Unglück?“ fragte die Mutter, die auf ihren Sohn stolz war.
„Für Beide – auch für uns! Mag nun Marianne eine reiche Erbin werden oder wieder ein armes Mädchen, sie passen einmal nicht zusammen. O, ich hätte es für mein Leben gern; aber es geht nicht, es geht nicht, und damit Punktum!“
Vater Eckhard setzte hastig seine grüne Sammetmütze mit Otterpelz auf das greise Haupt, und ging in den Hof hinaus.
„Mag der alte Murrkopf denken, was er will,“ flüsterte das Mütterchen – „für unsern Philipp ist kein Mädchen zu gut. Na, wir wollen sehen, wie es wird – es ist noch nicht aller Tage Abend.“
Sie ging ihren häuslichen Beschäftigungen nach.
Philipp und Marianne waren indessen bei dem Schlosse angekommen. Ein dichter Nebel vermehrte die Dunkelheit des Abends, so daß man kaum das alte Thor unterscheiden konnte.
„Nun will ich zurückkehren,“ sagte Philipp. „Gute Nacht!“
Sie zog die Hand unter dem seidenen Mantel hervor, und reichte sie ihm.
„Willst Du nicht einen Augenblick mit mir in das Schloß gehen?“ fragte sie.
Der junge Mann zuckte bei der Berührung der kleinen weichen Hand zusammen.
„Nein, Marianne; es giebt Abends noch so Manches im Hause zu thun –“
„Dann darf ich Dich nicht abhalten, lieber Philipp. Nimm meinen herzlichen Dank für die Begleitung.“
„Wann kommst Du wieder zu uns?“
„Sobald ich kann. Und dann begleitest Du mich einmal zu unserm Häuschen am Walde. Ach, ich werde Dir noch oft lästig, werden müssen, denn außer Dir und Deinen guten Aeltern – –“
„Marianne,“ rief er rasch, „wende Dich an keinen Andern, als an mich – vergiß nicht, daß ich Dein Bruder bin! Willst Du mir das versprechen?“
„Wenn Du mein Versprechen annehmen willst.“
Statt der Antwort drückte er ihr innig die Hand. Dann verschwand er rasch in der Dunkelheit des Abends.
„Ach, mir fehlt noch viel!“ flüsterte er betrübt vor sich hin. „Ich fühle, daß ich noch sehr linkisch und unwissend bin!“
Er kam niedergeschlagen nach Hause; mit Mühe suchte er es seinen Aeltern zu verbergen. Aber dem Vater Eckhard entging die Gemüthsstimmung des Sohnes nicht, er schüttelte das greise Haupt und ermahnte noch einmal seine Frau, über den bewußten Punkt kein Wort zu verlieren.
Als Marianne, nachdem sie die letzten wirthschaftlichen Anordnungen getroffen, allein in ihrem Zimmer saß, gedachte sie der Vorgänge des Tages. Mit Schrecken erinnerte sie sich Walther’s von Linden und seiner Aufmerksamkeiten, die er ihr in der Stadt erwiesen, so oft er Gelegenheit dazu gefunden. Er hatte sie an dem Begräbnißtage, als sie vor Schmerz einer Ohnmacht nahe gewesen, in das Zimmer gebracht, und heute hatte er die Gruft des Obersten mit Blumen bestreut. „Was bedeutet das?“ fragte sie sich. „Warum diese auffallende Annäherung?“ – Doch bald traten die lieben Jugenderinnerungen wieder in den Vordergrund, der Stutzer war ihr zu gleichgültig, als daß sie sich länger mit ihm beschäftigen sollte. Sie dachte an Philipp und seine Aeltern, und als sie einschlief, träumte ihr nicht von den glänzenden Sälen der Residenz, sondern von dem ärmlichen Häuschen am Walde, wo sie mit Philipp kindliche Spiele trieb.
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Die Regulirung der Erbschaftsangelegenheit ging nicht so rasch von Statten, wie Franziska geglaubt hatte. Es fanden sich indeß Geldmänner, die ihr Summen, natürlich mit bedeutenden Zinsen, vorschossen. Ehe ein Monat verflossen, lebte sie wieder auf demselben großen Fuße, wie früher. Sie hatte eine große, prachtvolle Wohnung gemiethet, hielt Pferde und Wagen, und gab ungeachtet der Trauerzeit glänzende Gesellschaften. In ihren Sälen versammelte sich die schöne Welt der Residenz und fröhnte den aristokratischen Vergnügungen des Winters.
Marianne theilte ihre Zeit zwischen häuslichen Geschäften und den Besuchen bei Philipp’s Aeltern. Der junge Mann empfing sie wie der Bruder die Schwester. So offen und frei er sich auch sonst zeigte, so rückhaltend war er mit seinen Studien; es schien selbst, als ob er sich ihrer schämte. Den Landmann, der die Bewirthschaftung der Aecker und Wiesen verstand, trug er gern zur Schau; alle übrigen Kenntnisse suchte er mit Sorgfalt zu verbergen. So verfloß die Zeit, und der kleine Meierhof mit seinen gutherzigen, schlichten Bewohnern ward Marianne’s liebster Aufenthalt. Für Philipp, den sie nun näher kennen lernte, empfand sie nicht mehr die reine schwesterliche Zuneigung, sie konnte sich eines Gefühls nicht erwehren, das der Hochachtung ähnlich war.
Der Gedanke, daß sie sich bald von den guten Leuten trennen müsse, war nächst der Erinnerung an ihren verstorbenen Wohlthäter der einzige Schmerz. Den Verlust des Vermögens bedauerte sie nicht, da sie sich nie als die Erbin des Obersten betrachtet hatte. Aus diesem Grunde schrieb sie auch nur einen Brief an den Herrn von Detmar, worin sie ihm aus Artigkeit oberflächliche Mittheilungen von dem Stande der Dinge machte, aber mit keinem Worte ihrer Zukunft erwähnte. Sie konnte es nicht über sich gewinnen, durch irgend ein absichtliches Verfahren der rechtmäßigen Erbin, für die sie Franziska hielt, Nachtheil zuzufügen. Sie beschloß, für sich selbst zu sorgen.
Um diese Zeit trat eines Abends der Kammerdiener Gottfried in ihr Zimmer. Der alte Mann befand sich in großer Aufregung.
„Ach, Fräulein Marianne, haben Sie denn nichts gehört?“ fragte er hastig.
„Was?“
„So eben ist ein Wagen in den Hof gefahren.
„Ein Wagen – wen brachte er?“
„Fräulein Franziska.“
Marianne fuhr erschreckt empor. Ihr ahnte, daß etwas vorgehen würde.
„Sie?“ flüsterte sie bestürzt.
„Verzeihen Sie, daß ich so erschreckt eintrete – aber nach dem Gespräche, das an jenem Unglückstage zwischen Ihnen und dem stolzen Fräulein stattfand –“
„Vermuthest Du, daß mir die Erbin nichts Gutes bringt?“
„Ach, ich glaube, es ist Grund genug dazu vorhanden.“
„Mein alter Freund, ich bin auf Alles gefaßt. Hier ist meines Bleibens nicht. Mehr, als mich aus ihrem Eigenthume jagen, kann meine Feindin nicht thun.“
„Aber wohin wollen Sie sich wenden?“ fragte der Greis unter Thränen.
Diese Frage fiel den armen Mädchen schwer auf das Herz.
„Wohin?“ flüsterte sie mit einem Blicke zum Himmel. „Der gute Gott hat mich damals nicht verlassen, als ich ein hülfloses Kind in der Welt stand – er wird mir auch jetzt einen Weg zeigen. Wo befindet sich Franziska?“
„Als ich den Wagen ankommen hörte, eilte ich in den Hof.
Das Fräulein war schon ausgestiegen und befahl mir, den Gerichtshalter zu holen. Ich that es. Jetzt befindet sie sich mit ihm in dem Saale; sie haben, wie es scheint, wichtige Dinge zu verhandeln. Ich benützte die Zeit, um Sie davon in Kenntniß zu setzen. Fräulein Franziska ist sehr aufgeregt und der Gerichtshalter ist so freundlich und höflich, daß er ihr das Kleid geküßt hat.“
Marianne hatte einen Augenblick nachgesonnen. Dann, als ob sie einen entscheidenden Entschluß gefaßt, erhob sie das Haupt, und sagte in einem entscheidenden Tone: „Man soll nicht sagen, daß ich meiner Pflicht gefehlt – bis zu dem Augenblick, wo man mich davon entbindet, werde ich sie erfüllen. Nimm das Licht, Gottfried, und leuchte mir in den Saal voran, ich will das Fräulein von Adersheim empfangen.“
Der Kammerdiener ergriff die Kerze, und ging voran. Beide stiegen die breite Treppe hinab, und traten in den Saal des Erdgeschosses. Franziska und der Gerichtshalter saßen an einem Tische, auf dem mehrere Aktenstücke und Papiere lagen.
Bei dem Erscheinen Marianne’s erhob sich Franziska. Der Anblick des einfachen, aber reizenden Mädchens, das mit ruhigen, würdevollen Mienen eingetreten, brachte eine fürchterliche Aufregung in der leidenschaftlichen Franziska hervor. Ihr Gesicht ward bleich und die großen Augen rollten in dem schönen Kopfe.
„Wer hat Sie rufen lassen, Demoisell?“ fragte sie mit bebender Stimme.
Hatte Marianne auch einen kalten, herzlosen Empfang erwartet, auf einen Empfang, der sie so tief herabsetzte, war sie nicht vorbereitet gewesen. Sie vermochte vor Bestürzung nicht zu antworten.
Der greise Kammerdiener wollte sich entfernen.
„Halt, bleibe Er! Die Domestikenwirthschaft hat nun ein Ende!“ rief Franziska.
Der alte Mann verneigte sich und trat zur Thür zurück.
„Ihr habt bis jetzt die Herren im Hause gespielt,“ fuhr sie fort – „jetzt bin ich die Herrin! Von diesem Augenblicke an habt Ihr nur zu gehorchen.“
„Gehorchen?“ fragte Marianne mit einem schmerzlichen Lächeln.
„Sie verkennen Ihre Stellung, mein Fräulein. Giebt Ihnen auch die Geburt das Recht, über das Vermögen Ihres Onkels nach Willkür zu verfügen; auf den Dienst derer, die ihn liebten, haben Sie keine Ansprüche. Ich bin nicht gekommen, um nach Ihren Befehlen zu fragen, sondern um unaufgefordert mein Amt niederzulegen.“
„O, wie schlau!“ rief sie spöttisch. „Sie legen ein Amt nieder, von dem Sie wissen, daß man es Ihnen nicht lassen wird. Rechenschaft fordere ich nicht, denn man soll nicht sagen, daß ich geizig bin. Verstanden, Demoiselle? Rechenschaft fordere ich nicht!“ wiederholte sie betonend. „Fordern Sie vielmehr Ihren Lohn, ich bin bereit, mit Ihnen abzurechnen. Wenn ein Domestik abzieht, hat er das Recht, seinen Lohn zu fordern.“
Bei dieser tiefen Demüthigung erwachte Marianne’s Stolz.
„Ja,“ antwortete sie mit fester Stimme, „ich war die Magd meines Wohlthäters, ich diente ihm aus Liebe, und jeder seiner Wünsche war erfüllt, noch ehe er ihn aussprach. Als Lohn dafür empfing ich seine Vaterliebe, denn er hielt mich wie seine Tochter. Jetzt, mein Fräulein, ist dieser Dienst zu Ende, ein Dienst, den Sie eigentlich hätten verrichten sollen, wenn Sie die Fähigkeiten dazu gehabt hätten. Doch, warum rechte ich mit Ihnen, die sie mich nicht verstehen wollen?“
„Machen Sie es kurz!“ rief Franziska, indem sie ungeduldig mit dem Fuße auf die Erde stampfte. „Was fordern Sie von mir?“
„Nichts, als daß Sie mich ungekränkt ziehen lassen.“
„Gut, noch eine Nacht dulde ich Sie unter meinem Dache!“
„Dulden, noch eine Nacht?“ wiederholte Marianne schmerzlich.
„Morgen findet sich wohl Jemand, der Sie in seine Dienste nimmt!“ rief Franziska mit einem höhnischen Lachen und indem sie sich verachtend abwandte. „Gehen Sie nur in die Residenz, dort finden Sie Freunde!“
Marianne begriff den Sinn dieser Worte nicht, da sie Franziska’s Eifersucht nicht kannte. Sie warf noch einen schmerzlichen Blick nach dem Portrait des Obersten, das in dem Saale hing, dann ging sie festen Schritts der Thüre zu.
„Bettelstolz!“ rief Franziska ihr nach, deren Aufregung keine Grenzen kannte.
Auf der beleuchteten Hausflur verließ die arme Marianne die Kraft – sie sank, einer Ohnmacht nahe, auf einen Stuhl.
In diesem Augenblicke öffnete sich die Hausflur und Philipp trat ein. Als er das bleiche, regungslose Mädchen erblickte, stürzte er mit dem Ausrufe auf sie zu:
„Mein Gott, Marianne, was ist geschehen?“
Und stürmisch ergriff er ihre beiden Hände. Sie schlug die thränenschweren Augen auf.
„Philipp!“ flüsterte sie erschreckt. „Was willst Du? Was willst Du?“
„Draußen erzählt man sich, daß Franziska angekommen ist – sie hat Dich gekränkt, beleidigt –“
„Nein, nein!“ antwortete sie, indem sie schmerzlich das schöne [509] Haupt schüttelte; „sie kann mich nicht beleidigen. Aber führe mich weg von hier, Philipp – begleite mich zur Stadt!“
„Zur Stadt? Denkst Du denn nicht an uns?“ fragte er weinend. „Laß die kalten Menschen und folge mir in unser Haus, wo Du mit offenen Armen empfangen wirst. Marianne, um Gotteswillen zögere keinen Augenblick!“
„Du hast Recht! Du hast Recht!“ rief sie nach einer Pause, in der sie über die erlittene Schmach nachgedacht hatte. „Meine Feindin soll den Triumph nicht haben, mich auch nur einen Augenblick in Verlegenheit zu sehen. Ich darf diese Nacht nicht mehr unter ihrem Dache zubringen. Begleite mich, Philipp, Deinem Schutze will ich mich anvertranen!“
„Und sei gewiß, daß er Dir kräftig zu Theil werden soll!“ rief der junge Mann mit Stolz und Muth.
Er faßte Marianne bei der Hand und führte sie auf ihr Zimmer.
Eine Viertelstunde war verflossen, als Franziska mit dem Gerichtshalter aus dem Saale trat. Der alte Gottfried leuchtete voran. In demselben Augenblicke kamen Marianne und Philipp die Treppe herab. Sie trug ein kleines weißes Bündel in der Hand; er war mit einer Reisetasche und einigen Kartons bepackt. Marianne zog rasch ihren grünen Schleier über das Gesicht, als sie die neue Herrin von Adersheim erblickte, und verließ das Haus.
„Wer war der Bauer?“ fragte Franziska den Gerichtshalter.
