Die Gartenlaube (1866)/Heft 36
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Arthur Seeburg hatte zwei überglückliche Herbstmonate im Hochgebirge verbracht. Er hatte ein einsam gelegenes Wirthshaus an einem wilden, romantischen See bewohnt. Es wäre schwer zu sagen, ob ihm jetzt, wo er wieder in das Comptoir seines Vaters eingezogen war, die Erinnerung an die herrliche Gebirgsnatur die Stunden mehr würzte oder verbitterte. Nicht die Berge, Almen und Wasser aber waren es allein, welche eine so glühende Sehnsucht in ihm wachhielten. Auf die schöne Vroni, die im Wirthshause bediente, fiel das Hauptgewicht seiner Rückerinnerung. Er hatte sich mit jugendlicher Schwärmerei in das Mädchen verliebt und mit ihr manche Stunde vertändelt.
Vroni war kaum zwanzig Jahre alt, hochgewachsen, schlank, brünett, feueräugig, ein reizendes Naturkind, aber nicht von jener geschminkten Sorte, wie man ihnen auf dem Theater begegnet; auch kein solches, wie Seeburg sich’s dachte, indem er seine Anschauungs- und Empfindungsweise in sie hineindichtete. Seeburg hatte den rührendsten Abschied von ihr genommen. Er weinte und Vroni weinte mit, ohne recht zu wissen, warum. Er hatte ihr tausendmal versprochen, im Frühling wiederzukommen, er bat sie, ihm treu zu bleiben und recht bald zu schreiben.
„Briefe,“ sagte er, „werden mein einziger Trost und vorläufig das einzige Band zwischen uns sein.“
Vroni, die nie einen Brief geschrieben hatte, außer nach Hause, wenn sie ein Paar neue Schuhe nöthig hatte oder ihren Heimathschein verlangte, begriff nicht, was sie zu schreiben habe; da sie aber einen so hübschen und feinen Stadtherrn so dringend darum bitten hörte, versprach sie es doch. Mehrere Wochen waren vergangen. In Seeburg’s Comptoir trafen täglich eine Menge Briefe ein, einer von Vroni war indeß nie darunter. Seeburg wurde ganz verstimmt. „Sie hat doch,“ dachte er, „beim Abschied so viele Thränen vergossen. Warum schreibt sie nicht? Es müßte doch auch ihrem Herzen eine Erleichterung, ja ein Bedürfniß sein.“ Dabei betrachtete er eine Halskette, wie die Gebirgskinder sie tragen, die er auf der Heimreise in München gekauft. „Die sollte ihr gehören, wenn ich die Gewißheit hätte, daß sie meiner gedenkt. Sollte ich sie vergebens gekauft haben?“
Da, als er bereits alle Hoffnung aufgegeben, kam ein Brief an, der ihm gleich als der gewünschte auffiel. Das Couvert, eine selbstverfertigte Arbeit, war von grauem Papier, das mächtige Siegel von ordinärem Lack zeigte einen Helm mit allerlei Federschmuck.
„Das ist der rechte!“ rief Seeburg und las Folgendes:
„Lieber Herr Seeburg!
Sie werden mich längst vergessen haben. Wie könnten Sie auch an ein so albernes Mädchen denken? Ich denke oft an Sie. Wenn ich unsere Wirthsstube ansehe, die jetzt so still und leer ist, so wünsche ich herzlich, daß es wieder Frühjahr wäre und Sie erschienen wieder unter den vielen Gästen, die wir hier im Sommer haben. Neuigkeiten weiß ich Ihnen nicht zu schreiben, denn bei uns geht nichts vor. Das Einzige, was ich melden kann, ist, daß der Hektor, den Sie so gern gehabt haben, von einem Metzgerhund todtgebissen worden ist. Ich selbst bin gesund und werde Sonntag über acht Tage die Wallfahrt nach Maria-Stein mitmachen. Ich freue mich darauf, weil es dabei immer lustig hergeht. Halten Sie also schön Wort und kommen Sie wieder. Aber den Gradl-Sepp, der Ihnen die Stiefeln gewichst hat, werden Sie nicht mehr sehen, denn der ist zum Militär genommen worden.
Behüt’ Sie Gott! Ich verbleibe stets
Also den Brief hatte Seeburg. Er war entzückt. Erst später fing er an, den Inhalt zu prüfen, auch diese Analyse fiel zu seiner Befriedigung aus.
„Solch’ ein Naturkind,“ sagte er zu sich, „trägt seine Gefühle nicht auf der Zunge. Noch weniger bringt es sie durch die Feder aus sich heraus. Gutes Kind! Der alte Hund, der Kellnerbursch gehören bei ihr mit zur Familie. Origineller Stil! Man muß drüber lächeln und ist doch gerührt!“
Auch über die Handschrift ließ er es nicht an Bemerkungen fehlen. Diese war plump, doch nicht ungewandt, schwer, aber deutlich. „Freilich,“ dachte er, „die Hände, die das geschrieben, sind an Arbeit gewöhnt. Arme Hände!“
Seeburg antwortete:.
„Heißgeliebte Vroni!
Wenn Du wüßtest, welche Freude Du mir gemacht, Du würdest mich nicht so lange nach Deinen Zeilen haben schmachten lassen! Darum laß auch auf Deinen nächsten Brief nicht allzulange warten. Mit größerer Sehnsucht, als je, denke ich an Dich. Wie oft schon hat mir von Dir geträumt! Ich fühle, daß ich nicht früher einen glücklichen Augenblick haben werde, als bis ich wieder in Deinen Armen ruhe. O, wie weit ist es noch bis zum Frühjahr und was kann Alles inzwischen geschehen! Mit Schaudern denk’ ich daran, daß Du mich vergessen könntest. Vroni, glaube mir, Du hast ein treues und glühendes Herz gefunden. Vergiß mich nicht, ich bitte Dich! Unglücklich bin ich, blos weil [554] ich Dich nicht um mich habe, obgleich ich noch Deine Liebe besitze, aber wie würde mir erst zu Muthe sein, wenn ich Dich verlieren sollte! Ich suche Dich gleich in den ersten Tagen des Frühlings auf und zwar zu Pfingsten, wo ich am leichtesten aus dem Geschäft fortkomme.
Apropos! Du hast Dir oft eine schöne Halskette gewünscht. Ich habe Dir eine gekauft und würde sie gleich schicken, wenn ich wüßte, daß ich sie Dir direct einsenden kann, ohne bei den Leuten, bei denen Du bist, Verdacht zu erregen. Schreibe gleich und sag’ mir Deine Meinung darüber. Schreibe recht, recht viel, plaudere über alles Mögliche. Dein Geplauder lese ich lieber, als die schönsten Bücher.Vroni hatte den Brief erhalten. Er machte ihr Freude und schmeichelte ihr, aber Alles in Allem genommen, wenn die Halskette mit dabei gewesen wäre, es wäre ihr lieber gewesen. Nicht eben aus Habsucht, habsüchtig war sie nicht, allein von der ihrem Geschlechte eigenen Putzsucht hatte sie ihr Theil mitbekommen. Sie beschloß, Seeburg diesmal nicht so lange, wie früher, nach ihren Zeilen schmachten zu lassen. Er sollte umgehend mit einem Briefe beglückt werden.
Es war Vormittag. Mit dem Scheuern ihrer Krügel und Gläser fertig geworden, setzte sich Vroni in der leeren Wirthsstube in einer Ecke nieder, riß ein Blatt aus einem Kalender und fing mit der Feder darauf zu kritzeln an. Dann faltete sie das Papier, schob es in die lederne Geldtasche, worin sie bereits Seeburg’s Brief verwahrt hatte und eilte den Wiesenpfad entlang, über den hölzernen Steg, einem ärmlichen, einstöckigen, mit Blättern bewachsenen Hause zu, dessen schwarzes Schindeldach zwischen den Weiden hervorblickte. Hier wohnte Balthasar Saiblinger, der Schullehrer. Dies war ein alter Mann mit einem mächtigen Kopfe, den eine Fülle grauer, unordentlich durcheinander wachsender Haare überwucherte. Sein breiter Mund mit den starken, weit auseinandergerückten Zähnen und das derbe, wie mit der Axt zugehauene Gesicht von barbarischem Ausdruck hätten Manchen auf die Idee gebracht, er sei eher gewohnt, Kinder zu fressen, als zu unterrichten. Und doch war er, trotz seines wilden Aussehens, ein zwar roher, aber gutmüthiger Mann.
„Schullehrer,“ sagte Vroni, „da komm’ ich schon wieder, Du mußt mir wieder helfen! Das Gekritzel da,“ sie zog das Blatt aus der Tasche, „sollst Du mir abschreiben, oder vielmehr – ach, ich weiß ja, daß es zu gar nichts taugt – Du sollst es besser machen. Der Herr Seeburg hat geschrieben. Ich möchte gar auch so närrisch thun, wie er, aber dazu hab’ ich zu wenig gelernt. Doch sieh einmal, was für überspanntes Zeug dasteht.“ Sie übergab ihm den Brief.
Saiblinger hatte die Pfeife bei Seite gelegt, die Brille gemächlich aufgesetzt und zu lesen angefangen. Als er zu Ende gekommen war, sagte er, die Brille auf der Stirn hin- und herschiebend:
„Dummes Mädel, der ist halt in Dich verliebt. Sei froh, die schöne Halskette ist so gut wie schon Dein. Dein Gekritzel da ist freilich nicht zu brauchen. Da muß man mehr Liebe zeigen. Auf Deinem Zettel seh’ ich nichts, als daß Du gern die Halskette haben möchtest. Da muß man etwas ‚vom Herzen‘, ‚von den Sternen‘ und dergleichen Dingen schreiben! Nun, ich will es Dir aufsetzen und, da das ein so guter und spendabler Herr ist, noch sauberer abschreiben, als letzthin –“
„Nein, nein,“ unterbrach ihn Vroni hastig, „dann glaubt er nicht, der Brief sei von mir.“
„Da hast Du wieder Recht,“ sagte der Schulmeister mit gravitätischer Anerkennung.
„Schreib es nur schlecht, es ist noch immer gut für mich. Vor Allem aber bitt’ ich, geh bald an die Arbeit. Er will’s –“
„Und Dich juckt die Kette!“ warf der Schullehrer ernsthaft hin. „Gleich will ich’s machen, aber Zeit brauch’ ich, Zeit! In solchen Sachen hab’ ich sehr wenig Uebung. Ich muß ein Buch nachschlagen und das Ding gehörig durchdenken. Verstanden?“
Er sagte das nicht allein, um die Höhe des Honorars zu verdoppeln, sondern in aufrichtiger Erkenntniß seiner Unzulänglichkeit auf dem Gebiete erotischen Stils.
„Kann ich es morgen haben?“
„Nun, wir wollen sehen. Den Brief des Seeburg laß mir hier.“
„Und mach’ es schön, Schullehrer, mach’ es schön!“
Der Halskette zu liebe fühlte sich Vroni gedrungen, mit der Sentimentalität, die Seeburg’s Brief athmete, zu rivalisiren. Saiblinger versprach, das Mögliche zu thun.
Nachdem der alte Schullehrer mehrere veraltete Bücher seiner Bibliothek zu Rathe gezogen und sich viel geplagt hatte, war folgender Brief zu Stande gekommen:
„Heißgeliebter Herr Seeburg!
Ich habe es anfangs gar nicht gewagt, Ihnen zu schreiben, darum habe ich so lange gezaudert. Da ich aber sehe, daß Ihr Brief so nachsichtig und liebevoll abgefaßt ist, habe ich mehr Muth und schreibe so schnell, wie es mir meine Arbeiten erlauben. Aber was soll ich Arme schreiben? Daß ich Sie liebe, wissen Sie, aber mit welcher Feder sollte ich auch meine Gefühle ausdrücken? Ich bitte täglich zu Gott, daß er das schöne Frühjahr bald schicken möge, damit ich das Glück habe, Sie wiederzusehen! Ihren Brief trage ich auf der Brust und habe ihn schon hundert Mal gelesen.
O, schreiben Sie so schnell als möglich. Aber wenn Sie die Halskette mitschicken, bin ich Ihnen recht böse. Ihr Brief ist mir genug, zur Freude und zur Ehre. Wenn ich auch oft gewünscht habe, eine schöne Halskette zu besitzen, so ist es mir doch lieber, an Ihnen ein Herz zu haben, das so treu und aufrichtig für mich schlägt. Lieber Herr Seeburg, wenn man so einsam dasteht, wie ich, so ist man glücklich, einen wahren Freund gefunden zu haben, und braucht nicht Geschenke. Erzürnen Sie mich also nicht, indem Sie die Halskette schicken, und glauben Sie nicht, daß ich sie zurückweise, weil ich mich vor den Leuten genire, sie anzunehmen. Nach wem habe ich zu fragen? Der alte kranke Herr aus Potsdam, den Sie kennen, hat mir voriges Jahr ein Kleid zugeschickt und zwar durch die Post. Was liegt daran, wenn man ein gutes Gewissen hat?
Schreiben Sie also gleich, denn ich verschmachte vor Sehnsucht und Liebe, und behalten Sie in liebendem AndenkenAls Seeburg diesen Brief gelesen, rief er: „Ein prächtiges Mädchen! So uneigennützig! Und wie ihr Herz aufzuthauen anfängt! Der erste Brief war, gegen diesen gehalten, wie ein Stück Eis, wie lieb er auch war. Mach’ ich sie wirklich böse, wenn ich ihr die Halskette schicke? Nein, nein! Gretchen sogar hat von Faust Schmucksachen als Präsent angenommen. Nein, nein, ich sende die Kette und begleite das Geschenk mit den zartesten Worten.“
So monologisirte Seeburg, aber man thäte ihm Unrecht, wenn man ihn solcher Reflexionen wegen für einen beschränkten Kopf hielt. Er war vielmehr im Umgange mit seinen Freunden, wie in seinem Geschäft ein ganz gescheidter und gewandter junger Mann, der oft recht gute Einfälle hatte. Wie hätte er aus den Schriftzügen heraus die greise Hand, von der sie herrührten, erkennen sollen? Wer kennt die Bauernschriften? Bei kaufmännischen Briefen wäre es ihm gewiß nicht so ergangen. Die hie und da erkennbare Unsicherheit hielt er für Folge von Mangel an Uebung. Und da der erste Brief Vroni’s unleugbar echt gewesen, warum sollte er dem zweiten mißtrauen?
Das Paquet mit der Kette langte ungesäumt an seinem Bestimmungsorte an, ohne Vroni irgendwie böse zu machen. Die Kette kam eben zurecht, daß sie selbe vor Antritt der Wallfahrt anlegen konnte. Ihr erster Gedanke war, einen glühenden Dankbrief an Seeburg zu senden; ihr zweiter den Brief zu vertagen. Der Schulmeister verlangte einen Gulden dafür.
Einige Tage nach der Wallfahrt vollzog sich in Vroni’s Lage eine große und unerwartete Aenderung. Der Wirthssohn in Untersbach bei Maria-Stein hatte sich in Vroni verliebt und Ihr Herz und Hand angetragen.
„Da ist Dir zu gratuliren,“ sagte der Schulmeister, als er Vroni Tags darauf an der Hausthür stehen sah. „Der Wirthssohn von Untersbach ist ein schmucker Bursch’ und, hat ein hübsches Vermögen zu erwarten. Aber was ist’s jetzt,“ setzte er leise hinzu, „mit dem Herrn Seeburg? Wirst Du ihm die Halskette zurückschicken?“
„Glaubst Du, daß ich es thun muß?“
[555] „Ich – glaube nicht!“
„Ich glaub’s auch nicht,“ sagte Vroni. „Aber sag’ Niemandem etwas von der ganzen Sache. Jetzt steht Alles anders. Wenn Du ein Wort sagtest, ich könnte den größten Verdruß haben. Herr Seeburg wird mich nicht heirathen – was meinst Du?“
„Ja, freilich, das thut er schwerlich.“
„Er thut es nicht. Man darf gar nicht dran denken,“ sagte Vroni. „Träume sind Träume.“ Sie ging in’s Haus.
Drei bis vier Wochen waren vergangen, ohne daß Seeburg eine Nachricht von seinem Gebirgsmädchen erhalten hätte. Nicht einmal die Bestätigung des Empfangs der Kette war eingetroffen. Er wartete und wartete und überließ sich dem ganzen Heer von Besorgnissen und Zweifeln, welchen liebende Herzen in ähnlichen Fällen unterliegen. Zu allen möglichen Annahmen hatte er Zuflucht genommen, um die saumselige Geliebte zu entschuldigen und sich süß zu täuschen. Er nahm an, daß das Geschenk nicht in ihre Hand gekommen, daß Vroni schwer erkrankt sei, daß sie, durch ganz besondere Schicksale verhindert, nicht schreiben könne. Nur das Richtige, daß sie einen Andern gefunden habe, das fiel ihm nie ein.
Vroni hatte ihm erzählt, welche wilde Gebirgspfade sie oft zur Winterszeit gehe, wenn diese durch hohen Schnee doppelt gefährlich geworden, und wie manches Opfer auf solchen Wanderungen, von Schneestürmen überrascht, verweht worden und erfroren sei. Schaudernd malte er sich eine solche Katastrophe mit allen Details aus und nahm lieber an, daß Vroni erfroren, als blos, bildlich gesprochen, erkaltet sei.
Sie hatte ihm oft erzählt, wie auf dem See, der selbst im strengsten Winter nie ganz zufriere, die Stürme wütheten und wie oft Kähne, welche Leute vom Markt heimführten, umgeschlagen und zu Grunde gegangen seien. Er erinnerte sich daran und nahm eher an, daß Vroni bei einem solchen Sturme ertrunken, als daß ihre Liebe untergegangen sei.
