Die Gartenlaube (1865)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 17. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Erbstreit.
Von Levin Schücking.

„Und wirst Du nicht für den Winter in die Stadt ziehen, lieber Onkel … es ist ja ganz unmöglich, es den Winter über in dieser Einsamkeit auszuhalten!“

Der junge Mann, der diese Worte sprach, stand mit dem Arm an einen Kaminsims gelehnt und blickte dabei auf einen schlanken Herrn mittlerer[WS 1] Größe im Alter von etwa fünfundvierzig Jahren nieder, der sich bequem in einen Lehnsessel gestreckt hatte und in die Flamme blickte, welche im Kamine flackerte und sich sehr wohlthätig in dem kleinen alterthümlich eingerichteten Salon fühlbar machte … draußen herrschte eine feuchte, kühle Nebelluft und verkündete das Nahen des Herbstes.

„Mein lieber Max,“ versetzte der Angeredete, „ich will Dir eine Antwort auf Deine Frage geben und sie mit einer moralischen Nutzanwendung für Dich begleiten, wenn Du mir noch eine von den Cigarren giebst, welche Du rauchst und welche so viel besser sind, als die Deines Onkels …“

„In der That,“ versetzte lächelnd der Neffe, „Du hast eben nicht das Glück, einen Onkel zu besitzen, der so freigebig für Deine Bedürfnisse sorgt, wie ich, und mußt deshalb schlechtere Cigarren rauchen – recht schlechte, nebenbei gesagt – hier ist mein Etui!“

Der Onkel wählte sich eine der Cigarren aus, worauf sein Neffe ihm Feuer darreichte, und dann sagte er mit einem leichten Seufzer: „Sieh, Max, das Leben ist eine lange und schmerzliche Uebung im Verzichten. Ein großes fortgesetztes Entbehren von guten Cigarren und von höheren Glücksgütern, das ist es, was uns die große Welt täglich, stündlich empfinden läßt. Sie zeigt uns unaufhörlich die ganze Fülle der Dinge, denen wir entsagen müssen. Also, was kann man Klügeres thun, als aus der großen Welt fortbleiben? Sich abwenden von dem, was uns einen Stachel in die Seele drückt, weil wir uns dabei sagen: Das Alles, Alles ist nicht für dich! Und deshalb habe ich mich entschlossen, der Welt den Rücken zuzuwenden und sie zu vergessen. Ich werde den Winter hindurch in dieser Einsamkeit bleiben.“

„Ich finde Deine moralische Nutzanwendung nicht ganz moralisch, lieber Onkel, und noch weniger philosophisch. Die große Welt kann nichts haben, was stachelnde Wünsche in einem Manne wie Du hervorriefe, und irdische Güter können unmöglich das Gefühl eines schmerzlichen Entbehrens in Dir erregen!“

„Es ist sehr hübsch, wie Du mir den Text liesest, Max,“ erwiderte lächelnd der Onkel. „Ich habe es immer gesagt, wenn wir Aelteren nichts taugen, so kommt es nur daher, weil unsere jungen Leute uns nicht gut erzogen haben! Und Du, Max, wenn Du Dich um die Erziehung Deines Onkels ein wenig mehr gekümmert hättest, würdest schon längst wahrgenommen haben, daß bei ihm von Philosophie gar nicht zu reden, daß bei ihm ein höchst bedauerlicher Mangel daran zu beklagen ist.“

„In der That, Onkelchen … ist das Dein Ernst?“ versetzte Max lachend. „Nun, Du siehst mich bereit, alles Mögliche zu thun, um Dich in philosophischem Entsagen auf alle Arten von Lebensgenüssen zu stärken … ich werde Dein Theil davon auf mich nehmen und gewissenhaft mit dem meinigen ausschöpfen!“

„Und unterdeß, glaubst Du, werde das Entbehren hier in der Einsamkeit mich zum Philosophen machen? Ach, Ihr junges Volk, wie wenig wißt Ihr davon, wie es uns Aelteren eigentlich um’s Herz ist! Philosophie! Ihr, Ihr habt gut Philosophen sein! So lange man jung ist, so lange man in dem Traume befangen, was wir entbehren, ersehnen, wonach unser ganzes Sein strebt, das Alles werde uns das Leben in der nächsten Zukunft schon ganz pflichtschuldig bringen, da ist es leicht zu harren, sich zu gedulden. Wenn wir aber, wie ich, so ein Jahrzehnt nach dem andern in die Zukunft hinein geharrt und uns in’s Alter hineingeträumt haben – da kommt plötzlich eine Stunde, wo die Geduld ein Ende erreicht. Geht denn dieser Vorhang nie auf, sagen wir uns, vor dem wir so lange saßen und auf dessen Aufrollen wir sehnsuchtsvoll warteten, als ob dahinter eine Fülle glänzenden Glücks verborgen sei? Wann beginnt endlich das Stück Leben, in dem wir eine glänzende Rolle spielen sollen, wie uns das ja schon an der Wiege gesungen ist, wie es unsere Träume ausmalten, unsere Aspirationen uns gewährleisteten? In der That, der Vorhang geht nicht auf, nie; das Stück spielt nicht; die Censur des Schicksals hat es gestrichen! – Sieh, Max, das ist ein sehr unangenehmer Augenblick im Leben, wo wir uns das sagen, wo wir uns nicht mehr verhehlen können, daß wir die Stunden, in denen wir dem Leben hätten abgewinnen können, was es allenfalls noch bietet, in einsam pinselhaftem Hoffen und Sehnen und Warten auf viel höheres, unendlich idealeres Glück verloren haben … und bei dieser unangenehmen Entdeckung mögen viele wohlgeschulte und achtungswerthe Seelen sich den Trost der Philosophie gefallen lassen; sie mögen mit einem alten Autor, etwa mit Boëthius de consolatione philosophiae zu Bett gehen und sich in den Schlaf lesen. Aber es giebt auch Seelen, die anders fühlen und für die ein alter Autor mit allem seinem Troste – ein alter Tröster ist, den sie ingrimmig in die Ecke schleudern, verzweifelnd mit Faust ausrufend:

Und Fluch vor allem der Geduld!“

[258] „Und zu diesen Seelen gehörst Du, Onkel?“ fragte Max ein wenig erstaunt.

„Stellenweise!“ versetzte der Onkel trocken, die Asche seiner Cigarre in den Kamin schleudernd.

„Aber dann,“ fuhr Max nach einer Pause, in welcher er vergebens erwartet hatte, daß sein Onkel das Gespräch fortsetzen werde, fort – „dann begreife ich nicht, weshalb Du Dich hier in die Einsamkeit einsperrst und nicht lieber in die Welt zurückkehrst, wo Dir doch so mancher Genuß noch zu Gebote steht …“

„Noch!“ fiel der Onkel bitter lächelnd ein … „Du bist sehr gütig, mich noch nicht völlig zu den der Welt abgestorbenen Greisen zu rechnen! Aber was soll ich in der Welt? Ich gehöre nicht zu ihr. Ich bin ein Bücherwurm. Bei meinen Büchern muß ich bleiben. Ich möchte reisen; – ich bin nicht reich genug dazu. Also was kann ich Besseres thun als zu Hause bleiben und arbeiten? Hätt’ ich Haus Markholm bekommen, so wäre Alles anders!“

„Ja, Markholm!“ sagte der Neffe mit einem Seufzer. „Wäre dies unglückliche Verhältniß nicht, so hättest Du hier, wenn auch die Güter uns verloren sind, doch wenigstens den Verkehr mit Morgenfelds, doch wenigstens ein befreundetes Haus!“

„Wovon jetzt freilich nicht die Rede sein kann,“ sagte der Onkel – „ich werde nie ihre Schwelle betreten, nie dulden, daß sie über die meine kommen!“

„Morgenfeld soll ein sehr unterrichteter Mann, eine gewinnende Persönlichkeit sein … die Tochter sehr gebildet –“

„Ich weiß nur, daß er durch Unrecht besitzt, was mein gehört, und ich hasse ihn,“ versetzte der Onkel hart. „Ich hasse ihn nicht, weil sein Unrecht ihn reich und mich arm machte, sondern weil er den alten angestammten, von den Vätern uns bestimmten und gewährleisteten Besitz uns vorenthält und weil er in fremde Hände bringen wird, was unserm Geschlechte gehört, so lange es auf Erden besteht!“

Max stieß einen leichten Seufzer aus; ihm war das, was am Herzen seines Onkels nagte, nicht just der Hauptkummer, und ererbte oder neue Güter, vorausgesetzt, daß sie sein gewesen, waren ihm ziemlich gleich viel werth; aber sie waren eben nicht sein, oder vielmehr nicht die seines Onkels, dessen Erbe er war, und das war eben die Seite der Sache, welche ihm einen Seufzer erpreßte.

Er warf dann einen Blick durch’s Fenster in den Garten hinaus und sagte: „Die Sonne dringt durch die Nebel … ich will meinen Morgenspaziergang zu den Dohnen machen und auch meine Flinte mitnehmen … vielleicht liefere ich Dir etwas in die Küche.“

„Vorausgesetzt, daß sich ein Hase in den Garten des Pfarrers verirrt,“ antwortete der Onkel lächelnd.

„O nein,“ fiel Max ein wenig erröthend ein, „die Frau Pfarrerin hat mir erklärt, es sei große Wäsche bei ihr heut und da könne man mich nicht gebrauchen …“

„Das bedauere ich,“ versetzte der Onkel, „denn ich wollte Dich bitten, mir das Buch zurückzuholen, welches Du Fräulein Elisabeth geliehen hast und das sie schwerlich gelesen hat.“

„O, da irrst Du, Onkel,“ erwiderte Max sehr lebhaft; „wenn Du sie kenntest, würdest Du Dich überzeugen, wie gründlich gebildet sie ist und wie dies Werk ganz und gar nicht über ihren Horizont hinausliegt, sondern im Gegentheil ihr tiefes Interesse einflößt.“

Der Onkel zuckte die Achseln.

„Wirklich?“ sagte er. „Nun, Du mußt es wissen … Fräulein Elisabeth ist dann ein Phönix und stößt mit ihrem Interesse die ganze Erfahrung Deines Onkels um, daß die Weiber wissenschaftliche Interessen immer nur affectiren … ein wahres Interesse nehmen sie nur an möglichst gedankenlosen und breitgetretenen Romanen, und auch das nur, um sich mit ihren eigenen Liebeleien darin wieder zu finden …“

„O ketzerischer Onkel!“ rief hier Max lachend aus.

„Nun, vielleicht wirst Du auch hierin meine Erziehung vollenden und meine Vorstellungen berichtigen,“ sagte der Onkel gutmüthig. „Unterdeß will ich an meine Arbeit gehen und wünsche Dir Waidmanns Heil, wenn Du jagen willst, ohne große Hoffnungen für die Küche darauf zu setzen; ein hübscher junger Mann mit blonden Locken und blühenden Wangen und Deiner griechischen Nase hat nicht immer Glück – bei den Hasen!“

Er stand auf und ging in sein anstoßendes Arbeitszimmer, während der Neffe den Salon verließ, um sich für seine Jagdstreiferei zu rüsten.

Eugen von Markholm setzte sich an seinen Arbeitstisch und nahm die Feder auf, um an dem Manuscripte weiter zu arbeiten, das vor ihm lag. Aber die Arbeit schien ihm schwer zu werden. Er warf mehrmals die Feder fort und blickte nachdenklich in den grünen Wipfel der Linde, welche vor seinem Fenster stand.

„Es ist merkwürdig,“ sagte er nach einer Weile leis für sich hin, „wie schwer es ist, zu denken! Ich will denken, um schreiben zu können, und ehe wenig Augenblicke vergehen, sitz’ ich in Träumereien verloren. Wie viel Menschen mögen immer nur träumen, wenn sie zu denken glauben!“

Was war der Gegenstand seiner Träumereien? Brütete er über dem Verhältniß, von welchem er zuletzt mit seinem Neffen gesprochen, über den Verlust der Güter, an denen seine Seele hing, nicht weil er irdischen Besitz höher schätzte, als er verdient, sondern weil in ihm ein stark ausgebildeter Familiensinn lag, weil er einsam in der Welt stand und sich einsam fühlte und weil ein Gefühl in ihm lag, als werde sein Entbehren von Weib und Kind einen Ersatz finden, wenn er Herr in den Räumen sei, wo seine Väter von Weib und Kind umringt an ihrem häuslichen Heerd gesessen und wo er von den Erinnerungen an ihr Familienleben umgeben sei? Vielleicht ist damit sein Gefühl zu klar und bestimmt ausgesprochen; es war vielleicht nicht gerade das, was er fühlte; es war eben nur das Gefühl eines großen Mangels in seiner Existenz und der Wahn, mit dem rückgegebenen Erbe werde ihm ergänzt sein, was ihm fehlte.

Er hatte den Kopf auf den Arm gestützt und die Arbeit von sich geschoben.

„Ich kann heute nicht schreiben,“ sagte er sich nach einer Weile – „der Verleger muß warten. Ich kümmere mich nicht das Mindeste darum, was meine Helden machen, denken und sagen … wenn das so fort geht, werde ich endlich gar nicht mehr schreiben können: je mehr wir das Leben kennen lernen, je reifer unser Urtheil wird, je ausgebildeter unsere Kraft der Darstellung – desto mehr verlieren wir die liebenswürdige Jugendfreude an den Menschen und den Dingen, die uns dazu treibt, sie darzustellen. Liegt im künstlerischen Gestalten eine Freude? Andere mögen es so empfinden. Sie sind dann glücklich. Es gehört das Gefühl von Glück dazu, um schaffen zu können! Ach, schöne Jugendzeit! Wie alt ich werde!“

Er stand auf, nahm den kleinen grauen Hut und seine Handschuhe und schritt in den Salon zurück, aus dem eine Glasthüre über einige Stufen in den großen Garten führte. Es war ein kleines in Ziegelbau aufgeführtes Haus, fast nur ein Pavillon zu nennen, das er bewohnte; es hatte ehemals zum Gute Markholm gehört, war von Beamten des Gutsherrn bewohnt worden, hatte auch wohl als Wittwensitz der Familie gedient. Mit einem kleinen Areal dazu gehörender Ländereien, einem Gehölz und ein paar Wiesen war es vor langer Zeit schon veräußert worden und durch mehrere Hände gegangen, bis es im vorigen Jahre abermals zum Verkaufe ausgesetzt worden. Als einen ehemaligen Besitz seiner Familie hatte Markholm es mit seinen Ersparnissen an sich gekauft und sich seit einem Vierteljahre darin eingerichtet. Der kleine Besitz, der in hübscher, waldreicher, hügeliger Gegend lag, machte ihm Freude. Er wollte für immer da wohnen bleiben und nur zuweilen auf Reisen die Welt wiedersehen und in ihr verkehren. Seine einzige Gesellschaft bildete jetzt sein Neffe, seines verstorbenen Bruders Sohn, der auf einer deutschen Universität Medicin studirte, auf des Onkels Kosten; er brachte jetzt die Ferien bei diesem zu.

Markholm wanderte zwischen den mit Buxbaum eingefaßten Beeten seines Gartens hinab, mit dem ihm eigenthümlichen lässigen fast schwankenden Schritt, einem Schritt, den man, wenn Markholm tief in Gedanken versunken war, für den Schritt eines eben von einer Krankheit Genesenden halten konnte, bis man ihn, von einer neuen Gedankenreihe erfaßt, plötzlich kräftig auftreten und in energischer Raschheit weiter schreiten sah. Seine Gestalt war ein wenig vorgebeugt, was ihn kleiner erscheinen ließ, als er war; seine Züge von merkwürdiger Feinheit, von fortwährendem innern Gedankenleben ausgeprägt; als sie noch voll und jugendlich frisch waren, als das Leben und die Arbeit ihnen diese Schärfe noch nicht gegeben, mußten diese regelmäßig gezeichneten Züge auffallend schön [259] gewesen sein. Die ganze Gestalt, wenn sie sich aufrichtete, hatte bei allem Zarten und Feinen des Baues etwas von nachhaltiger und elastischer Kraft.

Er war an’s Ende seines Gartens gekommen; die warme heitre Luft, welche die vollen Sonnenstrahlen gebracht, die jetzt längst allen Nebel verflüchtigt hatten, lockte ihn weiter, durch das verwilderte Bosquetgehölz, dann den Gang unter Erlen und Eschen hinunter, der zwischen zwei Wiesenflächen lag und in ein größeres Gehölz führte. Er ging bis an’s Ende der Allee, die durch dies Gehölz geschlagen war, und hier blieb er stehen und lehnte sich auf den niedrigen Schlagbaum, der die Grenze seines Besitzes bildete. Er blickte auf eine von Gebüsch umgebene Ackerfläche hinaus, hinter welcher sich ein größerer, von mächtigen Eichen und Unterholz gebildeter Wald erhob, der schon zu dem Gute Markholm gehörte.