„Philipp Eckhard!“ war die demüthig ertheilte Antwort. „Ich behalte mir vor, dem gnädigen Fräulein noch nähere Auskunft über das Besitzthum dieses Mannes zu geben, das unmittelbar an Ihre Güter grenzt. Es ist meine Pflicht,“ fügte er mit einem bedeutungsvollen Lächeln hinzu, „dafür zu sorgen, daß meiner Herrin alles zufalle, was ihr von Rechtswegen gebührt.“
„Für heute genug!“ sagte die junge Dame verdrießlich. „Morgenfrüh erwarte ich Sie auf meinem Zimmer.“
Philipp und Marianne standen bald an dem Thore der Meierei. Der alte Eckhard öffnete. Erstaunt betrachtete er die Begleiterin seines Sohnes, die er in der Dunkelheit des Abends nicht sofort erkannte.
„Hier bringe ich sie,“ sagte Philipp, als sich die Hofpforte geschlossen hatte. „Reiche ihr doch die Hand, Vater – erkennst Du sie denn nicht? Es ist ja unsere Marianne. Sie wohnt nicht mehr auf dem Schlosse, sie wird nun bei uns bleiben.“
„Wollt Ihr mich aufnehmen, nur für kurze Zeit, Vater Eckhard?“ fragte sie schluchzend. „Man hat mich aus dem Schlosse vertrieben.“
„Marianne!“ rief der greise Landmann. „Du bist ja so gut wie mein Kind – willkommen, willkommen!“
Er nahm ihr das Bündel ab und führte sie bei der Hand in das Stübchen, wo Mutter Eckhard, die am Fenster gelauscht hatte, sie mit einem lauten Freudenschrei empfing.
„Aber hier können wir nicht bleiben – komm in das gute Zimmer, mein Kind!“ rief sie, indem sie eilig die Lampe ergriff. „Du lieber Gott, wer hätte denn das denken können!“
Philipp war längst in dem guten Zimmer. Als die alten Leute mit Mariannen, die trotz ihres Protestirens folgen mußte, eintraten, hatte er sein Gepäck bereits abgelegt. Er zündete den Rest einer Wachskerze an, die vorige Weihnachten gebrannt hatte, und räumte einige Bücher vom Tisch, damit der Gast seine Studien nicht gewahren sollte.
„Du bleibst nun bei uns?“ fragte das Mütterchen, indem es dem jungen Mädchen Hut und Mantel abnahm.
Marianne warf sich ihr gerührt an die Brust.
„Ihr waret die Freundin meiner guten Mutter, Ihr kennt mich und alle meine Verhältnisse – behaltet mich bei Euch, bis ich ein anderes Unterkommen gefunden habe.“
„Verliere kein Wort weiter über diese Sache,“ sagte ernst Philipp’s Vater. „Du würdest mich gekränkt haben, wenn Du an meiner Thür vorübergegangen wärst. Bei Leuten, die es gut meinen, klopft man zuerst an. Und außerdem bist Du uns keine Fremde –“
„Ein Glück, daß ich zufällig in das Schloß kam!“ rief Philipp. „Sie wollte diesen Abend noch zur Stadt gehen.“
„Hast Du denn kein Vertrauen zu uns?“ fragte grollend das Mütterchen.
Vater Eckhard wiegte den Kopf und murmelte still vor sich hin:
„Sie denkt ganz richtig, und darum ist sie mir noch einmal so lieb und werth. Willkommen, Marianne,“ sagte er laut in einem treuherzigen Tone. „Ich begrüße Dich als meine Tochter, als Philipp’s Schwester. Mit Gottes Hülfe werde ich für Deine Zukunft sorgen so viel als in meinen Kräften steht, und wenn es Dir recht ist.“
Marianne erzählte nun, was sich in dem Schlosse zugetragen hatte. Alle kannten zwar den Charakter des stolzen Fräuleins von Adersheim, aber keiner wußte sich den Grund ihrer heftigen Erbitterung gegen Marianne zu erklären. Philipp glaubte ihn zu kennen.
„Sie ist tausendmal schöner, als die adelige Dame!“ dachte er. „Sie will nicht, daß die arme Waise mehr geachtet and geliebt werde, als sie selbst.“
Es war spät, als der Hausvater ermahnte, zur Ruhe zu gehen. Marianne mußte in dem Zimmer bleiben und in dem Bette schlafen, das in der angrenzenden Kammer stand. Am nächsten Morgen war Philipp zuerst wach im Hause. Als die übrigen Bewohner erschienen, hatte er bereits die erste Arbeit des Tages vollbracht und die Kleider angelegt, die er beim Ausgehen zu tragen pflegte. Vater Eckhard schüttelte den Kopf, als er seinen Sohn so erblickte.
„Das thut nicht gut!“ murmelte er vor sich hin. „Ich habe längst meinen Argwohn gehabt – jetzt bestätigt er sich. Der arme Junge liebt das Mädchen und darum giebt er sich so viel Mühe, den Bauer abzulegen. Er sitzt Tag und Nacht bei den Büchern, um ihr an Bildung so viel wie möglich gleich zu kommen. Das kann eine unglückselige Geschichte werden.“
Er ging in die Milchkammer, wo seine alte Gattin beschäftigt war, für Marianne die beste Sahne zum Kaffee abzuschöpfen. Nachdem er die Thür hinter sich geschlossen hatte, fragte die Bäuerin mit einem seligen Lächeln: „Hast Du sie schon gesehen, Eckhard?“
„Wen?“
„Nun, unsere Marianne. Sie schläft wohl noch? Ach, sie ist doch ein prächtiges Mädchen. Hast Du bemerkt, wie sie unsern Philipp immer ansah?“
„O ja, Mutter, ich habe auch bemerkt, mit welchen Blicken Philipp sie ansah.“
„Ich weiß es längst, daß er sie gern hat!“
„Eben deshalb kann Marianne nicht lange in unserm Hause bleiben.“
Der guten Frau entsank der Holzlöffel, sie sah ihren Mann mit großen, erstaunten Augen an.
„Eckhard, Du willst Mariannen nicht dulden?“ fragte sie endlich. „Bedenke, wenn sie nicht gewesen wäre, hätten wir die schönen Ackerstücke nicht erhalten, die unsern Wohlstand begründet haben.“
„Das weiß ich Alles, Frau, und werde es auch nie vergessen. Wir sind dem guten Mädchen Dank schuldig, und den werde ich dadurch beweisen, daß ich sie von Philipp trenne. Wenn Du nicht mit Blindheit geschlagen bist, so mußt Du sehen, daß die feine Dame, wozu sie der selige Herr Oberst erzogen hat, einen Bauer nicht heirathen kann. Hut, Schleier und seidene Kleider und Mantel passen nicht zu Kuh und Pferdeställen. Marianne ist ein kluges Mädchen, sie wird längst Philipp’s Neigung bemerkt haben und darum wollte sie auch lieber nach der Stadt als in unser Haus. Sie bewegen wollen, hier zu bleiben, würde sie für nichts anderes halten, als für die Absicht, ihr unsern Sohn aufzudrängen. Ich bin ein Feind von allen Kuppeleien und darum werde ich offen und ehrlich zu Werke gehen. Bis jetzt hängt Philipp noch in alter Jugendfreundschaft an dem Mädchen – wir müssen sehr auf unserer Hut sein, wenn sie ihm nicht ganz den Kopf verdrehen soll. Sieh’ nur, wie verändert er seit gestern Abend ist. Also, Mutter, wenn Du Dein Kind lieb hast, so vereitle meinen Plan nicht durch voreiliges Geschwätz. Ich weiß, Du meinst es gut; aber diesmal mußt Du mir folgen, der ich weiter sehe, als Du. Sei freundlich gegen Marianne und pflege sie – aber sei vorsichtig in Deinen Reden, das wollte ich Dir sagen.“
Vater Eckhard verließ die Milchkammer und ging seinen Geschäften nach.
„Ist das ein Mann!“ flüsterte das Mütterchen vor sich hin. „Was er alles in der guten Marianne sieht, es ist erstaunlich! Wenn sie käme and sich unserm Philipp gleich an den Hals würfe, [510] so wäre es ihm recht. Das kann Niemand von einem jungen Mädchen verlangen. Eine Heirathsgeschichte muß immer erst zurecht gemacht werden, und das versteht keiner besser, als wir Frauen. Ehe etwas geschieht, müssen wir einmal die Fühlhörner ein wenig ausstrecken.“
Sie trug das Frühstück in das Zimmer. Marianne hatte bereits ihre Toilette vollendet und einen Brief, den sie in dem Augenblicke schloß, als die alte Bäuerin eintrat. Mit einem unbeschreiblichen Wohlgefallen betrachtete das Mütterchen das junge Mädchen, das ihr schmerzlich lächelnd entgegentrat und die Hand reichte.
„Gefällt Dir dieses Zimmer, das unser Philipp eingerichtet hat?“ fragte sie. „Es ist freilich nicht so großartig wie die Zimmer des Schlosses – –“
„Aber freundlich und bequem,“ ergänzte Marianne; „es läßt nichts zu wünschen übrig.“
„O, das freut mich von Herzen! Ich hatte schon Sorge, daß Dir irgend etwas fehlen würde –“
„Mein gutes Mütterchen, wie bedauere ich, daß ich Euch so viel Sorgen bereiten muß! Gestatten Sie mir nur einige Tage, und ich ziehe wieder ab, um ferner die gewohnte Ruhe Eures Hauses nicht zu stören.“
„Was das nun wieder ist!“ rief in einem fast ärgerlichen Tone[WS 1] Mutter Eckhard. „Wir sind Deine Freunde und Verwandte und deshalb dürfen wir nicht zugeben, daß Du unter fremde Menschen gehst. Das wäre mir eine schöne Geschichte! Was würden die Leute über Eckhard’s sagen, wenn sie hörten, die älternlose Marianne sei nach der Stadt oder sonst wohin gegangen, nachdem sie sich einige Tage bei ihnen aufgehalten? Entweder würden sie sagen, Marianne sei zu stolz, um bei den schlichten Bauersleuten zu wohnen, oder Eckhard’s wären undankbare Menschen, die der armen Waise ihre Thür verschlossen hätten. Das geht nicht, Du mußt bei uns bleiben. Hätte Dich der selige Herr Oberst in jener unglücklichen Zeit nicht auf das Schloß genommen, so wäre es unsere Pflicht gewesen, für Dich zu sorgen und Du wärst nicht erst gestern, sondern schon vor Jahren zu uns gekommen. Aber warum weinst Du, Marianne? Ich will Dich nicht kränken, ich will Dir nur beweisen, daß Du bei uns bleiben mußt und daß wir die Verpflichtung haben, für Dich wie für unser eigenes Kind zu sorgen.“
Marianne trocknete ihre Thränen; dann flüsterte sie mit einem Seufzer: „Ich weine über mein Schicksal, das mich abhält, Ihre gut gemeinten Vorschläge anzunehmen; aber halten Sie mich darum nicht für undankbar oder wohl gar für stolz – ach, wollte Gott, ich könnte für immer in diesem friedlichen Hause und unter seinen guten Bewohnern bleiben!“
„Aber was hält Dich davon ab?“ fragte die alte Bäuerin verwundert. „Es kommt ja nur auf Deinen Entschluß an.“
In diesem Augenblicke trat Vater Eckhard ein. Ein Blick auf seine Frau genügte, um ihn erkennen zu lassen, daß er sich in seinem Argwohn nicht getäuscht hatte. Ein zweiter Blick auf die befangene und dennoch erregte Marianne, gab ihm völlige Gewißheit.
„Sie hat entweder schon geschwatzt, oder sie will schwatzen!“ dachte er, seinen aufkeimenden Groll gewaltsam unterdrückend.
„Grüß Dich Gott, Marianne!“ rief er laut und herzlich aus, indem er seine pelzverbrämte Sammetmütze auf einen Stuhl warf. „Ich würde mich früher schon erkundigt haben, wie Du nach dem gestrigen stürmischen Tage geschlafen hast, wenn ich nicht gefürchtet hätte –“
„Jetzt trinke Deinen Kaffee, mein Kind!“ unterbrach ihn Mutter Eckhard, die seine Absicht errieth und fürchtete, er würde jetzt schon sich offen gegen das Mädchen aussprechen. „Die Sahne ist so lecker, wie Du sie kaum auf dem Schlosse gehabt haben wirst,“ fügte sie redselig hinzu. „Unser Philipp hat erst im verflossenen Frühjahr ein Paar holsteinische Kühe angeschafft, die ihres Gleichen suchen.“
„Es ist gut, Mutter!“ sagte der ungeduldige Landmann, der den Brief auf dem Tische bemerkt hatte. „Nicht von gleichgültigen, sondern von wichtigen Dingen wollen wir reden. Marianne, jetzt sage mir ohne Hehl, worin ich Dir nützlich sein kann.“
Die alte Bäuerin warf einen Blick des Unmuths auf ihren Mann.
„Das dachte ich mir!“ flüsterte sie vor sich hin. „Er fällt wieder mit der Thüre in’s Haus, wie er es bei jeder Gelegenheit zu thun pflegt. Mit dem alten Rappelkopfe ist doch nichts anzufangen.“
„Ich habe eine Bitte an Sie zu richten, Vater Eckhard,“ sagte Marianne.
„So sprich sie aus, mein Kind, und ich erfülle sie.“
„Hier ist ein Brief – wie befördere ich ihn nach der Stadt?“
Vater Eckhard las die Adresse. Der Brief war an die Vorsteherin einer Erziehungsanstalt für junge Mädchen gerichtet, derselben, von der er wußte, daß Marianne dort ihre Bildung erhalten hatte. Er ahnte ihre Absicht.
„Ist der Brief von Wichtigkeit?“ fragte er.
„Ja.“
„Dann übernehme ich selbst die Besorgung. Diesen Mittag werde ich aus der Stadt zurückgekehrt sein.“ Er öffnete das Fenster und rief einem Knechte zu: „Jakob, sattele auf der Stelle den Fuchs, ich will zur Stadt reiten!“ – dann steckte er den Brief zu sich und verließ das Zimmer. Seine Frau folgte ihm, um die Reisekleider aus dem Schranke zu holen. Als sie vor ihm stand und ihm das Halstuch zurechtband, konnte sie sich nicht enthalten, ihrem Grolle Luft zu machen.
„Was wird das arme Mädchen von uns denken!“ sagte sie halblaut. „Anstatt sie zurückzuhalten, beeilen wir uns – –“
„Schweig, Mutter!“ sagte Eckhard ernst. „Gott im Himmel weiß, daß ich das Mädchen schätze und achte und daß ich bereit bin, Alles für sie zu thun – aber eben so wenig sie für unsern Philipp paßt, eben so wenig wird sie ihn zum Manne nehmen. Der arme Junge grämt sich ab, und wir haben uns die bittersten Vorwürfe zu machen, daß wir seine Neigung nicht im Keime erstickt haben.“
„Aber, Mann, bedenke, wenn wir Mariannen vor zwölf Jahren zu uns genommen hätten, wie es damals Deine Absicht war – –“
„Ach, dann ständen die Sachen anders! Dann wäre sie ein schlichtes Landmädchen geworden, wie es für unsern Philipp paßt, und ich hätte nichts dagegen einzuwenden. Sieh, Mutter, ich will es Dir nur bekennen, über diesen Punkt habe ich oft mit dem seligen Oberst gesprochen, der unsern Philipp eben so gern hatte wie Mariannen. Eckhard, sagte er noch kurz vor seinem Tode, als ich zufällig mit ihm auf der großen Wiese zusammentraf, die unser Philipp durch künstlich angelegte Röhren bewässert, daß sie wie ein Garten aussieht – Eckhard, sagte er, nehmt mir Euern Jungen in Acht, das ist ein Prachtkerl! – Wie meinen Sie das, Herr Oberst? fragte ich, obgleich ich längst wußte, wo er hinaus wollte. – Seht, Freund, fuhr er in seiner herablassenden Weise fort, ich hatte die Absicht, meine Marianne mit Philipp einmal zu verheirathen – –“
„Na, da hast Du es ja!“ rief eifrig das Mütterchen.