Vroni war indeß aus dem Dienste getreten und in’s Wirthshaus ihrer zukünftigen Schwiegerelten übersiedelt, die Hochzeit sollte schon im Fasching stattfinden. Ihr neuer Aufenthaltsort war mehrere Meilen weit entfernt und lag im tiefsten Gebirge. Umsonst hatte sie der Schulmeister, der gern einen Gulden verdient hätte, jedesmal, wenn er sie an Markttagen oder an Kirchfesten sah und in Abwesenheit ihres Bräutigams sprechen konnte, gemahnt, Herrn Seeburg zu schreiben. Sie kam zu keinem Entschlusse.
Weihnachten stand vor der Thür. Der Schullehrer saß zu Hause, im übelsten Humor. Seine bereits chronisch gewordene Geldklemme hatte wieder einen unerträglich acuten Charakter gewonnen. Er wußte nicht, wo aus, wo ein. Alle Credite waren erschöpft. Von allen Seiten gemahnt, konnte er nirgends zahlen; doch daran war er gewöhnt, eine neue Schuld jedoch, die erst seit dem vorigen Abend hinzugekommen, brachte ihn zur Verzweiflung. Sie betrug zwar nur sieben Gulden, aber es war anvertrautes Geld, das er für seinen Chef, den Herrn Pfarrer, für Stolagebühren eingetrieben und im Kartenspiel leichtsinnig verloren hatte.
„Was fang’ ich nur an?“ klagte er verzweiflungsvoll. „Wo leihen und nicht stehlen? Ich weiß keinen Menschen auf Gottes weitem Erdboden, der mir die sieben Gulden leiht. Der Pfarrer wartet auf’s Geld, wie der Teufel auf die Seele. Ich kann ihn kaum ein paar Tage lang hinhalten. Die Vroni, die einzige Seele, die mir was geliehen hätte, ist fortgezogen. Was fange ich an?“
Nach längerem Nachdenken fuhr er fort: „Wie wäre es, wenn ich – vielleicht gelingt’s – wenn ich im Namen der Vroni Herrn Seeburg für die Halskette dankte und ihn ersuchte, mir mit sieben Gulden auszuhelfen? Ja, wenn ich wüßte, daß er das Geld schickte, dann setzte ich mich über Alles hinweg. Aber: ‚Was?‘ wird er sagen, ‚die Vroni dankt mir nicht früher für Eines, als bis sie das Zweite verlangt?‘ Da hätte ich eine unsaubere Handlung begangen, die Gott weiß was für ein schlechtes Ende nehmen kann, und nichts dafür erhalten! Es geht nicht, es geht nicht! Dummes Zeug!“
Da klopfte es, die „Pfarrköchin“ trat ein, die sieben Gulden abzuholen. Die Bestürzung Balthasar Saiblinger’s war unbeschreiblich. Stotternd entschuldigte er sich und sagte, daß er aus Mangel an Zeit das Geld nicht eingetrieben habe. Er versprach, es sobald als möglich zu bringen. Dieser Zwischenfall hatte zur Folge, daß es ihn trieb, allen Gewissensbissen zum Trotz da anzuklopfen, wo noch der stärkste Hoffnungsschimmer einer Erhörung dämmerte. Er beschloß, vor Seeburg sein schweres Herz auszuschütten. Er ging zum Krämer hinüber und kaufte einen Briefbogen, auf dessen Randvignette ein brennendes Herz, von einem Taubenpaar umflattert, abgebildet war. Wieder in seiner Stube angelangt, setzte er sich hin und schrieb, das Bewußtsein seiner äußersten Geldnoth als Inspiration citirend, Folgendes:
„Heißgeliebter Herr Seeburg!
Sie sind mir wohl sehr böse, daß ich so lange nicht geschrieben. O, wüßten Sie meine Lage! Sie würden eher weinen, als mir Vorwürfe machen. Oft denke ich: wenn er es wüßte, er würde mir gleich helfen! Zu meinem Unglück hab’ ich noch gestern Abend sieben Gulden verloren.“
Er hielt inne, überlas das Geschriebene und rief: „Da fall’ ich schrecklich mit der Thür in’s Haus! Ist es gut? Klar ist es und die Hauptsache ist gesagt; jetzt muß ich recht schwärmen oder, wie die Vroni sagt, recht närrisch thun.“
Er nahm ein paar starke Prisen aus der Dose und schrieb weiter: „Das ist freilich für ein armes Geschöpf, wie ich, ein Unglück, aber was würde ich mir daraus machen, wenn Sie, Herr Seeburg, da wären und ich an Ihrem Herzen ausruhen könnte! O, warum sind Sie hergekommen, o, warum haben Sie so viel schöne Worte gesprochen – Ihre Betheuerungen – aber es war doch eine selige Zeit! Jetzt härme ich mich und magere ab, – wenn Sie sehen würden, wie ich aussehe –“
Als er dies zu Papier gebracht, rief er aus: „Gott behüte, daß er mich sehe! Da hätte er eine schöne Freude!“
Mit schmunzelndem Lächeln und sich hinter dem Ohr kratzend fuhr er wieder fort: „Ich habe immer darüber gelacht, wenn ich hörte, daß ein Mädchen aus Liebe in’s Wasser gesprungen sei. Wenn ich jetzt vor unserem Wirthshaus am See stehe, so überfällt es mich so sonderbar, daß ich mich besinnen und mich zurückhalten muß, um nicht kopfüber zu stürzen!“
„Das ist ein bischen stark,“ murmelte Saiblinger, diesen Absatz prüfend. „Aber das schadet nichts! Je stärker, desto besser, desto sicherer wirkt es.“
Er fuhr fort: „Nennen Sie mich immerhin eine Närrin, wenn ich so spreche, aber wer hat mich so närrisch gemacht? Noch tröste ich mich, wenn ich denke, daß Sie im Frühjahr wiederkommen, aber wenn Sie nicht kommen sollten, dann wehe meinem armen Verstande!“
„Ganz gut,“ murmelte Saiblinger, diese Stelle überlesend. „Ganz gut. Nun noch eine Anspielung auf die sieben Gulden und zum Schluß etwas Rührendes!“
Er zog die buschigen, grauen Augenbrauen in die Höhe, den großen, unschönen Mund in die Breite und sagte unter der Wucht schweren Nachdenkens: „Wie komme ich nur wieder auf die sieben Gulden?“ Da durchleuchtete ihn ein Gedanke, er schrieb: „Eine Cameradin, der ich meine Noth geklagt, hat mir gerathen, die schöne Halskette, die ich von Ihnen habe, zu versetzen. Nicht für alle Schätze der Welt thäte ich das, viel weniger um sieben Gulden. Von der Halskette kann ich mich nicht trennen und wenn mich Gott so verlassen sollte, daß ich in’s Wasser spränge, so wird man, wenn man meinen Leichnam hervorzieht, Ihr Geschenk an meinem Halse finden.
Wie ich mich nach Ihrem Briefe sehne, kann ich Ihnen nicht sagen. Jede Stunde bis dahin werde ich zählen und ihn dem Postboten aus den Händen reißen. Eine zarte Ahnung sagt mir, daß ich darin Trost finde und den Balsam für mein Herz, den ich so dringend brauche!
Leben Sie wohl! Und gleich schreiben, gleich! Thränen ersticken mir die Stimme. Kaum habe ich die Kraft, die Feder zu halten. Seeburg, wenn Du mich verlassen könntest und wenn Dein Brief nicht das enthielte, wonach ich in meiner Herzensangst schmachte, so weiß ich nicht, was aus mir werden soll. Ach, wie drückt mich das Herz! Wie sprengt es meinen Busen! Doch einer Deiner Briefe machte Alles gut. Sei nochmals umarmt, theuerstes Herz! Noch diesen heißen Kuß von
Seeburg hatte eben beim Postschluß dringend viel zu thun, als er diesen Brief erhielt. Dennoch ließ er Alles gehen und
[556] liegen, als er das bekannte Couvert, den braunen Lack und das Siegel mit dem Helm sah, und eilte aus dem Comptoir, um ihn zu lesen. Als er den Inhalt überflogen hatte, schlug sein Herz fieberisch.
„Die Aermste!“ rief er. „Jetzt klärt sich mir ihr Schweigen auf. Die liebt mich! Und – interessant – wie von Brief zu Brief ihre Liebe beredter wird! Das kindliche Lallen, das halb scherzhafte Geplauder ist ein durch alle Tonregister reichendes Klagen, eine schreckliche Elegie geworden. Neulich noch ein Kind und jetzt ein Weib, welch ein Weib! Nie hätte ich geglaubt, daß ihre Leidenschaft einer solchen Anschwellung fähig ist. Soll ich mich anklagen, so viel Leid über sie gebracht zu haben, soll ich mich freuen, so geliebt zu werden? In meiner Brust kämpft Alles durcheinander. O, die Handschriftenkenner haben Recht. In der Schrift liegt viel vom Charakter! Diese Buchstaben haben etwas so Festes, eine beinahe männliche Energie und doch wieder seh’ ich hier und da die Spuren von Unsicherheit der Hand – also das Mädchenhafte, Schüchterne, Zaghafte! Gleich will ich ihr schreiben. O, welche Wonnen erwarten mich im Frühjahr!“
„Hör’ Du einmal,“ sagte inzwischen der Schullehrer zum Gerichtsboten, der zugleich Briefausträger war, „die Vroni, die vordem beim Seewirth war, läßt Dir sagen, Du sollst einen Brief, der dieser Tage für sie ankommt, bei mir abgeben. Sie holt ihn selbst ab.“
Der Gerichtsbote, begreiflicher Weise froh, daß ihm der Gang in’s Gebirg erspart wurde, hatte dagegen nichts einzuwenden. Und wirklich, so schnell als es möglich war, erhielt der Schullehrer Seeburg’s Antwort, der eine Banknote beilag. Der Pfarrer konnte bezahlt werden und es blieb noch ein Rest, mit welchem man sich lustige Tage machen konnte. Aus seinen Verlegenheiten herausgerissen, war der Schullehrer nicht mehr gesonnen, seine Liebescorrespondenz weiter zu führen, wiewohl der Erfolg ein vollständiger war und es sich gezeigt hatte, daß er ein Männerherz zu umstricken und es sich tributpflichtig zu machen verstehe. Als sich aber nach einiger Zeit wieder harte Geldkrisen einstellten, wurde Balthasar Saiblinger nach langem Gewissenskampfe abermals verleitet, seine Feder in Vulcanengluth zu tauchen, um Seeburg’s Gutmüthigkeit zu prüfen. Diesmal forderte er nicht direct. Sein Brief athmete nur Sehnsucht und Liebe. Ein Büschlein Edelweiß, als Sinnbild nie verwelkender Gefühle, war ihm beigelegt. Auch dieser Brief hatte die gewünschte Wirkung, ebenso ein zweiter und dritter, die er in entsprechenden Zwischenräumen abfaßte.
Ostern war herangekommen. Saiblinger hatte indeß aus seiner treuen Erwerbsquelle gegen fünfzig Gulden geschöpft, aber nun war es auch an der Zeit zu erwägen, wie Seeburg’s Pfingstbesuch zu vereiteln wäre. Schon in seinem letzten Briefe hatte der Schullehrer Liebeshändel anzuspinnen begonnen, aus welchen sich ein Casus belli bilden sollte, damit er brechen könne und den Liebhaber vom Halse habe. Aber es wollte sich nicht machen. Seeburg’s Liebe flog darüber hinweg. Der Schullehrer beschloß, längere Zeit zu schweigen. Inzwischen hoffte er einen Ausweg zu ersinnen. Wochen strichen hin, ohne daß etwas geschehen war, und bis Pfingsten war es nicht mehr weit hin.
Es war ein schrecklicher Morgen, als der Gerichtsbote, welcher den Schullehrer für den regelmäßigen Besorger der Briefe an Vroni ansah, ein Schreiben Seeburg’s brachte. Die Anzeige stand darin, Seeburg werde mit aller Bestimmtheit am Pfingstsonntag eintreffen. Bis dahin waren nur sieben Tage. Dem Schullehrer war zu Muthe, als sei der Verderber schon da. Er sah ihn nach Vroni fragen, diese aufsuchen, sie zur Rede stellen. Es war unausweichlich, daß dabei Alles an’s Licht komme. Er sah Seeburg, Vroni und deren Bräutigam gegen sich Front machen; der Scandal war ungeheuer, seine Absetzung, vielleicht noch Aergeres, mußte die Folge davon sein. Ganz außer sich nahm er das erste beste Blatt und schrieb Folgendes:
„Lieber Herr Seeburg!
Ich hatte gestern eine furchtbare Scene. Mein guter Ruf ist zerstört. Schon vordem habe ich viele Spöttereien und Nachreden erdulden müssen, denn die Leute haben gemerkt, daß wir etwas mit einander gehabt haben. Nun müssen mich wohl die Briefe verrathen haben. O mein Himmel, warum habe ich Ihnen geschrieben!
Gestern war bei uns Tanz. Kaum tret’ ich in den Tanzsaal, als alle Burschen auf mich zuspringen, mich verhöhnen und allerlei Schandliedel singen.
Ich kann nicht mehr hier bleiben. Noch heute verlasse ich den Dienst und gehe, soweit mich die Füße tragen.
Leben Sie wohl, für immer. Sie finden mich nicht mehr hier, aber was liegt Ihnen an mir? Sie können doch kommen! Dann würden Sie aber nur Anlaß geben, daß man wieder über mich rede. Ich beschwöre Sie also: kommen Sie nicht. Zeigen Sie sich nirgends weder hier, noch in der ganzen Umgegend. Ich habe nichts als meine Ehre. Vergessen Sie mich und auch mein Herz wird Ruhe finden.
13. Mai 1866.
Mit begreiflicher Unruhe wartete Balthasar Saiblinger die Wirkung dieses Briefes ab. Fortwährend plagte ihn die Sorge, daß Seeburg’s Ankunft alle seine Unthaten an’s Licht ziehen werde.
„Leichter ist es,“ sagte er in einem Moment tiefster Deprimirung, „einen Verliebten auf den höchsten Berg, ja bis auf den Mond hinauf zu bestellen, als durchzusetzen, daß er zu Hause bleibe und sich Alles aus dem Kopf schlage. Das hätte ich bedenken sollen! Meine Briefe waren aber so gefühlvoll; das war nicht klug. Ich hätte früher an den Rückzug denken sollen.“
Inzwischen hatte sich ein Vorfall ereignet, der nicht danach angethan war, seine schwüle Gemüthsstimmung zu kühlen. Vroni, deren Hochzeit hinausgeschoben worden war, hatte sich mit den Schwiegereltern durchaus nicht vertragen, es hatte Streit gegeben und die Heirath war rückgängig geworden. Der Schulmeister war ganz niedergedonnert, als er eines Tags in’s Seewirthshaus kam und das Mädchen dort wieder bedienen sah. Gleich beim ersten Gespräche, das sie zusammen hatten, sagte Vroni:
„Jetzt reut’s mich, daß ich Dir nicht gefolgt habe. Ich hätte mich für die Halskette bedanken sollen. Sommerzeit ist da, und Herr Seeburg wird gewiß wieder kommen. Der wird eine schöne Meinung von mir haben und wird nichts von mir wissen wollen.“
„Daran bist Du allein schuld,“ polterte der Alte hervor, indem er die Stellung suchte, die er ihr gegenüber einzunehmen hatte. „Aber es ist ganz recht, Du solltest, da es einmal so ist, Dich schämen, mit einem Herrn Dich einzulassen, der Dich nicht heirathen kann. Wenn er kommt, solltest Du ihn nicht ansehen, ja ihm den Rücken drehen! So gehört sich’s für ein braves Mädchen!“
Vroni sah ihn betroffen an.
„Sieh’ mich nur an,“ fuhr der Schulmeister in höchster sittlicher Entrüstung fort. „Ihr Mädchen habt nur Ohren für das, was ihr gern hört, sonst müßte Dir bekannt sein, was die Leute über Dich und ihn reden.“
„Um Gotteswillen!“ rief Vroni. „Wer? Was?“
„Ich kann sie Dir nicht herzählen. Aber eine Lehre kannst Du Dir daraus abziehen, wie Du Dich in Acht zu nehmen hast.“
„Du hast Recht,“ sagte Vroni. „Ich hab’ es zu wenig bedacht. Nun, wenn er kommt, wird er nichts mehr von mir wissen wollen, aber ich weiß, daß ich gescheidter sein werde, als ich’s voriges Jahr war.“
Noth macht erfinderisch. Der Schulmeister wandte sich sofort an einen guten Nachbar, der neben ihm auf der Bierbank saß, und flüsterte ihm zu:
„Necke einmal die Vroni mit Herrn Seeburg. Geh’, mach’ mir den Spaß!“
Der Nachbar that es. Vroni war wie versteinert und sah den Schulmeister mit einem langen Blicke an, welcher ihm sagen sollte, wie Recht er mit seinen Rathschlägen gehabt.
Seeburg war inzwischen durch den Scheidebrief, den er unmittelbar vor seiner Abreise erhalten, in die unangenehmste Ueberraschung gestürzt. Er wollte die Reise aufgeben. So hätte der Schulmeister seine Absicht durchgeführt und die Gefahren der Entdeckung glücklich abgewendet, wenn es ihm nicht so gegangen wäre, wie so oft den raffinirtesten Verbrechern, welche das bestdurchdachte Werk durch ein ganz plumpes und bagatellmäßiges Versehen verrathen lassen, durch ein Versehen, wie es auch den unvorsichtigsten Menschen nicht gröber hätte passiren können. Der Schulmeister hatte nämlich, ehe er sich hinsetzte, den Scheidebrief zu schreiben, ein Blatt Papier hervorgekramt und in seiner Hast und Bestürzung dessen Rückseite nicht angesehen. Auf dieser stand die Bestellung einer Seelenmesse für einen Bauer, von seiner Hand geschrieben und mit seiner Unterschrift als Dorfschullehrer versehen.