Er erwartete hier irgendwo Max auftauchen zu sehen, dessen Dohnen in diesem Gehölze aufgestellt waren und der sich hier auf seiner Jagdstreiferei umtreiben mußte. In der That vernahm er nach einer Weile einen Schuß aus dem größeren Walde herüber … der junge Waidmann mußte da seine nicht immer von Glück gekrönten Schießübungen anstellen, ein Förster aus der Nachbarschaft hatte ihm die Jagdbefugniß gegeben – aber Max erschien nicht, von keiner Seite tauchte seine hohe schlanke Gestalt mit dem grünen Hut und dem Gemsbart daran auf; Markholm wollte bereits sich wenden, um hinein zu schlendern, als ihn eine Erscheinung fesselte, welche etwas sehr Auffallendes in dieser Umgebung hatte.

Von rechts her, aus einem Holzwege, der auf das Ackerfeld führte, kam langsam eine Dame geschritten; sie ging, die Augen vor sich auf den Boden gerichtet, an dem Gehölze entlang, an dessen Ende Markholm stand, so daß sie sich ihm näherte; sie war ziemlich groß und eine volle Gestalt, in einfacher, sehr bescheidener Kleidung, in einem dunklen Kleid mit einem Jäckchen von schwarzem Stoff … ohne Hut und ohne Handschuhe und ohne Sonnenschirm … statt dessen trug sie einen Stock mit einem Berghammer am Ende desselben in der Hand. Als sie näher kam und Markholm ihr Gesicht genauer unterscheiden konnte, blickte er in höchst anziehende Züge – große blaue schwimmende Augen, eine lange, feine, ein wenig gebogene Nase und ein kleiner reizender Mund mit kirschrothen Lippen, die Stirn hoch, auffallend und stark entwickelt, der Teint zart und weiß; das Ganze vielleicht etwas zu scharf, zu durchgearbeitet, um völlig schön zu sein, aber eigenthümlich gewinnend, durch und durch geistig bedeutend und fesselnd durch seinen Ausdruck.

Sie kam Markholm sehr nahe, ohne ihn zu gewahren. Dieser hatte volle Muße ihre Erscheinung in sich aufzunehmen und dabei zu sich zu sagen: „Ohne Zweifel meines Neffen Flamme aus dem Pfarrhaus … es scheint, die jungen Leute sind schon sehr im Einverständniß; sie schweift auf den Feldern umher, wo er durch unnütze Schüsse das Wild beunruhigt, was er jagen nennt! Sie treibt da mineralogische Studien? … Wirklich … sie nimmt einen Stein auf und zerschlägt ihn mit ihrem Berghammer! … Also das ist seine ‚gebildete‘ Elisabeth! Wahrhaftig hübsch und anziehend genug!“

Das junge Mädchen hatte die Stücke des Steins, den sie zerklopft und genauer beschaut, wieder fortgeworfen; als sie dann sich aufrichtete und weiter schritt, nahm sie plötzlich Markholm wahr.

Als sie ihn erblickte, blieb sie, ihm schon dicht gegenüber an der andern Seite des Schlagbaums, stehen und maß ihn mit einem etwas verwunderten Blick, ohne irgend ein Zeichen von Erschrecken zu verrathen; sie sah ihm ruhig ins Gesicht, wie erwartend, daß er sie anreden würde.

„Suchen Sie Gold im Quarz, oder Amethystdrusen auf diesen Feldern, Fräulein?“ fragte er mit einem etwas spöttisch lautenden Tone.

„Nein“, sagte sie ruhig; „aber ich suche!“

„Suchen … was ?

Sie fixirte ihn mit ihren großen Augen in einer ganz eigenthümlichen Weise.

„Suchen Sie nicht auch?“ sagte sie dann … „oder sind Sie nicht Eugen Markholm ?“ setzte sie dann mit ein wenig unsicherer Stimme hinzu.

„Der bin ich,“ sagte er lachend: „und Sie haben Recht, ich suche auch … aber keine Steine auf unsern Ackerfeldern.“

Sie zog ein paar ziemlich schwere Steine aus der Tasche ihres Kleides hervor und legte sie, wie um sich zeitweise von der Last zu befreien, seitwärts auf den Schlagbaum, dann stützte sie sich auf diesen und sagte:

„Dann haben Sie die Worte nicht verstanden: ‚Auch die Steine werden reden.‘“

Markholm schüttelte mit dem Kopfe.

„Die Steine werden reden, wie die Felsen, die Alpen, die Meere, wie die große Harmonie, die durch alle Schöpfung tönt – der Stein dort aber, der eckige Kiesel, den Sie trotz seines Pfundgewichtes mit sich einhergetragen haben, wird schwerlich jemals reden – wenigstens nichts, was mich interessirt!“

„Es ist kein Kiesel, sondern ein hier selten vorkommendes Mineral. Ich sehe freilich, daß Sie nichts davon verstehen.“

„Diese ‚gebildete‘ Elisabeth ist der richtige Blaustrumpf!“ sagte sich Markholm, während er sich selbst gestehen mußte, daß die ganze Erscheinung ihn eigenthümlich berührte, Laut antwortete er:

„Es ist so viel zu suchen und zu finden in der lebendigen Schöpfung, daß die todte diejenigen nicht anziehen kann, welche einmal in jener zu suchen begonnen haben.“

„Das ist wahr,“ versetzte das junge Mädchen nachdenklich; „dafür ist aber in jener lebenden so viel geforscht, daß sie uns wenig Enthüllungen mehr geben kann, während man die todte erst jetzt recht zu durchforschen beginnt und nun täglich die wunderbarsten Entdeckungen macht.“

„Es mag sein, daß man große Aufschlüsse, ungeahnte Erfolge erreicht auf dem neuen Wege des Forschens,“ erwiderte Markholm. „Die schärfsten Geister haben sich in diese Bahnen geworfen und dadurch der Zeit ihre Signatur gegeben. Alle Kräfte wenden sich der Durchforschung der Natur zu; das öffentliche Interesse, möchte man fast sagen, blickt nur noch nach dieser Richtung. Aber es ist das eine Strömung, die in ihrer Ausschließlichkeit keine Dauer hat. Wie in wunderbarer Prophetie hat Goethe schon diese Richtung der Gegenwart und – auch ihr Ende vorhergesehen und charakterisirt … im Faust, ganz im Anfang des Werks:

‚Wie Alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem Andern wirkt und lebt,
Wie Himmelskräfte auf und niedersteigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Mit segendustenden Schwingen
Harmonisch all’ das All durchklingen!‘

Ist das nicht ganz dasselbe, was unsere heutige Naturforschung triumphirend ausruft?“

„So ungefähr! Und dann?“

„Dann folgt sehr bald eine trübe Enttäuschung! Unmittelbar darauf! Faust ruft aus:

‚Welch Schauspiel! Aber ach, ein Schauspiel nur!
Wo faß ich dich, unendliche Natur?
Euch Brüste wo, ihr Quellen alles Lebens,
An denen Himmel und Erde hängt,
Dahin die welke Brust sich drängt –
Ihr quillt, ihr tränkt, und schmacht’ ich so vergebens?‘

Ja, vergebens! Der Naturgeist, den er sich heraufbeschworen, stößt ihn grausam zurück ‚in’s ungewisse Menschenloos‘; das Dämonische der Natur überwältigt ihn, es läßt ihn kraftlos, fassungslos zusammen sinken, bis er die verhängnißvolle Phiole ergreift, bei der ihm die einzige Rettung zu bleiben scheint, und als er den Rand der tödtlichen Schale schon an den Lippen hat – was giebt ihm das Leben wieder? Etwas aus einer ganz anderen Welt, Klänge aus einer Sphäre, die weit hinaus liegt über allem dem, worin er die Quelle der Erkenntniß und das Heil gesucht!“

„Sie haben den Faust gut auswendig gelernt,“ sagte die Dame nachdenklich und fast nur, wie um etwas auf dies Alles zu sagen.

„Sind Sie nicht meiner Meinung,“ fuhr Markholm sehr rasch und mit einem Zucken der Mundwinkel, in dem etwas Satirisches lag, fort – „daß Faust hier typisch ist für die Richtung, welche heute die Forschung angenommen hat, indem sie ungläubig, sich emancipirend von den Dogmen einer Zeit, die lang in ein enges dumpfes Mauerloch gebannt saß, jetzt plötzlich rastlos [260] mit Hebeln und mit Schrauben der Natur abzuzwacken strebt, was sie ‚deinem Geist nicht offenbaren mag‘? Und glauben Sie, daß das Ende ein anderes sein wird als eine große verhängnißvolle Enttäuschung? Alles Durchforschen der Natur langt immer wieder an Puncten an, wo nicht allein die Schranke des Forschens ist, nein, wo der Forscher sich gehöhnt sieht, wo die Natur ihm wie eine Sphinx boshaft zuzurufen scheint: stürz’ dich in den Abgrund, meine Räthsel lösest du doch nicht!“

Als Markholm damit geendet hatte, schwebte wieder, und stärker als vorher, jenes satirische Lächeln um seinen Mund.

Die junge Dame beobachtete es; sie sah ihn scharf an – dann sagte sie:

„Das ist sehr geistreich und gescheidt, Alles, was Sie da sagen – aber haben Sie es nicht gesagt, um –“

„Nun?“

„Um ein armes Frauenzimmer, das Ihnen zu gelehrt vorkommt, ein wenig mit Gedanken zu überströmen und zu sehen, wie sie in dem Sturzbad zappelt und dann gedemüthigt es aufgiebt, sich darin zurecht zu finden!“

„Ich hätte beabsichtigt Sie zu demüthigen?!“ rief Markholm ein wenig betroffen und vielleicht nicht ganz ohne Schuldbewußtsein aus.

„Nun, vertheidigen Sie sich nicht so laut dagegen!“

„Wenn mir aber daran gelegen ist, von Ihnen nicht falsch beschuldigt zu werden, soll ich mich dann nicht vertheidigen?“ sagte Markholm.

Die Dame schien wieder nach Spuren der Ironie in seinen Zügen zu forschen; dann sagte sie:

„Die Männer moquiren sich so gern über ein Mädchen oder eine Frau, die, wenn auch nur aus Thätigkeitstrieb, den Kreis ihrer Bildung in eine Sphäre ausdehnen möchte, welche die Männer als ihre ausschließliche Domäne betrachten. Mineralogie, glaub ich, gehört zu diesen Domänen?“

„Mineralogie wird dazu gehören – allerdings! Das Sammeln dieser garstigen Steine macht die Hände schmutzig.“

„Sehen Sie, Sie spotten wieder!“

„Ich spotte wahrhaftig nicht. Und was ich eben sagte, war mein voller Ernst; ich wollte Sie – um es ehrlich zu gestehen – ein wenig bekehren von einem kleinen Gelehrtenstolze auf Ihre naturwissenschaftliche Richtung.“

„Wenn Sie die Natur nicht interessirt, wie können Sie dann die Einsamkeit, in der Sie doch so ganz an die Natur gewiesen sind, aushalten?“ fragte das junge Mädchen, ihn fortwährend forschend ansehend.

„Wer sagt Ihnen, daß ich die Natur nicht liebe? Ich forsche nur nicht in ihr: ich überlasse es der Welt, mir von selbst entgegenzutragen, was man wichtiges Neues entdeckt und erforscht – ich suche nicht selbst!“

„Und befriedigt das Sie?“

„Vollständig! Man muß nicht Alles wissen, Alles umfassen wollen – man muß auch geistig kein Völler und Schwelger sein, indem man Alles wissen, Alles in sich aufnehmen will. Man muß, wenn der Geist mit voller Kraft und blühender Gesundheit sich auf seine Arbeit concentriren und Tüchtiges darin leisten soll, ihn bei weiser Diät halten.“

„Es ist wahr,“ sagte die Dame, den Redenden sehr nachdenklich anschauend – „man darf aber auch kein geistiger Gourmand sein.“

„Wie verstehen Sie das?“ fragte Markholm, ein wenig betroffen.

„Man darf nicht blos mit dem, was uns frappirt, was pikant ist, was man als den Rahm oben abschöpft, seinen Geist nähren, weil man ihn dann verweichlicht.“

Markholm sah sie groß an. Es lag Etwas in diesen Worten, was ihn wie ein Vorwurf traf.

„Aber nun muß ich gehen,“ sagte die Dame. „Leben Sie wohl!“

„Und die Steine?“ erinnerte Markholm.

„Ich vergesse sie nicht; ich werde sie morgen holen – sie sind mir zu schwer heute, denn ich habe noch mehr in der Tasche.“

„So will ich sie mit mir nehmen und Ihnen senden, Fräulein!“

„Ich will Ihnen die Mühe nicht machen; lassen Sie sie nur hier, ich hole sie mir morgen selber!“

Sie sagte das mit einer Bestimmtheit, daß Markholm nicht weiter seine Dienste anbieten konnte; sie nickte ihm ernst einen Gruß und ging.

Markholm verbeugte sich; die Dame setzte ganz wie vorher ihr suchende Wanderung fort und verschwand am Ende des Ackerfeldes auf einem Fußwege, der in den Wald führte.

Markholm sah ihr lange gedankenvoll nach.

„Merkwürdig,“ sagte er sich dann – „ein merkwürdiges Geschöpf! Diese Ruhe, womit sie dich ansieht, als ob sie in deiner Seele lesen wolle, und dir Dinge sagt, als ob sie noch viel mehr sagen könne! Und dabei des leichtsinnigen, flotten Max Flamme – Seltsam … die mit ihrem Ernst und ihren strengen Gedanken, und der Windbeutel mit seiner sorgenlosen Heiterkeit … wie hat sich das gefunden!“

Er wandte sich und kehrte heim. Er wollte jetzt die abgebrochene Arbeit wieder aufnehmen, aber die Arbeit gelang ihm weniger noch als vorher. Als Max endlich in sein Studirzimmer trat und ihm meldete, daß das Mittagsmahl aufgetragen sei, sagte er: „Treibt Deine Elisabeth Mineralogie?“

„Ach ja – Unsinn!“ versetzte Max … „der Alte ist auf alle möglichen unnützen Kiesel und Steine versessen, und sie sucht ihm deren zuweilen.“

„So? … sie scheint ein Blaustrumpf!“

„Hast Du sie denn gesehen, gesprochen?“

„Nun ja – hat sie Dir denn das nicht schon erzählt – sie war doch auf dem Wege zu Dir, in den Wald hinein, den Du mit Deinen Schüssen unsicher machtest!“

„In der That?“ rief Max lebhaft und mit dem Tone des Verdrusses aus – „auf dem Wege in den Wald begegnete sie Dir? Und ich Esel mußte gerade heute den Einfall bekommen, Hasen draußen auf der Haide zu suchen!“

„Deren Du doch nicht einen einzigen fandest!“

„Da irrst Du sehr, mein theurer Onkel – ich fand ihrer drei – aber sie liefen mir quer über den Weg, und weil das Unglück bedeutet, zog ich vor nicht darauf zu schießen, um nicht unnütz mein Pulver zu verlieren.“

„Das war sehr weise gehandelt!“ lachte der Onkel. „Und nun komm’ zu Tisch!“

(Fortsetzung folgt.)




Zwei Stunden unter Todten.
Von Franz Wallner.

Bei meiner jüngsten Anwesenheit in Wien traf ich mit dem Schriftsteller Anton Langer oft in heiterer Gesellschaft zusammen. Ich habe bei jeder Begegnung mit diesem frischen und fröhlichen Wiener Kind, Wiener Kind in der besten Bedeutung des Wortes, wenn auch, wie der Berliner sagt, „ein sehr ausgetragener Junge“, meine herzliche Freude. Wer ihn sieht, mit dem stets heiteren, runden wohlgenährten Antlitz, dem sich schon nach und nach ein ebenbürtiges Bäuchlein zugesellt, der wird kaum glauben, wie viel geistige Capacität, wie viel rege Arbeitskraft in dem Manne steckt. Langer ist die wesentlichste Stütze des Wiener Romans und der Volksposse, schreibt fast allein eine vielgelesene Zeitung, die mit ungemeinem Geschick redigirt und den Localverhältnissen angepaßt ist, und bringt jede Woche ein paar heitere Feuilletons in den großen politischen Zeitungen. Dabei hat er aber noch immer Zeit, mit fröhlichen Gesellen zu flaniren, den Cicerone zu machen und, wenn es darauf ankommt, zu kneipen, ja – recht anständig zu kneipen. Der freundliche Leser wird aus dieser kurzen Schilderung sehen, daß ich mich keiner besseren Begleitung zum Besuche der räthselhaften Todtenstadt in den unterirdischen Gewölben der Stephanskirche anvertrauen konnte, als der des fidelen Langer.

[261]

In den Katakomben der St. Stephanskirche zu Wien.

Die Erlaubniß zu dem Besuche dieser Katakomben ist jetzt so sehr erschwert und wird von Seite des Erzbischofs – der selbe allein zu ertheilen hat – so selten gegeben, daß von hundert Wienern achtzig nicht einmal um das Dasein dieser grausigen Räume wissen und ungläubig den Kopf schütteln, wenn man von dieser Unterwelt unter ihren Füßen erzählt. Es gehörten die ausgebreitete Bekanntschaft und der ganze Einfluß unseres Freundes dazu, um einer kleinen Gesellschaft einen solchen Freipaß zu verschaffen, worauf wir im Januar dieses Jahres, Mittags um zwei Uhr, die Wanderung in die Wohnungen der Abgeschiedenen antraten.