„Sapperment, laß mich ausreden!“ rief Eckhard mit dem Fuße stampfend.
Aber das erfreute Mütterchen hielt die Spitzen des schwarzseidenen Halstuchs fest, daß dem erregten Eckhard fast die Kehle zusammengeschnürt ward und dabei rief sie: „Das lasse ich mir nicht nehmen, der Herr Oberst war ein guter und ein kluger Mann, der recht gut wußte, was den Kindern frommt.“
„Ja, das wußte er!“ rief Eckhard mit seiner kräftigen Baßstimme. „Und deshalb sagte er auch, die Marianne ist ein so vornehmes und kluges Frauenzimmer geworden, daß sie einen Edelmann heirathen muß, wenn sie glücklich sein soll. Das wollte ich eigentlich nicht, aber es ist nun einmal so, und ich werde Mühe haben, einen passenden Mann für sie zu finden.“
„Das begreife ein Anderer!“ flüsterte erstaunt die Mutter Philipp’s. „Was Ihr aus dem Mädchen macht! Nun soll es selbst kaum einen Edelmann geben, der für sie gut genug ist. Mir scheint, der Herr Oberst war in das Mädchen vernarrt –“
„Mag sein, er war aber auch sehr verständig dabei. Es giebt genug Männer, sagte er, die sich zu benehmen wissen und eine große Rolle spielen, Männer, die jedes andere gebildete Mädchen glücklich machen würden; aber Marianne weiß mehr wie fast alle Männer, die man zu den reichen und gebildeten zählt, und außerdem will sie verstanden sein. Marianne macht entweder einen Mann sehr glücklich oder sehr unglücklich, sagte er; sie kommt [511] mir vor wie ein Edelstein, der nur für den Kenner Werth hat. Denkt daran, Eckhard, und sorgt dafür, daß sich Philipp nicht in die schöne Larve verliebt. Marianne achtet ihn wie einen theuern Bruder, aber heirathen kann sie ihn nie. Wollte man sie dazu zwingen, so würde man eine Grausamkeit gegen Beide begehen. So, Mutter, sprachen wir noch lange, und als ich nach Hause kam und unsern Sohn mit den Pferden in den Stall ziehen sah, gesund und fröhlich, da fühlte ich, daß der Oberst Recht hatte und daß ich Alles aufbieten müßte, um den Seelenfrieden des wackern Jungen zu erhalten.“
Vater Eckhard zog nun seinen blauen Sonntagsrock an, nahm den Hut von einem Nagel an der Wand, ergriff einen Kantschu, der an demselben Nagel hing, und ging in ernster Stimmung aus dem Zimmer, ohne von seiner alten Lebensgefährtin Abschied zu nehmen. Das Mütterchen stand nachdenkend am Fenster und sah durch die hellen Scheiben in den Hof hinaus, wo Marianne’s Bote zu Pferde stieg. Gleich darauf kündigten Hufschläge an, daß er durch das Thor in das Freie ritt. Das Mütterchen verließ kopfschüttelnd das Zimmer, sie konnte das Alles nicht begreifen, was sie so eben gehört hatte. Nach ihrer Ansicht mußten sich nothwendig zwei junge Leute heirathen, die sich so lange einander gut gewesen waren.
Noch denselben Morgen kam ein Bote von dem Schlosse und brachte sämmtliche Sachen, die Marianne in ihrem Zimmer zurückgelassen hatte. Am Mittag kehrte Vater Eckhard zurück.
Franziska sah sich am Ziele ihrer Wünsche, sie war die Herrin der reichsten Besitzung in der Provinz. Nachdem sie dem Gerichtshalter, der ihr volles Vertrauen besaß, die Leitung auch der außergerichtlichen Angelegenheiten übertragen, ging sie nach der Residenz zurück, um dort den Winter zu verleben. Der Triumph über Marianne, die man stets als die Pflegetochter des Barons von Adersheim mit ihr zusammengestellt hatte, erfüllte sie mit einer Art verzweiflungsvoller Freude, denn es gab immer noch eine Stimme in ihrem Innern, die ihr sagte, daß sie gegen das junge Mädchen zu weit gegangen sei. Um sich zu beruhigen, fragte sie sich:
„Was würde sie, die unbestreitbar meine ärgste Feindin ist, gegen mich unternommen haben, wenn sie die Siegerin gewesen wäre? Während ich der allgemeinen Lächerlichkeit anheimgefallen wäre und mit Noth und Entbehrung gekämpft hätte, würde sie, die reiche Erbin, die Bewerbungen Walther’s angenommen haben, der, weil er arm ist, nach Vermögen heirathen muß. Ich mußte sie ganz vernichten, um ganz mein Ziel zu erreichen. Aber was beginne ich, wenn er sich mir wieder nähert?“
Diese Frage wagte sie nicht sich zu beantworten. Der Stolz forderte sie auf, den treulosen Mann zu verschmähen, aber die heftigste Leidenschaft trieb sie an, auch die leiseste seiner Annäherungen zu einem neuen Anknüpfungspunkte zu benutzen. Ihr Kopf lag mit dem Herzen in einem Streite, der ihr selbst unter den eingetretenen glücklichen Verhältnissen das Leben zu einer Pein machte. Der Gedanke, wie glücklich sie jetzt sein könne, wenn Walther sich nicht von ihr abgewendet hätte, erfüllte sie mit einem unbeschreiblichen Grolle. Sie besaß alles, was das Leben freudenvoll machen konnte, aber das Herz, das leidenschaftlich liebte, fand keine Befriedigung. Die ganze Schwere ihres Hasses fiel auf die arme Marianne, und es gab Augenblicke, in denen sie mehr vor Zorn als vor Kummer weinte. Die Eifersucht trug das Ihrige dazu bei, den peinlichen Zustand der armen reichen Dame zu erhöhen. Daß Walther seit der für sie glücklichen Wendung der Dinge noch nicht wieder erschienen war, hielt sie für einen Beweis seiner aufrichtigen Liebe zu der Tochter des Bauers. Ihr zärtliches Verhältniß zu dem schönen jungen Manne war kein Geheimniß gewesen, auch wußte sie, daß Walther’s Aufmerksamkeiten sie nicht selten zum Gegenstande des Neides gemacht hatten – welch ein Triumph mußte es nun der Welt sein, wenn sie selbst als die Besitzerin eines großen Vermögens verschmäht würde.
Ihre erste Sorge in der Residenz war die, über Walther’s Leben Erkundigungen einzuziehen. Hierzu bedurfte sie einer vertrauten Person. Wen konnte sie dazu wählen? Nach einer schlaflos verbrachten Nacht, in der Stolz und Liebe einen heftigen Kampf gekämpft, hatte sie die Ansicht gewonnen, daß sie sich einer von ihr völlig abhängigen Person anvertrauen müsse. Sie erinnerte sich der Freude und Anhänglichkeit des alten Kammerdieners, die er bei ihrem Erscheinen auf Adersheim so unverhohlen geäußert – und die Wahl fiel auf ihn. Gottfried war mit ihr zur Stadt gekommen, um bei der Einrichtung des neuen Hauswesens behülflich zu sein. Sie ließ ihn rufen. Als der Greis in das prachtvolle Boudoir trat, streckte sie ihm, mit großer Herablassung lächelnd, die kleine weiße Hand entgegen.
„Gottfried,“ begann sie, „Ihr werdet in der Stadt bleiben müssen.“
Der Alte sah sie verwundert an. Die ungewöhnliche Freundlichkeit sowohl als dieser unerwartete Befehl fielen ihm auf.
„Sollte ich draußen zu entbehren sein?“ fragte er.
„Wenn auch das nicht, mein alter Freund,“ gab sie mild zur Antwort, „so ist es mir dennoch angenehm, wenn Ihr in meiner Nähe seid. Ich weiß nicht, woher es kommt – aber die Erinnerung an meine Jugend erwacht so heftig, daß ich den Wunsch nicht unterdrücken kann, alte befreundete Personen stets um mich zu sehen. Mit dem Antritte meines Besitzes finden sich auch so manche Sorgen ein, die ich gern mit bewährten Freunden theile. Und nicht wahr, ich darf Euch dazu rechnen?“
„O gewiß, mein gnädiges Fräulein,“ rief bewegt der Greis, „das können Sie! Es giebt wohl keinen Menschen in der Welt, der mehr an Ihrer Familie hängt, als ich. Bin ich doch unter den Augen der Barone von Adersheim grau geworden. Wäre ich nicht Ihr Diener, so möchte ich Ihr Vater sein.“
Der Greis küßte die Hand des jungen Mädchens.
„So bleibt Ihr also in der Stadt, Gottfried. Der Diener meines guten Onkels soll von jetzt an befehlen – Ich ernenne Euch zu meinem Intendanten. Ihr werdet die Aufsicht über Haus und Dienerschaft führen. Verlebt Euere alten Tage in Ruhe und Gemächlichkeit, denn ich betrachte Euch wie ein Vermächtniß, das man heilig halten muß.“
„Du lieber Gott, Was sollte ich fünfundsechzigjähriger Mann auch beginnen, wenn das liebe Fräulein sich meiner nicht annähme? Aber wahrlich, das habe ich erwartet,“ fügte er freudig bewegt hinzu, „denn schon das kleine Fränzchen, als ich es noch spielend auf meinen Armen trug, war ein lebhaftes, muthwilliges Kind und hat mich gar oft, wenn es bös wurde, dergestalt in dem Schnurrbarte gezwickt, daß mir die Thränen aus den Augen liefen – aber nie habe ich mich darüber beklagt, weil ich wußte, daß es schon in der nächsten Viertelstunde wiederkam, mir mit den kleinen zarten Händchen den Bart streichelte und mich den alten guten Gottfried nannte. Dann war Alles vergessen und wir waren wieder die besten Freunde.“
Franziska sah den Kammerdiener mit strengen Blicken an.
„Was wollt Ihr damit sagen?“ fragte sie in einem völlig veränderten Tone.
Der alte Mann nahm seinen ganzen Muth zusammen, um zu antworten.
„Daß das gnädige Fräulein ein gutes, weiches Herz hat und daß es Niemandem lange böse sein kann, auch wenn etwas vorgefallen ist – –“
„Das man eigentlich nie wieder vergessen sollte!“ fügte sie rasch und in einem scharfen Tone hinzu. „Ich verstehe Euch, Alter! Ihr wollt einer Person das Wort reden, die mich tödtlich beleidigt hat. Ich soll vergessen, daß Marianne, Euer Lieblingskind, mir so lange die Gunst meines Onkels gestohlen und daß heute das Vermögen der Familie Adersheim sich in ihren Händen befände, wenn sie den Lauf der Dinge hätte bestimmen können. Jene Marianne ist eine Schlange, obgleich sie äußerlich einer sanften, unschuldigen Taube gleicht. Daß ich sie vergesse, ist Alles, was ich für sie thun kann – hört Ihr, Alter, Alles, aus Rücksicht für das Andenken des Verstorbenen, der an ihr mit väterlicher Liebe hing.“
„Gnädiges Fräulein, Sie haben das arme Mädchen in einem um so schlimmern Verdachte, als er völlig ungegründet ist. Entweder kennen Sie Mariannen nicht, oder man hat sie bei Ihnen schmählich verläumdet. Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß ich Ihrem seligen Onkel mehr ein Freund, als ein Diener war – in dieser Stellung erfuhr ich so Manches und bei meinem grauen Haupte schwöre ich es, daß Marianne nie – –“
„Genug!“ rief Franziska, deren Wangen die Purpurröthe des Zorns überflammte. „Wenn Ihr nicht wollt,“ fuhr sie hinfort, [512] „daß ich Euch in dem Verdachte halte, Ihr hängt mehr an jener Person als an mir, so beregt nie wieder diesen Gegenstand.“
„O mein Gott!“ rief der Greis mit Thränen in den Augen, „ich habe Sie als Kind geliebt, und verehre Sie heute als meine gute Herrin. Die Zukunft wird es zeigen, daß ich Ihrer Güte und Ihres Vertrauens vollkommen würdig bin. Wenn ich mir erlaubte, Ihre theilnehmende Aufmerksamkeit auf Marianne zu lenken, so glaubte ich eine Pflicht zu erfüllen – Sie wollen es nicht, und ich werde gehorsam schweigen.“
„Eine Pflicht?“ fragte Franziska, indem sie ihren Gang durch das Zimmer unterbrach und mit stolzen Mienen vor dem greisen Diener stehen blieb. „Will man mich bevormunden? Wer hat Euch dergleichen Andeutungen zur Pflicht gemacht?“
„Meine Liebe zu Ihrer Familie, gnädiges Fräulein! Ich habe alle Wechselfälle derselben erlebt, denn Sie müssen wissen, daß ich schon Ihrem Herrn Großvater diente, und daß ich von ihm zu Ihrem Herrn Vater überging, der sich damals verheiratete und ein großes Haus in der Residenz machte, während Ihr Onkel, der älteste Adersheim, seine Carrière in der Armee verfolgte. Das Rittergut da draußen war verpachtet. Sie wollen wissen, warum ich Pflichten gegen Sie zu erfüllen habe? Ich will es Ihnen sagen, damit Sie mich nicht für einen Menschen halten, der anmaßend die Grenzen seines Wirkungskreises überschreitet. Es sind nun zwölf Jahre, gnädiges Fraulein, daß ich auch einmal vor Ihrem Vater stand, wie ich heute vor Ihnen stehe. Ihre Mutter ward von Gram und Sorgen darnieder gedrückt, und mehr als einmal hatte sie mir ihr Herz ausgeschüttet. Da nahm ich mir das Recht des alten, treuen Dieners, und warnte meinen Herrn vor gewissen Leuten, die nicht seine Freunde, sondern seine Blutsauger waren. Er aber ward zornig, nannte mich einen frechen Menschen und jagte mich, zum Leidwesen seiner guten Gattin, aus dem Hause. Der Herr Oberst, sein Bruder, hatte damals das Schloß bezogen, und nahm mich in sein Haus. Mit Bedauern hörte ich, wie die Sachen in der Stadt sich immermehr verschlimmerten, und daß endlich Ihre gute Mutter starb. Gleich nach ihrem Tode sandte mich mein Herr in Geschäften nach der Residenz. Da begegnete mir Ihr Vater auf der Straße. Als er mich erblickte, kam er auf mich zu und reichte mir, zu meinem Erstaunen, die Hand. Gottfried, sagte er, indem er auf den Flor an seinem Hute deutete, ich habe einen schweren Verlust erlitten. Du hast sie gekannt – sie ist todt! Vielleicht lebte sie noch, wenn ich auf Deine Worte gehört hätte. Vergieb mir – ich bin schwer gestraft! Indem er sich die Augen trocknete, ging er weiter. Als ich mich einigermaßen von meinem Erstaunen erholt hatte, war er verschwunden. Sehen Sie, mein liebes Fräulein, wenn ich daran denke, so glaube ich die Pflicht zu haben, meine Herrschaft vor Schritten zu warnen, die sie später bereuen könnte.“
Franziska bekämpfte ihre Bewegung; sie konnte dem Diener ihre Achtung nicht versagen, der sich dennoch auf den Standpunkt eines Rathers erhob, obgleich er für eine ähnliche Hingebung bereits einmal gebüßt hatte. Sie fühlte, daß sie sich diesem Manne anvertrauen konnte. Schon stand sie im Begriffe, ihm den Hauptbeweggrund ihrer Abneigung gegen Marianne mitzutheilen, als eine Magd eintrat.
