Die Gartenlaube (1866)/Heft 37
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
„Alle Thore und Ausgänge der Stadt, die sie kennen, sind besetzt,“ sagte der Stadtkämmerer verächtlich zu Margarethe, nachdem er einen kräftigen Zug aus dem ihm gereichten Becher gethan. „Ein klug Mäuslein kennt der Schlupflöcher mehrere … ich laufe keine Gefahr; gestern schon wär’ ich unangefochten aus Regensburg gekommen, hätt’ ich’s nicht noch für nöthig gefunden, dem kaiserlichen Hauptmann ein Wort zu sagen; auf dem Wege zu ihm ergriffen sie mich …“
„Nicht doch, die offen betriebenen Vorbereitungen zur Abreise hatten Dich schon verrathen …“
„Glaubst Du das auch, thöricht Kind? Die Vorbereitungen waren nur ein Vorwand, das rothe Tuch, das man dem wilden Stier vorhält, daß er darauf losstürzt und sich darein verwickelt, um dann gefahrlos von der Seite her angefallen zu werden! Ich dachte nicht daran, die Stadt zu Wagen oder zu Roß zu verlassen, aber glauben sollten es die Schreier und während sie an Brücken, Thoren und Straßen Wache standen, wäre ich lang auf sicherem Kahne die Donau hinabgeschwommen nach Staus und hätte diesen Morgen meine Spießknechte herangeführt, daß sie auch ein Wörtlein mitgesprochen bei dem heutigen Rathsgespräch!“
„Ich kenne und verehre Deine Klugheit, Vater,“ sagte Margarethe schmeichelnd, „aber warum jetzt noch auf dem Vorhaben bestehen? Hat doch Alles eine andere Wendung genommen seit diesem Morgen: die Bürger werden ruhig bleiben, bis ihr Hauptmann wieder kommt …“
„Sieh doch,“ rief Lyskirchner und heftete einen durchbohrenden Blick auf Margarethe, „Du hast Dich doch sonst nie um der Stadt Hader und Zwiespalt gesorgt und bist auf einmal so wohlunterrichtet! Von wannen kommt Dir solche Kunde?“
„Frau Diemuth hat mir Alles erzählt,“ stammelte das Mädchen erröthend und mit gesenktem Blick.
„Dann höre noch von mir, daß das eben der günstige Augenblick des Gelingens ist! Der Führer, den die tolle Schaar gefunden, ist fort … das Ungeheuer ist ohne Kopf; es gilt, ihm schnell den Rest zu geben, eh’ ihm ein anderer wächst! Mag Jener zum Kaiser reiten; bis er wiederkehrt, hab’ ich mit des Kaisers Hauptmann einen raschen Schluß zuwege gebracht. … Fülle mir den Becher noch einmal und schweige davon … Du hältst mich nicht zurück!“
„Ich schweige nicht,“ erwiderte sie, anmuthig credenzend, „und möge dieser Trunk Dir so zu Kraft und Heil gereichen, als ich hoffe, daß es mir gelingen wird, Dich dennoch zu halten… Du bist gebunden, Vater, und bedenkst es nicht, aber Du wirst es fühlen, wenn ich Dich mahne! Es ist heute nicht mehr, wie es gestern war; denkst Du der Zusage, Regensburg nicht eher zu verlassen, als bis der Stadtfriede wieder hergestellt ist …“
„Thörin! Die Zusage ist aufgehoben … soll ich dem Treue halten, der mich gefangen nahm?“
„… Frag’ Dich selbst, Vater, wer es war, der zuerst gegen die Treue gefehlt … Du weißt am besten, wie es gemeint war mit dem Rathsgespräch …“
„Was versteht ein Kind, ein Weib von solchen Dingen! Willst Du urteln und rechten über der Männer Rath? Wenn der Feind mir die Schlinge um den Nacken geworfen, soll ich mich seiner nicht erwehren … ihn nicht niederstoßen und fein abwarten, bis es ihm beliebt, die Schlinge zuzuziehen und mich zu erwürgen?“
„Unnütze Sorge, Ihr hattet nichts zu befahren, Vater …“
„Nichts zu befahren?“ fragte der Kämmerer mit finsterem Blick und steigender Aufmerksamkeit. „Wie kannst Du das ermessen, Du, die bisher sich nur um ihre Kunkel gekümmert, um ein neu Wämmslein oder um Schmuck? Woher diese Zuversicht? … Ich errathe, wem sie gilt! Du denkst an den Uebermüthigen, dessen Name Galle ist in meinem Munde … lüge mir nicht, Du denkst an den Steinmetz … Du kennst ihn, hast mit ihm geredet?“
„Ich lüge nicht, Vater,“ erwiderte Margarethe einfach, „ich hab’ den Meister nicht gekannt, bis Du selber mir ihn gestern gezeigt … ich hab’ kein Wort zu ihm geredet, als Du selber gehört, aber Du hast Recht, Großvater, ihn hab’ ich gemeint … der Dommeister hätte Keinem ein Leid gethan, hätt’ es nicht gelitten, daß Einem ein Leid gescheh’ … der Mann sieht aus, wie Einer, der nur thut, was Recht ist!“
Die Augen des Kämmerers funkelten immer unheimlicher. „Sieht er so aus vor Deinen verblendeten Augen, thörichte Dirne?“ rief er. „So bin ich es wohl, der Unrecht thut, und mein graues Haupt erscheint Dir bedeckt mit Arglist und Verrath? Ungerathene, ein langes Leben hindurch habe ich unerschütterlich und rastlos für das gestanden und gekämpft, was mir Recht gedünkt, weil es nicht allein mein Recht, das meines Stammes, weil es das Recht der edlen Geschlechter, das Recht Aller war, die durch Geburt, Reichthum und das Ansehen von Jahrhunderten über dem gemeinen Volk sich erheben, das mit dem Tage kommt und verschwindet, und die darum zum Regiment berufen sind, wie Insel und Klippe das Meer beherrschen zu ihren Füßen! Mein Bewußtsein, meine Ueberzeugung war mein Stolz und mein [570] Stab, und Du, das eigene Kind, Du wagst es, daran zu rütteln? Dein Sinn ist auf der Seite der andern Partei? Der letzte Sprößling meines alten Hauses will zu meinen Feinden stehen?“
„Vater!“ rief Margarethe, kindlich unbefangen, wie zuvor, aber vor dem Ernst seiner Rede begann ihre Wange sich zu röthen und auch ihr Auge leuchtete, „Vater … bis heut’ hat Dein Gretlein schier nicht gewußt, daß es Parteien giebt … Deine Liebe hat mich davor bewahrt und meine Kindheit ist mir vergangen, wie in einem unnahbaren Zaubergarten, von dem die Märlein sagen … was ein Feind ist, ich weiß es jetzt noch nicht! Gern möcht’ ich’s auch heut’ vermieden haben, solches mit Dir zu reden, aber Du selber zwingst mich, Dein unheilvolles Vorhaben reißt mich willenlos hinein in Kampf und Zwist, der rings umher entbrannt… Manches, was ich nie geschaut, steht vor meinem Blick; was ich geahnt, beginnt mir heller zu dämmern und heller, mir ist als stünd’ ich auf hohem Bergesgipfel und sähe hinaus und hinab über Ströme, Meer und niegesehene Lande: da will es mich bedünken, als wär’ Alles klein unter mir, die Insel, wie die Fluth, als verschwinde ein Jahrhundert hier zusammen wie ein Tag! Es ist etwas in mir, was ich nie gekannt, das ruft mir zu, daß die Welle auch den Felsen unterwühlen und stürzen kann, daß Gott Keinem ein Vorrecht gegeben, daß es herrschen möge über das andere … ich kann nicht fassen, warum es ein so groß Unrecht sein soll, so der Bürger mit seinem Fleiß und seiner Kunst nicht blos dienen, so er das gleiche Recht haben will, wie …“
„Das gleiche Recht?“ rief Lyskirchner außer sich. „Das sagst Du und das Wort stirbt nicht auf Deinen Lippen? Ha, der bloße Gedanke, daß es je so kommen könnte, wär’ im Stande mich irre zu machen an Gott und seiner Vorsehung! Die Zünftler, diese Handwerker, diese schmutzigen Arbeiter sollten sich jemals so weit erheben, sich neben uns zu stellen? Sie dürften es und die Hand, die sie hinunterstößt, wie der Belagerte den anstürmenden Feind von der Leiter stößt, sie beginge wohl gar ein Unrecht, ein Verbrechen? Wisse denn, diese Hand hier scheut nicht zurück vor solcher That, und wenn Keiner es wagt, ich … ich stürze die heranklimmenden Rebellen in die Tiefe zurück, in die sie gehören! Auf meinem Grabe mag einst geschehen, was da will … über mir mögen sie Platz nehmen auf den Stühlen des Raths und der Edlen, aber neben mir … nie! So lang ich athme, nie! …“