Der Eingang ist nicht, wie wir vermuthet, von der Kirche aus, sondern derselben gegenüber durch eine eiserne Thür, an welcher ich tausendmal vorüber gegangen war, ohne dieselbe zu beachten. Ein Führer und drei Fackelträger sollten unsere Begleiter sein. Wir wurden angewiesen, zur Vermeidung alles Aufsehens, einzeln, in kurzen Zwischenräumen ins Haus zu treten, da eine Vermuthung unserer Absicht uns Hunderte von Neugierigen an den Hals gezogen haben würde. Ueber eine halbverfallene Treppe kommt man in eine Art von Vorgewölbe, in welchem Sägespäne, Holzreste etc. aufgeschichtet liegen, wie einer der Anwesenden meinte „die Rumpelkammer der Todten.“ Der Führer öffnet nun eine eiserne Thür, und wir befinden uns in den Katakomben. Weder irgend ein geschichtlicher, noch ein traditioneller Anhaltspunkt belehrt uns, zu welchem Zweck diese noch zum großen Theil unerforschten ungeheuren eisenfesten Räume eigentlich erbaut worden sind. Möglicher Weise zur Benutzung als Gruft für [262] hochgestellte Personen, dafür sprechen viele, noch wohl erhaltene, mit kostbarer Bildhauerarbeit geschmückte Denkmale, dagegen aber die enorme Ausdehnung dieser zahllosen Gewölbe, wovon die bereits durchforschten sich straßenweise bis zum Postgebäude, unter die Wollzeile, hinziehen. Man weiß bereits von dem Dasein von drei übereinander stehenden Etagen; die dritte tiefste ist freilich noch größtentheils unbekanntes Land, nur von Jenen bewohnt, aus deren Reich „kein Wanderer je zurückgekehrt“.

Die zahllosen Leichen, welche diese Räume bergen, wurden so hoch aufgepackt, daß erst jüngst beim Pflastern eines Vorplatzes auf dem Stephansplatz zum Entsetzen des Arbeiter sich Knochenhände und Todtenschädel zeigten; wie tief hinab aber diese „Aufbewahrungsräume“ gehen, das hat noch kein menschliches Auge erforscht, eben so wenig weiß man mit Bestimmtheit, wie breit sich das Labyrinth dieser Gänge ausdehnt. Die ersten dieser Gewölbe zeigen nur spärliche Knochenüberreste auf, eine trockene, reine Luft hält jeden Modergeruch fern. Je weiter wir eindringen in das finstere Reich der Grüfte, desto schauerlicher wird der Eindruck. Große Knochengerüste, mit einer Sorgfalt und Symmetrie aufgestapelt, wie Stöße Holz auf Zimmermannsplätzen, sind hier, an den Wänden entlang, emporgerichtet, Arm- und Fußröhren, dazwischen die hohläugigen Schädel, die Rippenwölbungen, Alles in einer Ordnung, wie Säbel und Bajonnete in Zeughäusern kunstgemäß arrangirt sind. Vorwärts! Ueber Hügeln von Moder und anderen Attributen der Verwesung finden wir einen Schacht der sinnverwirrendsten Regellosigkeit. Als ob ein Heer von Todten aus unbekannten Ursachen die Flucht ergriffen und Wehr und Waffen von sich geworfen, so liegen hier gesprengte Särge, mit und ohne Inhalt, zerstreute Gebeine, zusammenhängende Gerippe, aufrechtstehende und gekrümmte Mumien in grauenvoller Unordnung durcheinander. Dazu die gespenstige Beleuchtung der Fackeln, welche das Reich der Nacht nur nothdürftig erhellen, – es gehören starke Nerven dazu, um diesen grausigen Anblick ohne Erschütterung zu ertragen. Unbegreiflich beibt es, warum der Verwesungsproceß bei einigen Leichen nur soweit gediehen ist, daß alles Fleisch mumienartig eingetrocknet erscheint, während zahllose vollständige Knochengerippe die Fortschritte der animalischen Zerstörung bekunden und Berge von Leichenmoder das letzte Stadium der Vergänglichkeit alles Irdischen andeuten. Die scharfe, trockene Luft kann nicht allein diese verschiedene Wirkung bei den zu gleicher Zeit in diese Mauern eingesperrten Todten hervorgebracht, es müssen andere mir unbekannte Ursachen dabei von Einfluß gewesen sein.

Die letzten, am Besten erhaltenen Särge tragen die Jahreszahl 1775.

Das Bild des Zeichners dieser nach der Natur aufgenommenen Skizze, welche schon in einem der ersten Jahrgänge der damals verhältnißmäßig noch wenig verbreiteten Gartenlaube erschien, führt uns in einen Salon dieser Leichen-Wohnungen. Die Mumie eines riesengroßen Mannes lehnt halb aufrecht, in der Stellung eines ermüdet Ausruhenden an der Wand, Lappen eines früheren Prunkkleides von dunklem Sammt umschlottern seine Glieder, eine Hand ist noch mit dem Handschuh, ein Fuß noch mit einem Schnallenschuh bekleidet, den Kopf deckt eine Allongenperücke. Ihr gegenüber kauert eine weibliche Mumie, die sich, wie verwundert, über ein zu ihren Füßen liegendes Gerippe beugt.

In dem nächsten Gewölbe scheint die gewaltige Wand nicht mehr Kraft gehabt zu haben, die Wucht des sich gegen sie stemmenden Inhaltes zu stützen, sie ist auseinander geborsten, und durch die breite Spalte drängen sich eine Unzahl übereinander geschichteter Särge, Leichen, Gerippe hervor, letztere scheinbar mit den Händen nach außen ringend, mit den Füßen sich Luft schaffend, mit den augenlosen Schädeln vorwärts dringend – eine grauenvolle Bresche, geeignet auch den beherztesten Feind in die Flucht zu jagen.

Einen wahrhaft entsetzlichen Eindruck macht eine Mumie, welche, vollständig erhalten, auf einem wohlgeordneten Knochenhaufen sitzt; Alles ist noch da bis auf einen Fuß, der bis zum Knie nicht nur die Bekleidung, sondern auch das Fleisch verloren hat und den täuschenden Eindruck eines Stelzfußes hervorbringt. Die Züge des Kopfes, mit den blendend weißen Zähnen, sind im Fackellichte klar erkennbar und scheinen dem Eintretenden mit teuflischem Grinsen entgegen zu lachen.

In der zweiten Etage, die wir abwärts zu erreichen, finden wir eine Menge Kinderleichen, in kleine Särge, theilweise in Schachteln eingepackt, und eine Unmasse menschlicher Ueberreste in allen Formen und Gestalten. Hier zeigt uns eine riesige Oeffnung, welche in eine unabsehbare, selbst durch das Licht der Fackeln nicht zu erhellende Tiefe führt, die sogenannte Pestgrube, die, der Sage nach, mit den Opfern jener entsetzlichen Seuche gefüllt sein soll. Obwohl Leitern den gefährlichen Weg in diesen Abgrund ermöglichen, hatte doch Keiner von uns Lust ihn einzuschlagen.

Unter einer Oeffnung, die auf die Oberwelt ausmündet, zeigt sich noch eine Vorrichtung, mittelst welcher auf einer von Bretern gebildeten schiefen Ebene die Leichen von der Straße herabgeworfen wurden. Die zahlose Menge der hier über einander gewälzten Gerippe bekundet die Eile und Flüchtigkeit, mit welcher man sich damals der Leichen entledigt hatte.

Ueber ausgebrochene, wackelnde Stufen, über Berge von menschlichem Moder und Knochenstücken, losgerissenen und verwitterten Sargbretern geht der unheimliche Weg wieder empor.

Weiter hat auch die neueste Untersuchung (im Jahre 1846) nicht geführt, wenn es gleich zu wünschen wäre, daß fromme Hände Ordnung in dieses wüste Chaos brächten und das Ganze mehr einem riesigen Leichenhof ähnlich gemacht würde, als jetzt, wo es einen Aufenthalt bildet, entsetzlich genug, um einen starken Mann, der ohne Vorbereitung plötzlich hier eingeschlossen würde, zum Wahnsinn zu treiben.

Unwillkürlich beflügelt sich der Fuß auf dem Rückwege, der Blick wendet sich scheu von den Wänden der Knochenhöhle ab, die, von dem Fackellicht nur theilweise erreicht, die absonderlichsten Formen annehmen, und mit tiefern Athemzug begrüßen wir das Tageslicht.

Der umwölkte Himmel, welcher Massen dichten Schnees niedersendet, harmonirt mit der düstern Stimmung, welche sich der kleinen Gesellschaft bemächtigt hat; fast lautlos trennt sich dieselbe, mit dem festen Entschlusse, diese mit Nacht und Grauen bedeckten Räume nicht wieder zu besuchen. Selbst im Traume verfolgte mich der gespenstige Stelzfuß und das Riesenskelet mit den Fetzen des ehemaligen Prunkkleides, die mich wild umher jagten in dem Reich der Verwesung, über Leichenberge und Sargtrümmer hinweg, wo mein Fuß auf behaarte Schädel und weiche Menschenleiber treten mußte, bis der helle freundliche Morgen mich von dieser nachträglichen Qual erlöste.




Die nationale Bedeutung der Genossenschaften.
Von H. Schulze-Delitzsch.
II.

Welche Stellung die arbeitenden Classen im Allgemeinen um jene Zeit in Deutschland einnahmen, haben wir in unserem ersten Abschnitte schon angedeutet. Sie waren, mit geringen Ausnahmen in einigen vornehmen Gewerben, z. B. dem der Goldschmiede (Münzer), Gewandschneider (Tuchmacher), welche von Alters her meist von Freien getrieben wurden, durchweg hörige Leute, persönlich Unfreie. Da sie auf fremdem Grund und Boden saßen, waren sie zum Theil als Feldarbeiter mit Ackerbau-Frohnen, zum Theil als Handwerker mit gewerblichen Leistungen ihres Faches ihrem Leib- und Grundherrn dienstpflichtig und entbehrten der vollen Rechtsfähigkeit. Und aus diesen dem germanischen Geiste, den alten Stammesüberlieferungen so sehr widersprechenden Zuständen, aus der Schädigung an Ehre, Recht und freier Persönlichkeit heraus war es den germanischen Kern- und Mischvölkern, besonders den Deutschen gegeben, den großen Wurf zu thun und das Princip der freien Arbeit in die Geschichte einzuführen.

[263] Diese große, wahrhaft erlösende That gelang einem Theile der Arbeiter, den Handwerkern in den neu aufkommenden Städten.[1] Unter dem Schutze der Immunität, durch die Könige mit dem Marktrecht beliehen, blühten diese jungen Gemeinwesen meist um Bischofssitze und Königspfalzen (Residenzen) rasch auf. Zwar stand den Herren des Stadtgebietes die grundherrliche Gewalt über die auf ihrem Eigenthum Seßhaften auch hier zu, aber gemildert durch viele Concessionen und Privilegien, mit denen man zum Zuzug anlockte. Schon früher hatten überdem an manchen Orten adelige Dienstmannen und persönlich Freie aus den vornehmen Gilden sich darin niedergelassen und einen Theil des Stadtregiments, die Besetzung der Schöffen- und Rathsbank neben dem bischöflichen oder königlichen Vogt durchgesetzt und auf diese Art eine mehr oder weniger freie Gemeinde gebildet. Besonders anziehend aber waren die Städte für die unfreien Arbeiter, welche, nicht beim Ackerbau beschäftigt, den Handwerken oblagen. Waren schon die Dienste, welche sie mit ihren Gewerbsleistungen für den Bedarf des Stadtherrn leisten mußten, viel weniger lästig, weil sie sich unter eine größere Zahl vertheilten, und überhaupt die Möglichkeit und Gelegenheit, für Andre um Lohn zu arbeiten und Etwas zu erwerben, größer, so kam noch der Stadtfriede, der Schutz gegen rohe Gewalt innerhalb der Ringmauern, hinzu, womit die ersten Bedingungen wirthschaftlichen Emporkommens gegeben waren. Obschon sie daher zunächst keinerlei Rechte der Freien, keine Stimme in den öffentlichen Angelegenheiten erhielten, strömten sie doch massenhaft herein; und da man ihre kräftigen Arme in den ewigen Fehden, wie zur Vertheidigung der Ringmauern, wohl auch in den Kämpfen der Geschlechter und Altbürger mit dem Stadtherrn sehr nöthig brauchte und sie sich überdem zu Gewerbstüchtigkeit und Wohlstand emporarbeiteten, gelang es ihnen allmählich sich zur vollen Freiheit, zu Rechts- und Vermögensfähigkeit, und am Ende zur Mitgliedschaft in der Stadtgemeinde, zur Mitordnung der städtischen Angelegenheiten und Mitbesetzung der städtischen Aemter aufzuschwingen. So geschah die Verleihung des vollen Eigenthums- und Erbrechts durch kaiserliche Privilegien zunächst für einzelne Orte, und wurde bald ebenso, wie der Grundsatz: „daß die Luft in der Stadt frei mache“, vermöge dessen die in die Stadt verzogenen Hörigen nach Jahresfrist vom Grundherrn nicht mehr angesprochen werden durften, zum förmlichen Stadtrecht. Das Mittel aber, sich dieser großen Errungenschaften zu versichern, fanden die Handwerker in der Rückkehr zu den alten Genossenschaften, deren Andenken, trotz aller Reichsverbote, im Volke nie erloschen war. Die Zünfte waren es, in denen sich die Anfänge des jungen Bürgerstandes zu jener Macht organisirten, welche die Städte zu Hauptträgern nationaler Bildung und Sitte, zu den Heerden humanen und wissenschaftlichen Fortschrittes in jenen finstern Zeiten machten, ohne die es uns an jedem Anknüpfungspunkte fehlen würde für die großen Ziele unserer Zeit.

Daß diese Befreiung der gewerblichen Arbeit, der Eintritt der bei der Bewegung betheiligten Arbeiter in ihr volles Menschen- und Bürgerrecht, auf einen großen wirthschaftlichen Umschwung zurückgeführt werden muß, indem von jeher und mit Nothwendigkeit jede bedeutende politische Entwickelung in einer socialen wurzelt, deuteten wir schon an. Um es durchzusetzen, daß die gewerbliche Arbeit für wohl verträglich geachtet wurde mit der Würde, mit Ausübung der Rechte und Pflichten eines Bürgers, bedurfte es vor Allem der wirthschaftlichen Selbstständigkeit, eines gesicherten Erwerbes, eines Eigenthums seitens der Arbeiter. Denn ohne diese Dinge ist weder eine gesellschaftliche Stellung, noch die Leistungsfähigkeit zur Uebertragung der Staatslasten denkbar. So lange nun der Ackerbaustaat in seiner Starrheit bestand, war dies, wie wir sahen, an ein gewisses Maß von Grundbesitz geknüpft. Es gab noch kein bewegliches, vom Grundbesitz getrenntes Vermögen, keine selbsiständige Industrie, keinen eigentlichen Handel im Lande. Fremde Kaufleute kamen herein, um auswärtige Luxusartikel gegen die Produkte der Landwirthschaft und Jagd auszutauschen. Der Verkehr war auf seiner niedrigsten Stufe. Jeder fertigte sich, was er brauchte, mit den Seinigen selbst, und die Reichen und Vornehmen hatten nur das voraus, daß sie unter vielen Hörigen bei den verschiedenen Arbeiten die Auswahl hatten und so eine größere Arbeitstheilung auf ihren Höfen eintreten lassen konnten. Der Austausch geschah in Natur, ebenso wurden die Abgaben, Bußen und Dienste an den Staat, den Grundherrn und sonst geleistet. Geldverkehr kannte man nicht; Vieh, Getreide und Pelzwerk waren die gewöhnlichen Zahlungsmittel. Erst die Anhäufung der bis dahin unfreien Handwerker in den Städten bereitete den Uebergang von dieser reinen Naturalwirthschaft in die Geldwirthschaft vor, löste die Gewerbsarbeit aus dem bloßen Dienste des Ackerbaues los und begründete eine Industrie, einen Handel auf eigenen Füßen. Damit wurde der Hörigkeit, dem Gebundensein an Scholle und Beschäftigung, für die Handwerker die thatsächliche Unterlage entzogen, und der socialen Emancipation folgte die politische auf dem Fuße. Die einmal gegebene Möglichkeit des Erwerbes eines beweglichen Vermögens, freier Rührigkeit auf dem Arbeitsfelde zur Herbeiführung einer gesicherten Existenz, die thatsächliche Gleichheit in der gesellschaftlichen Stellung zog die rechtliche Gleichheit im bürgerlichen Leben nothwendig nach sich. Gebrochen wurde der Bann, der die gewerbliche Production und die gewerblichen Arbeiter bis dahin in eiserne Fesseln geschlagen hielt, indem man ihre Beschäftigung für des freien Mannes unwürdig und für unvereinbar mit bürgerlicher Tüchtigkeit und höhern menschlichen Strebungen ansah. Den alten Handwerkern war es vorbehalten, das Gegentheil darzuthun, in Bildung und Sitte, in Bürgermuth und Befähigung zu den öffentlichen Geschäften mit den Besten zu wetteifern und dabei zugleich den Beweis zu liefern, daß eine solche gehobene Stellung, weit gefehlt, die eigentliche Berufsthätigkeit der Arbeiter zu beeinträchtigen, gerade das Hauptmittel sei, sich den gesteigerten Forderungen im Gewerbsleben gewachsen zu zeigen.