„Herr Walther von Linden!“
Ein jäher Blitz aus heitrer Luft hätte keine größere Wirkung hervorbringen können, als die Nennung dieses Namens. Sie erbleichte und erröthete in einem Augenblicke. Walther hatte durch seine Ankunft ihrem Stolze und ihrem Herzen genügt.
„Ich ziehe mich zurück,“ sagte der alte Kammerdiener, der die plötzliche Veränderung seiner Herrin mit Erstaunen bemerkte.
„Gottfried,“ sagte sie mit bebenden Lippen, „führt den Herrn von Linden in den Empfangssaal und bittet ihn, mich zu erwarten.“
Der Greis entfernte sich, um den Befehl auszuführen. Franziska setzte eine Glocke in Bewegung. Die Kammerfrau erschien.
Ich hatte ein Jahr in Halle theologische und philosophische Collegien gehört, in denen man uns beweisen wollte, die Hauptsache von Allem auf der Welt sei die, ob sie ein persönlicher oder unpersönlicher, ein inner- oder außerweltlicher Gott gemacht habe. Wir jungen Studenten waren natürlich mehr für den unpersönlichen, weil der keine so entsetzlich strenge Linie von Gut und Böse durch die Welt zog. Ich glaube, derjenige der Herren Professoren, der die amüsantesten Collegien las, war im Grunde auch unserer Meinung, doch war er viel zu geistreich, als daß er über irgend Etwas in der Welt eine bestimmte Meinung hätte äußern können. Wir dagegen waren damals in dem Alter, wo man die bestimmtesten Meinungen im ganzen Leben hat und als nun die Ereignisse des Frühjahrs 1848 manche Rücksicht, eine Meinung auszusprechen, aufhoben, da meinten wir erst recht, ganz allein Recht zu haben. Wir waren der festen Ueberzeugung, jene Welterschütterung sei nur eingetreten, damit die Philosophie des unpersönlichen Gottes und des Weltgeistes siege über der des persönlichen Gottes und der Vorsehung. Alles Bestehende war aufgehoben und jener gewisse ungewisse Weltgeist wollte auf irgend eine gewisse ungewisse Weise eine neue Zeit einrichten. Das, was war, auch jeder renommistische Student und wahnsinnige Krakehler, war „vernünftig;“ und was „vernünftig“ war, d. h. konsequent bis zur Tollheit und selbst bis zum Tendenzdiebstahl, das sollte wirklich werden. Die Leidenschaft, konsequent zu sein, hatte die halbe Welt ergriffen und diesem modernsten, blindesten Fanatismus sollten Vaterland, Familie, Religion, Kunst, Wissenschaft, die eigene Persönlichkeit selbst mit ihrem einzelnen persönlichen Glücke, kurz die ganze Welt des natürlichen Denkens, Empfindens, Handelns zum Opfer fallen. Auch ich war, wenn auch nur gegen mich selbst, solch ein Fanatiker und fühlte ich auch manchmal mit dem Spieler im Faust von dem verkappten Mephisto:
„Mir ist bei alle dem so dumm,
Als ging mir ein Mühlrad im Kopfe herum,“
so wagte ich doch nur selten solche Empfindungen auszusprechen; sie war ja eine Sünde gegen unseren heiligen Geist – die Konsequenz.
Da lernte ich den Verfasser der „Schwarzwälder Dorfgeschichten,“ den Dichter des „Lorle“ kennen – es war in Breslau, wo er den Sommer des Jahre 1848 über bei dem Vater seiner kurz vor dem, so früh geschiedenen Gattin lebte. Berthold Auerbach’s äußere Erscheinung schon und sein Naturell, wie es bei dem ersten Blicke sich offenbart, wie neu, wie anziehend, wie wohlthuend trat es mir entgegen! Nichts von der verzweifelt exaltirten Stimmung jener Jahre haftete ihm an, er war noch der Mann, der, obgleich er den ganzen Ernst der Zeitverhältnisse begriff, doch noch gemüthlich und humoristisch sein konnte, so daß wir norddeutschen Professorenlehrlinge immer nicht wußten, ob wir ernste oder lachende Gesichter machen sollten, wenn er in seiner liebenswürdig derben Weise, nie in philosophischen Phrasen, stets in Liedern und Beispielen aus der Wirklichkeit uns den Text las und an stets neuen Anekdoten uns bewies, daß unsere Weltanschauung unter diejenigen gehöre, welche man „verkehrte Weltanschauungen“ zu nennen pflege.
Als ich das erste Mal mit ihm sprach, – wir gingen aus einem stürmischen Klubb, in dem die sociale Frage gelöst war, nach Hause, – da war eines seiner ersten Worte, daß er uns „Leibeigene des Allgemeinen“ nannte. – Vor einem Baume auf der Promenade blieb er stehen und sagte in seiner humoristischen Weise: „Seht nur, merkwürdig! Das ist ein selbstgewachsener Baum – ohne Konsequenz!“ Und in der That, wir mußten erst eine Weile staunen, eh’ wir lachen konnten! – „Wer hat Euch zu Generalen der Weltgeschichte gemacht?“ so fuhr er in demselben Tone fort; „was wißt Ihr von dem Feldzugsplan, den die Menschheit jetzt ausführt? Kein Meister fällt vom Himmel, alle müssen von der Pike auf dienen und wir alle sind nur noch gemeine Soldaten, höchstens Gefreite in dem großen Genre der Geschichte. Der große
[513]Feldherr, den die Einen Gott, die Andern Weltgeist nennen, hat keinen von uns in seine Strategie eingeweiht. Bleibe jeder auf seinem Posten. Wir haben jetzt Krieg, – und ist Insubordination im Kriege nicht mit Recht das größte Verbrechen?“
Jene Worte, die er der Baronin in seinem Roman „Neues Lehen“ in den Mund legt, hörte ich damals von ihm erzählen: „Als ich zum ersten Male im Sonnen-Mikroskop sah, welche Ungeheuer wir im krystallhellen Wasser verschlingen, konnte ich lange keines mehr genießen und als ich das Elend des Volkes nahe kennen lernte, konnte ich keinen Spaziergang, keine Lustfahrt in das Land machen. Aber – ohne Wasser können wir nicht leben und wir müssen alle wieder lernen Wasser trinken und spazieren gehen.“ – – „Mit kecker Laune, mit frischer Zuversicht, auf die eigene Kraft pochend, muß das Leben erfaßt werden; der Ernst wird sich von selber geltend machen. Ein Sklave ist, wer sich von außen seine Stimmung und Bestimmung geben läßt und in fremde Hand die Leitung seines Daseins legt.“
Ein Hauptthema seiner Unterredungen war: „Ihr denkt nur: was soll das Volk? Ihr wollt nur finden, was Ihr selbst mitbringt! Der Naturforscher aber nimmt die Dinge, wie sie sind. Auch Ihr sollt erforschen: was ist das Volk und was kann es demzufolge wollen. Treibt Naturgeschichte, nicht gefährlich experimentirende Philosophie mit dem Volke, – der Experimentirende experimentirt stets seines Zweckes, nicht des Materials willen und das Volk ist ein zu kostbar Material für so – frivole Zwecke!“
So trat mir Berthold Auerbach, wie mir noch nie eine solche Erscheinung begegnet war, als der Kernmensch, als das gesunde, kräftige, unmittelbare Naturell entgegen, das aus dem Boden eines frischen, glücklichen Volkslebens hervorgegangen war und diesen Boden nie verloren, nie zu verleugnen nöthig gehabt hatte; das in sich selbst stets das Recht und die Richtschnur seinen Daseins findet; das, ohne die Frage nach dem persönlichen oder unpersönlichen Urgrunde, unbeirrt von dem Verlangen konsequent zu sein, Fuß gefaßt hat in dem vorhandenen, wirklichen Leben.
[514] Auerbach machte den Widerspruch des einfachen gesunden Menschenverstandes, der anspruchslosen natürlichen Empfindung geltend gegen die unfruchtbare, philosophische Richtung unserer Literatur und unsers öffentlichen Lebens. Es fragt sich bei ihm nie nach Prinzipien; es bietet uns stets Gedanken dar, der unmittelbaren Lebenserfahrung abgewonnen, unmittelbar auf das Leben wieder anwendbar. Daß er seine Wahrheiten aus der Mannigfaltigkeit des bunten Lebens frisch herauswachsen läßt, das war das Ueberraschende seines literarischen Auftretens. Mit derselben liebenswürdigen Naivität, dem kecken Mutterwitze und der liebevollen Seele, mit der „Lorle“ dem Prinzen eine politische Rede à la Marquis Posa hält, trat er dem Publikum entgegen und entzückte es durch die Wahrnehmung, daß man nur natürlich zu sein brauche, um weise und – einnehmend zu sein! Er haßte nichts so sehr als die Manier à la Lord Byron, den „Byronismus,“ wie er selbst sagte, die „Lüsternheit nach Abenteuern, parfümirt und koket aufgeputzt mit Weltgedanken und Weltschmerzen.“ Er eiferte gegen nichts mehr als gegen den „Kitzel der Geistreichigkeit, nach vornehmer Art Dinge von Ernst und Bedeutung als gesprächsames Redespiel zu verwenden.“
Wenn ich jetzt nur auf jene sechs wandlungsreichen Jahre unserer Bekanntschaft zurückblicke, so muß ich gestehen, daß Auerbach doch ziemlich Recht bekommen hat mit seiner, weder auf Philosophie, noch Statistik oder Diplomatie gegründeten Politik. Ich habe wenige Männer kennen gelernt, die stets eine so bestimmte Ansicht hatten, dieser so treu geblieben sind und so wenig wie er Etwas zu bereuen nöthig hatten, was öffentlich gesagt oder gethan wurde. Seltsam kam bei alle dem es mir immer vor, daß er, der mir so werth und einflußreich wurde, weil er kein Philosoph war, auf nichts stolzer ist, als auf seine philosophische Bildung. Ja, er sagte einmal, mehr als zum Dichter, wäre er von der Natur noch zum Philosophen bestimmt und sein Roman „Spinoza,“ den er neu umgearbeitet mit dem Titel: „Ein Denkerleben,“ nächstens zum zweiten Male herausgeben will, scheint ihm das Liebste unter seinen Büchern zu sein. So pflegt eine von Selbstgefälligkeit nicht verführte, stets nach Allgemeinheit der Bildung strebende Natur das, was ihr eigen ist, weniger hoch zu schätzen, als was ihr fern liegt und was sie zu erreichen streben muß!
Ein Herr Professor in Freiburg im Breisgau hat kürzlich in der Vorrede zu einem sehr mittelmäßigen, auf ziemlich rohe Bedürfnisse des Lesepublikums berechneten Buche, unseren Dorfgeschichten-Dichter seiner jüdischen Abkunft wegen die Fähigkeit, schwarzwälder und deutsche Volksthümlichkeit überhaupt zu verstehen abgesprochen und wagt dabei die Behauptung, er sei nur gepriesen, weil er das Verdienst habe, kein Christ zu sein. Dieselbe Bestimmtheit, mit der dieser gelehrte Herr auftritt, müssen wir für uns in Anspruch nehmen, zu behaupten, er habe nicht die Fähigkeit, weder in künstlerischer noch sittlicher Beziehung die Verdienste Auerbach’s zu würdigen. Gerade, daß Auerbach bei Allem, was er geschrieben, nie von politischen oder religiösen Parteizwecken verleitet wurde, sondern stets den bestimmten und allgemein deutschen Gesichtspunkt im Auge hatte, das hat ihn zum Schriftsteller der Nation gemacht. Es giebt wenige Menschen, die so wie er im wahrsten Sinne Religion haben, den eingewurzelten unantastbaren Glauben an die Mitmenschen, an das Vaterland, an die Zeit und – sich selbst und die eigene sittliche Aufgabe.
Ueber Auerbach’s Lebensschicksale giebt die neuste Auflage des Brockhaus’schen Conversationslexikons uns die besten und ausführlichsten Nachrichten. Nach ihnen wurde Auerbach am 28. Febr. 1812 zu Nordstetten im würtembergischen Schwarzwald geboren. Von seinen Aeltern ward er zum Studium der jüdischen Theologie bestimmt und erhielt seine Schulbildung in Hechingen und Karlsruhe, wo er zugleich das Gymnasium theilweise besuchen konnte. Den Gymnasialcursus vollendete er in Stuttgart und studirte dann von 1832–1833 in Tübingen, München und Heidelberg, wo er von der Theologie sehr bald zur Philosophie und Geschichte überging. Burschenschaftliche Untersuchungen führten ihn 1835 einige Monate auf die Festung Hohenasperg. Von da an widmete er sich der schriftstellerischen Thätigkeit und, den Beginn derselben an die Lage seiner Stammesgenossen knüpfend, veröffentlichte er 1838 die Schrift: „Das Judenthum und die neueste Literatur.“ Unter dem Gesammttitel: „Ghetto,“ folgten derselben zwei Romane aus der Geschichte des Judenthums, 1837 „Spinoza“ und 1839 „Dichter und Kaufmann.“ Nach einer Uebersetzung von „Spinoza’s sämmtlichen Werken“ (1841) und einem „Buche für den denkenden Mittelstand: „Der gebildete Bürger“ (1842), begann er 1843 die Herausgabe seiner „Schwarzwälder-Dorfgeschichten,“ die seinen Ruf erst begründet und als eine eigenthümliche Epoche machende Erscheinung ihn in die Literaturgeschichte eingeführt haben.
Unser klassischer Dorfgeschichten-Erzähler ist keiner von den vielseitigen Schriftstellern, die Alles leisten wollen und können und rastlos von einem Gebiete der Kunst zum andern auf Eroberungen ausziehen; er ist der Landmann unter den Dichtern, der treu an seiner Scholle haftet und die Ergiebigkeit dieser mit angestrengtem Eifer auszubeuten bemüht ist, wobei er von Jahr zu Jahr größern, ursprünglich selbst nicht geahnten Reichthum zu Tage fördert. Er fing die Dorfgeschichten mit dem „Tolpatsch“ und den „feindlichen Brüdern,“ kleinen zufälligen, aus dem Volksleben gegriffenen Genrebildern an; ging dann im „Lauterbacher“ zur zusammenhängenden Schilderung eines sich fortentwickelnden Seelenlebens über, gab in der „Frau Professorin“ und im „Lucifer“ Novellen im höheren Sinne, mit einem sich anspinnenden und sich lösenden Konflikt, mit innerlichem Gegensatze einander entgegentretender Charaktere.