„Großvater!“
„Nenne mich nicht so! Wär’ ich das in Wahrheit, Du hättest das nicht zu sprechen vermocht; heißt es doch, daß man an der Frucht erkenne, von welcher Art der Stamm! Aber mir geschieht nur, was mir gebührt, und was ich gepflanzt, ist meine Ernte!“
„Ich verstehe Dich nicht …“
„Du sollst mich verstehen, sollst in dieser Nacht des Unheils erfahren, was Dir verborgen geblieben wäre, hättest Du nicht selbst Dich mir gegenüber gestellt! … Dein Vater war mein einziger Sohn, mein Stolz und meine Hoffnung, in meinen Gedanken erzogen, aufgewachsen nach meinem Sinn als Träger und Vollender manch’ großen Entwurfs; schon hatt’ ich ihm die Frau auserwählt, an deren Seite er mir nur um so fester angehören sollte … ein fürstlich Haus hielt sich nicht für zu hoch, sich meinem Geschlecht zu verschwägern … da kam Kaiser Maximilian in unsere Stadt, er sah Deinen Vater, gewann ihn lieb und ließ nicht ab, bis ich ihm gewährte, daß er ihn mit sich nahm in seinem Gefolge und ihm Großes verhieß für seine Zukunft an Würde und Ehre… Er kam nicht zurück, wie ich ihn entsendet; in dem fröhlichen Treiben am Kaiserhofe zu Wien hatte er mein und meiner Lehren vergessen, der Schönheit flüchtiger Reiz umfing ihn ganz … ein bürgerlich Mädchen, eines Kettenschmieds Töchterlein, ward ihm heimlich angetraut. Mein Hoffnungsgebäude war eingestürzt, mein Zorn kannte keine Grenzen, ich stieß ihn von mir und verbot ihm je wieder vor mir zu stehen und zu sagen, daß er einmal mein Sohn geheißen … Aber er kam dennoch und ich, ich muß es bekennen, ich hatte nicht den Muth, ihn von mir zu stoßen: es war mein Einziger! Der Kaiser sprach für ihn, er deckte großmüthig den Makel der bürgerlichen Abstammung durch Wappen und Adelsbrief … Die weite Entfernung verhieß die Wahrung des unverbrüchlichen Geheimnisses, das ich begehrte; als ein Sprosse fernen, hier unbekannten Geschlechts kam die unwillkommene Tochter in dies Haus, Niemand kannte sie, Niemand hat es je anders erfahren… Das unselige Band währte nicht … sie gab Dir das Leben, um zu sterben und das Geheimniß mit sich zu begraben, um Deinen Vater wieder an den Hof und in Kaisersdienst zu führen … Ich sah ihn nicht wieder, im fernen Flandern ist er als Kriegsmann gefallen! Damit glaubt’ ich das Unheil gesühnt, mit Dir, mit Deiner Hand gedacht’ ich meinem alten Stamm’ ein neues Reis einzupflanzen, mir einen zweiten Sohn zu erwerben, auf den Namen, Wappen und Gesinnung übergehe als würdig Erbe … aber das fremde niedrige Blut verleugnet sich nicht, es wirkt fort in Dir … die Tochter der Bürgerin spricht aus Dir, nicht eines Lyskirchner’s echtes Enkelkind! …“
In immer wachsender Bewegung hatte Margarethe zugehört; je unerwarteter das war, was sie vernahm, desto mächtiger fühlte sie sich davon ergriffen, sie brauchte einige Augenblicke, um Athem zur Antwort zu finden, als der Alte, nicht minder erregt, inne hielt.
„Großvater, rede nicht so,“ rief sie hastig und mit glühendem Blick, „es ist meine Mutter, von der Du sprichst! Wohl hab’ ich nichts von all’ dem geahnt, was Du mir jetzt verkündet, aber es macht den letzten Rest der Dämmerung um mich schwinden, und was ich manchmal dunkel, mir selbst unerklärlich empfunden und geahnt, nun fühl’ ich es deutlich, nun liegt es hell und klar vor mir! Darum rede nicht so, Großvater … der Tropfen Blut, den Du schiltst, ist von meiner Mutter, ich lasse meiner bürgerlichen Mutter Herz nicht schmähen!“
„Und wie redest Du selbst mit mir!“ fuhr Lyskirchner auf. „Welche Blicke sind’s, die Du auf mich zu richten wagst! Welcher Geist ist es, der aus Deinen Worten weht! Hüte Dich, Du trotzig Kind, das sich auf einmal wie eine Heldin aufrichten will und mit seinem Spielzeug wie mit einer Waffe droht! Baue nicht darauf, daß ich einmal schwach gewesen im Leben … damals war ich noch jung, noch weich von Gemüth, seitdem hat mich das Leben starr und stark gemacht und spröde … mich bewegt nichts mehr, aber ich zerbreche, was mich zu beugen sucht! Wähne nicht, in meinem Hause zum andern Mal ein ähnlich Spiel zu treiben … Du verdirbst Dich selbst und jenen Uebermüthigen mit Dir!“
Margarethe sah ihn an, fest und entschieden und doch so kinderhaft, daß er sehen mußte, sie sprach nur, was aus dem Grund ihres Wesens kam. „Ich verstehe Dich wieder nicht, Großvater,“ sagte sie, „ich weiß nicht, ob ich noch vor einem Geheimniß stehe, das Du mir zu enthüllen sinnst, aber fest und gewiß steht Eines vor meinem Gemüth! Ich habe Dich geliebt, Großvater, so ist Niemand geliebt worden, seit die Erde steht; ich habe nur an Dich gedacht, habe einzig für Dich gelebt, es war, weil ich Dich ehrwürdig vor mir stehen sah, den Inbegriff von Allem, was ich als edel erkannt, als wacker und mannhaft Rede nicht so, Vater, Du lockerst die Wurzeln, die mein Herz an Deinem halten, wenn Du Dich selbst befleckst und Dein Bild in mir entweihst!“
„Beflecken? Das wagst Du mir zu sagen?“
„Ja, ich wag’ es; noch einmal erkühn’ ich mich, Dich zu bitten, Dich zu beschwören, gieb Dein Vorhaben auf! Verlasse Regensburg nicht, eh’ es wieder Frieden hat; folge mir und meinem Gefühle, und wenn es Dich auch fremd anmuthet, es ist doch das Rechte, was aus mir spricht, ich fühl’ es in mir mit der Gewißheit des Siegs! Noch einmal laß mich Dich mahnen an Dein verpfändet Wort, und wenn eines Andern Treubruch Dich davon frei gemacht hätte, sei Du edler als er … Du, Mann aus dem fürnehmen Stamm, beschäme den niedrigen Bürger und sei edler als er!“
Lyskirchner hatte sich selbst und seine Ruhe wieder gefunden. Gelassen erhob er sich, leerte die Neige des Bechers und schlug den Mantel wieder um seine Schultern.
„Du redest umsonst,“ sagte er kalt, „und redest im Wahnwitz! Wann hätte ich mein Wort verpfändet und wem?“
„Das kannst Du fragen, Großvater? Wär’ es möglich, daß Dein adeliger Sinn sich daran zu hängen, sich hinter so armseliger Ausflucht zu bergen ertrüge? Wenn auch nicht Dein eigener Mund das bindende Wort ausgesprochen … ich that es statt Deiner, ich bin Bürge geworden für Dich“
„Wer hieß Dich, es zu thun, Thörin? Soll ich gebunden sein durch das übereilte Wort eines verblendeten Weibes? … Laß mich los,“ fuhr er heftiger fort und schleuderte die an ihn sich Klammernde unsanft zurück … „Warum hast Du mich in [571] diese Lage gebracht? Ich habe jenen Mann nie beachtet, weil ich nichts gemein hatte mit ihm; jetzt, da er sich mir in den Weg gedrängt, da er mich in der Erniedrigung gesehen und heut’ zu triumphiren vermeint über mich, jetzt hass’ ich ihn und nichts soll mich anhalten auf der Bahn meines Hasses! Sieh zu, Tochter des Bürgerweibes, wie Du das Wort lösest, das Du dem Bürger gegeben … ich bin zu Ende mit Dir …“
Mit diesen Worten öffnete er die Thür. Margarethe wollte noch einen Versuch machen, ihn festzuhalten, allein eh’ sie ihn erreichte, schlugen die Flügel krachend in’s Schloß; unsicher, die Hände vor den Augen, die nun erst Thränen fanden, glitt sie an der Schwelle zusammen.