[557]
Seeburg machte große Augen, als er wahrnahm, daß Vroni und der Schullehrer eine und dieselbe Handschrift hatten. Nichts war klarer, als daß das Mädchen sich von diesem die Briefe hatte verfassen lassen, denn daß Balthasar Saiblinger auf eigene Faust Seeburg geliebt haben sollte, das kam ihm noch nicht in den Sinn! Immerhin war er sehr enttäuscht und fühlte Beschämung darüber, daß er die gemachten Ergießungen eines honorirten Dorfschriftstellers für Ausbrüche einer wahren Leidenschaft gehalten habe. Er mußte sich ärgern und über sich selbst lächeln, denn, wahrlich, diese Entdeckung war geeignet, seinen bisher so heißen Kopf gründlich zu ernüchtern. Das Ganze wirkte wie eine Cur und er wunderte sich bald darauf, ein solcher Narr gewesen zu sein. Ein Narr, dessen Hypersentimentalität beinahe verdiente, so ausgebeutet zu werden! Dies bewog ihn, seinen Reiseplan wieder aufzunehmen und sich wieder an den Gebirgssee zu begeben, blos, um sich die Abwickelung dieser Geschichte anzusehen. Wie er es dem Schulmeister angesagt, war er am Pfingstsonntag im Seewirthshaus angelangt. Vroni, die ihm gleich in den Wurf fiel, benahm sich sehr spröde. Das paßte zum Scheidebrief, von dem sie freilich nichts wußte, und Seeburg wurde sonach in dem Glauben bestärkt, daß er mit ihrem Wissen abgefaßt sei.
Dem Schullehrer war, als er Seeburg absteigen sah, zu Muthe, als sei der jüngste Tag gekommen. Er verkroch sich in seinem Hause.
Seeburg hatte sich ein Frühstück in den Wirthshausgarten bestellt und nahm unter den Bäumen Platz. Vroni kam heran. Und da der Ort ohne Zeugen war, eröffnete Seeburg das Gespräch folgendermaßen:
„Du willst also nichts mehr von mir wissen?“
Das Mädchen schwieg und blickte zu Boden.
„Gut,“ sagte er in die Brusttasche langend, „da nimm also Deine Liebesbriefe zurück!“ Er gab sie ihr alle.
„Da sind ihrer zu viel,“ sagte Vroni kleinlaut; sie wußte nur von zweien.
Höchst frappirt, aber rasch die Bedeutung der Worte erfassend, nahm ihr Seeburg das Paket aus der Hand.
„Da muß ich mich geirrt haben,“ sagte er.
„Sie sind mir böse,“ sagte Vroni, „aber wüßten Sie, wie Alles ist, so würden Sie Nachsicht haben! Ich habe Ihnen bei dem besten Willen nicht für die schöne Halskette danken können.“
Vroni begann nun zu erzählen und schilderte die Schicksale, die sie in diesem Winter gehabt, ganz wahrheitsgetreu, bis sie zu dem Zeitpunkte gekommen war, an welchem ihr der Schullehrer die ihrem guten Rufe so ersprießlichen Rathschläge ertheilt hatte.
[558] „Der Brief,“ sagte Seeburg, „den Du wegen der Halskette geschrieben, war also Dein letzter? Ist keiner verloren gegangen?“
„O, wie wurmt’s mich!“ rief Vroni, „daß ich nicht wieder geschrieben habe. Der Schulmeister hat mir oft –“
„Der Schulmeister,“ unterbrach sie Seeburg, „der hat Dir wohl die beiden Briefe aufgesetzt und geschrieben?“
„Ja,“ gab Vroni erröthend zur Antwort. „Mein Geschreibsel kann Niemand lesen.“
Seeburg schwieg einen Moment betroffen still. So lag es zu Tage, daß der größere und leidenschaftlichere Abschnitt der Correspondenz vom Schullehrer allein fabricirt worden sei. Das gab ihm einen tiefen Stich.
„Wenn Sie mir meine Briefe zurückgeben,“ sagte das Mädchen betrübt, „so muß ich auch die Halskette holen –“
„Keinesfalls,“ sagte Seeburg freundlich, „die ist Dein. Ich habe sogar eine Uhr gekauft, weil Du immer eine gewünscht hast; aber da Du jetzt anderen Sinnes geworden –“
„O nein!“ rief Vroni mit freudestrahlendem Gesicht, „bedenken Sie nur, wie bös die Leute sind – ich habe Sie so gern – es freut mich so, daß Sie wieder da sind! Sie haben ja gesagt,“ fügte sie hinzu, „daß Sie morgen wieder abreisen –“
„Was sollte ich thun?“ war die Antwort. „Ich bin Deinetwegen gekommen, und als mein Wagen vorfuhr und Du mich erkanntest, liefest Du weg, statt mich zu begrüßen.“
„Ich war zu sehr überrascht,“ sagte das Mädchen. „Bleiben Sie nur, wir werden wieder recht lustig sein.“
„Versprichst Du das?“
„Ja,“ sagte Vroni und verschämt sich abwendend fügte sie hinzu: „Sie wissen ja, wie lieb ich Sie immer gehabt.“
Mit diesen Worten, die Seeburg vollständig beruhigten und in eine heitere Stimmung versetzten, lief sie davon. Solche herrliche Aussicht und eine Flasche Carlowitzer hoben Seeburg’s Humor.
Nicht lange darauf klopfte es an die Thür des kleinen, mit Blätterwerk überwachsenen Hauses, das jenseits der Weiden stand. Da wohnte der Schulmeister, und Alles zuckte im Alten zusammen, als er dies Klopfen hörte. Wie betäubt konnte er nicht einmal laut Herein rufen, aber es war auch gar nicht nöthig, denn Seeburg stand schon mit weitgeöffneten Armen vor ihm.
„Da bin ich!“ rief er. „Sie haben sich Herr Schullehrer, so herzlich gesehnt, an meiner Brust zu ruhen!“
„Was soll der Spaß?“ murmelte der Schulmeister scheu und grimmig, wie ein gefangenes Wild umherblickend.
„Ich habe Ihre glühenden Liebesbriefe erhalten und nicht nur beantwortet, sondern auch baar bezahlt; ich gestehe, daß sie mir für den Spaß, den sie mir gemacht, nicht zu theuer waren! Die Natur hat Ihnen ein schwärmerisches Herz gegeben und Sie haben Ihre Sache gut geführt, auch war es sehr klug von Ihnen, daß Sie der Versuchung widerstanden haben, mir Ihre Photographie zu senden.“
„Mein Gott, die Vroni …“ stotterte Balthasar Saiblinger, Ausflüchte suchend, wiewohl er Alles entdeckt sah.
„Vroni weiß von der ganzen Sache nichts,“ erwiderte Seeburg. „Auch jetzt noch nicht. Sie haben sich einen Spaß gemacht, mir zu schreiben, und ich, Ihnen zu antworten. Was habe ich anders thun können? Hätte ich nicht geschrieben, Sie wären im Stande gewesen, sich aus Liebeskummer in den See zu stürzen.“
„Mein Gott,“ stammelte der Schullehrer, in die Enge getrieben, „verdammte Geschichte! O, mich hat der Teufel geritten – ich, dummer Kerl, habe einen Mann wie Sie anführen wollen – ich verdiene ein paar ganz gehörige Ohrfeigen.“
„Lassen Sie sich darüber kein graues Haar wachsen,“ sagte Seeburg in lustigster Laune. „Alle Liebe hat ihren Kummer, das wissen Sie, edler Liebesdichter, am besten! Seien Sie heute Mittag mein Gast, da soll bei Wein und einem guten Gänsebraten das Herz wieder gesunden, das ich Ihnen so leichtsinnig gebrochen habe!“
„O, lieber Herr Seeburg,“ rief der Schuldige mit einem lauten Ausbruch der Reue, „wie großmüthig Sie sind! Welch’ ein edler Charakter! Mein Lebtag will ich an diese Stunde denken und mich ihrer noch auf dem Sterbebette erinnern!“
„Schon gut,“ unterbrach ihn Seeburg, „oder Sie verfallen wieder in Liebesklagen! Hier meine Hand!“
Sie gaben sich die Hände und Seeburg fügte hinzu:
„Für so viel Liebe sei Ihnen verziehen!“
Sie speisten Mittags zusammen und dabei erschien auch Vroni und plauderte und tändelte mit Herrn Seeburg, wie sie es früher gethan.
Noch immer blüht im politischen Leben der Deutschen die Redensart üppiger als billig, aber auch die Rede, die wahre Frucht der Ueberzeugung, der wahre Samen der That, trat in den letzten Jahren bisweilen in erfreulicher und vielverheißender Gestalt auf.
Wer das große Leipziger Turnfest von Dreiundsechzig mitgefeiert hat, wird sich vor Allem des letzten Tages und der schönen stolzen Rede zur Erinnerung an die Völkerschlacht entsinnen, welche der Feier die Krone aufsetzte. Die Tage vorher hatten manche Fahne geschwungen, hier erhielten diese Fahnen erst die rechte Weihe. Die festlich erregte Stimmung der Versammelten hatte neben manchem Phrasenconglomerat auch manch gutes Wort vernehmen lassen, diese Ansprache mit ihrem ernsten, aus den Tiefen einer reichen Seele emporflammenden Pathos war die Rede der Reden. Sie wirkte auf die Hörer fast wie eine That, und sie wird auch ferne Leser mächtig ergriffen haben. Der Mann auf der Tribüne redete gewaltig, nicht wie die bloßen Theoretiker, es war in dem Gang seiner Gedanken, im Schwung seiner Empfindung, im Klang seiner Stimme ein Etwas wie politische Religiosität, ein freudig begeistertes Erbeben aller Saiten des Gemüthes unter dem Flügelschlag einer großen Hoffnung, die durch Studium und eigenes Nachdenken zu gewisser Zuversicht geläutert war, ein edles Prophetenthum, dem auch Geister schwachen Glaubens nicht widerstanden.
Den Bewohnern Leipzigs war diese Stimme nicht unbekannt. Schon oft hatten sie ihre Mahnung vernommen, wiederholt hatte sie das Beste bei Leipzigs festlichen Tagen gethan. Die Studirenden, die junge strebsame Kaufmannschaft, weite Kreise der Stadt blickten auf den Privatdocenten Heinrich von Treitschke als auf einen ihnen in kurzer Zeit theuer gewordenen Lehrer, und wenn er jetzt, von einer glaubensverwandten Regierung hinwegberufen, von der sächsischen als preußisch gesinnter Ketzer gern entlassen, als Scheidender sprach, so mischte sich in die Wirkung seiner Rede ein starkes Gefühl der Wehmuth, zugleich aber die Hoffnung, ihn in bessern Tagen wiederkehren zu sehen zur Fortsetzung seiner Arbeit für sein Volk in der Heimath.
Was Heinrich von Treitschke erstrebte – es beginnt sich jetzt zu verwirklichen in dem deutschen Einheitsstaate unter Preußens Führung, und darum dürfte auch der Moment erschienen sein, jetzt, wo Treitschke’s jüngste publicistische Schrift „die Zukunft der deutschen Mittelstaaten“ auf den ausgezeichneten Mann von Neuem die allgemeine Aufmerksamkeit gelenkt hat, den weitesten Kreisen des deutschen Volkes Mittheilung zu machen über den Gang seines Lebens und seiner Thätigkeit.
In Dresden 1834 geboren, wo sein Vater, jetzt Generallieutenant a. D., damals als Hauptmann bei der leichten Infanterie stand, bezog er nach sorgsamer Vorbildung als noch nicht achtzehnjähriger Jüngling Ostern 1851 die Universität, zunächst Bonn, wo er vorzüglich Dahlmann hörte, aber auch tapfern Antheil nahm an dem fröhlichen Studentenleben und, eine frische genußfähige Natur, vielfach in der schönen rheinischen Landschaft umherstreifte, später Göttingen und Tübingen und zuletzt Leipzig, wo besonders Roscher und Albrecht seine Lehrer wurden. Hier habilitirte er sich zwar schon 1859 als akademischer Docent, begann aber seine Lehrerthätigkeit für’s Erste noch nicht, sondern, nach einem neben publicistischen meist poetischen Bestrebungen gewidmeten Aufenthalte in München, erst 1861, mit seinen Vorlesungen über neuere preußische [559] Geschichte. Jetzt hob für ihn eine Zeit der Erfolge an, wie sie an der sächsischen Hochschule Jahrzehnte hindurch nicht erhört worden, und von der wir hoffen dürfen, daß sie auch auf Seiten der Hörer für ihre Auffassung der deutschen Dinge und für ihr künftiges Thun und Lassen eine erfolgreiche gewesen ist. Das größte Auditorium des Augusteums reichte nicht hin, den Strom der Studenten zu fassen, die sich von dem jungen Docenten die Wahrheit über die Entstehung und die Natur des deutschen Bundes, die neuesten Geschicke und das Wesen Preußens, Oesterreichs und der Mittelstaaten, das Wachsen des deutschen Gedankens in die Wirklichkeit hinein vortragen lassen wollten. Mit eigenen Augen haben wir gesehen, wie sie Kopf an Kopf die Bänke füllten, wie sie bei geöffneter Thür bis auf den Gang hinaus standen, wie selbst die Fensternischen von ihnen besetzt waren. In der That besitzt Treitschke Alles, was den Redner macht, den Redner auf dem Katheder, wie den Redner auf der politischen Tribüne. Sicher würde er daher auch als Kammerredner glänzen, wenn ein Gehörleiden, bei seiner sonstigen Befähigung zu schlagkräftiger Antwort das einzige Hinderniß als solcher zu wirken, ihm die parlamentarische Laufbahn nicht verschlösse.
Noch mehr Aufsehen mußte es erregen, als Treitschke in einem späteren Semester ein Colleg über neuere englische Geschichte ankündigte und seine Zuhörer wieder eines der größten Auditorien füllten. Jenes hatte Nächstliegendes behandelt und war öffentlich gewesen, dieses hatte Entfernteres zum Gegenstande und war ein sogenanntes Privatum. Noch nie, soweit unsere Erinnerung zurückreicht, hatten Leipziger Studenten sich zu Vorträgen letzterwähnter Art in irgend erheblicher Zahl eingefunden, selbst wenn sie nicht zu honoriren waren und wenn der Professor, der sie anbot, zugleich Examinator war. Hier hatte der einfache Privatdocent ihrer weit über hundert vor sich versammelt. Dennoch wird sich kaum Jemand über solchen Erfolg gewundert, kaum Jemand, den nicht Parteihaß oder Mißgunst verblendete, solchen Beifall unbegreiflich genannt haben; denn der Mann mit den feurigen braunen Augen droben auf dem Katheder redete eben gewaltig und zugleich aus dem Herzen, nicht wie die Schriftgelehrten, blos aus dem Verstande. Er lehrte nicht blos, sondern sein Wort erzog, seine Geschichtserzählung war eine Predigt über das Thema: wie ein Volk groß und frei wird. Zwischen den Zeilen las man später, was man während des Vortrags hinter jedem Schlußsatz, der eine Epoche voll Resultate zusammenfaßte, gehört, die Mahnung: seht in den Spiegel und gehet hin, desgleichen zu thun. In jenem mannhaften Auftreten und in dieser erziehenden Tendenz lagen unserer Empfindung nach die Hauptvorzüge dieser Collegien; ein stark realistisches, von Illusionen freies Wesen, ein vornehmer, der Phrase abgewandter Sinn, ein Freimuth, der bis an die letzte Grenze der Lehrfreiheit ging, eine Grundlage tüchtiger Fachstudien und eine schöne klare und kräftige Sprache thaten das Uebrige, jene außerordentlichen Erfolge zu rechtfertigen.
Und wie Treitschke sich durch diese Eigenschaften in wenigen Monaten die Liebe der Studirenden Leipzigs erwarb, so wurde er auch in gleich kurzer Zeit der Liebling weiter Kreise der Bürger der Stadt, namentlich aller Derer, die sich an den nach dem Kriege in Italien neuerwachten liberalen und nationalen Bestrebungen betheiligten. In Vieler Gedächtniß wird noch die treffliche Rede über das Leben, den Charakter und die Wirksamkeit Fichte’s sein, mit der er einst vor einem gewählten Kreise die Erinnerung an diesen Philosophen und Patrioten unsrer größten Zeit nach der Reformation feierte, und nicht weniger verdiente das bei einer andern Gelegenheit von ihm entworfene Bild Lessing’s Bewahrung im Herzen der Zuhörer. Ueberall hatte man mehr oder minder klar die Empfindung, daß hier ein Stern im Aufgehen, der ein Zeichen der Zeit, ein Morgenstern der Zeit zu werden versprach, welche die deutschen Patrioten als Erfüllung ihrer Hoffnungen, als Krone ihrer Bestrebungen herbeisehnen. Wo so gesprochen wurde, schien Aussicht zu sein, daß bald auch so gehandelt werden würde.
In Dresden schien man indeß mit den Ansichten des kühnen jungen Docenten nicht einverstanden zu sein, so daß er auf eine größere akademische Wirksamkeit in Sachsen kaum hoffen durfte. Anders in Baden, wo ein großgesinnter, wohlberathener Fürst den Weg der Patrioten zu gehen begonnen. Kurz vor dem Turnfest erging von hier aus ein Ruf an Treitschke, den leer gewordenen Lehrstuhl eines Professors der Staatswissenschaften an der Universität Freiburg einzunehmen, und da Niemand in Dresden ihn hielt, auf seine Anzeige der Berufung vielmehr ein Schreiben des Cultusministeriums erfolgte, in welchem nach der kühlen Anzeige, ihm in Leipzig nichts bieten zu können, sogar die Hoffnung ausgesprochen wurde, es werde sich mit seiner Auffassung der Geschichte noch einmal bessern – eine Hoffnung, die sich glücklicher Weise nicht erfüllt hat –: so blieb ihm nur übrig, dem ehrenvollen Ruf in die Fremde ohne Verzug zu folgen.