Bei Alledem müssen wir einen Vorbehalt, der schon in dem Gesagten liegt, noch ausdrücklich zur Geltung bringen. Nur von dem kleinern, schon durch die Art seiner Beschäftigung vor den Uebrigen vorgeschrittenen Theile der Arbeiter ging die Bewegung aus und blieb auf dessen festgeschlossene Reihen auch im weitern Verlaufe beschränkt. Deshalb konnte die wirkliche Emancipation der arbeitenden Classen im Großen und Ganzen, die völlige Wiedergeburt unseres Volkes in seiner Gesammtheit sich nicht daran knüpfen. Ganz besonders war es ein im Leben der Zeit in ungeschwächter Vollkraft wurzelndes Moment, welches die städtischen Handwerker gegen die große Masse der ländlichen Arbeiter ausschließend, ja geradezu abwehrend auftreten und die Bewegung vor Erreichung ihrer wahren Endziele an einem bestimmten Puncte Halt machen ließ. Noch war das Ständewesen zu mächtig und hatte alle Lebenskreise viel zu innig durchdrungen, noch entsprach es der damaligen Gesammtentwickelung, dem ganzen Vorstellungskreise der Zeit viel zu sehr, als daß man hätte mit einem Male damit fertig werden können. Deshalb richteten die Handwerker ihre Anstrengungen vielmehr darauf, sich in der einmal vorhandenen Staats- und Lebensform einzugliedern, als sie zu durchbrechen, schlossen sich den andern Arbeitern gegenüber ab und wurden selbst ein Stand, der sich als der dritte dem Adel und der Priesterschaft zugesellte und sich, gleich jenen, mit Vorrechten aller Art verschanzte, sobald er zum Siege gelangt war. Wirklich war eine solche beschränkte Zulassung zu den Vortheilen des Ständestaates, den man dem Princip nach dadurch anerkannte, auch das Höchste, was von den herrschenden Mächten damals zu erlangen war, und die Handwerker hätten die Früchte ihrer Kämpfe, alles mühsam Errungene in hohem Grade gefährdet, hätten sie sich nicht des einzigen Rechtstitels, welchen die Zeit anerkannte, des ständischen Privilegs, versichert. Deshalb hatte denn auch dieser erste Durchbruch der freien Arbeit im Mittelalter nur einen beschränkten Erfolg, weil die vollen Consequenzen davon weit über das Zeitbewußtsein hinausgingen. Doch waren diese Consequenzen in dem erreichten Erfolge schon im Keime enthalten, und das ihm zu Grunde liegende große Princip war viel zu gewaltig und lebensvoll, als daß es sich dabei hätte auf die Dauer beruhigen können. Vielmehr trug das Erreichte die Sprengung der alten Formen, die völlige Umgestaltung der socialen und politischen Zustände bereits in seinem Schooße. Das aufblühende Bürgerthum, die von ihm getragene Zeitbildung und Entwickelung, die Hebung von Wissenschaft und Kunst mit ihren gewaltigen Hülfsmitteln für das Gewerbe, der steigende [264] Wohlstand der Bürger: Alles dies wirkte nothwendig auf die Zersetzung des Ständestaates. Mit ihm zugleich verfielen die Zünfte, diese mitten im Fluß erstarrten Genossenschaften, die ein Bestandtheil von ihm geworden waren, als sie, die ersten Hebel der Bewegung, in deren weiterem Verlauf mit der immer bewußter auftretenden modernen Richtung mehr und mehr in Zwiespalt geriethen, weil der Geist in ihnen sich ausgelebt hatte. „Nicht einen Bruchtheil der Arbeiter mit Vorrechten ausstatten und vor den übrigen begünstigen; nein, gleiches Recht, gleichen Raum zur Entwickelung für Alle!“ – so lautet jetzt die Losung. Und ist das Ziel weiter gesteckt, so ist auch ein guter Theil des Weges gegen sonst zurückgelegt. Nicht um Rechts- und Vermögensfähigkeit, nicht um Sicherheit der Person und des Eigenthums haben die Handwerker und Arbeiter mehr zu kämpfen. Diese Bedingungen zum Emporkommen gewährt ihnen heute der Staat. Vielmehr gebricht es ihnen an den wirthschaftlichen Mitteln, und sie befinden sich großentheils thatsächlich nicht in der Lage, um die gegebene rechtliche Möglichkeit sich gehörig zu Nutz zu machen. Und hier, von der wirthschaftlichen Seite muß die Frage angefaßt werden, um mittelst der Selbstständigkeit im Erwerb die gesellschaftliche Stellung zu erringen, in welcher alle höheren humanen und politischen Strebungen ihren Stützpunct finden. „Capital und Bildung“ – Besitz der äußeren Arbeitsmittel und körperliche, intellectuelle und sittliche Tüchtigkeit – das sind die Factoren, an welche in der modernen Gesellschaft der Erfolg geknüpft ist. Sie den Arbeitern in höherem Grade als bisher zu Gebot zu stellen, das ist die Aufgabe.

Bereits schreitet man rüstig, wenn auch erst in kleineren Kreisen, an ihre Verwirklichung, und hoffnungsvolle Anfänge liegen vor. Wieder sind es die freien Genossenschaften, in welche sich die Handwerker und Arbeiter schaaren, um das Ziel zu erreichen. Unsere Arbeiter-, Handwerker- und Bildungsvereine, unsere Wirthschafts- und Erwerbs-Genossenschaften, in ihnen organisiren sich die in ihrer Vereinzelung Machtlosen zu einer Großkraft. Sie, die wahren „Innungen unserer Zeit“, sind berufen, das große Princip der freien Arbeit in seiner ganzen Tragweite, die Volleinbürgerung der Arbeiter in Staat und Gesellschaft durchzuführen. Fester Zusammenschluß, Erproben der eigenen Umsicht und Thatkraft, Selbstständigkeit und rühriges Eingreifen in die nächsten Kreise des täglichen Lebens, in Haushalt und Erwerb, damit müssen wir beginnen, von da muß alles Weitere ausgehen. Das ist die Vorschule der Selbstregierung und Selbstverwaltung in Staat und Gemeinde, die Schule, aus der freie Männer, tüchtige Menschen und wackere Bürger hervorgehen, das ist die Saat, aus der unserm Vaterlande das Heil ersprießt! Es ist der dritte Anlauf, den das deutsche Volk mittelst der Genossenschaften nimmt, den Ausbau seiner nationalen Zukunft zu bewirken. Durch ihre Stammes- und Kampfgenossenschaften stürzten die alten Deutschen die römische Weltherrschaft. In ihren Zünften legten die deutschen Handwerker im Mittelalter den Grund zum Stadtbürgerthum, zum sogenannten dritten Stande. Das Ziel, welchem die gegenwärtige Arbeiter-Bewegung mit ihren Bildungs-, Erwerbs- und Wirthschafts-Genossenschaften zustrebt, ist größer. Nicht einen vierten Stand zu gründen, wie man sich unglücklich ausdrückt, sondern den Ständestaat mit allen Resten der Privilegien der alten Geburts- und Berufs-Stände völlig zu beseitigen, das gleiche Recht für Alle an die Stelle des Vorrechts begünstigter Minderheiten zu setzen und der politischen Freiheit in Bildung und Wohlstand der Massen die allein dauerhafte sociale Unterlage zu geben – darauf müssen alle Strebungen gerichtet werden! Wollten die Arbeiter einen wirklichen Stand bilden, eine politisch abgeschlossene Rechtsgemeinschaft außerhalb des allgemeinen Volksrechtes, dann müßten sie das Ständewesen als Staatsprincip, also auch die übrigen Stände mit ihren Vorrechten anerkennen. Das ist es eben, was man von gewisser Seite will.

Dieser neue vierte Stand, die breite Grundlage der Gesellschaft, stände natürlich auf der Stufe der Bevorrechtung zu unterst; denn eine andere noch unter ihm stehende rechtlose Masse, – das Material zu einem fünften Stande etwa – von welcher sich der Arbeiterstand durch seine Sonderrechte ausscheiden, vor der er gewisse politische Vorzüge behaupten könnte, gäbe es nicht. Nein, nicht im ständischen Sonderrecht, sondern im gemeinen für Alle gleichen Volksrecht beruht die Ausgleichung, für die der Arbeiter einzutreten hat. Und wer dem etwa entgegnen wollte: „gleiches Recht für alle Stände“, der hebt eben damit die Stände als solche auf, da deren Wesen in der Ungleichheit der Rechte und Pflichten besteht. Das haben unsere deutschen Arbeiter auch wohl begriffen. „Im Volke aufgehen gleich allen Anderen – als vollberechtigte Glieder desselben Theil haben an allen seinen menschlichen und bürgerlichen Attributen – den ganzen warmen Pulsschlag des nationalen Lebens das eigene Herz weiten zu lassen – so habe ich ihre Forderungen immer verstanden. In diesem Sinne verlangen sie die gleiche Freiheit und das gleiche Recht wie Alle, ihr wohlgemessen Theil an Volksbildung und Volkswohlstand, an menschlicher und politischer Geltung, eine gehobene Stellung innerhalb, aber wahrlich nicht außerhalb des Ganzen, wo sie nur zu kurz kämen. Darum fort mit dem ständischen Separatismus und frisch in die Genossenschaft hinein mit ihrer freien Verbrüderung aller Classen. Schon regt es sich tüchtig bei uns und manche gute Erfolge sind errungen. Ihnen aber, meine wackern Helfer und Mitgenossen aus unsern Associationen, die Sie den später Kommenden als Pioniere den Weg bahnen, möge die weitere Aussicht, die ich eröffnete, eine Ermuthigung sein, welche Sie über die mannigfachen Mühen und Unzuträglichkeiten der ersten Anfänge hinweghebt. Nicht das materielle Bedürfniß allein, das Ihnen zunächst den Anlaß zum Eintreten in die Bewegung gab, ist es, dem diese dient. Bewußt oder unbewußt treiben Sie, einmal von der Strömung ergriffen, höheren Zielen zu. Der Geist der freien Genossenschaft ist der Geist der modernen Gesellschaft! Hat er erst das Wirthschaftsleben der Nation durchdrungen, so kann es nicht fehlen, daß er von da aus auch das öffentliche Leben erobert und unserer staatlichen Entwickelung neue dauernde Grundlagen schafft. Darum, meine Freunde, lassen Sie uns mit dem Gedanken an unsere Arbeit gehen: daß wir in den bescheidenen Anfängen, wie sie im Drange des nächsten Bedürfnisses kleinen Verhältnissen angepaßt wurden, die Keime zu Gestaltungen pflegen, die schon in mächtiger Verzweigung, gleich der deutschen Eiche, sich zukunftsvoll über unser ganzes Vaterland zu verbreiten beginnen. Zu solchem Dienst mit Ihnen, mit Hunderttausenden wackrer Männer in allen deutschen Gauen verbunden, grüße ich Sie als Ihr Anwalt.




Bilder aus der kaufmännischen Welt.
Der Gerson’sche Bazar in Berlin.

Gerson – Gerson, welcher Zauberklang für die Weiberherzen, welcher Gipfelpunkt sehnlicher Mädchenwünsche, welches Paradies der Frauen, welche Hölle für so manchen Gatten, nicht nur an den Gestaden der sandumwehten Spree, nein durch ganz Deutschland, überall wo der Gedanke an neue Moden dem schönen Geschlecht das Blut rascher durch die Adern treibt! Gewiß werden es alle unsere Leserinnen, die nicht das Glück haben in der Stadt der Intelligenz und der Gardelieutenants zu wohnen, uns Dank wissen, wenn wir ihnen einmal von diesem berühmten Gerson’schen Bazar und seiner Geschichte erzählen.

Im Jahre 1836 wurde in dem Gebäude der Bauakademie zu Berlin unter der Firma Wald u. Gerson eine Modewaaren-Handlung gegründet, welche sich in ihrer bescheidenen Ausdehnung kaum von den zahllosen Concurrenzgeschäften unterschied, die in allen Gegenden Berlins zu finden sind und von denen so viele einige Jahre nach ihrer Entstehung tiefbetrauert von ihren unbefriedigten Gläubigern wieder spurlos verschwinden.

Vielleicht mochte auch damals mancher der älteren Concurrenten jener neuen Firma kein besseres Prognostikon stellen, jedenfalls aber ahnte wohl Niemand in jenen Tagen, daß nach einem unverhältnißmäßig [265] kurzen Zeitraume aus dem bescheidenen Anfange ein so großartiges Geschäft hervorgehen würde, wie es in gleicher Weise in ganz Europa nicht zum zweiten Male gefunden werden kann.

Schon drei Jahre später (1839) übernahm Hermann Gerson das bisher gemeinschaftlich geführte Geschäft für alleinige Rechnung auf seinen Namen, und von diesem Zeitpunkte an gewann das noch so junge Unternehmen jenen fast beispiellos raschen Aufschwung. Gerson sah bald ein, daß er dem immer rascher anwachsenden Geschäfte nicht allein mehr vorstehen könne, und es lag ihm wohl nichts näher, als die treueste und zuverlässigste Hülfe in seiner eigenen Familie zu suchen. Geboren zu Königsberg in der Neumark hatte Gerson noch sechs Brüder, einen älteren und fünf jüngere, und auf diese Angehörigen richtete er nun sein Augenmerk. Von seinen Brüdern nahm er einen nach dem andern als Theilhaber in sein Geschäft auf, welches in der Gunst des Publicums fortwährend stieg, so daß in der Bauakademie eine stete Vergrößerung der Localitäten nöthig wurde, bis endlich im Jahre 1840 die Uebersiedelung nach dem jetzigen Locale am Werder’schen Markte erfolgte. Obgleich schon damals fast das ganze Haus in großartigster Einrichtung geschäftlichen Zwecken gewidmet war, so stellte sich doch durch die immer steigende Frequenz nach und nach die Nothwendigkeit heraus, große Räume in den nächstgelegenen Häusern zu Niederlagen, Arbeitssälen u. s. w. einzurichten.

Ebenso wurde die Einrichtung eines eigenen Geschäftes unter der Gerson’schen Firma in Paris nöthig, welches zwar nicht in gleicher Weise wie in Berlin den Verkauf, sondern vielmehr die nöthigen Einkäufe in der Hauptstadt der Moden zum Zwecke hat. Einer der Gebrüder Gerson steht diesem Pariser Geschäfte vor und hat eine durchaus nicht leichte Aufgabe, welche große Aehnlichkeit mit den Bestrebungen der Uebersetzer dramatischer und anderer belletristischer Neuheiten besitzt. Wie diese Herren auf literarischem Gebiete alles Neue womöglich schon im Entstehen mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgen, um das irgend Uebersetzungswürdige für Deutschland oder für andere nach fremden Producten schmachtende Nationen sogleich genießbar zu machen, so hat der Chef des Gerson’schen Geschäfts in Paris eine sehr ähnliche Vermittelung zu bewirken. Was in Sachen des Luxus und der Mode nur Neues auftaucht, wird von ihm, sobald es geschmackvoll gefunden worden ist, auf dem directesten Wege nach Berlin spedirt, um dort die wie überall nach Frankreichs Moden sehnsüchtige Damenwelt zu entzücken.

Der Gerson’sche Bazar ist nicht nur eine Merkwürdigkeit, er ist im eigentlichsten Sinne des Wortes eine Nothwendigkeit für Berlin geworden. Ganz abgesehen von seinem factischen Vortheile für die Damenwelt, würde es diese unendlich schmerzlich berühren, wenn durch das plötzliche Verschwinden ihres Lieblingsaufenthaltes auch ihrer Unterhaltung das Lieblingsthema entrissen würde. Und nun gar die Männer, welche ihren Ehefrauen gegenüber irgend ein begangenes Unrecht wieder gut zu machen haben! Wie verzweiflungsvoll würden sich diese armen Verbrecher nach einer andern Firma umsehen, deren Name allein schon in vielen tausend Fällen hinreichend gewesen ist, ein heranziehendes, oder selbst ein schon losgebrochenes Gewitter am Ehehimmel zu beschwichtigen!

Das Aeußere des Hauses läßt kaum die darin aufgehäuften Schätze des Luxus vermuthen. Die Schaufenster zeigen nicht jenen raffinirten massenhaften Aufputz, den man häufig bei Geschäften von weit geringerer Bedeutung findet, wo oft der größte Theil der Vorräthe sich hinter den mächtigen Spiegelscheiben dem vorübergehenden Publicum augenfällig präsentirt, während zuweilen im Innern die traurige Leere der Waarenfächer den Uebergang zu einer bevorstehenden Insolvenz anzeigt.

Der Strom der Käufer, oder besser gesagt – Käuferinnen, welche zum Gerson’schen Local ziehen, ist immer ein gewaltiger, in der Weihnachtszeit sogar ein ununterbrochener. Vor den Thüren baut sich oft eine wahre Burg von Miethwagen und herrschaftlichen Equipagen auf, und gähnende Kutscher sowie brummende Diener harren verdrießlich ihrer Gebieterinnen, denen unterdessen beim Anschauen der Toilettenherrlichkeiten Stunden zu Minuten werden.