Indessen bot der Platz vor dem Rathhause ein eigenthümlich wildes, wirr ineinander wogendes Bild. Die Hauptmacht der Bürger hatte sich dort gelagert, von dort gingen die Wachen und Runden nach allen Seiten ab und in der Mitte war ein mächtig Feuer angeschürt, um das die Zurückgebliebenen oder Neuankommenden sich lagerten. Finster schauten das Rathhaus und die andern Gebäude in das Treiben hernieder; der Flammenschein reichte nicht weiter, als ihre unteren Geschosse und Mauern zu erhellen, darüber hinauf ward es völlig dunkel, denn der Mond, der zwischen den Dachgiebeln hereinsah, verbarg sich immer wieder hinter das schnell ziehende Gewölk, als verdrieße es ihn, mit seinem bleichen Glanze den Kampf mit der rothen Gluth aufnehmen zu sollen. Unfern des Feuers war der Eingang in den Rathskeller weit geöffnet und Einige waren eben daran, ein ansehnlich Fäßlein an Stricken über die Stufen heraufzurollen oder zu ziehen; Meister Hörhamer, der Schuster, saß auf einem schon ausgeleerten Fasse und schien für den Augenblick als der Anführer zu gelten; Schneider Wastel, Zinngießer Bauer, Tuchscheerer Rauhenfelser, ein Gerber und ein Metzger hatten sich wie seine Unterbefehlshaber um ihn gereiht. Der Schuster hatte dem Humpen weidlich zugesprochen, sein gelbes Antlitz fing an, wie eine Kohle sich zu röthen, und das Haar hing wirr und unordentlich um die Stirn; an seiner Seite sah Loy’s weißes Haupt fast ehrwürdig und rührend aus. Der Meister war wie eine unter Krähen gerathene Taube, machte ein gar wunderliches Gesicht und lugte nach allen Seiten, ob sich nicht ein Vorwand finden lasse, sich der unangenehmen Cameradschaft zu entziehen. Es ging aber nicht an, die Bürger ließen ihn nicht aus den Augen; weil der Dommeister, ihr Anführer, zum Kaiser geritten, sollte mindestens sein vertrauter Freund an seiner Stelle unter ihnen sein und sie dachten wunder, welche Ehre sie dem Alten damit anthaten. Es konnte zwar nicht fehlen, daß der wilde, scharf bewegte Anblick auch sein künstlerisches Auge fesselte, aber der Ernst dessen, was er um sich vorgehen sah, störte ihn immer wieder auf und ergriff ihn, daß er nicht wußte, wie er sich verhalten sollte. Manchmal däuchte ihm das Gebahren der über und über bewaffneten und doch so unkriegerischen Zunftgenossen so eigen, daß es ihn anwandelte, laut aufzulachen, und doch kam er nicht dazu, denn es grämte und wurmte ihn innerlich, und eh’ er es dachte, waren ihm die Augen naß.
„So recht,“ rief Hörhamer den Genossen zu, welche eben das neue Faß aufspündeten und so kunstgerecht bereiteten, als hätten sie Zeitlebens kein ander Gewerbe betrieben, als das eines Küfers und Zapflers. „So recht, da thut sich ein neu Goldbrünnlein auf! Das ist Gewächs von Wörth; hätt’ mein Tage nicht geglaubt, daß dort solch ein Tröpflein gedeiht, hab’ immer gedacht, wenn ich an den Weingärten vorüberkam und sah die Trauben hängen, es wären nur Herlinge, die einen sauren Krätzer gäben, wie er bei Landshut wächst im Baierland!“
„Aber ob es wohl erlaubt ist?“ fragte der Tuchscheerer und drehte den Hahn, seinen Humpen volllaufen zu lassen. „Ob wir das Recht haben, den Wein aus dem Rathskeller so mir nichts dir nichts herauszuholen? Was wird der Dommeister dazu sagen?“
„Der Dommeister?“ entgegnete Hörhamer. „Der wird nichts sagen, behaupt’ ich, und ich habe zweifache Probe für meine Behauptung; erstlich wird er nichts sagen, weil er nicht da ist, weil er zum Kaiser geritten und jetzt wohl schon über Straubing hinaus sein muß, und zum Zwoten wird er nichts sagen, weil er nichts sagen kann! Warum nennst Du das Weinlager da drunten den Rathskeller! Falsch, sag’ ich Dir, es ist der Regensburger Stadtkeller, wir müssen uns plagen, müssen wachen und die Arbeit versäumen, Alles für gemeiner Stadt Wohlfahrt, es ist nicht mehr als billig, daß die Stadt uns zu trinken giebt! Sagt, Meister Loy,“ fuhr er fort, indem er sich etwas unsicher erhob und ihm den Becher hinhielt, „sagt, ob ich nicht Recht habe, thut mir Bescheid darauf, dann will ich das Neiglein leeren und wenn ich Recht habe, soll der letzte Tropfen in meiner Gurgel sein!“
Der Bildschnitzer wehrte ab. „Nein, Gevatter,“ rief er, „laßt’s gut sein, es könnte zu viel werden und Ihr wißt wohl, daß wir hier nicht im Rath sitzen, wie es in dem Sprüchlein heißt: ‚Betrunken im Rath, nüchtern zur That‘ …“
„Betrunken?“ lallte der Schuster. „Wer ist betrunken? Stellt mir den vor die Augen, der sagt, daß ich betrunken bin!“
„Versteht mich nur recht, Meister,“ entgegnete Loy, sich zurückziehend, „ich sagte, ich würde betrunken werden; Ihr seid ja nüchtern, wie ein Kind im Mutterleib!“
„Nicht wahr? Nun, da seh’ ich doch, daß Ihr ein Mann von Verstand seid.“
„O, redet nicht von einer solchen Kleinigkeit, Gevatter,“ rief Loy, der seine sonstige Laune nicht mehr zu zügeln wußte. „Ihr macht mich schamroth! Da seid Ihr ganz andere Männer. Was vermögt Ihr zu leisten! Schade nur, daß der Dommeister nicht zugegen ist, er würde seine Freude daran haben, wie Ihr trotz aller Mühseligkeit Euch selber aufrecht zu halten sucht und die Ruh’ und die Ordnung dazu!“
„Heda, Meister,“ unterbrach ihn der Tuchscheerer, „mir kommt’s vor, als wolltet Ihr Euch über uns lustig machen … das könnt Ihr lassen, sonst …“
„Ich mich über solche Männer lustig machen?“ sagte Loy mit betheuerndem Ernste. „Wie könnte mir solches zu Sinn kommen! Ich bin ja die lautere Verwunderung. Der Rath der Stadt ist gefangen und sie steht doch noch; Regensburg ist im Augenblicke ein Weltwunder: es hat den Kopf verloren und trinkt doch seinen eigenen Wein aus …“
Der Zinngießer stieß seinen Nachbar, den Metzger, an und flüsterte ihm zu: „Gieb Acht, der Weißkopf will uns hänseln …“
„Ja,“ rief Hörhamer lachend dazwischen, „gefangen ist der Rath und Regensburg steht doch noch! Was folgt daraus? Das will ich Euch erproben! Daraus folgt Zweierlei, erstlich, daß wir den Rath nicht brauchen, und zum Zwoten, daß, wenn wir einen haben müssen, das Stadtregiment bei uns in so guten Händen ist, als bei den Geschlechtern! Ehrbare Zunft- und Wachtgenossen … was meint Ihr dazu? Ich schlage vor, wir setzen die gefangenen Rathsherren vollends ab und wählen andere dafür!“
„Ja, ja, das wollen wir!“ riefen Alle durcheinander. „Sie sind abgesetzt! Von diesem Augenblick sollen sie es sein!“
„Sehr wackere Freunde und ehrbare Herren,“ rief Loy, sich vordrängend, „Euer Vorhaben ist sicher ebenso löblich wie klug, aber der Augenblick, es auszuführen, scheint mir doch nicht glücklich gewählt! Wie wär’s, so Ihr Euch belieben ließet, sothane Absetzung und Rathswahl zu verschieben, bis Meister Wolf Roritzer zurückgekommen sein wird, den Ihr doch einmal zum Anführer gewählt und dem Ihr Gehorsam gelobt habt …“
„Nichts da!“ rief Hörhamer. „Warum sollen wir verschieben, was gleich geschehen kann? Was wir thun, ist kein Ungehorsam gegen den Dommeister, denn wer nicht befehlen kann, dem kann man nicht ungehorsam sein, und wer nicht da ist, der kann nicht befehlen! Als unsern Anführer muß es ihn freuen, wenn er bei seiner Ankunft ein Stück von der gröbsten Arbeit schon gethan findet!“
„Das mein’ ich auch! Nicht verschieben!“ rief Rauhenfelser. „Wir wählen gleich!“
„Halt!“ rief der Schneider darein. „Nichts übereilt, werthe Zunftgenossen! Warum denn wählen? Sind wir nicht die Anführer der Bürgerschaft in den acht Stadtwachten? Haben wir uns nicht an die Spitze gestellt für Alle und die Beschwerniß und die Gefahr auf uns genommen für Alle? Sollen wir das umsonst gethan haben? Ich vermein’, sind wir die Anführer gewesen im Krieg, so sollen wir auch die Rathsherren sein im Frieden, und darum sollen wir Alle uns selber dazu wählen!“
Ein Geschrei des Beifalls empfing den Vorschlag des klugen Schneiders.