Die Verhältnisse, in die er zu Freiburg eintrat, wären für andere Naturen, als die seine war, nicht eben bequem gewesen. Der Mann, der Protestant in allen Fasern und Adern war, der Verehrer Luther’s – und des großen Friedrich, der entschieden preußisch Gesinnte, sah sich in die Hauptstadt des badischen Ultramontanismus, in eine Stadt versetzt, aus der man bisher fast nur von Priesterpolitik vernommen. Man wußte hier, weß Geistes Kind man in dem neuen Professor zu begrüßen hatte; man sah ihn von vornherein als Pfahl im Fleische an, und man handelte darnach. Eine Fluth von Schmähungen, gemeinen Späßen und allerlei Verdächtigungen floß nach seiner Ankunft durch die ultramontanen Blättchen des Landes. Er trug, was ihm davon bekannt wurde, mit dem ihm eigenen guten Humor, fand bald, daß nicht alle Freiburger von den Beichtstühlen abhängig waren, fand Zuhörer, die, wie die Leipziger, ihn verehrten, selbst unter Nichtstudirenden und sogar für ein Collegium über Reformationsgeschichte, und gründete sich so einen befriedigenden Wirkungskreis, der ihm um so mehr Freude und Genugthuung gewähren mußte, als er sich an dem Widerstand der Verhältnisse der zwingenden Gewalt seines Talents bewußt wurde.
Bis jetzt waren Treitschke’s Arbeiten meist Vorstudien und Anläufe zu bedeutenderen Versuchen als Historiker gewesen. Da erschien im vorletzten Jahre eine Sammlung von Aufsätzen, die bei allen Patrioten die lebhaftesten Sympathien erregten, die „historischen und politischen Aufsätze, vornehmlich zur neuesten deutschen Geschichte“. Sie umfassen zehn Abhandlungen der Gattung, welche man, wir wissen nicht recht weshalb, neuerdings mit dem englischen Worte „Essay“ zu bezeichnen liebt. Sehr verschiedenen Inhalts, haben sie alle die Grundzüge der Treitschke’schen Art zu denken und zu sprechen gemein, mannhafte Empfindung, Energie des Ausdrucks, zweckvolle Gruppirung des Stoffs, rücksichtslose, wenn auch immer humane Aeußerung dessen, was die Seele füllt und bewegt. Mehrere von ihnen sind Muster deutschen Stils. Ueberall in dem Buche zeigt sich bei nüchternstem Verstande und begründetstem Urtheil eine edle Leidenschaft für die sittlichen Ideale der neuern Zeit, überall ein kühner Zorn über Heuchelei und Feigheit, wo diese auftreten, überall aber auch stolze Freude, ein Sohn gerade unserer Tage zu sein, die nur von dem Pessimismus der Schwächlinge als Epigonenzeit angesehen werden. In keinem der Aufsätze bleibt die patriotische und liberale Gesinnung des Verfassers in Zweifel. Am stärksten und kühnsten aber äußert sie sich in der großen Abhandlung „Bundesstaat und Einheitsstaat“, welche das national-politische Glaubensbekenntniß Treitschke’s enthält, und in dem Schlußaufsatz über die Freiheit. Seit Schleiermacher ist nicht wärmer und überzeugender von dem nothwendigen Gleichgewicht zwischen der allgemeinen Pflicht aller Staatsbürger und der Berechtigung des Einzelnen dem Ganzen gegenüber geredet worden, als in diesem Aufsatz. Noch nie aber wurde das, woran das deutsche Leben vor Allem krankt, so rückhaltlos und so schlagend in seiner Blöße dargestellt, als in jenem Abschnitt des Buches. Es ist wahr, was man in Bezug auf denselben hervorgehoben hat, der eine und der andere Schluß in der Beweiskette des Verfassers wird sich mit Erfolg bekämpfen lassen, und keine unserer Parteien wird ihr Programm in seinen Gedanken wiederfinden – auch das Gothaerthum nicht, dem Treitschke sonst nahe steht. Aber wie dem auch sei: wir leben in einer Zeit der Auflösung der Parteien, und so war es ein sehr dankenswerthes Unternehmen, wenn hier ein gründlicher Denker, ein entschiedener Gegner jedes deutschen Particularismus, die innern Widersprüche in den Wahlsprüchen der Parteien heraushob und die letzteren nöthigte, ihre Glaubensbekenntnisse einer neuen Prüfung und Berichtigung zu unterwerfen.
Es ist allgemein bekannt, daß Treitschke nach Roggenbach’s Sturze und mit der in Baden wieder zu momentaner Herrschaft gelangenden ultramontan-reactionären Partei seinen Lehrstuhl in Freiburg verließ. Er siedelte nun in die eigentliche Heimath seines [560] Geistes, nach Preußen über, wo er in Berlin die Redaction der Preußischen Jahrbücher übernahm und außer durch verschiedene gediegene Aufsätze in dieser Zeitschrift namentlich jene Eingangs erwähnte Flugschrift veröffentlichte, die augenblicklich in aller Patrioten und – Nichtpatrioten Munde ist. Jedenfalls steht dem noch jungen Manne, dessen Begabung und Wissen ungewöhnlicher Art sind, eine bedeutende Laufbahn bevor. Wie die Zeitungen melden, ist er in dasselbe nunmehr einem freisinnigen Regimente zurückgegebene Baden, das ihn kaum erst beseitigen zu müssen glaubte, von Neuem berufen worden, als Professor der Geschichte nach Heidelberg, und hat sicherem Vernehmen nach diesen ehrenvollen Ruf auch angenommen.
Fußtritte polterten die Treppe des Rathhauses herauf und durch den Vorsaal; der Schmied von Weih-Sanctpeter stürzte rothglühenden Angesichts in das Gemach. „Mit Verlaub, Ihr Herren und Meister allerseits,“ rief er, „daß ich so hereinfalle mit der Thür in’s Haus … die Wachtgenossen sind nicht mehr zu halten … eine wichtige Kundschaft, die wir aufgefangen …“
„Redet, Meister, athmet aus,“ sagte Roritzer, „und erzählt ruhig, was sich begeben …“
„Weiß schier selber nicht, wo ich anfangen soll,“ fuhr der Schmied fort, „stunden unser eine Schaar gegen das Donauthor zu und hatten unvermerkt Acht, wer die Brücke hereinkäme und wer hinaus wollt’, da kam ein Bauer herangeschritten, den ich von Sehen wohl gekannt, er heißt Hillinger und ist ein Weinzierl in Stauf und hat oft sein Rößlein beschlagen lassen an meiner Schmiede. Fiel mir schon auf, daß er that, als säh’ er mich nicht, und wollt’ sich sacht an uns vorbeidrücken, und wie ich ihn drum anrief, da war er erschreckt und blaß und zitterte, daß er schier nicht zu reden vermocht’. Wir gingen ihn d’rum schärfer an, da fiel er auf die Kniee und sagt’, er dürf’s nicht gestehen, aber er hab’ eine wichtige Botschaft zu tragen … an Herrn Lyskirchner, den Stadtkämmerer …“
„An mich?“ stammelte dieser erbleichend.
„Da suchten wir dem Kundschafter das Gewand aus,“ begann der Schmied wieder, „und fanden im Wamms eingenäht dieses Schreiben…“
„Her damit, was enthält es?“ rief Roritzer, entfaltete das Blatt und las: „‚Wir sind gerüstet und die Zahl voll; gebt das Zeichen und sorgt, daß wir das Pförtlein offen finden …‘ Nun, Herr Stadtkämmerer, geliebt es Euch wohl, uns zu künden, was das bedeuten mag?“
„Ich weiß nichts davon!“ rief dieser grimmig. „Das ist elende Verleumdung! Angezettelt Wesen, mich zu schädigen…“
„Meint Ihr, Herr Stadtkämmerer?“ entgegnete der Dommeister mit ruhigem furchtbarem Ernst. „Ich will Euch hinwider meine Meinung sagen … das ist nicht angezettelte Verleumdung, das ist Verrath! Während Ihr uns hier mit dem Schein von Verhandlungen hingehalten, habt Ihr draußen Soldknechte geworben und sinnt, die gute Stadt meuterisch zu überfallen …“
„Lügner, wer das behauptet!“ schrie der Kämmerer außer sich. „Man stelle diesen Bauer zu ordentlicher Untersuchung, es ist ein falscher, ein bestochener Zeuge …“
„Nicht doch, Herr Stadtkämmerer,“ rief jetzt der Fremde dazwischen und trat mit solcher Würde vor, daß die Andern unwillkürlich zurückweichend einen Kreis um ihn bildeten. „Versuchet nicht länger mit diesem irregeleiteten Volke zu verhandeln und seinem hirnverbrannten, übermüthigen Führer, die Zeit der vergeblichen Milde ist vorbei und die der gerechten Strenge beginnt! Ja denn, Ihr Aufrührer, es ist wie Ihr befürchtet, Regensburg ist umstellt und auf das erste Zeichen dringen die Söldner ein, Euch zu züchtigen und die Brandfackel über Euere Häuser zu schleudern; wagt es nicht auf dieses Aeußerste! Unterwerft Euch, legt die Waffen ab und demüthigt Euch, und Euch Allen soll Gnade werden, Ihr sollt ungeschädigt sein an Leib und Leben, an Hab und Gut, dafür bürge ich Euch Allen, im Namen kaiserlicher Majestät … ich, Thomas Fux von Schoenberg, Kaiser Maximilian’s Geheimrath und wohlbestallter Hauptmann in Regensburg.“
„Wie?“ rief der Dommeister außer sich, während die Bürger einen Augenblick betroffen und unschlüssig standen. „Auch das war Mummerei und eitel Fastnachtsscherz? Das ist also die Aufrichtigkeit, mit der Ihr groß gethan, Ihr Verräther?“ Versöhnung habt Ihr nur geheuchelt? Habt dem wackern gläubigen Volk nur einen Köder hingeworfen, daß Ihr Zeit gewinnt, es hinterlistig mit Euren Schlingen zu umstricken? … Wohlan denn, Ihr Herren, Euer Regiment in Regensburg ist zu Ende!“
„Bedenkt, was Ihr thut!“ rief der Hauptmann. „Ich werde dem Kaiser berichten…“
„Ich will Euch die Mühe sparen, neue Mährlein zu ersinnen, Herr, ich werde selber gehen und dem Kaiser Bericht erstatten, Ihr aber werdet’s Euch indessen in Regensburg gefallen lassen.“
„Ich sehe,“ sagte der Hauptmann, „der Volkstribun hat sich entpuppt und der neue Dictator ist fertig; aber Ihr werdet es nicht wagen, den Gesandten kaiserlicher Majestät zurückzuhalten.“
„Ich will erst glauben lernen,“ sagte Roritzer mit Hoheit, „daß Ihr solche Würde an Euch tragt; ich will von Maximilian selber hören, ob er es gut heißt, daß sein Gesandter und Hauptmann in der Vermummung sich einschleicht, recht wie ein Fuchs in den Bau! Ja, meine Freunde und Genossen, der Kaiser soll mich hören! Er ist eben auf der Reise zum Reichstag in Augsburg, er wird mich hören, wird Eure Sache gerecht aus meinem Munde hören und ein gerechtes Urtel sprechen! In wenig Tagen bin ich zurück; bis dahin gelobet mir, Ruhe zu halten und Niemand zu schädigen an Leben und Eigenthum! Sorgt nicht vor einem Angriff auf die Stadt, die äußeren, die bezahlten Feinde wagen nichts, wenn die inneren unschädlich gemacht sind, und das übertrag’ ich Euch. Besetzt die Thore und Wehrgänge, besetzt das Rathhaus und alle Thüren in demselben, bewachet die edlen Herren wohl! Bei Eurem Leben, bei Eurer guten Sache, Ihr steht für die Ruhe der Stadt, Ihr bürgt mir dafür, daß Keinem ein Haar gekrümmt wird … Gelobet Ihr mir das?“
„Wir geloben!“ tönte es in wildem Zuruf entgegen.
„Nun denn, so thut, wie ich Euch gesagt … Nehmt Eure Gefangenen hin!“
Auf die vernichteten Rathsherren zeigend, die im Augenblick umringt und ergriffen waren, verließ der Dommeister den Saal; von unten dröhnte der Zuruf des Volks, das den Vorgang erfahren, wie ein wettergeschwellter Bergstrom herauf.
Draußen hielt Roritzer an und faßte des Bildschnitzers Hand. „Loy,“ sagte er, „alter Freund, ich verlasse Regensburg und Dich! …“
„Was fällt Dir ein, Wölflein? Ich gehe mit Dir!“
„Diesmal nicht, ich muß mein Kleinod hier zurücklassen und brauche einen treuen, tüchtigen Wächter dafür. Die Bauhütte ist meinem Schutze vertraut, willst Du sie für mich bewahren, als wär’ ich selber da?“
Der Alte konnte nicht reden; gerührt faßte er des Freundes Hand und drückte sie an seine Brust … „Was Du verlangst, Wölflein,“ stieß er dann heraus, „was Du verlangst, ich hab nun einmal keinen Willen gegen Dich!“
In Lärmen und wildem Geschrei verhallte der Tag, die dunkle, ernsthafte Stadt schien Antlitz und Wesen vertauscht zu haben; wo sonst Gewerbe und Handwerk in den engen Erdgeschossen sich lustig hören ließ, war es stumm geworden und auf Straßen und Plätzen, wo es sonst stille gewesen und nichts verlautete, als der kleine Verkehr täglichen Bedürfens, da drängte und wogte es in wüstem Treiben und Brausen, wie in einem Haufen aufgestörter Ameisen oder einem Schwarm verwilderter Immen; mochte auch dem Gebahren [561] der Menschen das unmerkliche Gesetz und die verborgene Einheit fehlen, die das anscheinende Wirrsal der Thiere zu wohlvertheilter, sinniger Arbeit erhebt. Das Gerücht von dem Bürgergespräch auf dem Rathhause, von der Bedrohung der Stadt durch feindlichen Ueberfall und von der Gefangennehmung der edlen und Rathsgeschlechter hatte Alles hervorgelockt, was noch Gleichgültigkeit, Furcht oder Unkenntniß zurückgehalten haben mochte; die Werkstätten, die Bürgerhäuser waren leer, die burgähnlichen Ansitze der Adeligen und Rathsherren aber hatten sich geschlossen, Fenster und Thüren waren verrammelt, als ob Niemand mehr hier hause, oder als ob ein trotziger Feind dahinter laure, entschlossen, einem feindlichen Angriff mit ritterlicher Abwehr zu begegnen. Die Klöster, voran das mächtige Sanct Emmeran und das Frauenstift Niedermünster, sperrten sich ab, kleine Burgflecken bildend, mitten im Stadtgebiet; der Bischofshof mit den Wohnungen der Domherren schloß seine wuchtigen Thore, und die vorsichtigen Juden verrammelten mit doppelter Wehr den Eingang zu ihrer Straße und den darin gesammelten Schätzen. Vom Volke dachte Niemand mehr an Arbeit und Erwerb, die Männer und Gesellen zogen ab und zu und lösten einander ab auf Thorwachen, Wehrgängen und Thürmen, oder sie rasteten auf den Plätzen und die Häuser entlang, bis die Reihe wieder an sie kam, die Frauen und Mädchen aber trugen und schafften herbei, was an Nahrung vorhanden und zu bekommen war, damit Männer und Brüder und Geliebte sich stärken möchten in dem beschwerlichen Geschäft, der Stadt Haushalt und Regiment zu bessern.
Die Gefangenen waren indessen getrennt und in den verschiedenen Räumen und Gewölben des Rathhauses untergebracht, Alle wohlbewacht und behütet, daß Keiner im Stande sein möge, den Seinigen oder irgend einem etwa verborgenen Anhänger ein Zeichen zu geben zur Befreiung oder zum Heranrufen der auf dem Nachbargebiete harrenden Genossen. In ohnmächtiger, verbissener Wuth fügten die gestrengen Herren sich in das Unvermeidliche, knirschend und über eigene Säumniß scheltend die Einen, mit Lachen und Selbstverhöhnung die Andern. „Nun seht, Herr Aunkhover,“ sagte der Stadtarzt im Vorüberschreiten zu dem zornblassen Mann, als sie aneinander vorbeigeführt wurden, „sehet, ob ich nicht Recht gehabt mit meinem Studium der reisenden Uhr … unser Sand will ablaufen …“
„Ihr sagt es, Herr Stadtarzt,“ erwiderte der Rothbart, „aber Ihr habt auch geweissagt, wenn der Sand abgelaufen ist, wird die Uhr gestürzt und was unten gewesen, kommt obenauf!“
„Ein schlechter Trost bei der Aussicht, die Nacht hindurch oder wer weiß wie lange hier bleiben und sein Bett und seine Hausbequemlichkeit entbehren zu müssen,“ rief der Doctor. „All’ dem wär’ vorzubeugen gewesen mit einem kühlenden Mittel …“
„Ich bleibe bei meiner Cur,“ grollte Aunkhover, „die Zeit soll kommen, die mir und Euch beweisen wird, daß nur mit Blut geholfen werden kann!“
„Blut?“ rief einer von den Bürgern dazwischen, ein stämmiger Gerber, indem er den Sprechenden mit der lohbraunen Faust am Genick faßte und schüttelte. „Verwünschtes Edelgezücht, was willst Du damit sagen? Willst Du uns mit Blutvergießen drohen?“
„Was kommt Euch in Sinn, werther Meister?“ rief der Stadtarzt, den Genossen befreiend. „Ihr werdet mir doch nicht wehren, eine ärztliche Consultation zu halten? Der wohledle Herr von Aunkhover hat sich, wie billig, über das Geschehene alterirt und hat mich befragt, ob ihm eine kleine Aderlaß’ nicht heilsam sei …“
„Ist es um die Zeit?“ rief der Gerber und schob seinen Gefangenen vor sich her. „Schlägt es Euch endlich auch in’s Blut? Nur zu, Ihr habt es uns lang’ genug angethan: nun kostet selbst, was es heißt, wenn man die Galle immerfort in sich hineinschlucken muß …“
Der Stadtkämmerer Lyskirchner war in dem Gemache untergebracht, in dem er sonst zu arbeiten und zu amtiren pflegte; derselbe Raum, der ihn so oft gesehen in der Fülle seiner Würde und Macht, war zum Schauplatz seiner tiefsten Erniedrigung gewählt. Das Gemach hatte nur ein großes, wohlvergittertes Fenster und keinen Seitenausgang, die Thür stand offen und in dem Vorsaal an der langen Sitzungstafel machten sich’s die Bürger bequem, von dort konnten sie jede Bewegung des Gefangenen überblicken und bewachen. Es waren einige Schmiedegesellen, die sich mit Hämmern und Eisenstangen aufgepflanzt; ein Paar von ihnen hatte sich zum Ueberfluß Stühle an die Thür gerückt und hielt seine Spieße vor derselben gekreuzt; Meister Hetzer, der Barchentweber, allein hatte sich’s nicht nehmen lassen und sich’s in dem Gemache selbst in des Stadtkämmerers mächtigem Armstuhl bequem gemacht. Auf der Tafel im Vorsaal zeigten die herumstehenden Becher und Krüge, daß die Wächter wohl darauf bedacht waren, sich für die lange Weile ihres Geschäfts mit reichlichem Trunk zu entschädigen.