Durch das Entree gelangen wir fast unmittelbar in den großen Hauptraum zu ebener Erde, der sein Licht durch ein Glasdach von oben erhält, während sich nach allen Seiten kleinere Abtheilungen abzweigen, von denen die links gelegenen für die Comptoir- und Cassenzwecke reservirt sind. Von diesem großen Parterrelocale führt eine breite Doppeltreppe nach dem ersten Stockwerke, und die rings um dasselbe laufende Galerie gewährt einen überraschenden Blick auf das rege Wogen und Treiben zu unseren Füßen. An diese Galerie stoßen wiederum eine Menge einzelner Abtheilungen, welche wie unten entweder allein oder vielleicht in Verbindung mit der nächstfolgenden Localität immer nur von einer bestimmten Waarengattung in Anspruch genommen werden. Auch das zweite Stockwerk umfaßt noch eine Anzahl ähnlicher Räume, die sämmtlich mit Waaren angefüllt sind und wo wir überall zahlreichen Käufern und Verkäufern begegnen.

Staunenerregend ist die Menge der verschiedenartigsten Artikel, welche der Gerson’sche Bazar zur Auswahl darbietet. Von dem einfachsten baumwollenen Futterstoffe; von dem nur wenige Pfennige kostenden schmalen Spitzengewebe bis zu dem Kostbarsten, was die luxuriöse Mode vorschreibt, findet man hier Alles in einer unglaublichen Mannigfaltigkeit vertreten. Nicht fern von dem einfachen Tuche, welches die genügsame Handwerkerfrau erwirbt, um sich damit Jahre lang zu schmücken, sind echte indische Kaschmirshawls ausgestellt, von denen das Stück tausend bis fünfzehnhundert Thaler kostet. Und, merkwürdig, gerade diese Shawls, nach deren Besitz so manche vornehme Dame sehnsüchtig strebt, sind im Vergleich zu den ähnlichen Tüchern Wiener oder französischen Ursprungs geradezu häßlich zu nennen. Die Farben sind meist sehr grell und in einer Reihenfolge zusammengestellt, die den gewöhnlichen Geschmacks- und Schönheitsregeln völlig widerspricht; dagegen ist der zu den Kaschmirshawls verwendete Rohstoff von wunderbarer Feinheit, und die bei den geringen mechanischen Hülfsmitteln jener Länder fast unbegreifliche Sauberkeit der Ausführung muß auch den Nichtkenner mit Staunen erfüllen. Die zu den Kaschmirshawls verarbeitete Wolle gleicht an Feinheit fast der Seide, und jeder dieser Shawls besteht aus einer Menge kleiner Theile wie Palmen, Blätter, Streifen und Kanten, welche so fein zusammengefügt sind, daß auch ein geübtes Auge nur schwer die Nähte zu erkennen vermag.

Einen nicht geringeren Luxus entfaltet die Abtheilung, in welcher die feinsten Brüsseler Spitzen zu finden sind; doch auch hier gehört ein Kenner, oder – verzeihen Sie, meine Damen! – vielmehr eine bewährte Kennerin dazu, um die oft fabelhaft klingenden Preise mit dem geringen Umfange der Waare in Einklang zu bringen. Ein geklöppeltes Spitzentuch für dreihundert Thaler, der Spitzenbesatz eines Kleides, welcher eben so viel oder gar noch mehr kostet – das sind Gegenstände, bei denen der vorsichtige Gatte seine entzückte Ehehälfte wie an einem Verderben drohenden Strudel rasch vorbeiführt. Aber dicht daneben droht dem für seine Casse besorgten Ehemanne eine nicht minder gefährliche Stelle, denn die hier entrollten prachtvollen Seidenstoffe sind gleich verführerisch und Kleider zu hundert bis hundertfünfzig Thaler gehören nicht zu den Seltenheiten.

In den oberen Räumen sehen wir die Niederlagen der Meubelstoffe und Teppiche aller Gattungen, wie sie von der bürgerlichen Wohnung bis zum fürstlichen Palaste ihre Verwendung finden. So manche schwerseidene und mit Gold durchwirkte Damaste sind vielleicht bestimmt, stumme Mitwisser der wichtigsten Staatsgeheimnisse zu werden, und diese kostbaren Teppiche englischen und holländischen Ursprunges werden wahrscheinlich dereinst auch nicht von profanen bürgerlichen Fußtritten belästigt. Die in Smyrna gefertigten, doch fast nur unter dem Namen „persische Teppiche“ bekannten Gewebe contrastiren mit den europäischen Fabrikaten bedeutend in Farben und Mustern, denn diese sind oft plump und häßlich.

Von großartigem Umfange ist das Geschäft in fertigen Damengarderobeartikeln, welche sich ebenfalls im ersten Stockwerk befinden. Dies ist indeß wahrscheinlich diejenige Abtheilung des Gerson’schen Bazars, in welche zumal leicht zur Eifersucht geneigte Frauen ihre Männer nicht gern als Begleiter mit sich führen; nicht etwa aus übertriebenem Zartgefühl, denn Toilettengeheimnisse giebt es bei dem Einkauf von Mänteln, Mantillen und dergleichen jedenfalls nicht, wohl aber dürften die hier angestellten Verkäuferinnen, deren junge junonische Gestalten die zu verkaufenden Artikel beim eigenen Anproben ganz vorzüglich empfehlen, manchen Ehemann zu bedenklichen Vergleichen verführen.

Eine bittere Erfahrung dieser Art machte (so erzählt man) hier einst eine Lady, welche in Begleitung ihres Gemahls den [266] Gerson’schen Bazar besuchte. Eine der jungen Damen hing sich die Mantille um, welcher die Lady ihren besonderen Beifall zu schenken schien. Letztere wandte sich jetzt an den hinter ihrem Stuhle stehenden Gatten mit der Frage: How do you like it? (Wie gefällt sie Dir?)

O, she is most beautiful (sie ist wunderschön) entgegnete exaltirt der Lord, dessen ganze Aufmerksamkeit mit bewaffneten Augen auf die stattliche Verkäuferin gerichtet war.

How – she?! (Wie – sie?!) O, you traitor! (O, du Treuloser) rief entrüstet die Lady, erhob sich und zog ihren Gatten ziemlich unsanft mit sich fort, ohne den beabsichtigten Einkauf zu machen. –

Wie wir bereits erwähnten, sind die einzelnen Waarengattungen streng von einander getrennt. Dieselben bilden im Ganzen einundzwanzig Abtheilungen oder Rayons, die wieder je einen besondern Vorsteher haben, welcher mit den ihm beigegebenen Gehülfen nicht nur den Verkauf besorgt, sondern auch die nöthig werdenden Anschaffungen neuer Waaren ganz selbstständig anordnet. Dadurch wird es auch nothwendig, daß verschiedene dieser Rayonvorsteher jährlich mehrfache Reisen nach den Fabrikationsdistricten Deutschlands, Frankreichs und Englands unternehmen, wobei ihnen hinsichtlich des Einkaufs völlig freie Disposition überlassen bleibt. So werden z. B. auch die in London stattfindenden Auctionen indischer Shawls als der ursprüngliche Bezugsweg dieses Artikels durch einen Vertreter des Gerson’schen Geschäfts von Berlin aus regelmäßig frequentirt, und gerade dieser Zweig bietet nicht geringe Schwierigkeiten, indem die Kaschmirshawls gewöhnlich nur in lots (Loosen) von sechs oder mehr Stücken zur Versteigerung kommen. Diese lots werden nicht getheilt, und so muß der Ersteher, um einen einzigen besonders schönen Shawl zu erlangen, die übrigen weniger guten dann mit in den Kauf nehmen.

Eine Einrichtung des Gerson’schen Bazars verdient noch besonderer Erwähnung. Viele Artikel der Damentoilette sind ausschließlich für den Gebrauch bei Abend bestimmt, wie Ballkleider u. s. w., und da die Wirkung einzelner Farben bei Tageslicht eine ganz andere als bei dem Scheine der Kerzen oder Gasflammen ist, so hat man einen sogenannten Lichtsalon eingerichtet. Dieser Raum hat keine Fenster und dessen sämmtliche Wände sind von unten bis oben mit Spiegelscheiben bekleidet, während eine große Anzahl von Gasflammen eine Beleuchtung hervorbringt, wie sie heller in dem glänzendsten Ballsaale nicht zu erzielen ist. In diesem Lichtsalon können nun auch bei Tage von den Damen die Wirkungen der verschiedenen Farben bei Ballbeleuchtung in jeder Weise geprüft werden, denn vermöge der Spiegelreflexe läßt sich auch der Eindruck beurtheilen, den die betreffenden Stoffe in größeren Entfernungen hervorbringen.

Um unseren Lesern einen oberflächlichen Maßstab zur Beurtheilung des Verkehrs im Gerson’schen Bazar an die Hand zu geben, wollen wir nur anführen, daß in demselben durchschnittlich

135 Commis,
36 Verkäuferinnen,
40 Lehrlinge
und 25 Hausdiener

angestellt sind. Gewiß ein ganz ansehnliches Contingent, welches in Summa einen jährlichen Gehalt von etwa sechzig bis achtzig Tausend Thalern bezieht. Wie zahlreich nun auch dieses Personal erscheinen mag, so genügt dasselbe, zumal in der Weihnachtszeit, kaum, um die Kauflust des massenhaft zuströmenden Publicums zu befriedigen.

So Manchem wird sich hierbei die Frage aufdrängen, ob dieser colossale Verkehr nicht ein höchst bequemes Mittel zur Befriedigung diebischer Gelüste darbiete. Dies ist wohl kaum zu leugnen und es darf in einer durch die Geschicklichkeit ihrer Langfinger jedes Alters und Geschlechts berüchtigten Stadt auch kaum anders erwartet werden, Zwar findet man im Gerson’schen Bazar nicht jene ominösen Placate, welche uns auf den Bahnhöfen, in den Theatern und an den öffentlichen Vergnügungsorten Berlins entgegenstarren mit den Worten: Vor Taschendieben wird gewarnt! In dem Gerson’schen Geschäft muß ja auch die Aufmerksamkeit auf die Abwehr von Ladendieben gerichtet sein, und in dieser Hinsicht ist eine sehr praktische Einrichtung getroffen worden. Bekanntlich hat mit der wachsenden Unternehmungslust und Gewandtheit der Diebe auch die Umsicht und Erfahrung der Berliner Polizeibeamten gleichen Schritt gehalten, und es ist deshalb gewiß eine glückliche Idee zu nennen, daß die Besitzer des Gerson’schen Geschäftes in jener lebhaften Periode dicht bei der Thür ihres Etablissements einen derjenigen Criminalpolizeibeamten aufstellen, die, durch langjährige Praxis und gutes Gedächtniß unterstützt, die Legion der mehr oder minder anrüchigen und schon mit den Eigenthumsrechten in Conflict gerathenen Persönlichkeiten Berlins recht wohl kennen. Naht also dann und wann im Gedränge ein bekanntes Gesicht, so weist der Polizeibeamte diesen alten Freund vor seinem Eintritt in das Gerson’sche Local mit der Versicherung, daß er da drinnen nichts zu suchen habe, sehr wirksam zurück.

Musterhaft sind die inneren Einrichtungen, welche die Erfahrung auf den Grad möglichster Vollkommenheit zu bringen wußte. So ist durch die strenge Trennung der verschiedenen Artikel sowohl für den Käufer, als auch für den Verkäufer große Erleichterung geschaffen, während andererseits das Cassengeschäft wieder ganz von dem übrigen getrennt besteht. Die Verkäufer deponiren die bei ihnen gekauften Gegenstände mit einer kurzen Notiz über Gattung und Betrag an der Casse beim Ausgang, wo dann der Käufer dieselben gegen Erlegung der Summe oder (was ebenso häufig vorkommt) auf Credit in Empfang nimmt.

Wie weit der Ruf des Gerson’schen Geschäftes mit vollem Rechte sich verbreitet hat, davon kann man den deutlichsten Begriff erlangen, wenn man des Abends die beladenen Wagen sieht, welche die nach auswärts verschriebenen Waaren in einer Menge von Paqueten und Ballen nach dem Postgebäude fahren. Um die Weihnachtszeit wird zu diesem Transport oft genug ein Frachtwagen erforderlich.

Der Umsatz, der im Gerson’schen Geschäft erzielt wird, ist nach Millionen zu bemessen. Mancher Besitzer eines schon leidlich angesehenen kaufmännischen Geschäftes in der Provinz oder selbst auch in der Residenz würde sehr erfreut sein, wenn dessen jährlicher Umsatz die Höhe der Summe erreichte, die an einem einzigen Tage während der Weihnachtszeit bei Gerson umgeschlagen wird.

Wie sehr das Gerson’sche Etablissement an Bedeutung zugenommen hat und noch fortwährend zunimmt, das läßt sich am Besten nach dem außerordentlich starken Engros-Geschäft berechnen[WS 2], welches diese Firma nach allen Weltgegenden hin macht. Durch den massenhaften Bezug der Waaren aus erster Hand kann das Haus den Wiederverkäufern große Vortheile bieten und ein anerkannt geschmackvolles, reiches Sortiment vermehrt auch in dieser Hinsicht den Verkehr fortwährend. Ganz außerordentlich umfangreich ist namentlich der Umsatz in den verschiedenartigsten fertigen Damengarderobeartikeln, der sogenannten Confections-Branche, einem Geschäftszweige, der bekanntlich in den letzten zehn Jahren vorzugsweise in Berlin eine nie geahnte Ausdehnung gewonnen hat. Der Ruhm, diese früher gänzlich unbekannte Gattung des Geschäftes so zu sagen geschaffen und zuerst in Berlin eingeführt zu haben, gebührt dem Gründer der Gerson’schen Firma, der sich damit zugleich ein bedeutendes Verdienst erworben hat, denn Tausende von Händen finden jetzt dadurch lohnende Beschäftigung.

Wenn wir oben von der großen Menge der bei Gerson Angestellten sprachen, so ist damit die Anzahl der für das Gerson’sche Geschäft unmittelbar thätigen Personen noch bei Weitem nicht erschöpft.

In den benachbarten Häusern, jedoch mit der Geschäftslocalität in unmittelbarer Verbindung, befinden sich zwölf Arbeitssäle, in denen gegen zweihundert Mädchen und Frauen beständig beschäftigt sind. Jedem einzelnen Saale steht wieder eine Directrice vor, welche die Anfertigung der verschiedenen Gegenstände leitet. Diese letzteren sind von einer unendlichen Mannigfaltigkeit; denn im Gerson’schen Bazar ist eigentlich nicht weniger als Alles zu finden, was überhaupt zur Damentoilette gehört, und man sucht dort ebensowenig das einfachste Morgenhäubchen wie den fürstlichen Hermelimnantel vergebens.

Weit größer ist aber noch die Zahl derjenigen Personen, welche für das Geschäft in ihren eigenen Wohnungen arbeiten, die Zahl von achthundert bis tausend dürfte eher zu niedrig als zu hoch gegriffen sein. – Ein langer Saal im oberen Stockwerk des Gerson’schen Hauses ist zur Vertheilung der bestellten und beziehentlich Annahme der gefertigten Arbeiten bestimmt. Der Eingang zu diesem Saale führt durch ein Nebenhaus, so daß dadurch der Verkaufsverkehr in den übrigen Räumen gar nicht gehemmt [267] wird. Diese Einrichtung hat jedoch noch eine weitere gute Seite. Unter den Arbeit Holenden und Bringenden mag sich so manche junge oder ältere Dame finden, der es nicht an der Wiege gesungen wurde, daß sie ihr Brod einst im Dienste Anderer erwerben müßte. Wohl manche jener durch Unglücksfälle Verarmten, die jetzt hier Arbeit sucht, hat früher selbst unter die Zahl der eleganten Käuferinnen gehört, und nun müssen die zarten Finger, deren einzige Arbeit einst vielleicht nur das Anziehen der Glacéhandschuhe ausmachte, die Nadel von früh bis zur sinkenden Nacht führen, um nur den Hunger und die Noth abzuwenden. Manches kummervolle Auge der in jenem Expeditionssaale erscheinenden Frauengestalten erzählt stumm lange derartige Leidensgeschichten. Brechen wir aber ab von diesem schmerzensvollen Thema! Wie manches zartfühlende Frauenherz möchte fast schaudern, wenn es wüßte, wie viel bittre, heiße Thränen oft auf die glänzende Stickerei eines Festprachtgewandes gefallen sind!

Wir dürfen indessen unsere flüchtige Schilderung von Gerson’s Zauberbazar nicht schließen, ohne noch einmal auf den vor einigen Jahren in voller Manneskraft plötzlich gestorbenen Begründer des großartigen Geschäftes zurückzukommen.

Hermann Gerson war ein Mann von den ehrenhaftesten Grundsätzen, und diese, sowie sein biederes, liebenswürdiges Wesen, verbunden mit seinen großen mercantilischen Fähigkeiten und organisatorischen Talenten, bilden die Lösung des Räthsels, wie es möglich war, auf einer höchst bescheidenen Grundlage allmählich einen solchen Riesenbau aufzuführen. Aber nicht nur als Kaufmann, auch in andrer Hinsicht genoß Gerson einer allgemeinen Achtung, die er im höchsten Grade verdiente. Eine hervorragende Eigenschaft seines Charakters war die unbeschränkte Wohlthätigkeit, denn kein Dürftiger rief vergebens seine immer bereite Hülfe an. Eine Menge wahrhaft rührender Züge werden in dieser Beziehung von ihm erzählt, und sein Tod beraubte eine große Anzahl hülfsbedürftiger Familien ihres in vielen Fällen ungekannten Wohlthäters.