„Daß Meister Wastel ein feiner Kopf ist, hab’ ich immer gewußt,“ sagte Rauhenfelser, „aber für so ausgestochen hätt’ ich ihn doch nicht gehalten! Er hat Recht, Nachbarn und Freunde. [572] Hat er nicht, Meister Hörhamer? Was braucht’s zu wählen, wo solche Männer da sind; wem könnte ich meine Stimme geben, als Dir?“
„Und ich Dir?“ erwiderte der Schuster, indem er ihn umarmte und küßte. „Wo ist ein Meister, der seine Wolle schöner krempelt, als Du? Hat Dein Tuch nicht einen Glanz, als käm’ es geraden Weges aus Brabant? Kann man einen bessern Rathsherrn finden?“
„Sicher nicht!“ rief Loy, den der Aerger immer toller machte. „Krempeln, scheeren und auf den Glanz herrichten, das sind ja die Haupterfordernisse eines Rathes! Aber Eines haben die neuen Herren vom Rath doch vergessen: ein Oberhaupt muß sein, ein Oberhaupt ist immer gewesen in Regensburg. Ihr kommt also doch nicht los von der Wahl, drum nur frisch drauf los! Wer soll Stadtkammerer sein?“
„Wer sonst, als unser Anführer, als Meister Wolf Roritzer?“ rief der Zinngießer. „Wir müssen ihm doch eine Ehre anthun und zeigen, daß wir was auf ihn halten!“
„Ja, ja, der Dommeister!“ riefen Viele. „Roritzer soll Stadtkammerer sein!“
„Alles recht!“ rief der Tuchscheerer dazwischen. „Ich hab’ nichts auszusetzen an dem Herrn, er hat sich weidlich um uns angenommen. Er soll alle Ehr’ dafür haben; aber wenn wir ihn zum Stadtkammerer machen, wer steht uns dafür, daß er uns nicht über den Kopf wächst? Daß er sich zu den Herren schlägt und auch übermüthig wird?“
„Hört, Genossen,“ sagte der Schneider wieder und legte nachdenklich den Finger an die Nase, „mir fällt ein Ausweg ein.“
„Redet!“ riefen Alle. „Hört den Schneider, was er herausstichelt!“
„Hört,“ begann derselbe wieder und faßte vertraulich die Hände der ihm Zunächststehenden … „Gemeiner Stadt Kammerer hat zu allen Zeiten große Macht und große Macht ist große Versuchung. Und beten wir nicht jeden Tag: ‚führe uns nicht in Versuchung‘? Ist es also erlaubt, daß wir einen schwachen Christenmenschen in Versuchung führen und vielleicht zum Uebermuth verleiten, indem wir ihn zum Kammerer erheben? … Was sagt Ihr nun dazu, wenn ich vorschlage, Jeder soll Kammerer sein? Das Amt soll wechseln, alle Woche soll ein Anderer die güldene Kette tragen?“
Wieder ertönte lauter, beifälliger Zuruf; der Bildschnitzer aber hielt nicht länger an sich. „Meister Wastel,“ rief er unter lautem Lachen, „Ihr seid ein großer Mann, Ihr habt das Ding wirklich, wie ein alt lateinisch Sprüchlein sagt, mit der Nadel getroffen! Ja, Ihr Alle seid Rathsherren und die güldene Kette soll umgehen, wochenweise, wie in den Dörfern draußen der Nachtwächterspieß oder der Hirtendienst.“
„Es ist, wie ich gesagt,“ murrte der Tuchscheerer, „der Wanst will uns narren, das will ich ihm legen …“
Er wollte vor und auf Loy zu, aber eine Schaar herbeieilender Männer schob sich dazwischen; es war der Schmied von Weih-Sanct-Peter, der mit Einigen die Rathhausstiege herabkam, ein mächtiges Buch in der Hand. „Da seht, Männer und Freunde,“ rief er schon von ferne, „seht, was ich für einen Fund gemacht! Dieweil Ihr den Keller besorgt, hab ich ein bischen die Schreibstube gemustert und diesen Folianten entdeckt! Es ist das Rugbuch für die kleinen Frevel und Vergehen, für die wir gestraft wurden … seht einmal, Meister Hörhamer …“
„Was, Meister?“ entgegnete der Schuster. „Damit ist’s vorbei, ich bin Rathsherr geworden!“
„Rathsherr? Ei, wer hat Euch denn dazu gemacht?“
„Ich selbst! Wir Alle sind Rathsherren, wir haben uns selbst dazu gemacht!“
„So? Dann will ich’s auch sein, Ihr sollt kein Vorrecht haben vor mir. Dann wollen wir gleich das Buch durchblättern und Rath schlagen über das, was drinnen steht.“
„Und wollen uns die Strafen wieder herauszahlen lassen aus der Stadt Säckel,“ rief der Schneider. „Wenn wir die Obrigkeit sind, können wir doch keine Strafe zahlen? Es ist noch kein halb Jahr, da bin ich gebüßt worden um ein halb Pfund Heller, weil ich Einem, der nach des Raths Kleiderordnung nur wollen Gewand tragen sollt, ein seiden Wamms gemacht.“
„Und deswegen eine Strafe? Ist das erhört?“ schrie der Schuster. „Ihr steht auch hier, Rauhenfelser … weil Ihr mit offenem Licht in Eure Wollkammer gegangen! Und Ihr, Nachbar Metzger, weil Ihr zwei Schweine geschlachtet und nur eins angezeigt, Ihr steht hier mit vier Gulden Strafe.“
„Was?“ schrie der Metzger entgegen. „Mit vier Gulden? Und vierzehn hab’ ich zahlen müssen? Wo sind die andern zehn geblieben? In wessen Säckel sind die gefallen? Das will ich wissen, ich will das Geld wieder heraus haben …“
„Ihr sollt,“ sagte der Schmied. „Wir wollen das Buch durchgehen und Jeden hören, der drinn’ genannt ist, und wollen’s niederschreiben, um was ein Jeder verkürzt ist und geschädigt … Wenn der Dommeister noch nicht fort wär’, müßt’ er die Beschreibung mitnehmen zum Kaiser.“
Die Versammlung drängte näher um das Feuer zusammen; es ward aufgeschürt und frisch Holz zugeworfen, daß es heller loderte. Der Tuchscherer hatte sich des Buches bemächtigt und las vor, die Andern hörten zu und machten ihre Bemerkungen, der Schneider hatte ein leeres Blatt herausgerissen und schrieb auf den Knieen auf, wer eine Beschwerde vorbrachte.
Den Wanderer, der am frühen Morgen von Ischl, dem weltbekannten Soolbade und vornehmen Sommerfrischorte in den Alpen des oberösterreichischen Salzkammergutes, ausgezogen ist und längs des gleichnamigen Flüßchens wandert, umfängt bald ein frischgrüner Wald. Das Gras erglänzt von Thautropfen, schöner als ein perlenbedeckter Teppich, würzige Luft weht entgegen, blinkend, schäumend, murmelnd begleitet das Bergwasser den Wanderer, der zuweilen in das Dickicht hineinlauscht, wo die Vögel singen. Nachdem er so auf der Straße gen Salzburg eine Stunde gegangen, sieht er schon einen Zipfel des St. Wolfgangsees; immer großartiger entfaltet sich der landschaftliche Charakter der Gegend, bald zeigt sich ein weiter, azurner Spiegel, von mächtigen bewaldeten Bergen umschlossen. An der Mitte des Sees, wo sich dieser verengert, liegt St. Wolfgang. Es ist ein alter, in den See hineingebauter Marktflecken, dessen gothische Kirche, die aus dem Jahre 1481 stammt, seit uralter Zeit ein Ziel von Wallfahrten ist. In der Pfarrei daneben nahm Kaiser Leopold der Erste während der Belagerung Wiens durch die Türken 1683 seine Zuflucht. Drüben, am westlichen Seeende, schaut mit weißen Mauern St. Gilgen herüber. Nachdem man im Wirthshaus ein gutes Frühstück genommen, thut man gut, in einem Kahn gegen St. Gilgen zu zu fahren. Bald blickt uns die jäh ansteigende graue Falkensteiner Wand entgegen, wo ein merkwürdiges Echo ist. Dann mag man aussteigen und die Anhöhe hinangehen.