Damit meinte Auerbach die Entwicklungsstufen der Novelle durchlaufen zu haben, und versuchte sich im Drama („Andreas Hofer“, 1849) und Roman („Neues Leben“, 1851). Wenn er aber von beiden Kunstgattungen wieder abstand, so hat er die eigenthümlichen Vorzüge derselben, die stets fortschreitende Entwicklung einer Handlung und die Gruppirung der Charaktere nach innerer Nothwendigkeit, in das ihm zugehörige Genre der Dorfgeschichte hin übergenommen. Kann man den Erzählungen der beiden ersten Bände den Vorwurf machen, daß auch sie, dem Geschmacke ihrer Zeit nicht ganz fremd, einen gewissen belletristischen, dilettantischen Beigeschmack nicht verleugnen können, da sie die Natur nur im Feierkleide, das Volk meist in seinen Sonntagsstimmungen, den Bauern nicht im Ernst und Kampf seines Berufes, sondern mit rein ästhetischem Behagen gleichsam an einen neuen Luxusartikel, schildern, so haben die großen Ereignisse seit 1848 auch Auerbach von solch spielendem Humor auf das wirkliche Leben selbst mit seinen unabweisbaren Thatsachen und gewaltigen geschichtlichen Kämpfen hingeführt. Zuerst die „Geschichte des Diethelm vom Buchenberg“ im dritten Bande der Dorfgeschichten (1852) führte uns einen Stoff vor, der den großen praktischen Konflikten der Gegenwart entnommen war. Das waren Bauern, wie sie wirklich leben, denken und empfinden; das war die erschreckende Enthüllung eines allgemeinen bedeutungsvollen Vorganges, die Criminalgeschichte jenes verführerischen, Schwindel erregenden, bis zum Verbrechen fortreißenden Geistes der Spekulation, der mit seiner unwiderstehlichen Berauschung den großen Handelsherrn der Weltstädte und den kleinen Verkäufer seines eigenen Bodenertrages in gleicher Weise über seine Verhältnisse hinaus in’s Verderben fortzureißen im Stande ist. Man konnte aber an dieser Erzählung wieder die Ausstellung nicht verschweigen, daß der Dichter bei einer zu getreuen Schilderung der Wirklichkeit doch plötzlich auch allen wohlthuenden, verklärenden Reiz der Poesie verschmäht habe; dafür aber bietet er uns im neuesten vierten Bande der Dorfgeschichten (1854) ein Bild, das diese scharfe Charakteristik zugleich mit kräftigem und idealem Style der Darstellung vereinigt.
„Der Lehnhold“ ist gewissermaßen eine Tragödie, deren Held der letzte Bauer ist. Die Frage nach der Theilbarkeit der ursprünglich untheilbar erblichen Bauergüter bildet den Konflikt darin. Der alte „Furchenbauer“, der sich entgegenstemmt gegen das Alles gleichmachende Gesetz, das dem Leben der Nation die Wirbel durchschneiden will, indem es auch den Boden der mütterlichen Erde dem Geiste der Industrie und Spekulation preisgiebt, ist wohl die bedeutendste Figur der Auerbach’schen Schöpfungen und nur ergreifender dadurch, daß ihr gegenüber das Verlangen nach Neuerung, die Nothwendigkeit der Befreiung und Entfesselung in gleicher Berechtigung und herzgewinnender Leidenschaft geschildert ist. So große, für Leben und Kunst gleich wichtige Eroberungen hat Auerbach auf seiner Scholle zu machen gewußt, da er in die Tiefe ging. Seine Erzählungen sind zum Theil gewaltig ernst geworden, von den tragischen Erschütterungen unsrer kulturhistorischen Kämpfe ergriffen, – wird der allgemeine Beifall ihm jetzt eben so ungetheilt zuströmen, wie früher seinen harmlosen Genrebildern? Das ist ein Prüfstein für die Bildung unseres Lesepublikums!
[515] Außer diesen vier Bänden gab Auerbach in den letzten Jahren heraus: „Schrift und Volk, Grundzüge der volksthümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J. P. Hebel’s“ (1846), dann als Ergebniß seiner Anwesenheit in Wien während der Oktoberrevolution: „Ein Tagebuch aus Wien, von Latour bis Windischgrätz“ (1849) und eine Sammlung schon früher einzeln veröffentlichter Novellen unter dem Titel: „Deutsche Abende“ (1850).
Auerbach ist derjenige der deutschen Schriftsteller neuester Zeit, der die größte Verbreitung erlangt hat. Die ersten beiden Bände der Dorfgeschichten haben vier Auflagen erlebt, und sind bis zu 25,000 Exemplaren in das Volk übergegangen. Sie sind in’s Englische, Holländische, Schwedische und dreimal in’s Französische u. s. w. übersetzt; Auszüge werden sogar als französische „Eisenbahn-Bibliothek“ verkauft. Seine gesammelten Werke erleben bei Bassermann in Mannheim jetzt eine stereotypirte Ausgabe.
Seit vier Jahren lebt Auerbach, zum zweiten Male verheiratet, in Dresden im vertrauten Umgange mit Gutzkow, Hammer, Wolfsohn, den Gebrüdern Bank, Amely Boelte und den übrigen, diesem geist- und charaktervollen Kreise sich anschließenden Männern des öffentlichen und privaten Lebens. Seine Kunst hat einen goldenen Boden gehabt und die kleine Scholle der Dorfgeschichte ihm mehr als Manchem ein Rittergut eingetragen. Sein natürliches, wohlwollendes Wesen hat nichts eingebüßt in seinen eleganten, nach feinem wiener Geschmack seiner Gemahlin arrangirten Salons. Freilich wollen seine Freunde behaupten, daß das Wohlbehagen athmende Benehmen, die gedrungenere Figur anfange, ihn mehr als dem „Reinhart“, dem „Wandeleswirth“ ähnlich zu machen; aber das klangvolle, aus der breiten Brust tönende Organ und das der Welt weit geöffnete, entgegentretende blaue Auge – eine seltene Schönheit neben dem schwarzen, gelockten Haar – lassen keinen Augenblick den Dichter in ihm vergessen. Daß er dasselbe Glück in der irdischen Wirklichkeit, das er mit seinen Poesien enthüllte, auch für sein Lebensschicksal zu erobern wußte, ist wohl nur ein neues Zeugniß für die kräftig gesunde, harmonische Natur seiner Dichtungen sowohl als seines Selbst.
Sobald der Mensch das Licht der Welt, in der Regel mit einem wehklagenden Schreie, erblickt, tritt er in den Stand des Neugebornen (s. Gartenlaube Nr. 14 S. 162[WS 2]) und wird ein solcher während seiner ersten 6 bis 8 Lebenstage genannt, überhaupt so lange, als er noch die Reste des Nabelstrang’s an sich trägt. Im Anfange dieser Zeit findet im kindlichen, noch allen Ebenmaßes entbehrenden Körper insofern eine große Revolution statt, als eine Menge Organe, welche vor der Geburt unthätig waren, vorzüglich die Lungen und die Verdauungsorgane, in Tätigkeit treten und andere, wie die Kreislaufsorgane, das Nervensystem, der Harn- und Hautapparat, ihre Thätigkeit ändern, noch andere Organe aber ihr Thätigsein ganz einstellen. Nicht selten kommt freilich diese Revolution gar nicht oder nur theilweise und in falscher Weise zu Stande und dann stirbt gewöhnlich das Kind bald nach der Geburt wieder, aus angeborner Lebensschwäche, wie man zu sagen pflegt. Es soll in Städten etwa der zehnte Theil der Neugebornen dem Tode verfallen und hierbei die Sterblichkeit unter den Knaben größer als unter den Mädchen sein. Man glaube nun aber ja nicht etwa, daß diese große Sterblichkeit unter den Neugebornen wie auch unter den Säuglingen eine natürliche, durch die Zartheit des kindlichen Organismus bedingte sei; sie ist nur die Folge der vielen Fehler in der Behandlung der Kinder von Seiten der Erzieher (s. Gartenl. Nr. 17 S. 196).
Das neugeborne Kind verlebt seine Zeit größtentheils im Schlafe und wird nur durch Eindrücke auf seine Empfindungsnerven zum Schreien gezwungen, was ebensowohl die Angehörigen auf die Bedürfnisse des Kindes aufmerksam machen, wie gleichzeitig auch den Athmungsapparat desselben kräftigen soll. Diese Eindrücke auf die Empfindungsnerven des Kindes (wie Nahrungsmangel, Nässe, Kälte, Luft- und Stuhlanhäufung im Darme und dergleichen) rufen nun aber nicht etwa Empfindungen, weder angenehmer noch unangenehmer Art (Schmerzen) im Innern desselben hervor, denn das Bewußtseinsorgan, durch welches man empfindet, das Gehirn nämlich, ist zur Zeit noch gar nicht so weit ausgebildet, daß[WS 3] es empfinden könnte. Das Schreien wird ohne alle Empfindung blos dadurch veranlaßt, daß die Nervenfäden, welche in der spätern Zeit allerdings zum Bewußtwerden von Empfindungen an den verschiedenen Stellen des Körpers dienen, jetzt nur diejenigen Nervenfäden, welche das Schreien veranlassen, in Thätigkeit versetzen, ohne aber im unentwickelten Gehirne, wie später, gleichzeitig Empfindungen erregen zu können. Das Schreien bei kleinen Kindern, wobei dieselben also keine Schmerzen oder überhaupt Empfindungen haben können, ist sonach wie das Thun und Treiben Somnambuler (s. Gartenlaube Nr. 32 S. 373) ein unbewußtes und, in Folge der Nerveneinrichtung in unserm Körper, ein erzwungenes. Es giebt dieses Schreien der Mutter die Andeutung, daß das Kind irgend Etwas bedarf und dieses Etwas, die Quelle des Schreiens oder der Ort und die Art den Eindruckes auf gewisse Empfindungsnerven, ist dann zu ergründen. Die gewöhnlichste Veranlassung zum Schreien bei gesunden Kindern ist, abgesehen von der Einwirkung der atmosphärischen Luft in der ersten Zeit des Lebens, Nahrungsmangel, sodann ein nasses kaltes Lager und bisweilen auch noch Luft- und Kothanhäufung im (dicken) Darme. Es wird deshalb das Schreien auch recht bald durch Trinkenlassen oder ein warmes trocknes Lager und, hilft beides nicht, durch ein einfachen Klystier von warmem Wasser gestillt werden können. Dauert das Schreien trotz dem noch fort, so ist es entweder ein krankhaftes oder auch schon, wenigstens bei etwas älteren Säuglingen, eine Ungezogenheit in Folge falscher Erziehung.
Die hauptsächlichsten Bedürfnisse des Neugebornen sind: passende Nahrung und Luft, sowie Wärme und Schutz vor äußern Schädlichkeiten. Man gewöhne das Kind ja nicht an das Umhergetragenwerden, an das Wiegen oder Schaukeln, sondern lasse dasselbe ganz ruhig in seinem weichen, warmen und trocknen Lager. Zu sogenannten Saug- oder Nutschbeuteln (Zulpen) darf eine vorsichtige und gewissenhafte Mutter nie greifen, um das schreiende Kind zur Ruhe zu bringen, da durch diese Hülfsmittel sehr leicht Krankheiten in Verdauungsapparate veranlaßt werden. – Was die Nahrung des Neugebornen betrifft, so ist die Milch der Mutter die zweckmäßigste, weniger tauglich ist Ammen- und Kuhmilch. Das Darreichen von etwas Anderem aber als Milch (s. Gartenlaube Nr. 12 S. 131), besonders Chamillenthee und einem abführenden Säftchen, gestatte man der Kindfrau durchaus nicht. Daß eine gesunde Mutter ihr neugebornes Kind selbst stillen soll, wenigstens die erste Zeit seinen Lebens, bedarf als eine, dem Kinde wie der Mutter heilsame Natureinrichtung, keiner weitern Besprechung. Es stehe eine Mutter nur nicht gleich vom Stillen ab, wenn auch in den ersten Tagen die Milchabsonderung noch nicht eine sehr reichliche ist; sie kann ja auch ruhig warten, da der Neugeborne nicht gleich in seinen ersten Lebenstagen sehr viel Nahrung bedarf. Sollte eine Mutter aber wirklich nicht stillen können oder ihres Körperzustandes wegen nicht dürfen, was aber nur der Arzt zu bestimmen hat, dann ersetzt Ammenmilch am besten die Stelle der Muttermilch. Da bei der Wahl der Amme auf Mancherlei, was der Laie zu beurtheilen nicht im Stande ist, Rücksicht genommen werden muß, so sollte man diese Wahl nur gewissenhaften Aerzten überlassen. Daß übrigens die stillende Amme hinsichtlich ihrer Ernährung, ihrer Arbeit und Behandlung, des Kindes wegen, gerade so wie die Mutter, wenn diese stillte, gehalten werden muß, versteht sich zwar von selbst, wird aber sehr oft von Frauen, welche Dienstboten für Sklaven ansehen, vergessen. Wo nun aber weder Mutter- noch Ammenmilch dem neugebornen Kinde gereicht werden kann, da darf das Kind durch kein anderes Nahrungsmittel als durch warme Thiermilch ernährt werden, nur muß man diese durch Zusatz von Wasser und Milchzucker der Menschenmilch so viel als möglich ähnlich zu machen suchen (siehe später beim Säugling). Am meisten gleicht die Eselsmilch der [516] Menschenmilch. Vortheilhaft ist es, die ersten Tage nach der Geburt dem Kinde blos süße Molken zu reichen, um dadurch die etwas abführende Wirkung der ersten, ganz dünnen Muttermilch (Colostrum), zu ersetzen und so die Entleerung des zähen, dunkelgrünen Kindspeches aus dem Darmkanale, zu befördern. – Die Luft, welche der Neugeborne einathmet, sei gleichmäßig warm (+15–17°) und rein, bei Tage wie bei Nacht; kalte und Zugluft, Staub, Rauch, Kohlen-, Torf-, Wäsch- und Schweißdunst müssen sorgfältig vermieden werden, wenn sich nicht Krankheiten im Athmungsapparate und im Blute des Kindes entwickeln sollen. Diese reine Luft muß das Kind nun aber auch ungehindert und tief einathmen können und deshalb darf die Brust und der Bauch desselben nicht fest eingewickelt, Mund und Nase nicht verdeckt werden. – Wärme, natürlich keine übermäßige, sondern die des menschlichen Körpers überhaupt (bis + 30°), ist eine unentbehrliche Bedingung zum Gedeihen und Gesundbleiben des Neugebornen; so wie derselbe warme Luft zum Athmen bedarf, so verlangt er auch eine warme Umhüllung. Kalte feuchte Wäsche erzeugt sehr leicht Krankheit, ebenso Kühlwerden des Kindes beim Trockenlegen, Umziehen, Waschen oder Baden desselben. Da die Haut noch sehr zart ist, so sehe man auch darauf, daß die Wäsche, welche dem Körper unmittelbar anliegt, weich und fein sei, denn bei harter, grober Umkleidung wird durch Reibung leicht rosenartige Entzündung oder Ausschlag erzeugt. – Oeftere Reinigung der Haut, durch warme Bäder (von + 26–30°) oder Waschungen, darf deshalb nicht unterlassen werden, weil die Haut des Neugebornen von früher her noch mit Materien überzogen ist, welche der Hautthätigkeit hinderlich sind. Ueberhaupt unterstützt große Reinlichkeit, ebensowohl in Bezug auf den Körper wie auf die Umhüllung des Kindes das Gedeihen desselben gar sehr. In durchnäßter Windel wird ein Kind gewöhnlich sehr bald unruhig und nur wenn es durch Trägheit und Unachtsamkeit der Mutter oder Wärterin allmälig daran gewöhnt wird, bleibt es auch in der Nässe ruhig und ist dann später nur schwer an Reinlichkeit in dieser Beziehung zu gewöhnen. Auch die gehörige Reinigung der Mundhöhle und der Augen des Kindes werde nicht vernachläßigt. – Die richtige Behandlung des Nabels, obschon sie eine Sache der Kindfrau geworden ist, muß doch auch von der Mutter gekannt und beaufsichtigt werden, da gar nicht selten durch Mißhandlungen des Nabelschnurrestes oder des eiternden Nabels tödtliche Blutungen und Entzündungen (gewöhnlich mit Gelbsucht) hervorgerufen worden sind. Man wehre deshalb jedem Versuche, die Trennung des Nabelschnurrestes zu beschleunigen, vermeide jedes Dehnen und Zerren daran, sowie jeden stärkeren und anhaltenden Druck; den nach Abfall des Nabelstranges noch eiternden Nabel reinige man ja recht oft durch Auftröpfeln lauen Wassers und sanftes Abtupfen und belege ihn dann öfters mit einem feinen weichen Leinwandläppchen, welches mit frischem Talge bestrichen ist. Stärkere Entzündung und Eiterung oder gar Verschwärung lasse man vom Arzte behandeln. – Des gehörigen Schutzes und der richtigen Behandlung bedürfen bei Neugebornen nun vorzugsweise noch die Sinneswerkzeuge und zwar ganz besonders das Auge. Denn da die Sinnesnerven und das Gehirn noch äußerst weich und zart, so können starke Eindrücke auf dieselben sehr leicht Lähmungen (Blindheit, Taubheit) oder doch wenigstens Schwäche der Sinne hervorrufen. Es sind desbalb starke und grelle Töne, sehr helles Licht und starke Gerüche vom Kinde abzuhalten. Wie das Auge des Neugebornen zu behandeln ist, wurde in Nr. 39 der Gartenlaube (S. 459) besprochen.