Durch rastlose Thätigkeit und strenge Rechtlichkeit wußte Hermann Gerson dem von ihm gegründeten und seinen Namen jetzt noch tragenden Geschäfte diesen Aufschwung zu geben; seine Brüder, sowie der als Theilhaber eingetretene Schwiegersohn des Verstorbenen führen das großartige Geschäft streng in denselben Grundsätzen fort, so daß ein fortwährendes Zunehmen seiner Bedeutung auch jetzt noch unverkennbar ist.

Wohl hat man in andern großen Städten schon Versuche gemacht oder mindestens zu solchen aufgefordert, um ein Etablissement in der Art und Weise des Gerson’schen zu gründen; allein das Gelingen dieser Pläne ist immerhin stark zu bezweifeln. Ein neues und vielleicht auch eben so umfangreiches Geschäft kann durch Aufwand bedeutender Geldmittel geschaffen werden, indem man den augenblicklichen Zustand des Gerson’schen Geschäftes zum Muster nimmt. Damit ist jedoch das Fortbestehen und stetige Wachsen der Nachbildung in der Art des Originals noch lange nicht erzielt. Ein derartiges Etablissement muß nothwendiger Weise aus sich selbst herauswachsen, wenn seine Basis eine sichere sein soll, und aus diesem Grunde ist kaum anzunehmen, daß der Gerson’sche Bazar so bald einen ebenbürtigen Nebenbuhler erhält.

B.




Das Dichterhaus bei Oldenburg.

„Zu Oldenburg giebt’s eine stille Stätte,
Manch’ Auge hat sie thränenschwer geschaut,
Dort liegt ein Sänger auf dem Krankenbette,
Schon ein Jahrzehnt mit seinem Schmerz vertraut.“

Ein natürliches Gefühl veranlaßt uns, das Andenken und die Verehrung für hervorragende Männer von der Person auch auf den Ort zu übertragen, wo dieselben geweilt und gewirkt haben, oder noch weilen und wirken. So lebt der Beschauer beim Betrachten der durch große Geister geweihten Stätten unwillkürlich ein reiches Dichter- oder Heldenleben mit durch, welches ihm aus der ganzen Umgebung, aus den kleinsten Gegenständen derselben lebendig entgegentritt und mit eigenthümlichem Zauber eine Fülle von erhebenden Gedanken und Empfindungen in ihm wach ruft. Es freut uns daher immer, wenn die „Gartenlaube“ uns ein Dichterhaus zeigt und unserer Phantasie Gelegenheit giebt, ein Dichterleben in seinen hellen Licht- und allzu oft auch dunklen Schattenseiten mit der Oertlichkeit in Verbindung zu bringen.

Wir führen den Leser heute an eine Stätte, an der Licht und Schatten im grellsten Contrast neben einander wohnen, die geweiht ist durch die reichste Fülle von Poesie vereint mit einem ebenso reichen Leiden und Dulden. Es ist das Dichterhaus am Haventhore bei Oldenburg, wo unser Julius Mosen nun schon seit zwanzig langen Jahren durch unsägliches Leiden an das Schmerzenslager gefesselt ist.

Der Name Julius Mosen, der mit dem schweren Geschick, das den Dichter in der Fülle seines poetischen Schaffens so unerbittlich gelähmt, längere Zeit vergessen schien, ist erst in letzter Zeit wieder zur vollen verdienten Würdigung gekommen, wozu die Gartenlaube und dann vor wenigen Jahren durch die eingehenden geistvollen Artikel von Johannes Scherr und Arnold Schloenbach über ihn und seine Schöpfungen jedenfalls die nächste Anregung gegeben. Später durch die Nationalsubscription auf die Gesammtausgabe seiner Werke hat das deutsche Volk ihn zu den Heiligthümern seines Herzens erhoben. In der Presse sowohl, wie im Volksmunde ist Julius Mosen so oft genannt, daß wir das Dichterhaus, welches ein warmer Verehrer und vortrefflicher Charakter-Darsteller aus der Mosen’schen Schule, der Hofschauspieler Dietrich, photographisch aufgenommen hat, nur mit wenigen Worten über des Dichters häusliches Sein und Leben begleiten werden.

Freundlich hinter hohen Akazien, Flieder und üppig wucherndem Roth- und Weißdorn versteckt, wo nur ein ungetrübtes Glück zu wohnen scheint, liegt hart an der lebhaften Straße von Oldenburg nach Ost-Friesland Mosen’s Haus. So gastlich und einladend dasselbe dem Wanderer erscheint, so herzlich wird dieser auch daselbst willkommen geheißen, wenn ihn seine Theilnahme und Verehrung für den kranken Dichter einsprechen lassen. Treten wir daher sogleich ein und lassen uns von Mosen’s treuem Diener Wilhelm unter vielen Complimenten und tiefen Verbeugungen, aus denen ein gewiegter Tanzkünstler mit weiser Oekonomie die doppelte Anzahl machen würde, in das Wohnzimmer führen, welches zu ebener Erde gerade unter dem Balcon liegt. In einer Sopha-Ecke, nach alter Gewohnheit vollständig und auf das sorgfältigste angekleidet, sitzt hier Julius Mosen. Unfähig sich zu bewegen oder sich laut zu äußern, kann er unseren Gruß nur durch ein Aufschlagen und einen freundlichen Blick seines glänzenden Auges erwidern. Seine aufopfernde Gattin Minna sitzt neben ihm und führt in der liebenswürdigsten Weise die Unterhaltung, indem sie seine wenigen leisen Aeußerungen der Umgebung verdolmetscht, so daß das Schreckliche des Leidens und die damit zusammenhängende Befangenheit des Besuchenden allmählich ganz schwinden.

Die wenigen Stunden, welche Mosen bei seinem jetzigen Zustande Vormittags und Abends in diesem Zimmer zubringt, sind gewöhnlich der Politik und Tagesliteratur gewidmet. Seine Frau pflegt ihm die neuesten Zeitungen und literarischen Journale vorzulesen und er ihr mit dem größten Interesse zu folgen. Wie lebhaft dies noch immer ist, davon gab die Erschütterung Zeugniß, mit der er die Kunde von Gutzkow’s entsetzlichem Unglück empfing. Er war es, auf dessen Anregung alsbald ein Verein verschiedener einflußreicher Oldenburger zur Bildung eines Gutzkowfonds zusammentrat. Nur zuweilen, aber bei sehr lebhafter Erregung, vermag er noch seine Empfindungen und Gedanken in Worte zu kleiden, welche dann in ihrer gedrängten lakonischen Kürze und präcisen Weise stets inhaltsschwer und schlagend „den Nagel auf den Kopf treffen“ und in guten Augenblicken gewöhnlich von dem köstlichsten Humor gewürzt sind. Als wir vor nicht langer Zeit sein Erstlingswerk [268] „Der Gang zum Lutherbrunnen“[2] lasen, eine Novelle, in der romantisches Lieben und Sterben eine große Rolle spielen, lachte er während der ganzen Vorlesung still vor sich hin. Von seiner Frau gefragt, was der Grund seiner Heiterkeit sei, antwortete er mit vernehmlicher Stimme: „Ich habe den Helden an einer Pfarrerstochter sterben lassen; das ist mir später nicht mehr passirt.“

Mosen’s Haus in Oldenburg.

Bei Gelegenheit der Subscription auf die Gesammtausgabe seiner Werke sandte Ferd. Freiligrath seine herrlichen Verse an Julius Mosen; ich las ihm dieselben vor, da traten Mosen vor innerer Bewegung die hellen Thränen in die Augen; er verlangte nach Wein und brachte den schönen Trinkspruch:

„Ferdinand – Für’s Vaterland!
Freiligrath – Hoch die That!“

Als ich Mosen am Weihnachtsabend 1863 den kostbaren Ehrenbecher überreichte, zu welcher Gabe auf Anregung des „Lahrer hinkenden Boten“ von allen Seiten des Vaterlandes Beiträge eingelaufen, saß er einige Zeit stumm da, innerlich heftig bewegt und Thränen der Freude und Rührung in den Augen. Mit schwacher, bebender Stimme verlangte er aus dem Ehrenbecher zu trinken, und nachdem er aus demselben einen vollen Zug gethan, klangen laut und vernehmlich aus seinem Munde die Verse:

„Es prangt vor mir in Märchenpracht
Der Becher vom deutschen Volk gebracht –
Füllt mir den Becher bis an den Rand,
‚Es lebe hoch das Vaterland!‘
Gott schirme die deutsche Jugend zugleich
Im heiligen Kampf für Recht und Reich;
Hell sei mein Dank wie der Weihnachtsstern,
Er grüße die Freunde nah und fern;
Gott schütze vor Allem die Rosenblüthe
Der deutschen Poesie in Eurem Gemüthe!“

Mosen, der in seinem leidenden Zustande selbst keine Zeitung lesen kann, hatte vorher keine Ahnung von dieser frohen Ueberraschung gehabt, die auch von seiner Umgebung vor ihm geheim gehalten worden war.

Im vorigen Jahre wurde in der Oldenburger Hafenstadt Brake eine stolze Brigg gebaut und vom Stapel gelassen, die als „Julius Mosen“ jetzt auf fernen Meeren schwimmt. In einigen herzlichen Versen baten die Unternehmer den verehrten Dichter um seinen Namen für ihre Brigg und luden ihn zur Tauffeierlichkeit ein. Sie sagten zum Schluß:

„Drum bitten wir um Deinen Dichternamen,
Die Meerfahrt hat auch ihr poetisch Ziel.
Gieb ihr die Weihe! Sprich ein freundlich ‚Amen‘!
Segne die Brigg, vom Top herab zum Kiel!
Mag sie sich dann auf Sturmeswogen wiegen,
Mit Gott wird sie in Deinem Zeichen siegen!

Und wenn die Dichterschiffe sich begegnen,
Der ‚Schiller‘, ‚Goethe‘, ‚Lessing‘, unser ‚Mosen‘
Auf hohem Meer, wird sie Apollo segnen
Bei heitrer Fahrt und wenn die Stürme tosen,
Sie werden grüßend ihre Flaggen zeigen
Und segnend wird Neptun den Dreizack neigen!“

Als Antwort sandte Mosen die folgenden Verse:

„Zum Schutz, zum Trutze sollst Du schalten
Ueber zwei Gewalten,
Du schöne Brigg, mein Pathenkind!
Helles Aug’ und kühne Hand
Führe Dich von Land zu Land –
Dies, mein Schiff, Dein Angebind.“

Einmal in der Woche, am Donnerstag Abend, versammelt der Kranke einen Kreis seiner treuen Freunde um sich. Es ist die „Donnerstags-Gesellschaft“ welche oft schon auch in der Presse rühmliche Erwähnung gefunden hat. Gewählte Lectüre oder geistvolle Gespräche bilden hier den Gegenstand der Unterhaltung, an welcher der Kranke leider nur noch selten und dann blos mit kurzen Worten theilnehmen kann. Daß er aber mit ganzer Seele dabei ist, beweist sein geistvoll blitzendes Auge, welches, ein treuer Spiegel seiner innersten Gedanken und Empfindungen, beredter spricht als viele Worte und seine ganze Umgebung beherrscht.

Doch nicht allein von Oldenburg, der zweiten Heimath des Dichters, sondern von allen Seiten des weiten Vaterlandes sucht sich die Liebe und Verehrung für den Leidenden einen Weg in seine stille Häuslichkeit und tritt tröstend zu ihm an sein trübes Schmerzenslager, um ihm „den vollen, den immergrünen deutschen Kranz“ auf seine Stirn zu drücken.

So überraschte ihn am letzten Christfeste Fritz Reuter in [269] seiner liebenswürdigen Weise durch die eben in zweiter Auflage erschienene Dichtung „Kein Hüsung,“ und als verspäteter Neujahrsgruß erfreute ihn vor kurzem ein prächtiges Photographie-Album von Deutschen in Nord-Amerika, welches über fünfzig Portraits der New-Yorker Sängerrunde und vieler Officiere mit eigenhändiger Dedication enthielt. Die Sängerrunde und das Officier-Corps in New-York waren es besonders, welche vor zwei Jahren durch ihre rege Thätigkeit bei der Subscription auf die Gesammtausgabe von Mosen’s Werken das Interesse für den Dichter in Amerika in großem Maße erweckten. Leider war es vielen der damaligen warmen Verehrer des Dichters nicht mehr vergönnt, auf diesen Gedenkblättern vor ihm zu erscheinen; die meisten von ihnen hatten den frühen, ehrenvollen Tod auf blutigem Schlachtfelde gefunden. Von den noch lebenden Betheiligten haben die bekannten Generale Louis Blenker, Osborne, Carl Schurz, Max Weber ihre Portraits mitgesandt.

Vor des Dichters Schlummerstätte.

Ein Zeichen der Verehrung und Theilnahme, die Mosen von ganz Deutschland gespendet wird, war auch jenes Ständchen, das ihm unlängst eine Tiroler Sängergesellschaft brachte, die ihm sein unsterbliches „Zu Mantua in Banden“ sang. Es war die Gesellschaft Holaus, die während ihres Hierseins den kranken Dichter besuchte und ihm auf seinem Schmerzenslager den „Andreas Hofer“ vortrug. Sie sang in Mosen’s Wohnzimmer und blieb nachher noch eine Zeit lang bei dem Dichter, der sehr bewegt und bis zu Thränen gerührt war von den gewaltig ergreifenden Tönen seines Liedes. Als die Tiroler Abschied von ihm nahmen, ließ er sich von Jedem die Hand drücken und sprach mit bewegter Stimme: „Gruß und Handschlag den wackeren Tiroler Landsleuten von Eurem Julius Mosen!“

Hier dürfte auch die liebevolle Theilnahme von Frau Emilie von Gleichen-Rußwurm, Schiller’s Tochter, für ihren kranken Freund nicht unerwähnt bleiben. Durch Zusendung von frischen Blumen oder anderen sinnreichen Geschenken sucht sie den Leidenden zu erfreuen und pflegt ihre Sendungen stets mit einigen herzlichen und tiefempfundenen Versen zu begleiten. Unter Anderem empfing Mosen zuletzt von ihr eine schöne Schillerbüste, über der ein Engel schwebt. Frau von Gleichen hatte das Kunstwerk für ihn von einem Künstler in Volkstädt anfertigen lassen und begleitete es mit nachstehenden Versen:

„Mit Engelsgruß aus Volkstädt’s Auen,
Wo Schiller’s reinstes Glück erblüht,
Sollst heute Du sein Bildniß schauen
Im Sonnenschimmer sanft erglüht.

Und auf des Engels lichten Schwingen
Sei Lindrung Deinem Leid gebracht;
O, glaube nur, Dein treues Ringen
Wird von der Engel Schaar bewacht.“

Abends gegen neun Uhr läßt sich Mosen wieder in sein Zimmer tragen, das nach hinten hinaus ebenfalls zu ebener Erde liegt.

Es ist auf unserem Bilde das mittlere Fenster, welches uns durch dichtes Gebüsch freundlich entgegenwinkt. Hier liegt der arme Dichter von den unerbittlichen Leiden gefesselt die langen Nächte meistens wachend auf seinem Lager. Nur ein leiser, flüchtiger Schlummer erquickt ihn zuweilen und schließt auf kurze Zeit seine Augen. Doch eine treue Freundin hat er in seinen langen einsamen Nächten, leider aber nur kurze Monate im Jahre. Es ist Frau Nachtigall, die ihm treulich Gesellschaft leistet bei seinem qualvollen Wachen und ihm im nahen Gebüsch tröstend ihre schönsten schmelzendsten Weisen singt. Schon seit Jahren ist sie ihm treu ergeben, so treu, daß sie auch bei Tage mit ihrem Freunde nach vorn wandert und in dem blühenden Rothdorn ihre Concerte fortsetzt, um den würdigen Genossen in ihren lieblichsten Tönen zu feiern.

Sollte Ferdinand Freiligrath das wohl geahnt haben, als er in seinen schönen Versen an Julius Mosen sang:

„Lang ist die Zeit! Im Waldesgrund die Ammer
Lockt unterdeß dreimal fünf Sommer lang;
Dreimal fünf Sommer schlug vor seiner Kammer
Die Nachtigall, mit der er Wette sang!
Wißt ihr es noch? Hell klang es in den Landen:
Die Leipz’ger Schlacht! Zu Mantua in Banden!
Die letzten Zehn!“ – – –




Der bairische Hiesel.
Volkserzählung aus Baiern.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)

Hiesel sah den Buben mit fragendem Blicke an. „Was willst Du von mir?“ wiederholte er.