Die Falkensteiner Wand war einst gleichfalls ein berühmter Wallfahrtsort und ist es zum Theil noch immer. Dort lebte in gottgefälliger Verwilderung der heilige Einsiedler Wolfgang, jetzt der Schutzpatron der Schafe. Man sieht die in den Stein gehauene Einsiedelei, jetzt eine Capelle, und die Bettstelle des Heiligen in Stein, der sich nach der Form seines Leibes eingedrückt hat. Auch eine besonders gesunde Quelle ist da. Der Gottesmann hat sie durch sein Gebet aus dem Felsen hervorgelockt. Daneben sieht man ganze Mauern aufgeschichteter Steine, von denen manche über einen Centner wiegen mögen. Diese wurden mit monatelanger, vielleicht jahrelanger Anstrengung von Büßern hinaufgerollt, deren Seele sich entlastete, je weiter der Stein kam. Grüne Tannen überschatten, frische Moose umhüllen jene Denkmale eines nur noch in Ueberresten vorhandenen Wunderglaubens.
In der Nähe des wunderlieblich gelegenen St. Wolfgang, wohin wir zunächst zurückkehren, um uns seine alte Kirche mit ihrem herrlichen, kunstreichen Altare zu beschauen, erhebt sich zwar nicht der höchste, doch einer der auch draußen außerhalb Oesterreichs berühmtesten Berge, der Schafberg, den man wohl und nicht mit Unrecht den Rigi der österreichischen Alpen zu nennen
[573][574] pflegt. Ihn, dieses erhabene Luginsland, wollte ich heute besteigen. Sobald die Abendkühle herankam, machte ich mich auf den Weg, längs den Hütten, am Wegweiser vorbei; sodann rechts geht’s durch die Wiesen, dann zwischen eingesäumten Feldern, bis man den Wald betritt. Man schreitet über eine Brücke, der voransteigende Führer öffnet ein Gatter um’s andere, Wasserfälle rauschen in die Tiefe. Nach fast zweistündigem Marsch hat man die Dorner Alm erreicht. Vor der großen, unbewohnten Hütte kann man sich auf die Bank niederlassen, ausschnaufen und das heiße Gesicht am Röhrkasten abwaschen. Hier werden schon die zwei Almhäuser des Schafberges sichtbar. Man wandert nun lange durch schattigen Wald, dann führen Stufen in die Höhe, es geht über eine Brücke – der Rückblick ist prachtvoll, grandios, überwältigend.
Wir sind etwas spät aufgebrochen, es dunkelt bereits, das Roth auf den Gebirgsspitzen beginnt zu erbleichen. Der schmale Pfad geht wohl eine Stunde durch’s Geröll und diese letzte Stunde ist beschwerlich. Es mochte halb neun Uhr sein, als ich nach vierthalbstündigem Marsch – von St. Wolfgang aus gerechnet – Schwarzinger’s Gasthaus, das wir auf unserm Bilde beinahe an der Spitze der Halbpyramide erblicken, erreichte: es ist vom Juli an bis tief in den Herbst hinein geöffnet. Vier große Schlafzimmer enthalten jedes vier Betten. In anderen Jahren muß man das Bett voraus bestellen; jetzt aber ist Alles leer von Besuchern, der Krieg ist bis in die höchste Alm hinauf fühlbar. Einst saß ich hier in großer Gesellschaft. Wir hatten Champagner mit, dessen Stöpsel wir lustig knallen ließen, wir kochten Thee, schöne Damen ließen sich den Hof machen, sangen und spielten Cither, dann gingen wir hinaus und ließen, um unsere Ankunft zu verkünden, Raketen steigen, war das eine Lust und eine Freude! – heute bin ich allein und müde suche ich bald das Nachtlager auf.
Am andern Morgen hatte sich das schönste Wetter in das schlechteste verkehrt. Es gießt wie aus Schleußen, der Regen klatscht auf die Steine, von Aussicht ist keine Spur, man kann nicht hinaus, noch viel weniger herunter. Es gilt, sich in Geduld zu fassen, da ich immer noch der einzige Fremde im Hause bin. So gut oder so schlecht es eben ging, vertrieb ich mir die Zeit, denn die Ungeduld wollte weder meine Lectüre, noch mein Schreiben recht gedeihen lassen. Immer von Neuem sah ich nach dem Himmel, immer aber blieb er grau, immer klatschte der Regen fort und fort. Man muß eben schon einmal unfreiwilliger Gefangener in derartigen einsamen Bergwirthshäusern gewesen sein, um die ganze Unbehaglichkeit und Oede des schier endlosen Tages zu begreifen.
Abends tritt ein Junge in die Schenkstube. Er hat einen alten Tirolerhut mit einigen Alpenblumen auf dem Kopfe, einen Regenmantel und kurze bis an das Knie reichende Lederhosen. Er ist ganz naß und gleicht einem Wilden. Er ist aus dem „Moos“. Die Kellnerin macht sich daran, ihn zu examiniren, wie es mit seiner Erziehung steht.
„Mach’s Kreuz!“
Er macht es mit plumpem Daumen.
„Bet’s Vaterunser, kriegst einen Kreuzer!“
Er versucht es, bringt es aber nicht über die ersten drei Bitten hinaus.
„Warum schickt Dich Dein Vater nicht in die Schul’?“
„So viel Grob’s im Wald,“ antwortet der Junge lakonisch.
„Was denn?“
„Nattern!“
In diesem Augenblick bemerkt ein Fleischer, der kurz vorher ebenfalls zum Nachtquartier eingesprochen war, daß dem Jungen die Augenbrauen versengt sind. Mit inquisitorischer Tücke frägt er: „Habt’s ein Pulver bei Euch? Wer schießt denn bei Euch?“
Der Knabe antwortet nicht.
„Bringt wohl der Vater oft ein Wildpret nach Haus?“
Der Knabe, wohl wissend, daß er über diesen häklichen Punkt schweigen soll, schüttelt lächelnd den Kopf. Ich ahne, daß im Hintergrunde dieser Fragen manche Wildschützengeschichte spielt. Wieder suchte ich meine Strohmatratze auf und hatte wenig Hoffnung für den kommenden Tag, denn noch immer gießt der Regen auf das Dach, als ob er die Steine, mit denen es belastet ist, herabschwemmen wollte. Da weckt mich früh ein Klopfen an der Thür und die Stimme der Kellnerin:
„Auf, auf! Es ist hell! Der schönste Morgen!“
Ich kleide mich rasch an und bin bald draußen. Steil und beschwerlich führt ein Weg, dessen Wendungen man wohl beachten muß, vom Wirthshaus bis auf die Spitze, wo die Fahnenstange steht, aber der Lohn ist so herrlich, so groß und überschwänglich, daß man die ersten Minuten, wie von einem überwältigenden Eindruck getroffen, wie aus sich herausgerissen wird. Ein ungeheueres Panorama liegt vor den Blicken des Reisenden. Er befindet sich gleichsam auf einem Felspromontorium, welches nördlich der Mondsee und der fünf Stunden lange Attersee, südlich der Wolfgangsee umschließt. Aber auch der Zellersee, der Trummersee und in weiter Ferne der bairische Chiemsee ist sichtbar.
Das Amphitheater hereinblickender Bergriesen ist ungeheuer. Oestlich dehnen sich der Leonzirken, das Höllengebirg, hinter welchem der Traunstein emporragt, der Dachstein, der Thorstein und der Donnerkogel mit weißen Graten. Daran schließen sich die ungeheuren Radstädter Tauern. Südwärts über dem Wolfgangsee steht die weiße Pyramide des Sperler, stehen die Heiligenbluter Tauern, die Malnitzer Tauern und der Großglockner, der Herzog Ernst und Hohenaar in Steiermark, weiter das Tännengebirge, sodann der zusammenhängende Stock des Berchtesgadener Gebirgs: die übergossene Alm, das steinerne Meer, der hohe Göll, Watzmann, Hochkaltern, Hochkaiser. Westlich zeigt sich der Untersberg, der Staufen, davor der Gaisberg. Neben dem sichelförmig gekrümmten Mondsee sieht man den klaren Fuschelsee blinken. Hinter dem Attersee glänzt Vöcklabruck und dahinter nördlich das lachend grüne Mühlviertel mit seinen die Donau dominirenden Hügeln und Burgen.
Das Bild ist so hehr, so großartig, so wunderbar, daß man sich wie in eine fremde Geisterwelt versetzt fühlt. Erst, nachdem sich das Gemüth einigermaßen beruhigt, stellt man die Frage an sich, wie es denn komme, daß der Blick von einem vergleichungsweise so mäßig hohen Berge – der Schafberg zählt fünftausendsechshundertundzwanzig Fuß über der Meeres-, oder dreitausendneunhundertundzwölf Fuß über der Seefläche – an Umfang und Großartigkeit die Aussicht von vielen Bergkolossen übertreffe? Die Antwort ist diese: Es giebt gewissermaßen Aussichtsberge. Darunter verstehe ich solche, welche weit vorgeschoben unter Vorbergen liegen und dabei relativ die höchsten unter ihren nähern Nachbarn sind.