Der noch vor wenigen Stunden so mächtige Kämmerer empfand die Gefangenschaft und das Bewachtsein wie ein eingekerkertes Raubthier, das ruhelos hinter den Gitterstäben seines Eisenkäfigs hin und wider rennt. Der Weber hatte sich lange daran ergötzt, ihn durch Stachelreden zu reizen und in spöttischen Worten fühlen zu lassen, daß er, der so lange sein Gebieter gewesen, nun sein Untergebener geworden; er rächte sich an dem Gefallenen dafür, daß er so lange vor ihm gezittert. Lyskirchner’s Ingrimm hatte dafür weder Ohr noch Erwiderung; der Spötter ermüdete zuletzt und kehrte ärgerlich zum Kruge zurück, während Jener unermüdet, rastlos hin und wider schritt, grollend und lauernd. Sein kühner Geist gab das Spiel noch nicht verloren, noch hoffte er auf eine Wendung, auf eine Möglichkeit des Entrinnens, und mit ihr tauchten neue Pläne, neue Verwickelungen empor, wenn auch wie Feuer-Meteore wild aufflammend und im ersten Lodern erlöschend. Aber Secunde um Secunde, Stunde um Stunde kroch an ihm vorüber; keine brachte, was er so heiß ersehnte, und im steigenden Unmuth warf er sich endlich auf die an der Wand angebrachte Umlaufbank.
Die Tasche, die er am Gürtel trug, schlug an die Holzkante und machte den Inhalt erklirren.
Der Weber horchte auf, er wandte sich zwar nicht um, aber seine Bewegung war sichtbar genug, um dem spähenden Lyskirchner nicht zu entgehen. Dieser gab sich jedoch den Anschein, als habe er nichts bemerkt, und nahm seinen Wandel durch die Stube wieder auf; nach einiger Zeit ließ er sich wie ermüdet am Tische nieder, wo des Webers Blicke ihn bequem erreichen konnten, und begann in dem goldenen Inhalt seiner Gürteltasche zu wühlen; er that, als ob er zähle, und ließ die Goldstücke klingen und in dem Lampenschein glitzern, der aus dem Vorsaal wie neugierig hereinfiel. Die Gesellen draußen waren stumpf und müde geworden, nur die Beiden an der Thür des Vorsaals mit den gekreuzten Hellebarden waren noch halbwach, murrten unverständliche Worte und nickten mit den schweren Köpfen.
„Plagt Euch wieder der alte Uebermuth?“ rief der Weber, nachdem er einige Augenblicke zugesehen. „Ihr habt Recht, daß Ihr Eure Goldfüchse überzählt, habt lange genug allen Rahm von der Milch abgeschöpft; nun kommt an uns die Reihe! Hättet Ihr uns die fremden Gewebe nicht hereingelassen in die Stadt, dann könnt’ ich auch mit Golde klappern, wie Ihr … all’ das ist eigentlich mein, denn Ihr habt mich verhindert, daß es nicht in meinen Beutel gekommen ist!“
„Ihr mögt Recht haben, Meister,“ sagte Lyskirchner mit anscheinender Betrübniß, „ich fange an, zu begreifen, welch’ ein Thor ich war, mich auf einen solchen Wechsel der Umstände nicht besser vorzusehen. Aber es ist nicht Uebermuth, daß ich das Geld von mir schleuderte, es ist Aerger, weil es so unnütz ist! Wenn ich es auch an Jemand verschenken wollte, der vielleicht ein wenig zu kurz gekommen … es würde mir nicht einmal das Geringste verschaffen, wonach ich lechze, wie der Fisch im Sand, einen frischen, erquickenden Trunk!“
In des Webers Gesicht spiegelte sich die unverhohlenste Ueberraschung. „Einen frischen Trunk?“ fragte er zweifelnd. „Wenn Ihr weiter nichts begehrt und anfangt, Euer Unrecht einzusehen, könnt’ ich Euch wohl meinen Weinkrug anbieten …“
„O, nichts davon!“ sagte Lyskirchner mit abwehrender Geberde. „Ich bin ein kranker, alter Mann … ein vieljähriges Leiden quält mich und wenn ich einen Tropfen Wein über die Lippen brächte, müßte ich es mit unsäglichen Schmerzen bezahlen …“
„Was? Ihr dürft keinen Wein trinken?“ rief Hetzer und drehte sich auf seinem Sitze herum. „Na, dann seid Ihr wahrlich nicht zu neiden gewesen mit all’ Eurem Gold! Aber was meint Ihr dann mit dem frischen Trunk?“
„Was sonst, als einen Trunk frischen erquickenden Wassers.“
„Wasser? Nun, wenn’s weiter nichts ist, der Röhrenbrunnen [562] unten im Hof giebt Wasser, so frisch und so kalt wie Eis. Es ist ja Christenpflicht, daß man die Durstigen tränken soll, und wenn Ihr doch einmal glaubt, daß Euch das Gold nichts mehr nütze …“
Er hielt beide Hände aneinandergelegt gegen Lyskirchner hin, daß sie eine Art Schüsselchen bildeten; ein gierig grinsendes Lachen verzerrte sein Gesicht. Der Stadtkämmerer schleuderte ihm den Beutel zu.
„Recht so, recht so,“ lachte der Weber, „Ihr seid auch ein guter Christ und werfet von Euch, was Euch ärgert! Dafür will ich hinunter zum Brunnenwirth und Euch mein Krüglein voll des besten Gänseweins füllen bis an den Rand …“
Mit Einem Zuge stürzte er den Rest des Kruges aus und stieg dann unter stetem Grinsen und Lachen über die Beine und Hellebarden der schlafenden Schmiede weg; vor der Thür des Vorsaales in dem halbdunklen Gange hielt er jedoch an, blickte höhnisch nach dem innern Gemache zurück und ließ die Goldstücke eins nach dem andern vergnüglich in seine Tasche gleiten. „Dummkopf!“ knurrte er vor sich hin. „Er glaubt wohl, ich soll es nicht merken, daß er mich fortbringen will? daß er, wenn ich nur erst weg bin, zwischen den schlafenden Wächtern zu entwischen hofft? … Er denkt nicht, daß die Andern da vorn im Gang und auf der Stiege keine Maus durchlassen, und ein solcher Mensch ist so viele Jahre der Herr der Stadt gewesen? Ein solcher Hohlkopf hat über so Viele das Regiment gehabt, die allesammt klüger sind, als er? Hahaha, da ist es ja ein gutes Werk, ihn abzusetzen, und der darf wohl Wasser trinken, damit er lichte Augen bekommt!“
Damit eilte er der Stiege zu.
Der Stadtkämmerer lauschte einen Augenblick auf die verhallenden Tritte; dann erhob er sich geräuschlos, warf einen scharfen forschenden Blick auf die schlafenden Gesellen und stand im nächsten Momente vor dem Holzgetäfel, mit welchem die Wand verkleidet war. Tastend glitt seine Hand daran hin, dann ein leises Knarren, eine Tafel wendete sich nach innen und ließ einen dunklen Raum erkennen, groß genug, um einem sich bückenden Manne das Durchschlüpfen zu gestatten. Lyskirchner sah noch einmal in dem Gemache umher, dann trat er hinein und das Getäfel legte sich wieder lautlos und spurlos in seine Fugen.
Es währte nicht lange, bis der Weber wieder im Vorsaal erschien und behutsam wie zuvor zwischen den Wächtern durchschlüpfte. „Da bin ich schon wieder!“ rief er leise, „und Wasser habe ich, so frisch und klar, daß mich schier selber die Lust angewandelt, davon zu kosten… Nehmt und laßt …“
Er verstummte, denn jetzt erst gewahrte er, daß sein durstiger Gefangener entschwunden war, und in wildem Zorn stieß er den Krug auf den Tisch, daß er knackte und das Wasser überfloß. „Heiliges Blut von Neumarkt!“ knirschte er in sich hinein. „So hat er mich doch überlistet und hat den Dummkopf zurückgelassen, daß ich ihn selbst auf meine Achseln setzen kann! O, wir sind noch lang nicht klug genug, um es den Geschlechtern gleich zu thun; wir können’s nicht sein, weil wir nicht so schlecht sind, weil wir auf Treu und Glauben halten, selbst wo man einmal ein Auge zudrücken muß! Der Spitzbube, während ich drauf aus war, ein christlich Werk zu thun, hat er mich betrogen! Wo er nur durchgekommen sein mag! Durch die Thür ging’s nicht, der Boden muß ihn verschluckt haben oder er ist ein Hexenmeister und ist durch die Luft davon geritten! Was thu’ ich nun? Wenn sie sehen, daß er entwischt ist, daß der Kopf der Schlange davon ist, dem der Leib wieder nachwächst, dann geht’s an meinen eigenen Kragen … sie werden glauben, ich hab’ ihm durchgeholfen, und das verzeihen sie mir nie! … Ich muß machen, daß man ihn nicht vermißt, daß seine Flucht so lang als möglich verborgen bleibt… Ich will’s machen, wie die Andern; ich will auch thun, als wenn ich des Guten zu viel gethan und wär’ eingeduselt darüber … einen Krug über den Durst, das verzeihen sie mir noch am leichtesten … vorher aber gilt’s, meinen Goldvögeln ein sicher Nestlein zu bauen …“
Sorgfältig nahm er den Gürtel vom Leibe, trennte ihn von innen auf und schob die Münzen hinein; dann band er ihn wieder fest und kauerte sich ruhig neben die schnarchenden Wächter, den umgestürzten Weinkrug zur Seite …
Der Stadtkämmerer war indeß durch den wohlbekannten Gang, in welchen die geheime Thür mündete, unter der Erde fortgeeilt, im Winkel eines engen Gäßchens an der äußern Stadtmauer wandte derselbe sich wieder zu Tage. Eine Hornlaterne, die in einer Mauerblende für alle Fälle nebst Stein und Zunder bereitstand, hatte ihm zum Wegweiser gedient; jetzt verlöschte er selbe und stand lauschend hinter der Thür still, nichts regte sich und aufathmend trat er in die inzwischen vollends eingebrochene Nacht hinaus, seiner Behausung zuzueilen.
Schon von fern gewahrte er Licht in derselben; ein Erkerfenster war matt erleuchtet, eben hell genug, um den schwachen Umriß einer Gestalt erkennen zu lassen, die ängstlich in das Dunkel blickte und nach dem ferne heranbrausenden Stimmengewirr hinhorchte. Es war Margarethe, welche Schmerz, Sorge und Ungewißheit um das Schicksal des Großvaters nicht zur Ruhe gelangen ließen; nahm auch jede dahin zögernde Minute ein Stück von dem Gebäude ihrer Hoffnungen mit, so brachte jede neu kommende neue Erwartungen und Möglichkeiten, und nichts erschütterte die Zuversicht des Mädchens, daß sie den so sehr verehrten Ahn’ in sein Haus zurückkehren sehen werde. Trotz der Dunkelheit erblickte sie den sich heran Schleichenden sogleich, trotz des Mantels, in den er sich gehüllt hatte, erkannte sie ihn augenblicklich. Sie wollte ihm zuwinken, wollte laut aufschreien vor Freude und Ueberraschung, aber eine Geberde von ihm machte sie verstummen und erstarren, denn sie brachte ihr das ganze Bewußtsein der Gefahr, all’ das drohende Unheil zurück, von dem er umgeben war. Wie ein Schatten huschte sie aus der Stube, die Treppe hinab und schob behutsam den Thürriegel zurück, daß er nicht knarrte, athemlos, stumm vor Erregung faßte sie des Greises Hand, zog ihn hastig nach sich und ruhte nicht, bis sie ihn in die Stube geleitet hatte; als die Thür hinter ihm abgeschlossen war, warf sie sich in nicht mehr bezwingbarem Schluchzen an seine Brust.
„Großvater,“ rief sie, „ist es denn wahr? Bist Du wirklich wieder gekommen? Bist Du es denn, den ich in meinen Armen halte? Ja, ja, Du bist es … Du lebst, Du bist wohlbehalten! Denke Dir, drei Mal bin ich am Rathhause gewesen, habe gefleht und geweint, daß sie mich zu Dir lassen, daß sie mir gestatten sollen, Dein Gefängniß zu theilen, die Unbarmherzigen haben mich zurückgewiesen! Ich habe sie vor Gott verklagt in meinem Herzen und doch wich ein sicheres Ahnen, eine zuversichtliche Hoffnung nicht von mir … ich wußte, Du würdest wieder kommen, es müsse wenigstens Einer unter der Schaar sein, der nicht denkt wie die Andern und der Dich befreit …“
Der Stadtkämmerer hatte die Hand auf den Scheitel des sich innig anschmiegenden Mädchens gelegt und sah ihr mit unverkennbarem Wohlgefallen in die warmen überquellenden Augen; so viele Liebe that ihm wohl, und wie ein später Sonnenstrahl über den Abendhimmel eines Gewittertages flog ein Widerschein von Milde über seine strengen Züge. Es war wirklich nur ein Strahl, und bei den letzten Worten Margarethens verschwand er wieder in dunklen Gewölken des Unmuths. „Ich verstehe Dich nicht, Kind,“ sagte er, „mich hat Niemand befreit, mir selbst ist es gelungen, einen thörichten Wächter zu täuschen, aber lange wird meine Flucht nicht verborgen bleiben; in diesem Augenblick ist sie vielleicht schon entdeckt, sie werden mich suchen, und sicher auch hier nachforschen, darum muß ich in der nächsten Secunde aus ihrem Bereiche sein! …“
„Unmöglich, Großvater,“ rief Margarethe mit sorglicher Angst, „Dein Auge glüht, Deine Stirn brennt, Du bist angegriffen, erregt, Du mußt Dir Ruhe gönnen, mußt Dich stärken. … Ich will die alte Diemuth rufen …“
„Laß!“ entgegnete er gebieterisch. „Zu ruhen hab’ ich keine Zeit, Ruhe kenn’ ich nur am Ziele! Zur Stärkung wird ein Becher guten Weins reichen, den magst Du mir selber bringen … ich bin nicht angegriffen. Du täuschest Dich in meinem Aussehen, ich bin nur den Haaren nach ein Greis; für den Gang, den ich jetzt vorhabe, wird meine Kraft noch wohl ausreichen! …“
„Der Wein steht bereit … vom besten, Vater,“ rief das Mädchen, „hatt’ ich doch schon vorgesorgt, ihn Dir zu bringen, aber geh’ nicht wieder fort, Großvater; ich beschwöre Dich, wage Dich nicht wieder hinaus in die Gefahr! Du selber sagst, daß man nach Dir fahnden, daß man Dich ausspähen wird, verbirg Dich im Hause, bis der Aufruhr vorüber ist; bedenke, wie unglücklich der gestrige Versuch ausfiel … Du wagst Dein Leben zum zweiten Mal … es ist unmöglich, aus der Stadt zu entkommen, alle Thore und Ausgänge sind besetzt …“
Die Entdeckung der Nilquellen hat bekanntlich seit Jahrzehnten zu den Hauptaufgaben, besonders englischer Reisender gezählt, noch immer aber ist sie nicht vollständig gelöst. Zwar haben Speke und Grant in einem großen See, den sie Victoria-Nyanza getauft, die eigentliche Quelle des „Vaters der Ströme“ unserer östlichen Halbkugel zu erkennen geglaubt, ein neuerer kühner Reisender aber, Baker, aus dessen Forschungszügen die Gartenlaube in Nr. 31 und 32 in dem Artikel „Sclavenhandel am weißen Nil“ bereits ein interessantes Capitel mitgetheilt hat, ist auf einen weiter im Westen gelegenen zweiten großen See gestoßen, welcher für den Nil noch wichtiger ist, obwohl auch damit alle Quellen des Stromes noch nicht aufgefunden sind. Immer bleiben indeß Baker’s Entdeckungen von hoher Bedeutung für die Erdkunde und die Schilderung der von ihm im östlichen Nilbecken gefundenen wahrhaft paradiesischen Landschaften könnte fast Lust machen, einmal dort in Afrika seine Villeggiatur abzuhalten. Namentlich ist es ein Gebiet, das von Obbo, im Westen des Madi-Gebirges, welches selbst in diesen von der Natur so verschwenderisch ausgestatteten Gegenden, wenn auch weniger durch den Reiz seiner Scenerie, so doch durch seine unendliche Fruchtbarkeit Staunen erregt.