Fassen wir nun das, was eine Mutter oder ihre Stellvertreterin bei einem neugebornen Kinde zu beachten hat, kurz zusammen, so ergeben sich folgende Regeln: Der Neugeborne erhalte eine warme, lockere und zarte Umhüllung, trinke passende Milch, athme bei Tag und Nacht eine warme reine Luft ein, werde rein gehalten und vor allen stärkeren Sinneseindrücken, sowie überhaupt vor äußern Schädlichkeiten geschützt. Werden diese Regeln gehörig befolgt, dann wird ein neugebornes Kind, wenn es sonst gesund geboren wurde, nicht leicht von Krankheit befallen.
Die Krankheitszustände, von denen Neugeborne nicht selten heimgesucht werden und welche größtentheils durch falsche Behandlung, hauptsächlich durch Einwirkung von Kälte auf Haut und Athmungsapparat, so wie in Folge von Unreinlichkeit zu Stande kommen, sind leichter zu verhüten als zu heilen. Die häufigsten und gefährlichsten dieser Krankheiten sind folgende: die Augenentzündung der Neugebornen, welche gewöhnlich durch falsche Beleuchtung, Unreinlichkeit und Kälte veranlaßt wird und bei unzweckmäßiger Behandlung sehr leicht zur Blindheit führt (s. Gartenl. Nr. 39, S. 459). – Die Eitervergiftung des Blutes, von Gelbsucht begleitet, bei Verschwärung des Nabels durch Aufnahme von Jauche in das Blut erzeugt, führt stets zum Tode und läßt sich sicherlich in vielen Fällen durch öfteres und vorsichtiges Reinigen des eiternden Nabels verhüten. Eine ungefährliche Gelbsucht wird nicht selten durch Erkältung der Haut hervorgerufen und läßt sich durch öfteres und längeres warmes Baden (von + 28–30°), so wie durch Warmhalten des Kindes, natürlich bei richtiger Nahrung und Luft, bald beseitigen. – Durchfall, mit und ohne Brechen, hat seine Ursachen entweder in falscher Nahrung (durch Zulpe) oder in Erkältung des Bauches und verlangt zu seiner Heilung Wärme (warme Ueberschläge) auf den Bauch, warme schleimige Klystiere (aus Stärke- oder Leinmehlabkochung) und als Nahrung nur Mutter- oder Ammenmilch. Man hüte sich übrigens, die gewöhnlichen dünnen oder breiartigen, der geronnenen Milch ähnlichen Stühle kleiner Kinder, die auch im gesunden Zustande 4 bis 6 Mal des Tages erfolgen, für Durchfall (der ganz wässrig und meist schmutzig-grünlich sieht) zu halten. – Hüsteln mit sehr beschleunigtem, kurzem Athem und großer Hitze ist gewöhnlich ein Symptom von Lungenentzündung, die gar nicht selten durch kalte, unreine Luft veranlaßt wird und meistens zum Tode führt. Warme reine Luft bei Tag und Nacht ist das hauptsächlichste Erforderniß beim Vorhandensein dieser Krankheitserscheinungen. – Das Schluchzen der Neugebornen ist gewöhnlich ohne große Bedeutung und wird meistens durch längeres Naß- und Kaltliegen erregt, so daß es durch Einwickeln des Kindes in trockne warme Windeln bald gehoben werden kann. – Schwämmchen in der Mundhöhle, die als kleine, rundliche Flecke oder Bläschen an der innern Fläche der Lippen und Backen entstehen und sich auch über die Zunge und den Gaumen ausbreiten, sind Produkte einer Entzündung der Mundschleimhaut, die in der Regel durch falsche Ernährung und Unreinlichkeit (Zulpe) veranlaßt wird. Sie weichen bald, wenn das Kind nur passende Milch zur Nahrung erhält und der Mund nach dem Trinken durch Einflößen reinen lauwarmen Wassers (oder Feldthymianthees) gereinigt wird. Das Auspinseln des Mundes oder gar das Abreiben der Schwämmchen mit Leinwand macht das Uebel schlimmer.– Das Wundsein der Haut an faltigen und vertieften Stellen (an den Oberschenkeln und der Achselhöhle, dem Halse und Oberarme, hinter den Ohren und am After) rührt stets von zu geringer Reinigung dieser Stellen her und läßt sich sonach durch größere Reinlichkeit verhüten. Dem Wundwerden geht immer Röthung der entzündeten Hautstelle voraus und es kann jenem dann schon dadurch vorgebeugt werden, daß man die geröthete Stelle öfters mit kaltem Wasser sanft abtupft und sodann ein Leinwandläppchen einlegt, welches mit frischem Talge bestrichen ist. Ebenso verfahre man beim wirklichen Wundsein. Das Einstreuen von Pulvern (aus arabischem Gummi, Bärlappstaub) steht dem Einlegen eines betalgten Leinwandläppchens und dem Einstreichen frischen Talges weit nach. – Die Anschwellung und Verhärtung der Brüste (welche bei Neugebornen beiderlei Geschlechts fast stets eine milchige Flüssigkeit enthalten), meist aber nur der einen Brust, dürfte in vielen Fällen durch Druck oder Erkältung entstehen und wird durch warme Ueberschläge sehr bald (in 5–14 Tagen) gehoben, es müßte sich denn eine Eiterung entwickeln. – Auch die Schwellung der Schilddrüse (Kropf), wodurch das Athmen erschwert werden kann, verliert sich in einigen Wochen von selbst. – Die Rose der Neugebornen, wobei sich die Haut der erkrankten Stelle etwas gespannt und geschwellt, glänzend roth und wärmer zeigt, verlangt, so lange das Uebel ein oberflächliches bleibt, keine besondere Behandlung. – Die Abzehrung des neugebornen Kindes, wenn dasselbe nicht angeborne, der Ernährung hinderliche Fehler hat, rührt in den meisten Fällen von der falschen Ernährung, vom Mangel an passenden Nahrungsstoffen und reiner Luft her, und begleitet gewöhnlich den Durchfall. – Krämpfe kommen bei Neugebornen nicht selten, besondes im Verlaufe vieler der genannten Krankheiten vor und lassen sich, da wir das Wesen derselben noch nicht kennen, auch nicht durch bestimmte Mittel kuriren. – Das Angewachsensein der Zunge, welches das Saugen hindert, läßt sich nur mittels des [517] Durchschneiden des Bändchens (das sogen. Lösen der Zunge) heben. Ebenso erfordern angeborne Verschließungen der natürlichen Oeffnungen am Körper der Neugebornen chirurgische Hülfe.
Schließlich sei nochmals gesagt, daß bei Neugebornen Alles auf eine richtige Behandlung von Seiten der Mutter oder Pflegerin und in Bezug auf Nahrung, Luft, Wärme und Reinlichkeit ankommt.
Ein eigenthümliches Gefühl ergreift den Menschen immer, wenn er an den Markscheiden großer Staaten steht. Die Natur, die sich fast immer in unbemerkbaren Uebergängen ergeht, hat an solchen Stellen in den wenigsten Fällen wahrnehmbare Trennungen markirt, allein der Geist des Menschen gefällt sich zumeist darin, Schranken, wären es auch nur ideale, zu errichten, ein Hüben und Drüben zu ersinnen, mit welchem er irgend eine Idee verknüpft. Wer z. B. am Rhein in Kehl stand und hinüber blickte nach den Thürmen Straßburgs, wird dies sicherlich empfunden haben.
Noch weit lebhafter wird dieser Ideengang da sein, wo zwei Erdtheile sich scheiden. Eilt man aus dem russischen Gouvernement Taurien an der östlichen Seite des Asow’schen Meeres herab dem schwarzen Meere zu, so stößt man auf den, sein Wasser den höchsten Gipfeln des Kaukasus verdankenden Kuban. Du stehst in Europa, vor Dir liegt Asien! Wie viele Gegensätze mögen sich Dir hier aufdrängen?! Europa und Asien! Civilisation und träger Stumpfsinn, Fortschritt und Stillstand, Freiheit und Despotie, das Alles trennt wohl hier der Mensch in Gedanken von einander, selbst wenn vielleicht, angesichts des Schauplatzes, wo Russen und Kaukasier sich blutig bekämpfen, eine andere Saite in seiner Brust mit berührt würde.
Die erste Stadt, vom Kuban aus, auf der asiatischen Küste des schwarzen Meeres ist Anapa, das im Verlaufe des seit einem Jahre spielenden Krieges häufig genannt worden ist. Anapa, auf einem Vorsprunge des Gebirges Kysilkaja gelegen, ist die stärkste jener zahlreichen Küstenfestungen, durch welche Rußland bis vor Kurzem die Völker des Kaukasus vom Meere abzusperren versuchte.
Unter seinen 8000 Einwohnern befinden sich viele wohlhabende Kaufleute, die einen besonders wichtigen Handel mit den Bergvölkern treiben. Aus dieser merkantilen Bedeutung Anapa’s entspringt für die russische Regierung zugleich eine politische, welche auf die scheinbar gutwillige Anerkennung der russischen Herrschaft Seitens der anwohnenden Stämme hinausläuft, immer aber, wie der Verlauf der Dinge gezeigt hat, auf übertriebener Täuschung beruhte.
Von Anapa bis zum Fort St. Nikolas an der türkischen Grenze befanden sich sämmtliche russische Festungen, und ihre Zahl war nicht klein, in gleicher Lage, mochten nun die kaiserlichen Gouverneure die Eroberung der Bergländer mit Güte oder Gewalt versuchen. Innerhalb der Festungsmauern sah sich der Russe in Sicherheit, hart unter den Außenwällen begann jedoch schon die Gefahr und ohne starke Bedeckung sich hinausbegeben, hieß stets das Leben auf’s Spiel setzen. So fand zu keiner Zeit zwischen den russischen Forts ein Verkehr zu Lande statt, sondern immer nur war die Verbindung auf den Wasserpfad beschränkt. Bezüglich des Treibens der Kaukasier können wir anhierbei mit dem Hinweis auf den jüngst in Nr. 41 der Gartenlaube enthaltenen Artikel „Am Kaukasus“ beschränken, und fügen nur hinzu, daß die Bergvölker die für sie so kostbaren Handelsartikel „Pulver und Blei“, welche ihnen natürlich die Russen nie lieferten, trotz aller Forts vom Meere her zu beziehen wußten, indem die von Trebisonde kommenden türkischen Schiffe meist der Wachsamkeit der russischen Kreuzer entgingen.
Als die Russen im Mai und Juni d. J. die gegen etwaige Angriffe der englisch-französischen Flotte unhaltbar gewordenen Forts aufgaben, nahmen die Kaukasier, soweit die Werke nicht gänzlicher Zerstörung preisgegeben worden, von ihnen Besitz, und zum ersten Male seit vielen Jahren wurde ihnen wieder das köstliche „Pulver und Blei“ frei und offen zugeführt. Der englische Admiral Lyons, der um diese Zeit mehrere Zusammenkünfte mit den Tscherkessenhäuptlingen an der Küste hatte, schenkte ihnen allein eines Tages [518] 18,000 Stück Patronen, die von einer einige Stunden vorher aufgebrachten russischen Prise herrührten. Anstatt durch die Russen wurden die Patronen nun gegen die Russen verschossen.
Das besser als alle übrigen Punkte befestigte und auch mit einem guten Hafen versehene Anapa wurde von den Russen nicht der Zerstörung geweiht, vermuthlich weil, wenn auch die Besatzung durch einen Seeangriff in größere Bedrängniß gerathen sollte, und der Ort unhaltbar würde, der Rückzug zu Lande leicht zu bewerkstelligen wäre. Bis zur Stunde haben die Verbündeten Anapa unbelästigt gelassen, doch scheinen nach neuesten Nachrichten die Russen auf einen Besuch gefaßt zu sein, der auch, seitdem die Anglo-Franzosen in der Krim festen Fuß gefaßt haben, wahrscheinlich genug geworden ist.
Das Schicksal, das in diesem Falle Anapa bevorsteht, würde ein ihm oft schon widerfahrenes sein, denn in den verschiedenen russisch-türkischen Kriegen wurde es von den Russen fast jedes Mal zerstört. Im Jahre 1828 eroberte eine von Sebastopol aus abgesegelte russische Flotille den Ort, der, sowie die ganze Küste bis zum Fort St. Nikolas hinab in den später folgenden Frieden von der Pforte an Rußland abgetreten wurde.
Die „Schläge“ oder „Überraschungen“ (strikes) der Arbeiter gegen die Arbeitgeber, die Arbeitseinstellungen in Masse als Kriegsoperation gegen das „Kapital“ und dessen „Macht“, wie sie neuerdings in England zu einem förmlichen socialen Klassenkriege angeschwollen sind, so daß z. B. einmal vor Weihnachten nicht weniger als 120,000 Arbeiter in Baumwolle, Kohlenminen, Seide u. s. w. ihre Arbeit eingestellt hatten, diese Strikes nehmen nun, nachdem sie zu einem „Arbeiter-Parlamente“ in Manchester geführt haben, so viel Interesse in Anspruch, daß es wohl der Mühe werth sein mag, ein richtiges Bild davon zu entwerfen.