Zu solchen glücklich gelegenen Bergen zählen die hohe Salve bei Kufstein in Tirol, der Krotenkopf bei Partenkirchen in Oberbaiern, das Nebelhorn im Allgäu, zählt vor allen andern der Rigi in der Schweiz. Sie sind weit vorgeschobene Posten, denen kein mächtiger Gebirgsrücken gegenüber steht, der ihre Aussicht deckt. Sie liegen nur wenig Stunden vom Flachland entfernt, doch, so zu sagen, am Fuße einer majestätischen Alpenwelt, welche von ihnen ab mit zunehmender Rapidität an Großartigkeit gewinnt. Ein solcher Aussichtsberg par Excellence, gut zugängig und doppelt bevorzugt, weil er in einem wahrhaft zauberisch schönen Bergbezirke steht, ist der Schafberg.
Warum aber haben solche Berge keine Nachbarn? Wer ihr mürbes Gefüge, ihre schroffen, durch Felsabstürze gebildeten Abhänge betrachtet, findet es leicht heraus. Sie hatten ehemals Nachbarn und haben sie nicht mehr. Das Zerstörungswerk der Zeit geht in den Kalkbergen mit wahrhaft verheerender Gewalt vor sich. Wasser und Schnee durchsickern das Gestein, machen es mürbe, Lawinen und Gießbäche lösen Schicht um Schicht und werfen sie in die Tiefe. So sind große Partien von Bergen allmählich zusammengebrochen und gleichsam herabgeschmolzen; Vorberge, wie dieser, sind Bergtheile, welche sich aus gewissen Ursachen besser als andere conservirten. Mächtige Kegel, jetzt mit Matten oder Wald bedeckt, lagern am Fuß starr emporragender Felszähne; man denkt, diese seien von allem Anfang da, dem ist aber nicht so. Diese Matten und Wälder überkleiden nur Gerölle und Felsabstürze, welche vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden herabgefahren sind und von deren Ausdehnung sich auf die ehemalige Großmachtstellung dort bestandener Bergriesen zurückschließen läßt.
Ich war zu Anfang dieses Jahres in der Nähe des Towers beschäftigt gewesen und der Zufall führte mich durch Mark-Lane, eine der unweit der Bank von England zwischen Great-Towerstreet und Fenchurchstreet den Mittelpunkt des Londoner Großhandels durchschneidenden Gassen, zurück, die meist aus Reihen kolossaler Waarenhäuser bestehen. Hier wurde meine Aufmerksamkeit durch das lebhafte Menschengedränge an dem Eingang eines großen Gebäudes gefesselt. Ich ging auf die gegenüberliegende Seite der Straße und sah mir die Fronte des Gebäudes an. Ein Blick durch eine rings von Fenstern umgebene Vorhalle zeigte mir, daß das Innere in zwei Theile getheilt sei, und in höchst auffallender Weise schied auch die Architektur der Außenseite sich in zwei schroff begrenzte Theile ab. Ueber der Vorhalle zur Rechten die Ziegelsteinfronte eines dreistöckigen Gebäudes im einförmigsten Casernenstyl; links, ohne jeden Uebergang mit diesem Bau verbunden, die Portlandsteinfronte eines von sechs dorischen Säulen getragenen griechischen Tempels. Niemand hätte auf den ersten Blick denken sollen, daß diese dreistöckige Caserne und jener griechische Tempel ein und demselben Zwecke bestimmt seien. Aber da stand dieser Zwitter von einem Gebäude als unleugbare, monumentale Thatsache und in dem Giebelfelde der Tempelfronte waren die Worte eingegraben: „Corn Exchange. Erected pursuant to Act of Parliament. 1828“ (Korn-Börse. Errichtet nach Parlamentsbeschluß), während an dem Eingang der Casernenfronte ein messingenes Schild die Worte trug: „Corn Exchange Hotel“. Ich befand mich vor der Londoner Kornbörse, dem Centrum des englischen Getreidehandels, und nach dem Zudrang von außen und dem Gedränge im Innern zu schließen, war es ein Markttag.
Ich war nicht in Eile und beschloß daher, diese Gelegenheit zu benutzen und mir die Kornbörse mit ihrem Leben und Treiben genauer zu betrachten. Ich bereute auch meinen Entschluß nicht. Denn ich sah eines der eigenthümlichsten Bilder des großstädtischen Lebens der Londoner City, und da der Zutritt keine besondere Erlaubniß erfordert, sondern Jedermann freisteht, lade ich den Leser ohne weitere Ceremonie ein, mich in die Kornbörse zu begleiten.
Wir treten ein durch die schon erwähnte fensterumgebene Vorhalle und schon hier bietet sich uns ein äußerst belebter Anblick dar. In buntem Gemisch drängen sich um uns Gruppen von Männern, dergleichen man an der Geld- und Actienbörse nie zu Gesicht bekommt und die sich sofort als die arbeitende Classe des Kornhandels zu erkennen geben: Bootleute in blauem Schifferanzug, die ihre Kähne zum Transport auf der Themse bereit halten; Müllerknechte in mehlbestäubten Kleidern und Farmersknechte im Bauernkittel, die den Befehl ihrer im Innern beschäftigten Herren erwarten; Lastträger und Laufburschen in Barchent, die zur Ausführung aller möglichen Aufträge bereit sind. An ihnen vorbei wogt der rauschende Strom der Börsenmänner nach und von dem Innern der Börse hin und her. So gut es gehen will, drängen wir uns durch das Menschengewühl in die innere Börse ein. Es ist dies die alte Kornbörse, im Unterschied von der neuen, deren Datum im Giebelfelde der griechischen Tempelfronte bereits angeführt wurde, obgleich auch die alte Kornbörse nicht sehr alt ist. Noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts nämlich gab es so gut wie gar keinen Kornmarkt in London. Korn wurde allerdings an einem besonderen Platze, an dem Bear Quay in Thamesstreet, und Mehl in Queenhithe und Holborn-Bridge gekauft und verkauft, aber das Factorei- und Agentursystem, wodurch heutzutage die Handelsoperationen so wunderbar erleichtert werden und welches in der Kornbörse sein Hauptorgan besitzt, war so gut wie unbekannt. Einige Farmer aus Essex legten, so heißt es, die erste Grundlage dazu, indem sie, meist in Gasthäusern, in verschiedenen Theilen der City Agenturlocale für den Kornhandel errichteten.
Von diesen zerstreuten Agenturlocalen zu der Gründung einer Kornbörse war dann nur ein Schritt. Man hatte den schlauen Gedanken, daß der Kornhandel an Bequemlichkeit und Ausdehnung gewinnen müsse, wenn die einzelnen Agenturen in einem gemeinsamen Centrum vereinigt würden, und errichtete, um dies Ziel zu erreichen, im Jahre 1747 die alte Kornbörse in Mark-Lane. Inzwischen aber nahm der englische Ackerbau und mit ihm der Kornhandel von Jahr zu Jahr größere Verhältnisse an. Während zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts England eine Jahresernte von durchschnittlich vierzehn Millionen Scheffeln Weizen erzeugte, belief sich zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts der Jahresertrag derselben Korngattung auf hundert Millionen Scheffel, und die Räumlichkeiten der alten Kornbörse wurden für die so gewaltig angewachsenen Bedürfnisse des Handels allgemein als unzureichend erkannt. Die Schwierigkeit, innerhalb der Börse Plätze für die Ausstellung von Kornarten zu erhalten, war zuletzt so groß, daß angesehene Kaufleute zehn bis zwanzig Jahre darauf zu warten hatten und Bureaus in den anliegenden Häusern miethen mußten. Andere machten ihre Geschäfte nach der urväterlichen Farmer-Methode in Wirthshäusern, noch Andere auf offener Straße oder in den Passagen und Höfen, die nach Mark-Lane auslaufen. Um so schreienden Uebeln abzuhelfen, trat im Jahre 1825 ein Comité zur Beförderung der Anlage einer neuen Kornbörse zusammen und drei Jahre später wurde das Gebäude mit der griechischen Tempelfronte vollendet. Die Abschaffung der Kornschutzzölle im Jahre 1849 und der dadurch bewirkte mächtige Aufschwung des englischen Kornhandels machte endlich ein Jahr später (1850) die Zufügung eines neuen Hintergebäudes nothwendig – ein Ereigniß in der Geschichte der Kornbörse, mit welchem ihre äußere Entwickelung, wie sie gegenwärtig dasteht, beschlossen wurde.