„Bei Dir bleiben, Hiesel“ … antwortete der Junge mit fester Stimme; „den Vater haben sie gefangt und fort in’s Zuchthaus, das Gütel wird verkauft und die Mutter haben’s in’s Gemeindehaus gethan – drum bin ich davon, Hiesel, und will auch ein Wildschütz werden und bei Dir bleiben!“

Wüstes Jubelgeschrei stieg aus den Kehlen der Schützen; sie rissen den Buben an sich, umarmten ihn und der Sattler bot ihm die Flasche. Er kam fast nicht dazu zu melden, daß er im Walde einigen Bauern begegnet sei, welche ebenfalls nach dem bairischen Hiesel fragten, denen er aber einen Umweg angezeigt habe, um noch vor ihnen einzutreffen. „Der Bub ist ja ein Teufelskerl!“ rief der Tiroler, „und abgedreht wie ein alter Fuchs! Da kannst sehn, Hiesel, was Du überall giltst und ob Du von uns lassen darfst!“

Hiesel hatte sich auf den Felsvorsprung gesetzt und winkte den Buben zu sich. „Du kommst von Erdweg?“ sagte er, indeß die Andern sich zurückzogen und sich bedeutsam zunickten. „Bist Du über Kissing gekommen und wann?“

„Freilich,“ erwiderte der Knabe, „am letzten Samstag Nachts und Sonntags früh … ich hab’ Dich dort zuerst gesucht und hab’ geglaubt, da werd’ ich’s jedenfalls erfahren, wo ich Dich finden könnte… sie haben aber nichts gewußt, und der alte [270] Brentan hat geweint und hat mir erzählt, die kaiserlichen Werber hätten Dich überfallen wollen, Du seist ihnen aber davon und in den Lech gesprungen und nicht mehr heraus gekommen; … es hätt’ Dich entweder eine Kugel getroffen oder Du seist ertrunken …“

„Und hast Du nichts davon gehört, wer mir zur Flucht geholfen?“

„Das will ich meinen … ein Bauernmädel aus dem Dorfe ist’s gewesen …“

„Und hast Du nichts von ihr gehört? Haben die Verfolger sie erreicht?“

„Das wohl,“ sagte der Bube eifrig, denn er erklärte sich Hiesel’s sichtbare Theilnahme aus dessen Besorgniß, daß ihr Uebles widerfahren sein könnte, „ist ihr aber nichts geschehen, brauchst keine Sorg’ zu haben wegen der! Die Husaren haben sie wohl mit hinein in’s Dorf, und da hat ihr Vater sie erst fortjagen wollen; wie’s aber geheißen hat, es sei so viel als gewiß, daß Du doch zu Grund gegangen seist, hat er sich wieder anders besonnen und hat sie blos eingesperrt. Sie hat sich auch drein ’geben und in ein paar Wochen macht sie Hochzeit …“

„Das ist nit wahr …“ rief Hiesel erblassend; „Hochzeit? Und mit wem?“

„Wohl ist es wahr,“ betheuerte der Bub, „wirst es wohl noch erfahren: der Anderl lügt Dich niemals an! Ich hab’s bei’m Brentan gehört. Der Vater hat sie heimkommen lassen, weil er haben wollt’, daß sie den Hof übernimmt und heirath’ … zuerst hat sie nit gewollt und hat dawider geredt, dann aber hat sie doch Ja gesagt …“

„Also halten sie mich in Kissing für todt?“ sagte Hiesel. „Warum bist Du dann nicht dort geblieben und hast doch den weiten Weg gemacht bis zu mir?“

„Weil ich’s nit geglaubt hab’,“ erwiderte der Bube schlau, „weil ich mir gedacht hab’, Du könntest Dich wohl versteckt halten, und wollt’ mich selber überzeugen, ob es wahr, daß ich mich bei Dir sollt’ nimmer bedanken können …“

„Er hat’s nit geglaubt!“ murmelte Hiesel schmerzlich. „Und er hat mich nur einen Augenblick gesehen! Sie hält mich für todt und fragt nit viel nach … sie ist bald getröst’ und macht ein paar Tag’ darnach Hochzeit! … Aber es kann doch nit sein, Anderl, Du mußt Dich verhört haben! Vielleicht hat der Bauer zwei Töchter … vielleicht war von einer andern die Red’ …“

„Nein, nein … ich bin am Sonntag in der Kirch’ gewesen und hab’s selber gehört, wie der Pfarrer die Monika Baumüllerin verkündet hat … Heißt sie nit so?“

Hiesel erwiderte nichts mehr. Gelassen stand er auf und trat mitten unter die Versammelten. „Hört mich an,“ rief er mit mächtiger Stimme, „wollt Ihr Alle treulich das thun, was ich verlange? Wollt Ihr nur eine Schaar Wildschützen sein, die’s blos mit dem Wild und den Jägern zu thun haben, nichts rauben und nichts stehlen und sonst keinem Menschen was zu Leid thun? Wollt Ihr mir gehorchen in Allem, was ich sag’, auf’s Wort und ohne Widerred’?“

„Ja,“ riefen Mehrere, „und wer Dir nit folgt, den darfst Du niederschießen und darf kein Hahn darnach krähn!“

„Wollt Ihr, daß Alles, was wir erjagen, uns miteinander gehört und Jeder seinen gleichen Theil bekommt? Wir führen gemeinsame Wirthschaft und hausen aus Einem Säckel, der in meinen Händen bleibt … wir führen Krieg gegen Jäger, Schergen und Amtleute und wollen treu zusammenhalten und, so lang wir leben, niemals von einander gehen! Ist’s Euch so recht, so schwört mir’s zu, denn wir, die die ehrlichen Leute draußen Spitzbuben nennen, wir bleiben bei dem, was wir uns vorgenommen haben, wir halten unser Wort … Schwört mir das Alles, dann will ich Euer Hauptmann sein!“

„Wir schwören’s!“ riefen Alle in wildem Jubel durcheinander. „Der bairische Hiesel ist unser Hauptmann! Hurrah – der Hauptmann soll leben!“ Sie schwenkten die Hüte, die Hirschfänger und die Gewehre, fielen einander um den Hals und Alle reichten Hiesel an Eidesstatt die Hand. Der Bub schmiegte sich an ihn an, er aber legte ihm die Hand auf die Stirn und sagte: „Bleib bei mir, Anderl, weil Du draußen auch Niemand mehr zu suchen hast. Du sollst einen Bruder an mir haben!“

Während des Lärmens und der allgemeinen Erregung erschienen die Bauern, deren Ankunft der Bube schon angezeigt hatte. Furchtsam mit ehrerbietig gezogenen Hüten traten sie näher und Hiesel empfing sie, umgeben von seinen Getreuen, wie ein General in Mitte seiner Befehlshaber. Sie kamen viele Meilen weit her aus dem Haunsheimischen und waren von mehrern Dorfmarkungen heimlich abgesandt, um den bairischen Hiesel flehentlichst zu bitten, daß er sich ihrer Desperation erbarmen und zu ihnen kommen solle, den Verheerungen des gehegten Wildes Einhalt zu thun, wogegen sie nirgends Schutz und Abhülfe gefunden. „Recht so, Cameraden!“ rief Hiesel, als sie ihre Botschaft ausgerichtet, „das ist Wasser auf unsere Mühle! Das ist ein gutes Zeichen für uns, das bedeutet, daß wir auf dem rechten Weg sind! Geht nur heim, Landleute, und seid getrost, verrathet aber nichts vorher: eh’ drei Tage in’s Land gehn, hört Ihr’s um Eure Ohren krachen – dann wißt Ihr, das ist der bairische Hiesel und seine Schützen!“

Nach einem fröhlichen Gelage ward aufgebrochen und durch den nächtlichen Wald gezogen; die geübten Wilderer fanden sich darin nach dem Stande der Sterne so sicher zurecht, wie ein Forstmann, der sein langgewohntes Revier begeht. An einer Waldspitze, wo die Bäume lichter standen und in der Entfernung Friedberg sichtbar war, schlug man das Lager. Bald waren Wachen nach allen Seiten ausgestellt, Einige wurden noch in das nächste Dorf gesandt, um neue Lebensmittel zu holen, und unter den Stämmen lagen die Wilderer bald in sorglosem Schlafe; die Nacht rings umher lag über der kühnen Schaar, welche den Kampf mit dem Gesetz und dem Frieden des Landes zu beginnen geschworen hatte, so still und ruhig, als wären sie eine Schaar seiner edelsten Kinder, bereit das Leben für sein Wohl dahin zu geben.

Von Hiesel’s Augen allein floh der Schlaf. Die Nachricht des Buben hatte wieder alle Untiefen seines Gemüths aufgewühlt, alle wilden Neigungen und trotzigen Gedanken loderten darin empor, wie Flammen, die der Sturmwind aus dem Schutt eines scheinbar erloschenen Brandes bläst. Auch sie, der in so kurzer Zeit sein ganzes Inneres sich mit nie gefühltem Entzücken gefangen gegeben, auch sie also war falsch; auch ihre Liebe war nicht mehr, als das oberflächliche Mitleid eines gewöhnlichen Weiberherzens, mit der Stunde geboren, mit dem Augenblick erstorben! Jetzt war es offenbar, warum sie es so sorgsam vermieden, auf seine wiederholten Fragen bestimmt zu antworten; was er als holde jungfräuliche Verschämtheit empfunden, war nichts gewesen, als nüchterne Berechnung. Darum hatte sie es auch vermocht, die Nachricht seines vermeintlichen Todes so gelassen hinzunehmen und Herz und Hand einem Andern zu geloben; hatte sie doch gegen den unglücklichen gehetzten Menschen, der einmal ihr Jugendgespiele gewesen, ihre kalte Schuldigkeit reichlich gethan, ihn bemitleidet und sogar zu retten versucht … Aber eben diese Rettung war es, welche ihn wieder und wieder zweifeln machte und der Treulosen das Wort redete. Wenn er daran dachte, wie sie in unverkennbarer Angst um ihn gezittert, wenn ihm der innige Ton ihrer Stimme im Ohre nachklang, wenn er sich der klaren reinen Augen erinnerte, die ihn so herzlich angeschaut, dann wollte es in seinem Gemüthe heller werden, wie von einem Sonnenstrahl, der durch Wolken bricht, aber die Gewittermassen des Grolls und Grimms und der Jahre lang genährten und kaum in Schlaf gesungenen Verbitterung waren zu mächtig und verdrängten und überwältigten das versöhnende Licht.

Es begann eben grau zu werden im Osten; da riefen die Wachen und Tiras schlug an.

Hiesel war der Erste, der hinzu eilte; er wollte fragen, was es gebe, aber er kam nicht dazu – mit einem Schrei der Freude und des Schmerzes lag im nächsten Augenblick Monika an seiner Brust.

„Du bist es?“ rief er, schwankend zwischen Zorn und unwillkürlich aufwallender Freude. „Du findest noch den Weg zu mir?“

„Wie sollt’ ich nicht!“ rief sie, sich enger anschmiegend. „Ich wär’ ja längst gekommen, wenn ich nur gekonnt hätte! Der Vater hat mich eingesperrt gehalten und erst gestern Abends hab’ ich mich losmachen gekonnt …“

„Und was will die Jungfer bei mir?“ fragte Hiesel, sie wegdrängend. „Wenn man erfährt, daß Sie dem Wildschützen nachgelaufen ist, was wird Ihr Hochzeiter dazu sagen?“

„Hiesel, wie red’st Du mit mir?“ rief sie schmerzlich. „Ist das mein Dank? Hochzeiter … kannst Du so was von mir glauben?“

[271] „So? Du hast wohl gemeint, ich in meinem Wald erfahre nichts davon, was im Land geschieht? Ich weiß recht gut, wie geschwind Du Dich ’tröst hast über meinen Tod … oder ist es etwa nit wahr, daß Du heirathen willst? daß Du Dich schon als Braut von der Kanzel hast verkünden lassen?“

„Der Vater hat’s gethan, Hiesel, und ich hab’ nachgegeben – nur zum Schein, um den Vater zu beruhigen und sicher zu machen, sonst wär’ ich jetzt noch nicht frei geworden … Ich bin zu der Bas’ nach Friedberg – da hab’ ich erst erfahren, daß Du wirklich noch lebst und wo ich Dich finden kann!“

„Also ist es doch wahr?“ rief Hiesel in ausbrechender Freude. „Du bist mir wirklich noch treu und hast mich noch gern?“

„Lieber als Alles, Hiesel – lieber als mein Leben!“ erwiderte sie innig. „O – weil ich Dich nur wieder hab’ … jetzt wird Alles noch gut, jetzt laß ich Dich nimmer los, Du mußt mit mir nach Kissing zurück. Der Herr Pfarrer hat an’s Pfleggericht geschrieben, daß Dich der Kurfürst als Jäger haben will und daß Dich die Werber in Ruh’ lassen sollen! Es ist noch einmal ein Brief’ kommen von dem Doctor in Räuchen … Hiesel, Hiesel, komm nur mit mir, wart’ keinen Augenblick … Alles, was wir uns gewünscht haben, es kann doch noch wahr werden!“

„Mit Dir soll ich gehn?“ rief Hiesel, indem er schaudernd und erblassend zurücktrat. „Damit ist’s vorbei, Monika! Es ist zu spät – ich bin Hauptmann von den Wildschützen und hab’s ihnen zugeschworen, daß ich niemals von ihnen geh’ … niemals, so lang als ich leb’ …“

„Das ist ein schlechter Schwur, Hiesel, der kann nit gelten,“ entgegnete Monika ängstlich, … „mir gehörst Du, mir hast Du zuerst geschworen …“

„O Monika,“ rief er erschüttert, „was bin ich für ein unglücklicher Mensch! Das größte Glück liegt vor mir, daß ich nur die Hand darnach ausstrecken darf, und ich muß es selber von mir stoßen, muß mich davon abwenden und Nein sagen …“

„Du mußt nit, Hiesel … Du darfst ja nur wollen und die Hand wirklich ausstrecken! O, laß Dich bereden, komm mit mir und Alles wird noch recht …“

Der Anblick des geliebten Mädchens, der zärtliche Ton ihrer Stimme erweichten den starren Sinn des Wildschützen; einen Augenblick zog er sie enger an sich und wiegte sich, die Umgebung und die herbe Gegenwart vergessend, mit ihr auf den Möglichkeiten einer seligen Zukunft.

Inzwischen waren die Schützen alle erwacht; mit Verwunderung sahen sie das Paar an der Waldspitze stehn und steckten fragend die Köpfe zusammen. „Was ist’s, Hauptmann?“ rief Einer herüber. „Mach’ ein End’ mit dem Scherwenzen … oder willst Dich gar von uns abspenstig machen lassen?“

Hiesel’s Angesicht bedeckte sich mit dunkler Gluth: der bloße Gedanke, es könne Einer vortreten und an der Ernsthaftigkeit seines Willens zweifeln, seinen Schwur zu halten, erfüllte ihn mit Grimm. „Ich komm’, Cameraden!“ rief er und drängte das Mädchen von sich. „Geh heim, Monika, geh heim und vergiß mich! Denk’, ich bin wirklich gestorben … für die Welt ist es aus mit uns Zwei!“

„Ich lass’ Dich nit, Hiesel,“ erwiderte sie und klammerte sich schluchzend an ihn, „mein Herz geht auseinander, wenn ich von Dir soll!“

„Meinst, das meinige bleibt ganz… aber es muß so sein …“

„Also das ist all’ Deine Lieb’, Hiesel? Deine wüsten Cameraden sind Dir mehr werth als ich?“

„Du … Du bist mir mehr werth als Alle… Du bist mir das liebste auf der Welt!“ rief Hiesel schmerzlich. „Aber mit Dir gehen kann ich nit – ich hab’s geschworen! O Monika, wenn Du mich wirklich gern hast – wenn Dein Herz nur halb so viel an mir hängt, wie ich an Dir … dann gäb’s doch noch einen Ausweg, daß wir nit auseinander müssen …“

„Was für einen? Red’ … ich will ja Alles thun …“

„… Bleib’ bei mir,“ sagte er zärtlich drängend, „ein schönes Jägerhaus kann ich Dir nit verschaffen, aber Du sollst es gut haben bei mir, wie eine Königin – nichts soll Dir abgehen. … Du sollst es gar nit spüren, daß Du im Walde wohnst! Ich kenn’ einen Pfarrer, der mich gut leiden kann, der soll uns zusammengeben … O Monika, bleib’ bei mir, werd’ mein Weib – geh’ nit wieder von mir!“

„Nein, Hiesel,“ sagte sie entschieden und trocknete sich die Thränen aus den Augen, „das thu’ ich nit! Ich hab’ Mitleid mit Dir gehabt, als mit einem verfolgten unglücklichen Menschen … ich hab’ Dich gern gehabt von Jugend auf, weil Du ein gutes Herz hast … aber ich hab’ gehofft, Du wirst das alte Leben aufgeben und ein neues anfangen wollen … Jetzt willst Du’s statt dessen noch weiter und wilder treiben … Hiesel, mein Herz bleibt bei Dir zurück … aber wenn Du mich jetzt so von Dir gehen laß’st, dann … dann sind wir geschiedene Leut …“

„Wir sind’s!“ erwiderte er und wandte sich trotzig ab.