Zunächst ist zu bemerken, daß die Strikes in England weder etwas Neues sind, noch immer deshalb geführt werden, um höhern Lohn zu erzwingen. Sie sind so alt, wie der englische „Industrialismus“ mit seinen ungeheuern Kapitalien, und wurden und werden gegen die verschiedensten „Anmaßungen“ und „Tyranneien“ des Kapitals unternommen. Der hartnäckigste und langwierigste „Strike“, die Arbeitseinstellung der Maurer am neuen Parlaments-Gebäude, war ein passiver, aber zugleich ein massiver Widerstand gegen das Benehmen eines ihrer „Vormaurer“. Erst nach dessen Entfernung kehrten sie zur Arbeit zurück. Der Bäcker-Strike richtete sich gegen die „Sklaverei der Sonntags- und Nachtarbeit.“ Ein Schneider-Strike zerstörte das „Schwitz-System“, wie das Zusammendrängen vieler Gesellen in einen Raum genannt wird. Die Hutmacher erstriketen eine Beschränkung von Lehrlingen. Hier wird gestriket gegen das Arbeiten bei Oel-Beleuchtung, dort gegen Gas, wo anders gegen jedes künstliche Licht, da sie nach Sonnenuntergang keine Hand mehr rühren wollen. Allerdings hängen und hingen die meisten Strikes mit den Forderungen höhern Lohnes zusammen, im Ganzen aber traten sie in der Regel mit einem bedeutenden oratorischen Aufwande socialistischer Lehren auf. Man will „Menschenrechte“, zu deren ersten im praktischen England gute Löhne gehören.
Ihre Methode, die abstrakte Philosophie ihrer Beschwerden und Forderungen in Praxis umzusetzen, ist ungemein einfach. Da giebt es in fast jedem Bier- und Spiritus-Palaste einen großen Saal mit vielen hölzernen Tischen und Bänken, zinnernen Bierkrügen und weißen Thonpfeifen. Man sitzt neben einander, trinkt, raucht und spricht. Das schwere Bier hilft auf die Lasten, die man am Tage getragen, noch mehr drücken. So spricht man herzlich-frei darüber, da man von der Polizei in diesem Punkte hier nicht die entfernteste Ahnung hat, und in der Regel nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch Gleichbeschäftigte in den einzelnen Sälen sich zusammenfinden. Bald werden die Klagen zu laut und zu chaotisch, so daß ohne Umstände ein Präsident gewählt wird, das Wort zu vertheilen, und ein Sekretair, die verschiedenen Klagen, Beschwerden und Ansichten zu Papier zu bringen. Sie reden viel, sie reden gut, obgleich blos Arbeiter, dafür und dawider, machen Amendements und Anträge, machen Lärm als Beifall oder Opposition, machen Unordnung und rufen zur Ordnung und, kurz, Alles im Kleinen, was Ober- und Unterhaus im Großen. Die parlamentarische Form ist ihnen wie angeboren; sie sind unter derselben auch wirklich seit Jahrhunderten geboren und erzogen worden. Unter Denen, welche reden, ist fast immer ein Redner, der die Haupt- und Effektrede des Abends losläßt. Er sieht ernster, mysteriöser, blasser aus, als die übrigen, läßt sich gern mehrmals auffordern, ehe er sich erhebt und sich durch Händegetrommel auf den Tisch beklatschen, wenn er sich erhoben, beginnt er nun mit einigen Bemerkungen über die Menschheit im Allgemeinen, dann von Engländern als der größten und freiesten Nation besonders, dann speciell von den Lasten und den Rechten des Gewerbes, das sich hier versammelt hat und zu den wichtigsten in ganz England gehört, bezieht sich dann auf Gott oder gar auf Götter und geht auf die „Kinder Gottes“ und allgemeiner Brüderschaft über. Er beweist, daß auch wir (die Schneider, Tischler, Schuhmacher, Droschkenkutscher u. s. w.) Glieder einer großen Gemeinschaft, d. h. der Erdbewohner, sind und die Natur alle Menschen mit gleicher Liebe umfasse, daß kein Mensch das Recht habe, sich über den andern zu erheben, ihn zu versklaven und zum bloßen Mittel für sein „Geldmachen“ herabzusetzen, daß die arbeitenden Klassen diesen größten und freiesten Landen bisher zu nachlässig in Erwerbung ihrer Rechte gewesen seien und der bevorstehende, heimtückische Versuch ihrer Arbeitgeber, die Arbeitszeit zu verlängern, den Lohn zu verkürzen oder nicht zu erhöhen, zu den direkten Versuchen gehöre, ein neues Glied in der großen Kette der Versklavung der Arbeitenden durch die Kapitalisten zu schmieden. Werden wir uns dies gefallen lassen? Nein! Sollen wir opfern die Principien religiöser und bürgerlicher Freiheit? Nein! Nein! Lieber ein Hund wollt’ ich sein und den Mond anbellen, als ein solcher „Romane.“ – Der Redner, oft durch Beifallsgetrommel und Hear! Hear! und Cheers unterbrochen, setzt sich jetzt unter einem allgemeinen Sturme, nimmt einen Schluck und zündet sich die Thonpfeife wieder an, als wenn gar nichts vorgefallen wäre.
Seine Vordersätze mögen falsch sein, seine Schlüsse unrichtig, seine Bilder und Vergleiche hinkend oder ganz ohne Beine – schadet nichts. Er redet, er ist rednerisch, pathetisch und im Ernste und er ist der Mann. Die Gesellschaft folgt ihm. Und da diese – „im dreiköpfigen Schwan“ – mit dem „Loch in der Wand“ (Namen von public-houses), mit dem „Rothkäppchen“, dem „Elephanten“, „Prinz Albert“, der „Königin“, dem „Hahn“ und mehreren andern Gesellschaften derselben Arbeitsart zusammenhängt, wo inzwischen ähnliche Reden gehalten wurden, erscheint es dem Kundigen gar nicht auffallend, wenn in nächster Woche die Zeitungen ankündigen, daß auch unter der und der Arbeiterklasse ein allgemeiner „Strike“ auszubrechen im Begriff oder schon ausgebrochen sei, und zwar in Folge eines Versuchs der Arbeitgeber, die Arbeitszeit zu verlängern oder die versprochene Zulage zu verweigern oder dieser und jener „vernünftigen Forderung“ der Arbeiter sich zu widersetzen.
Man glaubt oft, diese Strikes gingen von „Aufwieglern“ und Demagogen aus. Das ist ein Irrthum. Sie haben zwar ihre Redner und Führer, aber deren Einfluß allein würde nicht hinreichen, Wochen und Monate lang ohne Arbeit und Verdienst mit Weib und Kind auszuharren oder für andere Arbeiter im Strike Tausende von Pfunden zusammenzubringen. Es liegt in ihrer Natur, es liegt in der englischen Industrieluft. Es ist eine sociale Krisis und Krankheit, die sich in England so mächtig entwickelt hat, erstens weil Kapital und Arbeit sich hier als selbstständige Factoren der großen Maschine England am Freiesten und Weitesten entwickelt haben, zweitens, weil den Arbeitern eben so wenig Polizei gegenübersteht, als den Arbeitgebern. Es sind Privatsachen. Uns geht das nichts an, sagen Polizei und Regierung. „Fechtet’s aus!“ Es sind in der That überall kleine „Arbeits-Parlamente“, so daß man sich bei dem associatorischen Sinn der Engländer nicht über das große „Arbeits-Parlament“ [519] wundern kann. Polizei und Regierung greifen hier eben so wenig ein, als in die Kämpfe des Ober- und Unterhauses. Oben wie unten sind’s Engländer, wenn im letzteren auch Louis Blanc und Karl Marx Zutritt gefunden haben. Man fürchtet sich oben nicht, da’s eben die Parteien unter sich ausfechten, und schickt blos etwas mehr Polizei oder einige Dutzend Dragoner, wenn die Strikers Miene machen, einzelne Personen oder (was in England viel mehr ist) Eigenthum zu gefährden.
Im Wesentlichen ist auch wenig Unterschied zwischen dem Ober- und Unterhause der Privilegirten und den Schenkstuben-Parlamenten der Nichtprivilegirten. Gehen wir aus dem „Loch in der Wand“ in das „Unterhaus.“ Hier allerdings der prächtigste Saal in dem großartigsten gothischen Baue der Welt, dort nur ein dunkler Raum von polirtem Holz mit wenig Licht (wie im Unterhause). Hier nicht 25–30 arme Werkleute, sondern über 600 Adelige und Reiche vom reinsten Wasser. Keine Bierkrüge und Thonpfeifen, aber großartige Erfrischungssäle und Schmauchzimmer, wo ehrenwerthe Vertreter kostbaren Cigarrendampf zwischen dem Backenbarte und den Vatermördern hervorkräuseln, wenn sie nicht im Saale selbst in der Hitze der Debatte Apfelsinen aussaugen und dann die Schale einem vor Hitze eingeschlafenen Freunde an die Nase werfen. Hier wie dort Präsidenten, Redner, Beifallsgeklatsch, Gezisch, „Ordnung! Ordnung!“ Abstimmung, Beschluß und Ausführung. Die Arbeiten aber leiden unter den Illusionen einer falschen politischen Oekonomie. Richtig. Leiden die Arbeitgeber nicht auch darunter? Jene wollen Gesetze für die Arbeit gegen das Kapital, diese gaben und geben Gesetze des Kapitals gegen die Arbeit, so gut es die allgemeinen Rechte Aller irgend gestatten.
Die Arbeiter werden von Demagogen aufgewiegelt. Mag auch sein. Und keine im Unterhause? O die Menge! Ist denn der Finanzminister Gladstone mit seiner neuen Erbschaftssteuer nicht ein Blutrother in den Augen der alten Normannenabkömmlinge? Ist d’Israeli nicht der mysteriöse Hauptparteiredner gewesen? Macht man nicht „Schläge“ und Parteiüberraschungen und – Vereinigungen – nicht der arbeitenden Klassen – sondern der beiden Sectionen der Opposition gegen das Ministerium? Jeder in England kennt die parlamentarischen Taktiker, welche sich, wie die Arbeiter für Arbeits-Organisation,“ für die Sicherung ihres gemeinsamen Müßiggangs vereinigen.
Wir wollen Vergleich und Unterschied nicht ausführen. Es ist aber leicht zu sehen, daß in den Strikes und Arbeitsverbrüderungen und ihrem Parlamente einerseits und dem politischen Parlamente gegenüber ein polarischer Gegensatz besteht, dessen beide Theile nur die Wiederholung derselben Kraft in umgekehrter Reihenfolge ist. Die englische parlamentarische Gesetzgebung ist zu einer freien Macht des Kapitals und der Vorrechte der Arbeit gegenüber geworden. Diese Einseitigkeit mußte bei der im Uebrigen errungenen persönlichen, Vereinigungs- und Preßfreiheit endlich ihren Gegensatz hervorrufen. Vielleicht hätte man ihn von Hause aus (d. h. vom 17. Jahrhundert, von den Stuart’s an) unterdrücken können; aber der Engländer liebt einmal die freie Ventilation, die Gesundheit und eine gute Ausdünstung, weil er weiß, daß, wenn man etwas unterdrückt, diese in den Körper gedrängte Krankheitsmasse die ganze Constitution tödtlich gefährdet. Immer heraus damit, was es auch sei. Je gefährlicher das ist, was durch die Poren schwitzt, desto besser für das Ganze. So vernünftig und anständig denken in England alle Parteien. Es ist daher weder den Arbeitgebern, noch den Arbeitern jemals eingefallen, „zum Commissarius,“ zum Polizei-Präsidenten zu schicken oder gar an den Minister zu schreiben, daß er etwas mit Staatsgewalt thun solle. Allerdings sollen einmal Arbeiter im Strike an Palmerston, den „Minister des Innern“ (hier blos „Heim-Secretair“) geschrieben, er möchte sich ihrer mit seiner Weisheit annehmen. Und was that er? Schickte er besäbelte Leute, die Rädelsführer zu verhaften? Nein, er nahm sich ihrer wirklich mit seiner Weisheit an und setzte ihnen in einem langen, höflichen, sorgfältig ausgearbeiteten Briefe auseinander, worin die Naturgesetze der Arbeit und des Lohnes, die Mächte von „Angebot“ und „Nachfrage“ beständen und er viel zu schwach und vernünftig sei, diesen großen Weltgesetzen etwas vorschreiben zu wollen. Habt ihr aber wirklich so schwere Klagen gegen die „Nachfrage,“ das Kapital, „gut, fechtet es aus!“
Seid einig – einig! Ein österreichischer und ein bairischer Bauernbursche geriethen einst in Streit und wurden von Minute zu Minute hitziger. Der Streit hatte mit allerlei Kleinhandel angefangen und theilte endlich Tausendpfundnoten aus, als man über das Vaterland zu streiten kam. Natürlich war der Baier sogleich ein guter Baier, der Oesterreicher ein guter Oesterreicher; der Baier sagte: „Ich bin gut königlich“ und gab dem Oesterreicher eine Ohrfeige; der Oesterreicher sagte: „Ich bin gut kaiserlich königlich“ und strich dem Baier die Hand gedoppelt um die Ohren.
Das Ding war gut; drei Ohrfeigen waren abgeliefert. Der Baier dachte: „Die zwei Brezeln nehm’ ich lächelnd heut mit heim, weil es nicht dreie sind, morgen geh’ ich in Begleitung meines Seitenmessers aus, ich will doch sehen, wie ich dem Oesterreicher seine Grobheit aus den Rippen schneide.“ Der Oesterreicher dachte: „Immerfort, basta für heute, ich habe ja noch eine unschuldige Wange, auf der ich die Nacht noch schlafen kann, findet der Baier mit zwei Pfund „Dachteln“ heim, so kann ich meine zweiunddreißig Loth jedenfalls leichter schleppen, morgen wird’s aber anders sausen.“
Gut.
Sie gingen auseinander und schwuren sich den Tod so bald als möglich. Aber ein großer Herr, der allergrößte, den wir kennen, griff aus den Wolken nieder und führte zuerst den Baier und dann auch den Oesterreicher bei den Ohren nach Frankreich und nach Afrika hinüber, das heißt, ein jeder von den Burschen hatte das Unglück, daß er wegen Wilderei aus seiner Heimath fliehen mußte und so kamen sie nach Frankreich, um sich für Afrika werben zu lassen, wo es damals noch Krieg gegen Abd-el-Kader setzte.
Beide Burschen kamen auch glücklich in Afrika an, der Baier früher, der Oesterreicher später; einer war als Reiter angeworben, der andere Musketier: beide schwitzten ihr Erkleckliches in der schrecklichen afrikanischen Zone, beide waren aber tapfer, wie es Deutschen ziemt und es dauerte nicht lange, so hatte Jeder seine vier, fünf ehrenvolle Wunden auf der Brust.
Das Soldatenleben mag recht lustig scheinen; tapfer sein, das ist recht brav: Wunden auf der Brust zu haben, das ist recht ehrenvoll: aber Eines ist recht bitter: so schrecklich weit vom Vaterlande fort zu sein, nirgends seine Muttersprache mehr zu hören, Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Landsleute und Freunde gar so fern zu wissen – über Berg und Thal und Meer! Es schien auch wie verzaubert: in Afrika wurde immer und immer nur von Frankreich und von England, vom Kaiser von Marokko und von Spanien, von Abd-el-Kader und den Arabern gesprochen – von Deutschland keine Silbe und wenn es ein Franzose schon im Vorübergehen streifte, so hieß es: l’Allemagne und nicht Deutschland.