Aber wir befanden uns bereits in dem Gedränge am Eingang zu der alten Kornbörse. Folgen wir denn nach diesem historischen Rückblick ohne weiteren Verzug dem Menschenstrome vor uns und sehen das gegenwärtige Treiben im Innern an. Daß Markttag war, zeigte der erste Blick und ich erfuhr außerdem, daß es der Hauptmarkttag der Woche sei, daß ich mithin zu keiner gelegneren Zeit hätte kommen können als heute. Der wöchentlichen Markttage in Mark-Lane sind nämlich drei: Montag, Mittwoch und Freitag; aber der größeste ist der Montag und Montag war heute. Die Eindrücke beim ersten Eintritt sind doppelter Natur. Man sieht vor sich ein unruhig wogendes Meer von Köpfen und hört um sich her ein dumpfes Rauschen, wie die Brandung von Meereswellen. Indem man nun vorwärts drängt, fühlt man sich selbst einen Augenblick von diesem Meere verschlungen und von diesem Wellenrauschen übertäubt. Aber allmählich sondert das unterschiedslose Gedränge sich in die Gruppen und Charaktergestalten der Börsenmänner, das Rauschen der Brandung löst sich in vernehmbare Conversation und articulirte Laute auf, und gemächlich hin und her wandernd gewinnen wir nach und nach eine Vorstellung von dem innern Arrangement und dem commerciellen Mechanismus der Börse.
Man denke sich das Innere einer Basilika, von etwa hundertundfünfzig Fuß Länge, fünfzig Fuß Breite und dreißig Fuß Höhe. Man theile diesen Raum der Länge nach durch zwei Reihen von je elf ionischen Säulen in ein Hauptschiff und zwei Seitenschiffe, scheide das Hauptschiff der Breite nach durch vier Mal vier Säulen in fünf Abtheilungen, von denen die erste aus einer die volle Breite des Gebäudes einnehmenden Vorhalle, die zweite aus einer durch ein achteckiges kuppelförmiges Fensterdach überwölbten Art Taufcapelle, die dritte aus einer der Vorhalle entsprechenden Passage, die vierte aus einer andern achteckigen Taufcapelle und die fünfte wieder aus einer der Vorhalle entsprechenden Passage besteht; man denke sich endlich diesen ganzen Raum, Hauptschiff, Seitenschiffe und Passagen, von oben her erleuchtet – und man wird von der innern architektonischen Ausstattung der alten Kornbörse ein ziemlich treues Bild haben. Ringsherum, den beiden Längenseiten und der Hinterwand der Börse entlang, erheben sich die sogenannten Stands oder Verkaufplätze der Kornhändler. Es sind dies völlig gleichmäßig angelegte Structuren aus dunkelm Holz, von je höchstens fünf Fuß Länge und vier Fuß Breite, Structuren, deren erster Anblick an nichts mehr erinnert, als an altmodische Kirchenstühle, mit hohen Hinter- und Seitenlehnen. Der Unterschied ist nur der, daß diese Verkaufsplätze der Kornbörse außer den Bänken auch mit kleinen Schubfächern und Schreibepulten versehen sind und statt des Bücherpults einen Ladentisch haben. Auf den Bänken nun sitzen die Kornhändler und auf den Ladentischen stehen große [576] und kleine Säcke und Beutel, alle geöffnet und alle angefüllt mit Proben aller möglichen cerealischen Erzeugnisse. An einigen der Stands bemerkt man außerdem Hinterthüren, die sich entweder in kleine Vorrathsstübchen öffnen, welche nach der Marktzeit zur Aufbewahrung der Proben dienen, oder in Privatzimmerchen, wo der Großhändler seine Correspondenz besorgt, oder mit seinen Kunden wichtige Geschäfte in Ruhe bespricht. Doch diese Stands an den Wänden sind nicht die einzigen Verkaufsplätze. Verkaufsplätze anderer Art befinden sich an den Säulen im innern Raum der Börse. Dort sind es keine hochlehnigen Stühle, Bänke und Tische, sondern kreisrunde, der Form der Säulen angepaßte Holzladen, die ungefähr zwei Fuß hoch bei etwa zwölf Fuß Umfang auf dem Boden ruhen. Ueber diesen untersten und breitesten Laden erheben sich ähnliche von geringerem Umfang; über diesen wieder kleinere im verjüngtesten Maßstabe. Die Kaufleute stehen daneben, und den Verkaufstellen entsprechend, sieht man die untersten Läden mit den größeren Kornsäcken angefüllt, indeß die kleineren und kleinsten im Verhältniß von unten nach oben folgen. Wie sich von selbst versteht, trägt jeder Verkaufsplatz, an den Säulen wie an den Wänden, Schilder mit den Namen der Firmen, deren Waaren ausgestellt sind. Ich betrachtete mir eine Anzahl derselben, um womöglich fremde, deutsche Namen zu entdecken, war jedoch in diesem Bemühen nicht erfolgreich, obgleich die einzigen nicht englischen Worte, die mir in dem Sprachgewirr zu Ohren kamen, deutsche Worte waren. Auch von der israelitischen Physiognomie, die man sonst gewöhnlich mit der Vorstellung einer Kornbörse in Verbindung setzt, fand ich keine Spur. Dagegen wurde ich durch eine andere Einrichtung befähigt, auf den Umfang des in der alten Kornbörse getriebenen Handels einen Schluß zu ziehen. Die Verkaufsplätze sind nämlich außer mit den Namen der Firmen auch mit fortlaufenden Nummern versehen und die höchste mir zu Gesicht kommende Nummer war die Zahl vierundachtzig, woraus sich die bemerkenswerthe Thatsache ergiebt, daß innerhalb der alten Kornbörse nicht weniger als vierundachtzig Kornhandlungshäuser en gros vertreten sind.
Um diese Verkaufsplätze herum, durch das Hauptschiff, durch die Seitenschiffe, durch die Passagen, drängt und wogt der summende geschäftige Menschenschwarm, der die Börse am Markttage füllt. Neben dem eleganten, feingekleideten Citymann sieht man den wohlbeleibten provinciellen John Bull, in altmodischem Frack, in Lederhosen und Stulpenstiefeln; neben dem blassen, grauröckigen Mühlenbesitzer den Supercargo mit pelzverbrämter Mütze und wettergebräunten, pockennarbigen Zügen; neben dem stattlichen Kaufmann, der satt und vornehm mit dem Gold in seiner Tasche klimpert, den kleinen Agenten, der unruhig von Ort zu Ort eilt, den Commis, der an dem Pult seines Verkaufsplatzes eifrig in Courantzettel und Rechnungsbücher vertieft ist. An dieser Säule conversirt eine Gruppe Börsenmänner über Kornschiffe, die von Odessa und Asow, an jener eine andere über Sendungen, die von Danzig und Reval, oder von New-York erwartet werden. Dort an den Verkaufsplätzen in den Passagen bespricht man die Aussichten des Korngeschäfts in Schottland und Irland, oder in Kent und Essex (den vorzugsweise auf dem Londoner Kornmarkt vertretenen Grafschaften Englands), und ein paar hingeworfene Worte geben so ein Bild der gewaltigen Operationen, welche von diesem Mittelpunkte aus und nach ihm zu den Handel ferner Continente und Meere sich bewegen. Kein Klang von Gold und Silber unterbricht das Rauschen der Conversation, die sich um den Austausch von Tausenden und Hunderttausenden dreht. Man sieht nichts als die Probesäckchen an den Verkaufstellen, als die gedruckten und geschriebenen Zettel, die an den Comptoirs von Hand zu Hand wandern. Aber jedes Säckchen mit Proben repräsentirt ein fruchttragendes Ackerfeld; jede Verkaufsstelle hochgespeicherte Vorrathskammern in den Waarenhäusern an der Themse und schwerbeladene Kauffahrteischiffe auf der Ostsee, dem Schwarzen Meere, dem Atlantischen Ocean; jeder Wechsel und jede Bestellung Erzeugnisse, welche Tausende von hungrigen Mägen mit Nahrung füllen und im besten Falle Käufern und Verkäufern zu gleichem Gewinnste ausschlagen werden. In allen diesen Dingen trägt (wie es in einer Stadt wie London ganz in der Ordnung ist) die Kornbörse einen entschieden großhändlerischen Anstrich, und wenn etwas geeignet ist, den Eindruck dieses großhändlerischen Wesens zu verstärken, so ist dies die durchgehende Nonchalance des Verkehrs, die sorglose Verschwendung, mit welcher die Habitués der Börse an den Verkaufstellen herumoperiren und den Inhalt der Probesäckchen verstreuen. Daß der Käufer die Güte des Artikels nicht ohne Weiteres auf Treu und Glauben annimmt, sondern sie auf die Probe stellt, ist nicht mehr als billig, und wenn die Kornbörsenmänner sich begnügten, die Körner in den Händen zu sichten und zu wägen, oder auch zum Zeitvertreib daran zu knuspern und zu beißen, so könnte das nicht weiter überraschen. Aber die Kornbörse sichtet und wägt und knuspert und kaut nicht allein, sie schüttelt sich auch gleichsam und streut den goldenen Regen nach allen Seiten aus. Hundert Mal sieht man, bald an dieser, bald an jener Verkaufstelle, dasselbe Manöver intendirender Käufer wiederholt. Der Käufer tritt heran, stößt seine Hand tief in einen Getreidesack, sichtet und wägt das herausgenommene Korn, beriecht es, ob es feucht oder trocken, behält ein oder zwei Körner im Munde und läßt endlich den Rest nachlässig auf die Erde fallen. So geschieht es, daß, indem die Zeit vorrückt, der ganze Steinboden der Börse dichter und dichter mit Korn bedeckt wird, bis die Menge im eigentlichsten Sinne des Wortes nicht mehr auf dem Stein-, sondern auf einem Kornboden umherwandert.