„Hiesel … besinn Dich noch einmal … schick’ mich nit so von Dir! So lang Du der Wildschütz bist, kann ich nit mit Dir gehen … aber, wenn Du nit heim willst, so führ’ mich in ein andres Land … Hiesel, wenn Du willst, ich geh’ mit Dir und halt’ bei Dir aus, und will arbeiten, daß mir das Blut aus den Nägeln spritzt … nur das Wildschützleben gieb auf, nur von Deinen Cameraden mach’ Dich los!“

„Geh …“ sagte er finster, „ich weiß jetzt, was ich von Deiner Lieb’ zu halten hab!“

„Nein, Du weißt es nit, Hiesel,“ weinte sie, „aber Du wirst es einmal erfahren, wenn es zu spät ist!“

„B’hüt’ Dich Gott,“ sagte er und wendete sich den herbeikommenden Genossen zu. „Hiesel,“ schrie sie auf und wollte ihn noch einmal mit den Armen umfassen, er aber riß sich mit Ungestüm los. „Cameraden,“ rief er; „halt’t mir die Person vom Leib … bei Euch will ich leben und sterben!“

Mit Geschrei und Gelächter drängten die Schützen Monika zurück; wie betäubt sank sie in die Kniee und starrte mit weitausgebreiteten Armen den Enteilenden nach, bis sie im Walde verschwunden waren – dann sprang sie auf, rang die Hände gen Himmel und rannte wie sinnlos die Straße hin, dem fernen Dorfe zu.




4

Der Winter war gekommen und wieder vorübergegangen; der Frühling verstreute schon seine abfallenden Blüthen und ungewöhnliche Hitze verkündete einen baldig nahenden Sommer, der die zurückgebliebenen Fruchtknospen rascher als sonst zu reifen versprach. Mehr als acht Monate waren vergangen, und fast kein Tag hatte sich dazu angereiht, der nicht die Kunde von einem neuen Zuge der gefürchteten Wildschützenbande ins Land trug oder einen neuen listigen Streich, ein kühnes Abenteuer ihres verwegenen Anführers erzählte, vergrößert und geschmückt, wie es das Volk mit dem Leben und den Thaten aller Derer macht, die es zu seinen Lieblingen erkoren. Das Volk war es auch allein, das an diesen Erzählungen und Märchen seine Freude hatte, und zwar nicht blos die Bauern, welche in dem bairischen Hiesel eine Art Schutzengel verehrten und ihn mit allem Guten ins Nachtgebet einschlossen, sondern auch die Bürger in den Städten, zumal in den kleinern von Schwaben, im Allgäu, bis an den Bodensee und auch anderwärts – es war eine düstere, stillstehende Zeit, die Luft lag schwül auf allen Landen und im Westen braute sich schon das furchtbare Gewitter an, das in wenig Decennien das Werk von Jahrhunderten umstürzen und sich überall hin entladen sollte, wie der Sturmwind dahinfegt, die Luft zu reinigen und zu prüfen, was morsch genug ist, in sich zusammenzubrechen. Natürlich ward solches Wohlgefallen an der Kühnheit eines Mannes, der sich mit Bewußtsein und Willen gegen das auflehnte, was ihm ein Unrecht erschien, nicht laut ausgesprochen; aber wenn man im vertrauten Kreise bei Krug oder Flasche beisammen saß, winkte man sich bedeutungsvoll zu und unter vier Augen wagte man sogar auszusprechen, daß in Stadt und Land noch gar Vieles sei, wobei ein bairischer Hiesel noth thäte, um damit aufzuräumen, wie unter dem Wilde.

Desto wüthender waren natürlich die Grundherren, die Besitzer der Waldungen, die er durchzog und deren Wildstand mit einer Schonungslosigkeit verminderte, welche den jagdlustigen Adel in gelinde Verzweiflung brachte: die vielen Reichsgrafen und Reichsfreiherren, die unmittelbaren Stifter und Städte, deren Gebiete dort gar sehr eng neben einander lagen, so daß die Grenzen sich aufs Bunteste verschlangen und kreuzten und manchmal eine Wanderung von einer Viertelstunde genügte, um in aller Bequemlichlichkeit [272] das Territorium von drei und mehr Reichsfürsten zu berühren. Wohl boten sie Alles auf, um dem schrecklichen Uebelthäter das Handwerk zu legen oder wohl gar seiner habhaft zu werden, allein nichts von Allem wollte fruchten. Außer den Jagdbediensteten und Förstern wurden die Bauern aufgerufen, Militär wurde requirirt, um auf den Wildschützenhauptmann zu streifen – aber den Bauern war es nicht Ernst mit der Verfolgung, sie wußten es immer so einzurichten, daß Hiesel zuvor gewarnt und rechtzeitig von Zeit, Richtung und Stärke der Streife in Kenntniß gesetzt wurde; ja, es wollte sogar verlauten, die zu einer solchen Expedition aufgebotenen Bauern hätten den Wildschützen einmal wirklich aufgefunden, aber, anstatt ihn auszuliefern, mit dem frisch gemähten Grase einer Wiese bedeckt, so daß zu ihrer großen Belustigung die ganze übrige Mannschaft arglos und in gravitätischem Amtseifer an dem Grasschober vorüber marschirte. Die Jäger waren wohl meist zu Anfang über die Verheerung ihrer Wildbestände ergrimmt und gingen mit waidmännischer Entschlossenheit daran, ihn zu bekämpfen, aber sie mußten gar bald einsehen, daß der Kampf zu ihrem Nachtheile ein sehr ungleicher war. Einige der Muthigsten hatten Hiesel und die Bande verfolgt und geradezu angegriffen und waren als Opfer ihrer Berufstreue gefallen. Andererseits war es offenkundig, daß Hiesel, so sehr er die Jäger haßte, keinem etwas zu Leide that, der ihn nicht angegriffen oder durch Nachstellungen oder Drohungen herausgefordert hatte. Es war daher wohl verzeihlich, wenn sie in der Verfolgung etwas lässiger und behutsamer wurden, und so blieben nur die Soldaten übrig, denen diese Streifzüge und die Verfolgung eines Verbrechers kein besonders angenehmer Dienst und vor Allem kein Geschäft waren, wobei sich Ehre holen ließ. Dazu kam noch, daß kein Mensch jemals mit Bestimmtheit zu sagen wußte, wo Hiesel sich eben aufhielt; er war auf steter Wanderschaft begriffen, theilte seine Leute in kleinere Abtheilungen, die unter allerlei Vorwänden und Verkleidungen herum schweiften, um an einem bestimmten Platze und zur bestimmten Minute sich wieder mit ihm zu vereinigen, und erschien selbst mit unbegreiflicher Kühnheit bald an diesem, bald an jenem Ort, überall freundlich oder mit scheuer Furcht aufgenommen, oder zu spät erkannt. Unvermuthet tauchte er in irgend einem Waldrevier auf, die Verwüstungen des Wildstandes und der Ueberfluß an Wildpret in den benachbarten Städten, Dörfern und Pfarrhöfen verkündeten seine Anwesenheit; bis dann die Eigenthümer sich besonnen und zu schwerfälligen Vorbereitungen aufgerafft hatten, war er wieder verschwunden: die Verfolger hatten das Nachsehen und zu dem Schaden das Gespött.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Die Pflanze als Orakel. Eine zahllose Menschenmenge war am 20. März nach dem Tuileriengarten in Paris geströmt, um zu sehen, ob der „Maronnier du 20 Mars“ schon Blätter habe. Es herrscht nämlich unter den Parisern der Glaube, daß es ein gutes Anzeichen für die Familie Bonaparte ist, wenn der Baum Blätter zeigt, oder auch mir ein einziges Blatt. Diesmal war er jedoch blätterlos und Mancher, der vor dem Baume stand, schüttelte bedenklich das Haupt. So berichten die Zeitungen. Die Pflanzen werden vielfach als Orakel benutzt, in vorderster Reihe natürlich in Herzensangelegenheiten. Die Mädchen im Oberbergischen winden am 23. Februar zweierlei Kränze, die einen von Stroh, die anderen von Epheu und Sinngrün, und gehen damit in der Nacht zu einer Quelle. Dort tanzen sie bei Fackelschein und gehen dann rücklings zur Quelle und suchen einen Kranz zu erhaschen. Das Mädchen, das einen Kranz von Epheu oder Sinngrün erfasst, bekommt einen Schatz, oder, ist sie verlobt, wird sie noch in diesem Jahre heirathen; ein Strohkranz gilt als düsteres Vorzeichen. Am Andreasabend gehen die Mägde in den Holzschuppen und ziehen dort im Dunklen ein Scheit hervor; ist dieses Scheit gerade, so bekommt das Mädchen einen hübschen, ist es aber verbogen, so wartet ihrer ein häßlicher oder krummer Mann. Auch eilen die Mädchen im Dunkeln in den Obstgarten und pflücken einen Zweig, welcher dann in Wasser gesteckt wird. Blüht er schnell und reichlich, so deutet dies auf baldige Heirath. Wenn ein Mädchen am Tage Mariahimmelfahrt Siegwurz findet, so ist dies ein Zeichen, daß es noch in demselben Jahre heirathet. Wenn in einem Garten ein Rosenkönig (drei Rosen an einem Stengel) erblüht, so giebt es eine Braut im Hause. Wenn liebende Rosenblätter in einen Bach werfen und zwei dieser Blätter mit einander fortschwimmen, ohne sich zu trennen, so kommt die Ehe zu Stande. In Oberösterreich werfen die Mägde Stäbe auf einen Nußbaum, um zu sehen, ob sie bald einen Mann bekommen; denn jene, deren Stab auf den ersten Wurf in den Zweigen hängen bleibt, heirathet noch im laufenden Jahre. In anderen Gegenden werfen die Brautleute am heiligen Abend Nüsse ins Feuer; brennen diese still, so giebt es eine gute Ehe, krachen sie aber, so bedeutet es Zank. Endlich darf man auch das Blumenorakel nicht vergessen, das Altmeister Goethe bei dem Spaziergange Faust’s so schön benutzt: „Er liebt mich – liebt mich nicht“ u. s. f. Schon bei Walther von der Vogelweide findet sich eine ähnliche Formel:

„Si tuot, si entuot, si tuot, si entuot, si tuot,
swie dike, ichz tete, so was ie daz ende guot.“

Man spricht auch: „Er (Sie) liebt mich, von Herzen, mit Schmerzen, ein klein wenig, nein gar nicht.“ In der Schweiz sagen die Mädchen: „Ledig si? – Hochzit han? Ins Klösterli go?“ und die Burschen: „Reich – arm – mittelgattig? –“ Oder: „viel – chli – gar nit? –“ Die Blumen, welche zu diesem Spiele benutzt werden, sind vorzüglich Maßlieb und Wiesenperle; doch kann auch die Gemswurz dazu gebraucht werden. Beim Abzupfen ihrer Strahlenblüthen fragen die Mädchen, ob sie die Frau eines Bauers, Bürgers, Edelmanns oder Bettlers sein werden; die jungen Burschen wollen erfahren, ob ihnen bestimmt ist, Bauer, Soldat, Student, Herr, Bettelmann, Edelmann, König oder Kaiser zu werden. (Mit der Ringelblume sollen liebende dieses Spiel nicht wagen; denn dies ist die Blume der Gräber, und es wird dadurch leicht eine Trennung herbeigeführt.) Auch das Rispengras wird zu diesem Orakel benutzt, indem man beim Aussprechen der Formel die Früchte nach und nach abpflückt. – Die Pflanzen werden ferner als Orakel bezüglich der Witterung gebraucht. In der Gegend von Wien benutzt man Zwiebelschalen zum Vorausbestimmen des Regens oder der Trockenheit des ganzen Jahres. Man nimmt zu diesem Zwecke in der Christnacht vor der Mette zwölf Zwiebelschalen, stellt sie für die zwölf Monate in einer Reihe auf den Tisch und streut in jede eine gleiche Menge Kochsalz. Wenn man dann aus der Mette heimgekehrt ist, sieht man nach: jene Schalen, in denen das Salz feucht ist, deuten auf nasse, die anderen auf trockene Monate. Für den Landmann nicht minder wichtig ist die Frage, ob die Getreidepreise steigen oder fallen werden. In Böhmen glaubt man dies aus der Zahl der Körner in der Kornblume vorausdeuten zu können; so viele Körner sie enthält, für so viele Gulden wird das Getreide von der Gattung, in welcher die Kornblume wuchs, verkauft werden. Man drischt auch die erste Garbe aus, füllt mit dem Korn einen Topf, streicht ihn ab und schüttet das Korn auf eine Ecke des Tisches und wiederholt dies mit dem Korn der zweiten, dritten und vierten Garbe. Dann füllt man den ersten Kornhaufen wieder in den Topf; wird er bis zum Abstreifen voll, so wird das Korn im ersten Vierteljahre wohlfeil, sinkt es aber ein, so wird es theuer. Um Michaelis kann man den Charakter des folgenden Jahres an geöffneten Galläpfeln erkennen: findet man eine Spinne darin, so bedeutet dies ein unglückliches Jahr; ein Fliege zeigt ein mittelmäßiges, eine Made ein fruchtbares Jahr an. Findet man nichts, so deutet es auf Sterben. Ist der Gallapfel inwendig feucht, so deutet es auf ein nasses, ist er dürr, so kündet er ein trockenes Jahr, ist er aber dünn, so folgt ein heißer Sommer. Wenn die Eiche viele Eicheln trägt, kommt früher Schnee und ein langer Winter. Am Barbaratage (4. December) holt man an vielen Orten Zweige von Obstbäumen, namentlich von Kirschen und stellt sie im Zimmer in Wasser; entwickeln sie rasch ihre Knospen und kommen sie bald zum Blühen, so bedeutet dies ein fruchtbares Jahr. Das „Halmziehen“, um einen an und für sich unbedeutenden Gegenstand zu entscheiden, ist noch überall gebräuchlich, und wer von den zu diesem Zwecke verdeckten Grashalmen den kürzern zieht, hat verloren.

Die angeführten Beispiele von Pflanzen-Orakeln, die wir namentlich in v. Perger’s[WS 3] „Pflanzensagen“ verzeichnet finden, mögen genügen; doch können wir nicht umhin, auf den Kastanienbaum in den Tuilerien, der uns zu dieser Skizze Veranlassung gegeben, mit kurzen Worten zurückzukommen. Die Berühmtheit des genannten Baumes reicht weit über die Napoleonische Aera hinaus. Im Jahre 1746 wurde der Maler Joseph Vient beschuldigt, seinen Nebenbuhler bei der Concurrenz der königlichen Malerakademie am Abend des 20. März ermordet zu haben. Vient hatte aber an demselben Abende im Tuilerien-Garten ein Stelldichein mit einer vornehmen spanischen Dame gehabt, und zwar unter dem einzigen Baume, der bereits Blätter und Blüthen getrieben hatte. Der Kastanienbaum rettete dem Maler, der sein Alibi damit beweisen konnte, das Leben, und seit diesem Jahre schreibt sich die Gewohnheit der Pariser her, den Baum vom 20. März zu beaugenscheinigen. Marat wollte den Baum ausrotten, der jedoch in Robespierre seinen Vertheidiger und Beschützer fand. Mit der Geburt des Königs von Rom und seit der Rückkehr Napoleon’s I. von Elba, die er in vollem Blüthenschmuck begrüßte, gilt der Marronnier für einen bonapartistischen Baum.

–r.




Hermann Knaur und der Kaiser von Mexico. Gewiß wird allen Lesern unseres Blattes die Mittheilung interessant sein, daß soeben der talentvolle deutsche Bildhauer Hermann Knaur in Leipzig, dessen neuer Gellertstatue die „Gartenlaube“ erst vor Kurzem Aufsatz und Bild gewidmet hat, vom derzeitigen Kaiser von Mexico mit einem sehr umfänglichen künstlerischen Auftrage betraut wurde. Knaur hatte dem damaligen Erzherzoge Maximilian für sein schönes Schloß an der Adria, Miramar, bereits verschiedene Marmorbüsten geschaffen, nun soll er, wahrscheinlich für den Thronsaal der neuen Kaiserresidenz, die Büsten einer ganzen Reihe von Kaisern in Marmor ausmeißeln und zwar von Alexander dem Großen, von Julius Cäsar, Augustus, Antoninus Pius, Marc Aurelius, Carl dem Großen, Carl dem Fünften, Peter dem Ersten, Napoleon dem Ersten und Napoleon dem Dritten. Außerdem wünscht der Beherrscher Mexico’s noch eine Portraitbüste Alexander von Humboldt’s für sein Arbeitscabinet zu erhalten, und auch diese liefert ihm der tüchtige Leipziger Meister. Wir aber freuen uns von Herzen, daß dem wackern Manne, dessen Bescheidenheit eine heutzutage wahrhaft seltene, diese neue Anerkennung zu Theil worden ist.



  1. Diejenigen, welche sich über diesen wichtigen geschichtlichen Vorgang eine kurze gedrängte Uebersicht verschaffen wollen, verweisen wir auf die Brochüre des ausgezeichneten Forschers, Professor Dr. W. Arnold: „Das Aufkommen des Handwerkerstandes im Mittelalter.“ Basel, Georg, 1861.
  2. Mosen hat diese Novelle als Student in Jena geschrieben. Dieselbe war lange Zeit gänzlich vergriffen und nirgends mehr aufzutreiben. Sogar der Dichter besaß kein Exemplar mehr, bis sie im vorigen Jahre in Jena wieder aufgefunden wurde. Sie ist nicht mit in die Gesammtausgabe von Mosen’s Werken aufgenommen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: mittler
  2. Vorlage: berchnen
  3. Anton von Perger; Vorlage: v. Pergner’s