Zehn Monate, vom Februar bis Ende November, dauert hier die Regenzeit. Die viele Nässe erzeugt in dem üppigen Boden eine Vegetation, von der man in wörtlichem und in figürlichem Sinne sagen kann, daß sie der Bevölkerung über den Kopf wächst. Die Blättermasse der Wälder und auf den Blößungen die zehn Fuß hohen, mit Schlingpflanzen und Weinranken durchwachsenen Gräser sind für den Menschen geradezu undurchdringlich und bilden ungeheure Dickichte, bewohnt von Elephanten, Rhinocerossen und Büffeln, die durch die Wucht ihrer Körper sich eine Bahn brechen. Im Januar ist das Gras so trocken, daß es Feuer fängt, aber selbst in dieser Jahreszeit sind schon wieder Massen frischer Keime aus der Erde gedrungen. Man steckt die Prairien in Brand, man reinigt sie jedoch dadurch nicht vollständig, sondern verbrennt blos die dürren Pflanzen und schafft ein Gewirr halbverkohlter Stengel, die durch das Feuer so hart geworden sind, daß sie die Pferde verwunden. In den Ebenen von Obbo ist das Reisen auf den schmalen Fußpfaden, welche die Neger mühsam unterhalten, entsetzlich langweilig. Die hohen Gräser versperren jede Aussicht, und sind kurz vorher Elephantenheerden dagewesen und haben nach allen Richtungen hin Wege gebrochen, so verirrt man sich.
Baker ist ein Elephantenjäger und kennt sowohl den afrikanischen als den indischen Elephanten genau. Beide sind bedeutend von einander verschieden. Der Rücken des afrikanischen Elephanten ist eingebogen, der des indischen gewölbt. Das Ohr des afrikanischen Elephanten ist ungeheuer groß und bedeckt, wenn das Thier es zurücklegt, die ganze Schulter, während das Ohr des indischen Elephanten verhältnißmäßig klein ist. Der afrikanische Elephant hat eine hervortretende Stirn, während die des indischen oberhalb des Rüssels eine Fläche bildet. Der afrikanische Elephant ist durchschnittlich höher, als der indische, obgleich man auf Ceylon zuweilen Kolosse findet, die den afrikanischen nichts nachgeben. Weibliche Elephanten maßen auf Ceylon bis zur Schulter gewöhnlich sieben Fuß zehn Zoll, männliche neun Fuß; bei den afrikanischen Elephanten ist die gewöhnliche Höhe des weiblichen Thieres neun Fuß, die des männlichen Thieres zehn Fuß sechs Zoll. Die afrikanischen Weibchen sind mithin so groß, wie die Männchen auf Ceylon.
Auch in ihren Gewohnheiten weichen sie wesentlich von einander ab. Auf Ceylon sucht der Elephant beim Aufgang der Sonne den dichtesten Schatten der Wälder und ruht dort bis etwa fünf Uhr Nachmittags, worauf er in die Ebene hinauswandert. In Afrika, wo das Land im Allgemeinen offener ist, bleibt der Elephant den ganzen Tag an einem Orte, entweder unter einem einzeln stehenden Baume, oder im hohen Grase. Seine gewöhnliche Nahrung besteht in den Blättern von Bäumen, namentlich von Mimosen. Auf Ceylon ist der Elephant, obgleich es dort Bäume genug giebt, von denen er sich nährt, hauptsächlich ein Grasfresser. Um sich seine Nahrung zu verschaffen, muß der afrikanische Elephant von seinen Zähnen einen starken Gebrauch machen. Die meisten Mimosen haben eine flache Krone und ihr reichstes Blätterwerk beginnt erst in einer Höhe von dreißig Fuß. So hoch reicht der Elephant mit seinem Rüssel nicht und muß daher den Baum umstürzen, wenn er sich zu seiner Lieblingsnahrung verhelfen will. „Die Zerstörung“ sagt Baker, „welche eine afrikanische Elephantenheerde in einem Mimosenwalde anrichtet, ist ungeheuer. Ich habe entwurzelte Bäume von einer Größe gesehen, die es als unmöglich erscheinen ließ, daß ein einziger Elephant sie hätte entwurzeln können. Einzelne Bäume, die ich maß, hatten vier und einen halben Fuß im Umfange und eine Höhe von dreißig Fuß. Die Eingeborenen versicherten mich, daß die Elephanten einander helfen und mehrere zusammen einen Baum ausroden. Da die Mimosen keine Pfahlwurzel haben, so begreift es sich, daß Elephanten, die ihre mächtigen Zähne gleich Hebeln gegen die Seitenwurzeln benutzen, während andere an den niedrigsten Zweigen ziehen, einen Baum umzuwerfen vermögen, der wegen seiner Größe unverwundbar zu sein schien. Der Elephant von Ceylon bewältigt höchstens Bäume, die den Umfang eines gewöhnlichen Mannes haben.“
In Ceylon sieht man selten alte Männchen in größerer Menge bei einander; sie weiden einzeln oder paarweise. In Afrika trifft man große Elephantenheerden, die ausschließlich aus Männchen bestehen. Baker sah oft sechszehn bis zwanzig männliche Thiere zusammen, die eine Masse von Elfenbein trugen, durch welche ein Elephantenjäger in die höchste Aufregung versetzt werden mußte. Die Weibchen weiden in Afrika gemeinschaftlich in Heerden von vielen Hunderten, während man in Ceylon selten mehr als zehn zusammen sieht.
Der Elephant ist das furchtbarste aller Thiere und der afrikanische ist noch gefährlicher, als der ostindische, da er sich durch einen Schuß vorn auf die Stirn fast gar nicht tödten läßt. Der Kopf ist so eigenthümlich gebildet, daß die Kugel entweder über das Gehirn weggeht, oder in den ungemein festen Knochen und Knorpeln stecken bleibt, welche die Wurzeln der Zähne tragen. Baker hat mindestens hundert Zähne gemessen und immer gefunden, daß sie vierundzwanzig Zoll tief im Schädel saßen. Ein großer Zahn, der in der Länge sieben Fuß acht Zoll maß und zweiundzwanzig Zoll Umfang hatte, war einunddreißig Zoll tief in den Kopf eingebettet. Baker verletzte nur einmal einen Elephanten, einen weiblichen, durch keinen Schuß vorn vor die Stirn und hatte doch eine Büchse im Gebrauch, deren Kugel durch sieben Drachmen Pulver eine ungeheure Schlagkraft erhielt. In Reserve hatte er ein Gewehr, das seine Araber Dschenna el Mutsach, Kind der Kanone, nannten. Es schoß eine halbpfündige Kugel und der Rückprall der Entladung war ein so heftiger, daß der Schütze um und um gewirbelt wurde, wie eine Wetterfahne im Ocean. Baker giebt die Adresse des Büchsenmachers (Holland, London, Bondstreet), aber er bemerkt, daß das Kind der Kanone besser für Goliath von Gath passe, als für Menschen im Jahre des Herrn 1866.
Einem Schuß in die Schläfe oder hinter das Ohr erliegt der afrikanische Elephant wie der ostindische sofort, vorausgesetzt, daß der Jäger bis auf zehn oder zwölf Schritte herankommen kann. In den Urwäldern von Ceylon ist ein Anschleichen leicht, in den offeneren Gegenden Afrika’s läßt der Elephant sich selten auf mehr als fünfzig Schritte nahe kommen, und greift er dann den Jäger an, so kann dieser sich schwer retten. In einem eigentlichen Dickicht traf Baker nur einmal auf Elephanten und schoß bei dieser Gelegenheit fünf Stück.
Die Eingeborenen von Centralafrika jagen den Elephanten gewöhnlich blos des Fleisches wegen. Ehe die Araber auf dem Weißen Nil zu handeln begannen und ehe die von Mehemed Ali Pascha veranstaltete Expedition am obern Nil bis zum fünften Breitengrade vordrang, wurden die Zähne als werthlos, als bloße Knochen behandelt. Das Erlegen eines Elephanten ist für dies Schwarzen eine wichtige Angelegenheit, das er nicht blos für viele Menschen Fleisch, sondern auch ein Fett liefert, nach dem sie höchst begierig sind. Es giebt verschiedene Methoden, die Thiere zu tödten. Fallgruben sind sehr gebräuchlich, aber die schlauen alten Männchen fängt man selten auf diese Art. Man legt die Grube in der Nähe einer Tränke an, versperrt dem Elephanten seinen gewohnten Weg durch gefällte Bäume oder zieht auch wohl einen tiefen offenen Graben und leitet die Thiere so zu der Grube hin. Man macht diese in der Regel zwölf Fuß lang, drei Fuß breit [564] und neun Fuß tief und läßt sie nach unten zu immer schmaler werden, so daß sie zuletzt blos noch einen Fuß breit bleiben. Durch Reisig und Heu wird die Oeffnung verdeckt. Fällt ein Elephant in der Nacht durch diese trügerische Decke hindurch, so werden seine Füße in dem engen untersten Theil eingeklemmt und er arbeitet, bis an die Schultern eingesunken, vergebens daran, sich frei zu machen. Ist ein Elephant gefangen, so ergreift die ganze Heerde in panischem Schrecken die Flucht und noch mehrere Thiere fallen in die Gruben, die in der Nähe zahlreich angebracht sind. In den Gruben sind die Elephanten so hülflos, daß man sie leicht mit Lanzen tödtet.
Die große Jagdzeit ist im Januar, wenn das hohe Gras der Prairien zu Heu ausgedörrt ist. Entdeckt man in dieser Zeit eine große Heerde, so sammeln sich die Eingeborenen in einer Zahl von vielleicht tausend Köpfen, umzingeln die Elephanten in ziemlich weiter Entfernung und stecken auf ein gegebenes Zeichen das Gras in Brand. Binnen wenigen Minuten sind die arglosen Thiere in einen Feuerkreis eingeschlossen, der ihnen näher und näher rückt. Die Menschen folgen den Flammen, die zwanzig und dreißig Fuß in die Höhe schlagen. Die Elephanten, von Rauch und Feuer geschreckt, versuchen zuletzt zu entfliehen. Wohin sie auch stürzen, überall begegnen sie einer undurchdringlichen Schranke von erstickendem Qualm und sengendem Feuer. Inzwischen wird der verhängnißvolle Kreis enger. Büffel und Antilopen drängen sich unter die Elephanten und über alle diese Thiere schlagen die wüthenden Flammen hinweg. Die halbverbrannten, vom Feuer geblendeten, vom Rauch erstickten Elephanten werden jetzt von dem wilden Haufen der Jäger angegriffen und fallen unter zahllosen Speeren. Diese Jagdart richtet alles Wild zu Grunde und macht namentlich die Antilopen so selten, daß man auf einer ganzen Tagereise in der offenen Prairie selten ein Dutzend sieht.
Nicht so verwüstend ist die folgende Jagdart. Etwa hundert Schwarze klettern in der Nähe einer Stelle, wo man Elephanten gesehen hat, auf Bäume. Sie führen schwere Lanzen mit Klingen von achtzehn Zoll Länge und drei Zoll Breite. Die Elephanten werden nun den Bäumen zugetrieben, auf denen die Jäger sich befinden, und jedem, der nahe genug kommt, wird eine Lanze zwischen die Schultern geworfen. Die Lanze macht eine furchtbare Wunde und der Elephant stürzt bald, von Blutverlust erschöpft, zusammen.
Die centralafrikanischen Elephanten haben weit größere Zähne als die abyssinischen. Baker schoß im Baseh-Gebiet an der Grenze von Abyssinien eine beträchtliche Anzahl Elephanten und erhielt nie einen Zahn, der mehr als dreißig Pfund wog. In der Nähe des Weißen Nils sind fünfzig Pfund das durchschnittliche Gewicht des Zahns eines männlichen Elephanten und die Zähne der Weibchen wiegen jeder mindestens zehn Pfund. Baker sah Riesenzähne von einhundertsechszig Pfund, ja ein französischer Händler besaß sogar einen Zahn, der einhundertzweiundsiebzig Pfund wog. Selten sind ein Paar Zähne einander gleich. Wie der Mensch die rechte Hand mehr braucht als die linke, so arbeitet der Elephant vorzugsweise mit einem Zahn, den die Händler el Hadam (den Diener) nennen. Dieser Zahn wird natürlich mehr abgenutzt als der andere und wiegt gewöhnlich zehn Pfund weniger.
Da die Elfenbeinhändler, die ihre Jagden von Jahr zu Jahr weiter ausdehnen, alle zugleich Sclavenhändler sind, so würde am obern Weißen Nil derselbe scheußliche Zustand eintreten, wie weiter unten, wenn die Schwarzen sich nicht besser zu schützen wüßten. In der Nähe der Grenze haben sie ihre Dörfer in den Ebenen verlassen und sich in die Berge zurückgezogen. An manchem Tage versammelten sie sich am Rande ihrer senkrechten Klippen, wenn Baker vorüberzog, und blickten auf die Fremden nieder, wie die Besatzung einer Festung von den Wällen auf einen vorbeimarschirenden Feind niederblickt. In den weiten Ebenen des Ellyriagebiets schützen sich die Schwarzen durch die Befestigung ihrer Dörfer. Man baut ein Pfahlwerk von „Basaursen“, die ein eisenhartes Holz haben, und umgiebt dasselbe mit lebendigen Dornsträuchern, welche zwanzig Fuß hoch werden. An dem Eingang zum Dorfe errichtet man eine Art von bedecktem Weg, der sich leicht vertheidigen läßt.
Das ganze große Gebiet der Nilquellen liefert in die Wirthschaft des menschlichen Geschlechts nichts als Elfenbein und vielleicht einige Löwen- und Leopardenfelle. In einer gewissen Höhe über dem Meere selbst für Weiße bewohnbar, könnte es am Welthandel einen nicht unbedeutenden Antheil nehmen. Mehrere der wichtigsten Pflanzen, von denen die sogenannten Colonialwaaren herrühren, gedeihen in diesen von Fruchtbarkeit strotzenden Ländern wild. Der Tabak erreicht bei einiger Pflege eine außerordentliche Höhe und liefert ein sehr gutes Blatt. Baker rauchte in Centralafrika viel, weil er darin ein Vorbeugungsmittel gegen das Fieber sah, und lobt den Geruch und Geschmack des Tabaks. In den Wäldern wächst der Kaffeebaum wild; großes Zuckerrohr sah Baker auf vielen Feldern. Auch eine wilde Flachsart kommt vor, doch ziehen die Eingeborenen für ihre rohen Gewebe die Faser einer Aloe-Art vor. Die Erdnüsse, die der Einführung der Cultur in Westafrika bereits einige Dienste geleistet, die Schwarzen an eine freiwillige leichte Arbeit gewöhnt und ihren Wohlstand gehoben haben, wachsen in den centralafrikanischen Wäldern in Ueberfülle. Kurz, die natürlichen Vorbedingungen eines besseren Zustandes sind im Lande selbst vorhanden. Um was es sich zunächst handelt, ist die Nöthigung der portugiesischen und ägyptischen Regierung, dem Sclavenhandel zu entsagen. Dann ist der zweite Schritt ermöglicht; der erste, d. h. die Erkundung des Landes durch Reisende, ist ja geschehen. Dem gewöhnlichen Laufe der Dinge nach haben diesen Kundschaftern Missionäre und weiße Händler zu folgen, deren Stationen die ersten Haltpunkte beginnender Civilisation bilden werden. Deutschland hat Reisende und Missionäre genug nach Afrika geschickt. Hoffentlich betheiligt es sich auch bei den wichtigeren ferneren Arbeiten, aber unter eigener, nicht unter englischer Fahne.
Wir nahen uns dem Alexisbad. Das Brunnenhaus, die gepflegten Baumgänge und – das Badenegligé verkünden uns die Nähe eines fashionabelen Badeortes. Alexisbad, anmuthig in dem etwas erweiterten Thal gelegen, aus einer Gruppe stattlicher Häuser bestehend, gehört zu den reichhaltigsten Eisenquellen; dennoch hat es seine Glanzzeit hinter sich. Auch die Bäder haben ihre Schicksale und stehen unter der Herrschaft der Mode. Der Eisensäuerling des Alexisbrunnens ist noch derselbe geblieben; aber die Neigungen der beau-monde sind wandelbar. Eine Eisencur ist für die schwachen Nerven dieses Geschlechts immer ersprießlich – ist sie doch jüngst an deutscher Politik in großem Maßstab gemacht worden! Die Anlagen um Alexisbad sind freundlich, von dem Victorskreuz aus, zu dem wir emporklettern, sieht man die Häusergruppe im Thalgrund malerisch im Rahmen der Berge. Die Sonne schenkte uns dazu den „Silberblick“, den wir in der weiter hinauf gelegenen Silberhütte aufzusuchen verschmähten. Denn wir wollten uns nicht in jene Giftwolken der Schwefel-, Blei- und Arsenikdämpfe begeben, welche ringsum selbst das frische Leben der Natur verkümmern und bis in den Boden hinein das Wachsthum der Pflanzenwelt zerstören, nicht die bleichen Gesichter der Arbeiter mitansehen, welche oft von der „Hüttenkotze“ ganz darniedergeworfen werden. Mit Recht hat die Volkssage die unheimlichen Gnomen und Kobolde zu Wächtern der metallischen Schätze gemacht; denn ihre Geburtsstätte ist nächtig und Giftwolken umschweben die Stätten, wo sie für den Gebrauch der Menschen gelöst und geschmolzen werden.