Einst stand der Baier Wache in der stillen Wüste, über sich nur Himmel, unter sich nur Sand und vor sich Sand und Himmel.
„Dort drüben,“ dachte er, „dort muß mein Deutschland liegen – Deutschland, Deutschland, Vaterland, mein Baiern, meine Heimath; dort leben meine Brüder, dort spricht man meine Sprache – und ich stehe da – allein, so weit hinweg, in einem fremden Lande, unter fremden Menschen und will ich meine Sprache reden, so red’ ich nur zu lauter Luft und todtem Sande!“
Er stieg vom Pferd und drückte weinend sein Gesicht in dessen Mähnen.
„O hätt’ ich jetzt nur Einen deutschen Bruder da; sei’s Oesterreicher oder Schwabe, Preuße oder Sachs! Wie wollte ich meinen Oesterreicher jetzt umarmen, halsen, herzen, statt sein Leben anzufeinden: wie wollte ich ihn drücken und Herzensbruder nennen!“
Und wie er noch so spricht und kümmert, marschirt ein Trupp Musketiers vorüber und macht Halt und der Anführer spricht auf schlecht französisch: „Nun, gut Freund! Kein Araber zu sehn gewesen? Alles rund herum in Ordnung?“
Der Baier wischt sich schnell die Augen mit dem Mähnenhaar des Pferden, schaut auf und will geschwinde sagen: „Nein, es hat sich hier kein Feind gezeigt“ – aber er kann nicht reden und wird wie Kreide weiß und kann nicht reden.
Dem Führer geht’s nicht anders. Er glaubt zu träumen, schaut den Baier mit großen Augen an, die Augen werden feucht, die Waagen werden bleicher – plötzlich brechen beide los wie Rasende vor Schmerz und Freude, der Eine schreit: „Ist’s möglich, bist Du’s?. Bist Du’s wirklich, lieber Baier?“
Der Andere ruft: „So hab’ ich recht, Du bist es Bruder Oesterreicher?“
Und Beide werfen weg, was sie in Händen haben und halfen sich und küssen sich und schwören sich zu lieben ihr ganzes Leben.
„Wir sind Alle Deutsche“ ruft der Baier und nur Ein Herz soll Allen angehören, dem Oesterreicher wie dem Baier, dem Baier wie dem Sachsen, dem Schwaben wie dem Franken!…“
[520] Diese Geschichte erinnert uns wohl lebhaft genug an das Schicksal unsers deutschen Volkes, das gewöhnlich so lange untereinander als Oesterreicher und Preuße, als Sachse und Baier und Schwabe stritt, bis es durch eine fremde Macht so recht auf eine Wüste des Bürgerkriegs geführet ward; nach langem Kummer rief es dann endlich:
„Wir sind Alle Deutsche – laßt uns einig sein, dann sind wir stark und dürfen auch von einem Vaterlande reden!…“
Wieder stehen wir am Anfang einen solchen gefährlichen Zwiespalts – doch ist das deutsche Volk diesmal nicht im Zweifel, welches bessere Theil zu wählen sei; – wer wird es jetzt verantworten wollen, wenn Deutschland doch zerrissen, doch um fremder Interessen willen aufgeopfert würde?Electricität ein Weber. Der Blitz, ehemals ein Monopol des Obersten unter den Göttern, ist jetzt in den Händen moderner Wissenschaft, Kunst und Industrie, Neuigkeitsbote, erster Briefträger des Universums, erster Portraitmaler, Thronfolger der Oel- und Gaserleuchtung, Erbe des Stubenheizens mit Holz oder Kohlen, Rheumatismusableiter und gründlicher Gichtbeulen-Operateur geworden. Und was kann noch Alles aus ihm werden? Zunächst hat ihn noch Ponelli in Sardinien zum ersten Weberkünstler gemacht. Die Weberei vermittelst Elektricität, nach dem von Ponelli erfundenen Apparat, ist einfacher, sicherer und bei Weitem billiger, als mit den vollkommensten Einrichtungen der Jacquard-Webstühle. Statt der zahllosen und kostspieligen Cartons, die zur Ausführung künstlicher Muster gehören, sieht man in dem Ponelli’schen elektrischen Webstuhle kleine eiserne Stäbe, die jedesmal magnetisch werden, so oft sie mit dem Strome galvanischer Elektricität in Verbindung gebracht werden, so daß nur die Richtungen dieser Stäbe verändert zu werden brauchen, um das Muster auszuführen, während bisher bei jedem Rucke des Weberschiffes Cartons geändert werden müssen. Jetzt weist der elektrische Strom mechanisch ohne Zuthun der Menschenhand den Stäbchen ihre Richtungen an, oder vielmehr die magnetische Polarität mit ihrer Anziehung und Abstoßung und zwar genau im Verhältniß der Zähne des Kammes, durch welchen das Muster angelegt und regulirt wird. Ohne Zeichnung und Ansicht ist dies schwer deutlich zu machen. Vielleicht können wir bald damit aufwarten. Die Anziehung und Abstoßung in den magnetischen Stäbchen steht in Verbindung mit der bald isolirten, bald verbundenen elektrischen Strömung, so daß man genau sagen kann, es seien eigentlich die nach dem Muster geleiteten Spiele polarischer Elektricität und Magneticität, welche weben. Diese Erfindung übertrifft bei Weitem das Wunder des elektrischen Teleraphen von Bain, mit welchem man Hunderte von Meilen weit einen Brief vor die Augen des entfernten Freundes in demselben Augenblicke schreiben kann, als man ihn Hunderte von Meilen fern selbst schreibt. Mit dem elektrischen Webstuhle kann man jedes Muster vergrößert oder verkleinert arbeiten lassen, gleichsam mit dem „Storchschnabel“ und Alles dies, ohne während der Arbeit nur eine jener Tausende von mühsamen Aenderungen, welche bei den Jacquard-Stühlen nothwendig wird und die Kunstweberei so kostspielig macht, vornehmen zu müssen. Auch kann man gemischt, sowohl mit Cartons, als mit Elektricität arbeiten; Turin sah dieses neueste und größte Wunder für die Industrie zuerst in Thätigkeit, hernach Genua, Lyons und Paris. Der Erfinder wird mit seinem neuen größeren Instrumente sich nächstens in London und Paris zeigen und es in der Pariser Ausstellung von 1855 arbeiten lassen. Die Erfindung ist in ganz Europa und Amerika bereits patentirt und an drei Banquiers in Turin und Lyons für eine Million Thaler verkauft worden. Muster und Modelle des neuen elektrischen Webstuhls werden nach allen Hauptplätzen der Industrie versandt, damit sie als Vorbilder für industrielle Anwendungen dienen. Es ist kaum zu sagen, von welchem Einfluß diese Erfindung sein wird. Unter allen Umständen macht sie die bisher kostbarsten und schönsten Gewebe schöner und wohlfeiler, so daß durch sie eine Menge Lebensverschönerungsmittel weiter hinab in’s Volk reichen, um dort Geschmack und Anmuth zu verbreiten, wo bisher so oft das Nothwendige und die Schmucksachen in Haus und Kleidung eben so dürftig als geschmacklos aussehen. Die textilen Künste, wie man jetzt das Reich des Webens nennen muß, nehmen unstreitig die allererste Rolle im ganzen modernen Leben ein, und sind sogar oft geheim oder offen das eigentliche Pathos der Politik, sogar von Kriegen gewesen, so daß eine so unabsehbar große Erfindung in dieser Sphäre jedenfalls wichtiger ist, als zehn gewonnene und verlorene Schlachten.
Industrie aus der Sonnenrose. In England fängt man mit steigendem Profite an, die große, gelbe, großköpfige, saamenkornreiche Sonnenrose[WS 4] auf die beste Weise zu cultiviren und auszubeuten. Erst ernten die Bienen aus ihren unzähligen kleinen Saamenblüthen (jedes Saamenkorn hat eine besondere) die reichlichste Menge Honig und Wachs. Die Saamenkörner geben, wie Leinsaamen behandelt, große Massen des besten Oeles für den Tischgebrauch u. s. w., besonders auch für Maler, welche für blaue und grüne Farben kein besseres Oel finden können. Als Mast für Geflügel giebt es kein besseres Mittel, als Sonnenrosensaamen. Die Seife von Sonnenrosenöl ist ein herrliches Schönheitsmittel für die Haut, welche es weicher, zarter und weißer macht. Als Bartseife ist sie die vorzüglichste. Fasanen, von diesem Saamen gefüttert, bekommen ein reicheres, farbenvolleres Gefieder. Das Mehl aus den Saamenkörnern giebt das feinste Kuchenwerk und dem Brote eine größere Nahrhaftigkeit und Verdaulichkeit. Endlich gewinnt man aus der großen Staude die feinsten Fasern, die wegen ihrer Seidenartigkeit in China häufig unter die Seide gemischt werden. So erweist sich die bekannteste aller Blumen, die bisher nur für einen bäuerischen Zierrath galt, plötzlich als eine der reichsten und ergiebigsten im Acker- und Gartenbau für industrielle Zwecke. Sie gedeiht überall ohne Pflege in unbenutzten Winkeln. In großer Menge cultivirt man sie zwischen Kartoffeln, wo sie nach letztem Behacken zwischen die Furchen à 12 Fuß von einander gesteckt werden. In China baut man Hunderttausende von Centnern Sonnenrosensaamen und bereitet Futter, Seide und Oel daraus. Die Staude soll sich zur Verarbeitung in Papier eignen. Ein Ackerbauer Englands gewann im vorigen Jahre beiläufig allein aus seinen Sonnenrosen über 700 Thaler aus dem Saamen, aus Honig und Wachs und den mit dem Saamen gemästeten Thieren. In jeder verwelkenden Sonnenrosenscheibe steckt ein guter Neugroschen. Wer also Groschen liebt, weiß nun, wie er sie sich wachsen lassen kann.
Der Staatsmantel des Königs der Sandwichs-Inseln, den der jetzige Herrscher Kamehameha I. unlängst zum ersten Male trug, hat nicht weniger als die Zeit von acht Regierungen zu seiner Vollendung gebraucht. Er ist 4 Fuß lang und 111/2 Fuß breit. Der Mantel selbst besteht aus grobem Geflecht, in welches die seltensten Federn mit der künstlerischsten Sorgfalt hineingezogen sind. Die Federn, mit welchen der ganze Mantel bedeckt ist, sind von einem seltenen Vogel (Melithreptes pacifica), die man blos in den höhern Regionen von Hawaii selten findet und sehr schwierig fangen kann. Dabei hat jeder Vogel nur zwei solcher Federn, eine unter jedem Flügel. Fünf solcher Federn wurden mit 3 Thaler bezahlt. In dem Mantel Kamehameha’s stecken für nicht weniger als 1,800,000 Thaler solcher Federn. Sie sind von der glänzendsten Goldfarbe, so daß der Mantel wirklich wie ein goldener aussieht, nur daß das Material dazu mehrere hundert Prozent theurer ist, als Gold. Der stolzeste Monarch der alten Welt könnte sich keinen kostbarern Staatsmantel wünschen, obgleich Kamehameha dann nur ein etwas kostspieliger – Papageno ist.
Gouverneur und Schneider. Grobschmied und Richter. W. W. Pepper, ein Landrichter im Staate Tenessee, in Amerika, war früher Grobschmied. Um zu zeigen, daß er auch als letzterer etwas gelernt habe und sich seiner Vergangenheit nicht schäme, machte er mit eigener Hand dem Gouverneur seines Staates, Andrew Johnson, eine Kohlenschippe. Gouverneur Johnson, um sich dankbar zu zeigen, machte ihm dafür mit eigener Hand einen Rock und ein Paar Hosen, zum Beweise, daß er früher ein geschickter Schneider gewesen und sich dieser Vergangenheit nicht schäme. Die Correspondenz zwischen beiden hohen obrigkeitlichen Personen ist veröffentlicht in der Staatszeitung von Tenessee. Solche Staatspapiere sind gemüthlicher, als unsere zu Hause.
Musikalisches. Von Johannes Brahms, dem jungen Tonkünstler, welcher von Robert Schumann Ende vorigen Jahren so bedeutungsvoll in die musikalische Welt eingeführt wurde, sind kürzlich in Leipzig die ersten sechs Werke im Druck erschienen; Op. 1–4 bei Breitkopf und Härtel, Op. 5 und 6 bei Bartholf Senff. Es sind drei „Sonaten“ und ein „Scherzo“ für Pianoforte und zwei Hefte „Lieder“ mit Clavierbegleitung. Alle diese Werke enthalten viel des Schönen und zeigen Brahms als eine hochbegabte, vielversprechende Künstlernatur, die aber selbstverständlich noch ihren Abklärungsprozeß durchmachen muß. Brahms Töne sind eigenartig, sie reißen oft voll schöner Gewalt unwiderstehlich mit sich fort, aber sie beanspruchen, daß man sich ihnen mit ganzer Liebe hingebe. Seine Fmoll Sonate Op. 6 dürfte unzweifelhaft eines der imposantesten Musikstücke der Neuzeit sein, es offenbart sich in ihr eine wuchernde Kraft in Erfindung und Gestaltung; das Andante derselben ist ein besonders reizendes Stück, durchweg von zartester Mondscheinnatur, bietet es ein bezauberndes harmonisches Gewebe. In dem ersten Liederheft Op. 3 sind die verschiedenartigen Empfindungen mit wunderbarer Genialität aus der Tiefe der ausgewählten Dichtungen heraufgeholt und oft zauberisch schön musikalisch ausgedrückt. Aber diese Gesänge verlangen Gesangesseelen zu Sängern und gewappnete Accompagnateurfinger. Schnelleren Eingang wird sich das zweite Liederheft Op. 6 verschaffen, da es sich mehr dem anzubequemen scheint, was man von ansprechenden Liedern verlangt, doch ist dies bei Brahms in einem höheren Sinne zu verstehen. Zu einer durchweg edlen Art der Auffassung der Gedichte, zu dem innern Zuge im Ausdruck, kommen hier noch freundliche frische Melodien, nette knappe Formen und leichte Ausführbarkeit. Der Zuhörer empfindet das Gefühl, wie wenn die ersten Frühlingslüfte auf ihn einströmen. – Und so sei denn auf diese sechs erstsn Werke des Künstlers hiermit angelegentlichst aufmerksam gemacht.
Literarisches. Von Schleiden, dem bekannten Verfasser des „Lebens der Pflanze“ erscheint binnen Kurzem ein neues Buch unter dem Titel: Studien, circa 21 Bogen stark, welches folgende einzelne Artikel enthalten wird: Fremdenpolizei in der Natur – Nordpolexpeditionen – Die Natur der Töne und die Töne der Natur – Die Unsterblichkeit der Pflanzen – Swedenborg und der Aberglaube – Wallenstein und die Astrologie – Mondscheinschwärmereien eines Naturforschers. – Von Neudörfer – unsern Lesern durch den Artikel: „Die Deutschen in Australien“ bekannt, ist so eben unter dem Titel: „Australien bis zum Jahre 1854. Eine Schilderung der dortigen Zustände“ erschienen. Es enthält das Neueste und Beste, was bis jetzt über Australien in der deutschen Sprache geschrieben wurde. Wir kommen später noch einmal auf dieses interessante Werk zurück.