Gastlicher sind die Eisenhütten, durch die wir in Mägdesprung die Runde machten. Das Eisen, das wir ja auch im Blute brauchen, ist uns vertrauter, als die glänzenden Metalle, welche von jeher unsere Phantasie geblendet haben. Eine andere Verwandtschaft des Eisens mit dem Blute zeigt uns die Blut- und Eisenpolitik. Sonst hat sich das Eisen am geschmeidigsten
[565][566] dem Dienst der menschlichen Friedensarbeit gefügt. Ein solcher Complex großer Eisenhüttenwerke hat etwas Imposantes; die Natur mit Wasser und Dampf hilft den Menschen und treibt ihre Hämmer und Räder. Der Hochofen in Mägdesprung war im Bau begriffen, wir konnten daher diesen unersättlichen Moloch, der oft in dreijährigen „Campagnen“ gefüttert wird, nicht in seiner verschlingenden Thätigkeit bewundern. Weiter in’s Thal hinab liegt der „Puddelofen“, in welchem das Roheisen verkohlt und in Stabeisen verwandelt wird.
Unsern auf Selbstanschauung beruhenden Cursus begannen wir mit dem Eisenhammer, wo das dickköpfige Ungethüm, getrieben von der brausenden Fluth, uns mit einer prasselnden Funkensaat überstreute, während es das Stabeisen zurecht hämmerte für den Handel und zu Stäben ausreckte. Draußen vor den Thüren des Hammers standen ganze „Stabbündel“ fertig für die Versendung. Vor den Hütten des Dorfes selbst lagen in großen Haufen die verschiedenen Eisenerze aufgeschüttet, mit denen die Hochöfen gespeist werden: Eisenglanz, Brauneisenstein, Raseneisenstein, Bohrerze u. a. Es war interessant, die Freigebigkeit zu beobachten, mit der die Natur ihre Metalladern in das verschiedenste Gestein hineinarbeitet. In der Gießerei sahen wir die Sandkasten, in welchen die Metalle gebettet liegen unter dem magern Sande. Ist der Formkasten gestampft voll, so werden Verbindungscanäle für das Metall gemacht, das Modell wird vorsichtig ausgehoben und der Metallguß kann beginnen. Das Metall selbst wird in den Cupolöfen geschmolzen. Alle diese Arbeiter bei den Hochöfen, Puddelöfen, Cupolöfen müssen feuerfest sein, denn sie befinden sich in einer tropischen Temperatur. Der feinere Kunstguß wird in Mägdesprung übrigens auch mit großer Vollendung getrieben. Noch steht in der Modellkammer das prächtige Modell einer Hirschgruppe, die in Eisenguß ausgeführt worden ist. Die Schmiede ist ebenfalls ein großartiges Etablissement, ebenso das „Carlswerk“, wo die vom Wasser- oder Dampfrad getriebenen zahllosen, über unseren Köpfen kreisenden Räder und Räderchen und die verschiedenen Walz- und Schmiedewerke anfangs einen schwindelerregenden Eindruck machen. Das arme Eisen wird gehörig hin- und hergefoltert, muß die Rinnen der gußeisernen Walzen eine nach der andern passiren, oder sich von den erhöhten und vertieften Reifen zweier Walzen grausam schneiden lassen, bis es die gewünschte Form erhält und das Gepräge des menschlichen Willens trägt. Aus all’ diesem Hämmern, Rollen, Schnurren, Schleifen sehnt man sich zuletzt hinaus in die freie Natur, nachdem man das deutsche Volk bei seiner Arbeit aufgesucht. Leider isolirt der Fortschritt der Industrie die Arbeit immer mehr in geisttödtender Weise. Der Einzelne greift selbst nur wie ein mechanisches Rad ein in das Getriebe des Ganzen, indem er sich fortwährend im Kreise dreht, wie des Müllers Gaul. Geht es doch heutigen Tages kaum anders in den Hüttenwerken der Wissenschaft, wo auch der freie Ueberblick über das Ganze mehr und mehr verloren geht, der Eine das Roheisen der Kenntnisse für den Hochofen zusammenträgt, der Andere dialektischen Draht zieht, der Dritte in seine geistigen Sandkasten immer dieselben schematischen Modelle legt und Keiner sich um den Andern und um das Ganze kümmert.
Mitten in diesen Eisenhütten liegt ein bescheidenes Landhaus, welches den Ansprüchen eines stolzen Fabrikherrn kaum genügen würde. In der That ist es auch nicht das Absteigequartier eines in Gold gefaßten Industriellen, sondern nur die Wohnung des Herzogs von Anhalt, der hier mitten unter seinem fleißigen Völkchen die Sommerfrische des Selkethals athmet. Einer seiner Ahnherren, der 1796 verstorbene Fürst Friedrich Albert, hat diese Eisenwerke gegründet, und ihm zu Ehren wurde der über achtundfünfzig Fuß hohe Obelisk aus Gußeisen errichtet, der sich so stattlich, das Thal beherrschend, auf einer Erhöhung neben dem Wege nach Ballenstedt erhebt.
Wir schlagen diesen Weg ein, der uns dicht an den Trümmern der alten Heinrichsburg vorbei führt. Wenn die Geister der alten Ritter bisweilen im Dämmer noch über die Felsenpfade irren, so werden sie erstaunen über den lauten Lärm im Thale, über die ragenden Schlote, die kreisenden Dampfräder, über die Ehrensäule, die einem Friedensfürsten errichtet ist, und wenn sie in der ewigen Langweile ihrer feudalen Unsterblichkeit Auskunft suchen in Wagener’s „Staatslexikon“, auf das ein echter Ritter auch im Jenseits abonnirt ist, so werden sie die moderne Industrie verwünschen und gegen all’ ihre Stätten die Faust ballen. Hier oben im alten Gestein glotzen uns zur Nachtzeit noch die Augen des Uhu entgegen, des romantischen Räubervogels, der bessere Tage gesehen hat; unten im Thal aber ruft aus frischem Laubholz der Kukuk, der Vogel der modernen Industrie, der das Geld in der Tasche zählt.
Herrlich und parkartig ist der Laubwald, durch den wir der Försterei Sternhaus zuschreiten. Die Forsten im Harz sind berühmt wegen trefflicher Pflege; In der That merkt man hier überall die menschliche Hand. Ein großer Theil der Umzäunungen um Wald und Wiesen ist des Wildstandes wegen da und verwandelt alle diese Wälder in große Thiergärten. Einzelne Umhegungen gelten indeß auch den jungen Waldculturen, von denen es verschiedene Arten giebt. Die eigentlichen Kleinkinderbewahranstalten sind die „Saatkämpen“. Hier wiegen die jungen, aus dem Samen schießenden Waldbäumchen die hellgrünen Büschel im Winde und suchen sich nach Kräften von dem dazwischen wuchernden Unkraut zu unterscheiden. Die Elementarschulen sind die „Haine“, wohin die Stämmchen aus den „Kämpen“ verpflanzt werden; hier wachsen sie heran bis zu den Jahren ihrer akademischen Verwilderung, wo sie als „Dickung“ sich behaglich und ungeschoren einer neben den andern hinflegeln, sich in wirrem Durcheinander „touchiren“ und „pauken“ und mit den Thieren des Waldes in traulichstem Verkehr leben.
Hier begegnet man oft lauschigen Rehen, schlanken Hirschen, welche ziemlich stolz und unbekümmert ihres Weges ziehen; aber auch den armen Harzbewohnerinnen, die in Körben auf dem Rücken das dürre Holz tragen, welches der Schein des Försters ihnen verstattet sich anzueignen. Nicht alle Gesichter sind frisch geröthet von Berg- und Waldluft; in vielen prägt sich auch das Elend der Armuth aus.
Hinab von den Waldeshöhen, den Blick auf die blaue Ebene gewendet, geht’s nun nach dem Stubenberg bei Gernrode, einem reizenden Vorhügel des Niederharzes, von wo aus man eine jener Aussichten hat, welche man den großen Panoramen der Gebirgsspitzen vorzuziehen geneigt ist. Hier ist uns Alles traulich näher gerückt, Berg und Wald, Städte und Dörfer heben sich in lebendigem Colorit, in sichern Umrissen von einander ab. Trotz des Strichregens, der uns verhinderte, die beiden goldenschimmernden Knöpfe am Kirchthurm von Gernrode in ihrer sonnenhellen Glorie zu sehen, war das Landschaftsbild von großer Lieblichkeit. Zu unsern Füßen lag das Städtchen, das sich von oben gesehen gewiß am besten ausnimmt, weiterhin Suderode, die bevölkertste Fremdenstation am Unterharz, die fruchtbare Ebene, wo hinter Saatfeldern die Thurmspitzen hervorblickten. Ein Waldthal zur Linken, das sich weithin den Blicken öffnet, erinnerte uns, daß wir uns am Fuße eines gefeierten Waldgebirges befanden. Das Gasthaus auf dem Stubenberge hat einen vornehmen, villaartigen Charakter. Im Gastzimmer occupirte Berlin die besten Plätze; alle Gespräche drehten sich um Landwehr und Cholera. Von unten tönten die rollenden Kugeln der Kegelbahn und die rasch sich wiederholenden Rufe: „Alle neun!“ zu uns herauf. Man merkte, daß es preußische Kugeln waren, denen jüngst so mancher kühne Wurf gelang; doch die conservativen Kegeljungen setzten den gefallenen König mit all’ den Seinen immer wieder auf.
Suderode ist ein Soolbad, ganze Heringstonnen von Berlinern und Magdeburgern werden hier alljährlich eingesalzen; denn die Zeiten sind theuer und Suderode ist billig. Allenfalls kann hier auch ein Supernumerarius existiren; doch die fünfte Rathsclasse überwiegt. Trotz des strömenden Regens war die Straße, wo sich die Haupthotels befinden, übervölkert; Schönheit und Intelligenz wandelten unter den triefenden Regenschirmen einher; auf einem Caroussel aber übte sich das junge Berlin im Ringelstechen und saß so siegesmuthig auf den hölzernen Pferden, als bliesen die Trompeter zu einer Cavalerie-Attake!
Wieder in Thale angekommen, trafen wir Adolph Stahr und Fanny Lewald. Stahr sah leidend aus; es scheint, seine römischen Studien bekommen ihm nicht. Möchte es der geistreiche Kritiker, dessen edle Begeisterung, dessen gründliche Kenntnisse wir hochschätzen, doch aufgeben, die Mohren und die Mohrinnen der Weltgeschichte weiß zu waschen! Ob Fanny Lewald einen neuen Roman schreibt, oder in ihren praktischen Bestrebungen für die künstlerische Bildung der Handwerker und für weibliche Gesindehäuser aufgeht, ist fraglich. Spät Abends saßen wir in Zehnpfund’s Hotel noch mit Titus Ulrich zusammen und [567] wir dachten der alten Zeiten und der alten Schweiz, jenes „Berliner Rütli“, der Geburtsstätte des „Kladderadatsch“, und aller Wildheiten einer emancipirten Jugend. Auch vom Theater sprachen wir und von der Abneigung des Berliner Publicums gegen Trauerspiele und von dem lyrischen Talent, ohne das sich kein echter Dichter, auch kein dramatischer denken lasse, und von der deutschen Bühne, die jetzt so ganz dem „Hexentanzplatz“ gleiche, der im Mondschein von den Granitbergen des Bodethals herüberblickte.
Correspondenten-Langeweile. Mit dem Glockenschlage Zwölf des 24. Juli war unter dem Donner der Geschütze die Waffenruhe eingetreten, welche für die preußischen Vorposten den Rußbach als Grenze festsetzte, der sich um das Marchfeld herum zur Donau hinabwindet. Gerade bei Deutsch-Wagram, wo er 1809 den Mittelpunkt der blutigen, im Angesicht von Wien geschlagenen Schlacht bildete, war es von Interesse, dem historischen Bache unter jetzigen Umständen einen Besuch abzustatten. Häslein, Kaninchen, Frettchen und große Völker Rebhühner beherrschten weithin das einsam liegende Feld, hüpften dreist uns über den Weg, machten Männchen und guckten aus zahllosen Erdlöchern unverwandt uns an, als wollten sie sagen, hier sei neutraler Boden, auf dem der Mensch jetzt nichts zu sagen habe – für den Jäger, denke ich mir, müßte diese Stelle ein Eldorado gewesen sein; sonst erschienen Wald und Flur öde, das aufgemandelte Korn wartete vergeblich darauf, eingefahren zu werden, denn die Menschen waren verschwunden. Einsam lagen die stattlichen Gutshöfe an der Straße da, kein belebender Zug rollte auf dem stillen Eisenbahndamm entlang, man mußte wieder und immer wieder zum Stephansdom hinüberblicken, um sich zu überzeugen, man befinde sich dicht vor der Hauptstadt des Kaiserreiches.
In Deutsch-Wagram selbst vermochte die Anwesenheit zahlreichen Militärs den Eindruck der Oede nicht zu tilgen, welchen die verlassenen Häuser des Ortes machten; kein Vieh blökte aus den offenen Ställen und nur ein dreirädriger Wagen lag melancholisch halb umgestürzt auf dem Düngerhaufen eines Gehöftes. Aus dem Fenster des Wirthshauses, welches rechts an der Straße stand und in dem es lebhaft herging, lugte eine gelangweilte militärische Gestalt in braungrauer Joppe heraus, der unsere Ankunft eine willkommene Abwechselung war, da sie Gelegenheit zu einem Gespräche bot.
„Was machen Sie hier?“
„Wir sind Correspondenten, ich für diese, jener Herr für die und die Zeitung.“
„Na, was schreiben Sie da?“
„Daß es hier ebenso langweilig aussieht, wie anderswo.“
Auf diese etwas kurze Antwort erfolgte eine Entpuppung des Fragers in Hauptmann und Batteriechef von der xten Batterie des xten Regiments. Kamen Entschuldigungen ob der besagten Antwort, welche beinah gelautet hätten, daß man an der Frage nicht merken konnte, ob der Frager ein Hauptmann sei.
„Wissen Sie, schreiben Sie doch, daß hier die und die Batterie liegt; meine Frau liest Ihre Zeitung.“
Natürlich folgte Versicherung prompter Ausführung des wichtigen Auftrages, wobei man im Stillen dachte, noch einige solche müßten den Brief recht interessant machen. Drin gab’s etwas zu essen, also ging es hinein. Eine Anzahl Ulanen- und Infanterie-Officiere hatten die große Tafel besetzt, uns blieb nur ein bescheidenes Eckchen im Zuge. Man betrachtet uns aufmerksam; endlich tritt ein Major heran und fragt, was wir hier machten. „Correspondenten aus dem Hauptquartier.“ Genügt nicht; die Legitimationen müssen heraus, werden gelesen und dann sitzen wir unbeachtet da. Nach einiger Zeit öffnet sich die Thür und eine Anzahl Aerzte tritt herein, unter denen zu meiner Freude etliche Schul- und Universitätsfreunde sind. Wir haben doch nun auch unsere Unterhaltung und es wird eine gemeinsame Besteigung des Kirchthurms beschlossen, um das nahe Wien in Augenschein zu nehmen. Es präsentirt sich recht stattlich und ein schon dort Gewesener spielt den vollkommenen Cicerone; selbst von den Floridsdorfer Schanzen ist mit einem guten Krimstecher Einiges zu erkennen. Wie weiland der Fuchs müssen wir uns aber mit dem Anblick der Trauben begnügen, ohne sie erreichen zu können.
Die Kirche hat sich inzwischen mit Truppen dicht gefüllt, welche die Feier des Abendmahles daselbst begehen wollen, denn heut ist der 1. August und morgen können schon wieder ernste Kämpfe entbrannt sein, wenn der Waffenstillstand nicht verlängert wird. Bald erschallen die Klänge eines Chorales aus den geöffneten Thüren und tiefe Andacht ruht auf den wettergebräunten Gesichtern der Soldaten, deren Uniformen, Waffen und Lederzeug dem Tage zu Ehren möglichst blank und sauber gemacht sind. Knieend empfangen die Hunderte, andächtig wie wohl selten in der Heimath, die Absolution und reihen sich dann zum Gange an den Tisch des Herrn. Draußen wird währenddem Pferdegetrappel laut und von allen Seiten ziehen rothe Husaren und gelbe Ulanen in größeren und kleineren Abtheilungen heran. Vor der Kirche sitzen die Reiter ab, die Pferde werden im Kreise zusammengestellt, in dessen Mitte die Zügel in den Händen einiger Mannschaften zusammenlaufen, fromm und geduldig stehen die Gäule, als wüßten sie, was für eine ernste Feier da drinnen begangen würde, und sobald die Theilnehmer an dem ersten Gottesdienste die Kirche verlassen haben, füllen die Ankömmlinge von Neuem die Sitze. Ebenso schweigsam, wie sie gekommen, verlassen die Abtheilungen wieder das Dorf und verschwinden bald in Wald und Busch, wohindurch sie der Weg zu ihren Stellungen führt, aus denen sie vielleicht morgen unter dem Feuer des Feindes hervorbrechen sollen.
Ein wenig die stille Dorfstraße aufwärts erreichen wir den Rußbach, die Grenze der preußischen Macht. Eine einsame Scheune links an der einsamen Straße dient für die Feldwache als Wachtstube; die Lanzen sind draußen an die Wand gelehnt, einige Mannschaften haben es sich so bequem gemacht, wie es auf Stroh geht, andere rüsten sich zum Abreiten auf Patrouille. An dem gegenüberliegenden Gartenzaun sitzen der commandirende Lieutenant und ein Rittmeister und vertreiben sich auf irgend eine Weise die Zeit; zu meinem Nutzen treffe ich auch hier in dem Lieutenant einen Schulfreund, der mir einige Mußeviertelstunden opfern kann, da er deren sehr viele hat. Wir überschreiten den eigentlichen Rußbach, der noch von künstlichen Seitengräben für die Frühjahrswasser umgeben ist, und befinden uns an einer kleinen Holzbrücke, jenseit deren das Gebiet der Oesterreicher beginnt. Zwei Ulanen zu Pferde bewachen mit gespannten Pistolenhähnen den Eingang, drüben zieht sich die von keinem Wesen belebte Straße nach Wien. Husaren- und Ulanenpatrouillen gehen und kommen am Rande des Grabens entlang und ziehen sich wie eine Kette hin, bis das Gebüsch deren fernere Glieder dem Auge verdeckt; ihre Meldung lautet stets: „Nichts Neues.“ Endlich zeigen sich auf der Straße eine Anzahl Schnitter und Schnitterinnen, welche näher kommen, um zu passiren; sie sind von Troppau und haben in der Nähe zur Erntezeit gearbeitet. Fragen aller Art werden an sie gestellt, welche sie nicht beantworten können oder wollen, darauf ihre Papiere gefordert und zum Commandirenden geschickt, der selbst erscheint, um die Leute zu besichtigen. Dann beginnt ein Verhör über ihre Reiseroute, ein Disputiren darüber, daß sie zweckmäßiger einen andern Weg einschlügen, weil jeder Commandeur sich Sachen, die irgendwelche nachtheilige Folgen haben könnten, gern vom Halse schafft, endlich darf die Schaar nach nochmaliger genauer Zählung passiren und hierauf ist’s so still wie zuvor und die Meldungen bringen „Nichts Neues“.
So geht es auf Vorposten während einer Waffenruhe zu. Das Leben daselbst hat viel Aehnlichkeit mit der Langenweile des Antichambrirens, wo die Minuten endlos langsam dahinschleichen.
Eine Finsterwalder Ausstattung. Nach der Schlacht von Königgrätz holten die Finsterwalder aus dem sechs Meilen entfernten Herzberg sich fünfzig verwundete Krieger, um ihnen zum größten Theil die so wohlthätige Familienpflege angedeihen zu lassen. Zu dem Bürger und Schönfärber S. kam ein Grenadier vom Kaiser-Franz-Regiment, der am Arm verwundet war. Wie ein Glied des Hauses gehalten, ging der Mann rasch seiner Wiederherstellung entgegen, denn die immer freundliche, liebevolle Umgebung förderte sichtlich die Heilung. Man hatte vielleicht absichtlich nach seinen sonstigen Lebensverhältnissen bisher nicht gefragt. Da kommt ein Brief, der erste aus der Heimath, von den Seinen, an ihn an. Die Freude ist groß, aber der Inhalt des Briefes schlägt sie sofort nieder und versetzt den Verwundeten in die tiefste Traurigkeit. Man forscht theilnehmend und erfährt nun Alles. Der Soldat ist ein armer, verheiratheter Tagelöhner und der Brief von seiner Frau, die in äußerster Bedrängniß ihrer Entbindung entgegensieht. Es fehlt an Allem, trotz des unverdrossensten Fleißes war der Verdienst in der schlechten Zeit so gering, daß das arme Weib nicht einmal die nöthigste Wäsche und das Bettchen für das zu erwartende Kind erschwingen konnte. – In aller Stille machte sich hierauf Frau S. zu einigen ihrer Freundinnen auf, erzählte ihnen von dem armen Landwehrmann, und bald hatte sie mit ihnen eine recht reichliche Ausstattung für den künftigen Weltbürger besorgt und auch noch eine kleine Geldunterstützung zusammengebracht. Als Alles zum Einpacken bereit auf dem Tische in einem oberen Stübchen ausgelegt war, führte man den Grenadier dorthin. Da lagen in blendender Weiße die Hemdchen, die Jöppchen, die Häubchen mit den rothen Bändchen, die feinen, weichen Bettchen und Windeln und all’ dergleichen erste Lebensnothdurft, Alles in stattlicher Anzahl und noch die baaren Thaler dazu! „Und das Alles soll für meine gute Frau sein?“ – Einige Augenblicke stand, auf das „Ja“, der überraschte Mann sprachlos da, dann ging der wahrste Dank durch die Augen in hellen Thränen aus dem Herzen über: „Nie werde ich vergessen, was man mir hier Gutes gethan! Kinder und Kindeskinder sollen von der guten Stadt Finsterwalde und ihren freundlichen Bewohnern erzählen!“
Eine verlorene Mutter. Der Krieg würfelt die Schicksale der Menschen gar wunderlich durcheinander, und ein merkwürdiges Beispiel davon haben wir jetzt hier in Dresden.
Bei dem Ausrücken der preußischen Truppen, als ein Bahnzug mit Garde-Artillerie in Breslau hielt, stieg der fünfzehnjährige Sohn einer Marketenderin, der sie begleiten sollte, mit den übrigen Soldaten aus, konnte aber beim Signal zum Wiedereinsteigen den Wagen nicht wiederfinden, in welchem seine Mutter saß, und suchte nun in Todesangst auf und ab, um sie zu treffen. Vergebens. Der Zug setzt sich endlich in Bewegung und er muß zurückbleiben. Aber er wartet nur den nächsten ab, der das dritte Garde-Regiment der Königin Elisabeth bringt, und fährt mit diesem nach, weiß aber unglücklicher Weise nicht die Batterie, welcher sich der Marketenderkarren angeschlossen, und treibt sich jetzt zwischen den Soldaten herum, bis sich ein junger Bursche der fünften Compagnie, Heinrich Friedrich, den der arme Junge dauerte, seiner annahm und ihn bei sich behielt.
Nun ging es weiter; durch ganz Böhmen und Mähren durch, wohin [568] das Regiment marschirte, folgte der Knabe und machte alle Schlachten – barfuß mit. Der Soldat versichert, er sei überall mit im Kugelregen gewesen und bei Königgrätz sogar manchmal weiter voraus, als er selber. Aber sein Schutzengel wachte, er erhielt selbst nicht die leichteste Verwundung und ist jetzt mit der siegreichen Armee von Prag zurückgekehrt, ohne bis jetzt aber noch eine Spur von seiner Mutter gefunden zu haben, von deren Schicksal er nicht das Geringste weiß. Die Frau hieß Henriette Martin Zierold und war als Hülfsmarketenderin bei der Garde-Artillerie. Er selber heißt Friedrich Wilhelm Zierold, ist fünfzehn Jahre alt, aus Merseburg gebürtig und jetzt in Guben daheim.
Das Einzige, was uns hier zu thun übrig blieb, war, an seinen Vormund nach Guben zu schreiben und diesen zu benachrichtigen, damit er wenigstens Kunde geben kann, ob man etwas von der verlorengegangenen Mutter erfahren hat. Nachher werden sich auch Mittel und Wege finden, um den jungen Menschen in seine Heimath zurückzusenden.
Der Knabe ist übrigens frisch und gesund und hat die ungeheuren Strapazen jener anstrengenden Märsche vortrefflich ertragen, scheint auch ungemeine Lust am Soldatenleben zu haben und trägt ganz stolz, trotz seiner bloßen Füße, eine preußische Soldatenmütze. Es ist ein echtes „Kind des Regiments“.
Nur vorsichtig! In dem Reitergefecht bei Prerau in Mähren am 14. Juli, in welchem zwei Schwadronen des dritten sächsischen Reiterregiments drei Schwadronen preußische (rothe) Husaren zurückwarfen und dabei dreißig Pferde erbeuteten, bekam der sächsische Reiter Wetzel von einem Husaren einen sehr kräftigen Hieb in’s Genick. Wetzel fuhr wie ein Eber auf und indem er dem Husaren einen Hieb über das Gesicht versetzte, daß er sofort vom Pferde sank, rief er zornig: „Na, da paß doch auf, wo Du hin haust.“
Nur Einer schrieb nicht. Als die Preußen nach dem letzten Welfenkampf bei Langensalza über den Thüringer Wald zogen, um das verbündete Coburger Land von den Baiern zu befreien, lagen sie mehrere Tage in Hildburghausen. In einer nahen Mühle im Werrathal hatten ein paar Dutzend Landwehrmänner Platz gefunden. „Als ich nach dem Mittagessen in die untere Wohnstube trat,“ erzählte mir die junge Frau des Hauses, „saßen an den Tischen so viele der Soldaten, wie nur Raum finden konnten, hatten die Schreibzeuge herbeigesucht und lasen oder schrieben Briefe. ‚Nun, da wird wohl an die Herzliebsten geschrieben?‘ fragte ich. ‚Wir sind sämmtlich Ehemänner,‘ antwortete Einer; ‚es kommt selten an uns, daß man uns so viel Rast giebt, Briefe zu schreiben. Um so eifriger benutzt heute Jeder die Gelegenheit, damit Frau und Kinder einmal erfahren, daß wir noch am Leben sind.‘ Und damit griff er wieder nach der Feder. Alle waren in ihre Briefe so vertieft, daß ich sie nicht weiter stören wollte. Nur Einer schrieb nicht. Es war ein junger Mann; er saß bleich und den Blick in sich gekehrt im alten, hohen Lehnstuhl. Ich konnt’s nicht lassen, ich fragte ihn doch: ‚Und Sie schreiben nicht mit?‘ Er sah mich an, daß ich vor dem Blick erschrak. ‚Nein,‘ sagte er, ‚ich habe an Niemand in der Welt mehr zu schreiben. Als es daheim zum Abmarsch trommelte, starb meine Frau in Kindesnöthen. Ich mußte von ihrem Sterbebette fort – fort in den Krieg.‘ – Da eilte ich aus der Stube in die Kammer und drückte meinen Knaben an’s Herz und bat Gott auf meinen Knieen, daß er ihn vor einem solchen Jammer behüte!“
Auf dem Ring in Nachod. (Mit Abbildung.) Der gegenwärtige Krieg hat einer Reihe sonst ziemlich obscurer Städte und Städtchen des nordöstlichen Böhmens zu europäischem, einzelnen selbst zu Weltrufe verholfen, – einem Rufe freilich, der mit einem Uebermaße von Noth und Jammer erkauft worden ist, das voraussichtlich noch in Jahren nicht völlig verschmerzt sein wird. Zu diesen neuen Berühmtheiten zählt auch die kleine Bezirksstadt Nachod, unweit der schlesischen Grenze, in deren nächster Umgebung in der letzten Juniwoche unser Specialartist einem der ersten bedeutenden Treffen im jüngsten großen Kampfe beiwohnte.
„Schon lagen,“ schreibt er uns, „alle Häuser des Ortes voll von Verwundeten, auch die Kirche war zum Lazarethe umgewandelt worden und noch rollten unablässig Wagen auf Wagen mit meist Schwerblessirten ein. Das Aechzen und Stöhnen der Unglücklichen, das Stampfen und Wiehern der Pferde, das Lärmen und Schreien der Fuhrleute, die Commandorufe der Officiere hörten die ganze Nacht nicht auf und ließen mich auf dem elenden Lager, das ich mit vieler Mühe endlich aufgefunden hatte, kein Auge schließen. Mit dem frühesten Morgen des 28. Juni verließ ich darum mein dürftiges Obdach und ging hinunter auf die Straße. Nach einer kurzen Wanderung kam ich auf den Markt oder Ring, wie man in Böhmen und Schlesien spricht. Es ist ein hübscher, weiter Platz, malerisch, wie in vielen dieser böhmischen Städte, links mit der stattlichen Kirche, im Hintergrunde von dem pittoresken, ehemals Wallenstein’schen Schlosse überragt, rundum von alten, interessanten Giebelhäusern hinter schönen Baumgruppen eingefaßt, ein Platz, der einen in friedlichen Tagen anheimeln könnte. Welche Schmerzensscenen stellte er mir aber jetzt vor Augen! Vor wenigen Minuten war ein neuer Transport von Verwundeten angelangt; eben wurde ein, wie es schien, schon Sterbender langsam vom Wagen heruntergehoben, ein Anderer hielt selbst den Stumpf des rechten Armes und sah sich mit Blicken voll unsäglicher Pein nach Hülfe und Erleichterung um; auf der Erde lag ein Dritter, dem gerade ein neuer Verband um den zerschossenen Arm gelegt werden sollte, während Gruppen von leichter verwundeten Oesterreichern das Gefährt umstanden oder sich matt und müde auf das Pflaster und um das Christusbild niedergesetzt hatten, welches rechts vor der alten Linde sich erhebt. Dazwischen sprengten Officiere und Ordonnanzen über den Ring, hinten zog eine Truppenabtheilung vorüber – es war ein wirres Durcheinander voller Gewühl und Leiden, das sich meinem Gedächtniß unauslöschlich eingeprägt haben würde, auch wenn ich nicht versucht hätte, es in mein Skizzenbuch zu zeichnen. Wie ich mir hierzu eine ruhigere Stelle aussuchte, grollten plötzlich dumpfe Kanonenschläge zu uns herüber. Von einem Dragonerpiquet, welches als Geleite einer Gefangenencolonne an mir vorbeiritt, erfuhr ich, daß der Donner von Skalitz kam, wo eben unter General Steinmetz ein neuer Angriff auf die Oesterreicher begonnen hatte.“
gingen wieder ein: Spielkränzchen junger Damen und Herren in Schönhaida 7 Thlr. – H. Uhlich in Neu-Gersdorf 4 Thlr. – F. H. in Zürich, für die Verwundeten seiner Vaterstadt Langensalza 10 Thlr. – C. G. in Straßburg 2 Thlr. 20 Ngr. – Becker in Lausanne 5 Thlr. 10 Ngr. – C. K. und O. G. in Schleiz 2 Thlr. – Ertrag eines von dem Männergesangverein Lengenfeld i. V. unter Mitwirkung des Stadtmusikchors abgehaltenen Concerts 57 Thlr. – Damenlese-Kränzchen in Eibenstock 3 Thlr. – J. in Stuttgart 2 Thlr. – Von einer fidelen Gesellschaft beim Rabensteiner Bier in Chemnitz 4 Thlr. – Ein Arbeiter, der sich zur Gothaer Schwefelbande bekennt, 5 Thlr. – Aus der Sparbüchse der kleinen Louise W. in Rastätten 2 Thlr. – Ungenannter von Auswärts 2 Thlr. – B. S. u. G. W. 2 Thlr. – Malwine v. Humbracht 10 Thlr. – Bettelmannsverein in Crimmitzschau 6 Thlr. – R. in Fürth 1 Thlr. – Dr. P. F. in W. 24 Sgr. – Gesangverein Liederkranz in Groß-Schönau 5 Thlr. – Aus der Sparcasse einiger Kinder in Altenhaßlau 4 Thlr. – F. Heb. in Coburg 1 Thlr. – G. H. in Mosen 1 Thlr. – Sammlung durch Pfarrer Rullmann in Hintersteinau 4 Thlr. – W. B. 1 Thlr. – N. N. in Bückeburg 1 Thlr. – Aus Gräfentonna 1 Thlr. 10 Ngr. – Gesammelt unter Freiberger Bergleuten durch Schüttauf 20 Ngr. – Sch. P. W. in Soden 6 Thlr. 21 Ngr. – Das Landfried’sche Comptoirpersonal in Heidelberg 12 Thlr. – Heinrich Freimann in H. 7 Thlr. – S. J. in Frankfurt a. M. 2 fl. – Von einem kleinen holsteinischen Mädchen zum Besten der lieben verwundeten Sachsen: Zwei schöne, dicke Haarflechten. Ein schönes, großes Opfer, aber leider nicht hoch zu verwerthen. Es sind uns nur drei Thaler dafür gezahlt worden. – Chr. Zimmermann u. Sohn in Apolda neunundzwanzig Stück Leibbinden. – Mehrere Schwestern einer kleinen Stadt Mecklenburgs: Stickerei zu einem Ruhekissen. – Durch Frau Schmidt-Tychsen und Frau Melssen in dem neuen und alten Chr. Albr. Koog gesammelt 70 Thlr. 24 Ngr. (Nach der beiliegenden Liste waren im Ganzen 63 Thlr. 24 Ngr. gesammelt, während die Geldsendung 70 Thlr. 24 Ngr. betrug. Wir bitten um eine vollständige genaue Specialliste, damit wir die Namen der Geber, von denen jedenfalls mehrere fehlen, veröffentlichen können.)
Wenn auch durch die Liebesgaben des deutschen Volkes für die Bedürfnisse der Verwundeten nunmehr vollständig gesorgt ist, so stehen wir in der That doch erst am Anfang unserer Pflichterfüllung, denn die größte, eine noch gar nicht übersehbare Summe des Elends liegt in den Familien der Gefallenen und Derer, die aus dem Krieg als arbeitsunfähige Krüppel an den Heimathheerd zurückkehren. Wir dürfen nicht dulden, daß das Bettelbild des Leierkastens sich auch nach diesem Krieg erneuere, daß die Kinder der für uns verbluteten Helden dafür einem Leben voll Jammer und vielleicht der Schande verfallen und „das Hirtenhaus“ oder „der Armenspittel“ ihre letzte Aussicht werde! Das Weib, das den Gatten, der Vater, der seine Söhne, die Braut, die den Geliebten gesund neben sich sieht, müssen es ebenso, wie alle die tausend Städte und Ortschaften, an deren Mauern und Fluren der furchtbare Kriegssturm vorübertobt, ohne sie zu berühren, als heilige Pflicht erkennen, nicht blos Thränen des augenblicklichen Schmerzes zu trocknen und der Noth des Tags abzuhelfen, sondern, so weit als nur möglich, für das Lebensglück Derer zu sorgen, die selbst oder deren Ernährer für uns Alle dahingeopfert worden sind. Ja, das Geben muß jetzt, wo die erste Noth überwunden ist, erst recht beginnen, um der größeren, an tausend Heerden verborgenen Herr zu werden! Für diese Gaben steht nun der Opferstock offen: möge der Genius des Vaterlands, der bei ihm wacht, viele Hände segnen können!
Wer, wie wir, Tag für Tag zehn- und zwanzig Mal den Jammerblick vor Augen hätte, den die armen Soldaten gewähren, wie sie mit zerschossenen und verstümmelten Gliedern mühsam umherschleichen und völlig mittellos aus unserer Sammlung sich den Unterhalt für die nächsten Tage und Wochen erbitten, wie sie, oft für immer erwerbsunfähig, der bittersten Noth entgegengehen, für den würde es unserer Aufforderung nicht bedürfen, daß auch er seinerseits zur Milderung dieses Elends nach Kräften beitrage.
Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:
Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.