Indem nun Tausende von Füßen über diese Aussaat hinstreichen, vermischt sie sich zu einem Ganzen, in dem es schwer halten würde, den Antheil der einzelnen Verkaufstellen zu bestimmen. Neugierige Köpfe haben daher speculirt, was aus diesem Kehricht der Kornbörse wird, wem er zu gute kommt. Denn Korn bleibt Korn, und wenn die Füße der Börsenmänner es für die Zwecke menschlicher Nahrung verderben, so behält es doch als Futter für Hühner, Enten, Schweine und Pferde seinen Werth, und was die verschüttete Quantität angeht, so möchte es an den Hauptmarkttagen nicht schwer sein, ein Dutzend Säcke damit zu füllen. Der Sage nach (denn auch die Londoner Kornbörse hat ihren Sagenkreis) fiel dieser Schatz in den guten alten Zeiten dem Feger (sweeper) der Börse anheim und der Mann machte damit ein brillantes Geschäft, hatte eine Einnahme von etwa eintausend fünfhundert Pfund Sterling jährlich und wurde, wie kaum versichert zu werden braucht, ein Gentleman, der eine elegante Villa in der Nähe von London bewohnte, Diener und Wagen und Pferde hielt und nur an den Markttagen in die Stadt fuhr, um das Einfegen des Kornes durch die von ihm besoldeten „Unterfeger“ zu beaufsichtigen. Aber ach! diese guten alten Zeiten sind dahin und der nivellirenden Geist unserer Tage hat, wie so manchen andern Sinecuren, auch der des „Fegers“ der Londoner Kornbörse ein Ende gemacht. Das Börsencomité hat den Kehricht als gemeinsames Börseneigenthum in Anspruch genommen und eine Anzahl „Feger“, die keine Gentlemen sind, besorgen das Geschäft und der Ertrag fließt in die Generalcasse der Börse, die ihn nach Gutdünken verwendet.
Tritt man aus der alten in die neue Kornbörse, so findet man in allen Hauptstücken dieselbe äußere Einrichtung, dasselbe Leben und Treiben. Die Architektur ist womöglich noch schmuckloser als drüben, aber die kirchenstuhlartigen Verkaufstellen mit den Zimmerchen dahinter und eine Anzahl Säulen mit den in verjüngtem Maßstabe aufsteigenden Laden findet man auch hier. Auch hier herrscht dieselbe Nonchalance des Verkehrs, auch hier knuspert und kaut und sichtet und wägt Alles, und auch hier liegt der Boden voll von verschüttetem Korn. Uebrigens ist der Verkaufskatalog der Kornbörse keineswegs auf diejenigen Cerealien beschränkt, die gemeinhin unter dem Namen „Korn“ zusammengefaßt werden. Neben den Säcken mit Weizen und Roggen, mit Gerste und Hafer stehen Säcke und Säckchen mit Bohnen und Erbsen, mit Raps- und Leinsamen, mit Mais und Johannisbrod. Ja, das schöne Johannisbrod, das uns in unserer Jugend so herrlich schmeckte, wird hier als Pferdefutter verkauft. Auch fertig fabricirtes Pferde- und Viehfutter in Form von cerealischen Kuchen ist ausgestellt und an mehreren Verkaufstellen handelt man ausschließlich mit Mehl. Nahe am Eingang haben die Agenten eines Sack- und Taugeschäfts und nicht weit davon die Agenten verschiedener Eisenbahn-, Dampfschiff- und Canalcompagnien ihre Bureaus aufgeschlagen, um Aufträge wegen Güterbeförderung in Empfang zu nehmen. Kurz, es fehlt an keinem cerealischen Producte und die Industrie, welche dieselben verarbeitet, der Handel, der sie zu allgemeinem Nutzen vertreibt, springen allerorten in die Augen.
Aus dem Innern der neuen Kornbörse führt eine Thür in das neue Corn Exchange Hotel, wo den Mitgliedern eine [577] Restauration, Lese- und Gesellschaftszimmer und ein bequemes Unterkommen offen steht. Aber Alles hat seine Zeit und auch dem großen Markttage der Londoner Kornbörse ist seine Grenze gesetzt. Der große Zeiger der Uhr, welche die Rückwand des Börsenraumes ziert, steht nicht mehr weit von der zweiten Nachmittagsstunde, und das Gewühl der Börsenmänner beginnt sich zu verlaufen. Auch unsere Zeit drängt. Wir folgen daher dem Menschenstrome, welcher der Vorhalle zuwogt, und sagen, indem wir die Sorge für das verschüttete Korn den „Fegern“ anheimgeben, für heute der Kornbörse und dem Leser Lebewohl.
Es mögen jetzt vier Jahre her sein, als ich von einem Ausfluge nach Paris zurückkehrte. Ich hatte meinen Koffer vorausgeschickt und eine ziemlich umfangreiche Reisetasche bei mir, deshalb sah ich mich nach einem Fiaker um, konnte aber keinen erlangen, da alle, welche am Bahnhofe standen, sofort von Ankommenden in Beschlag genommen worden waren. In einen Omnibus zu steigen hatte ich keine Lust, denn es giebt nichts Schrecklicheres als einen Pariser Omnibus.
Indem ich etwas verdrießlich meinen schweren Sack aufnahm, nahte sich mir ein Blousenmann, grüßte höflich und fragte im feinsten Französisch, ob ich vielleicht etwas zu tragen habe. Ich gab dem Manne meine Reisetasche und ging nebenher, wo ich bald bemerkte, daß der Blousenmann ein auffallend angenehmes Aeußere besaß. Seine Haltung war elegant, doch keineswegs geziert, Hand und Fuß schmal, wie die des Aristokraten. Eine Zeit lang ging ich schweigend neben dem Manne her. „Halt, da ist der Laden meines Buchbinders, warten Sie ein wenig, ich habe eine Bestellung zu machen,“ sagte ich jetzt.
„Gut, mein Herr, ich werde Sie erwarten.“
Als ich aus dem Laden herauskam, hielt ich zwei Bücher in der Hand, welche ich mir bei dieser Gelegenheit geholt hatte.
„Ich kann sie Ihnen tragen, mein Herr.“
„Schön!“
Der Blousenmann betrachtete die Bände mit Kennerblicken, zuckte ein wenig die Achseln und sprach: „Keine sonderliche Arbeit. Wollen Sie Ihre Bücher vorzüglich gut gebunden haben und auch nicht theurer, so gehen Sie zu Kaufmann, Rue Dauphine, unweit von der Statue Heinrich’s des Vierten.“
„Ich kenne diese Straße, denn ich wohne unfern von ihr. Kaufmann ist ein deutscher Name.“
„Bah, die besten Handwerker sind die Deutschen; wenig Artikel werden von Franzosen eben so gut oder wohl gar besser gemacht.“
„Das sagen Sie, ein Franzose?“
„Lieber Herr, ich bin stets unparteiisch und bei aller Vaterlandsliebe doch Kosmopolit.“
Der Mann gefiel mir; ich zündete mir eine Cigarre an und bot ihm ebenfalls eine. Mit einer graciösen Verbeugung nahm er sie.
„Ein gutes Blatt; noch einen Monat älter wird sie vortrefflich sein. Was zahlen Sie dafür, wenn ich fragen darf?“
Ich nannte den Preis.
„Ein wenig theuer; ich rauche ebenso gute und habe das Hundert einen Franken billiger.“
Er zog ein geschmackvolles Etui aus seiner Tasche und bot mir eine an. „Versuchen Sie dieselbe zu Hause; mundet sie Ihnen, so ist hier die Adresse.“
„Ich danke Ihnen.“
Wir kamen über einen der Blumenmärkte; mein Blousenmann sagte lächelnd: „Verzeihung, ich werde Sie nicht lange aufhalten,“ kaufte ein Rosenbouquet und war wieder an meiner Seite.
„Sie sind ein Pariser?“
„Nein, mein Herr, allein ich lebe schon lange hier. Sie scheinen ein Deutscher zu sein?“
„Ja, was Sie leicht hören können.“
„Durchaus nicht, Sie sprechen vollkommen Französisch, an Ihrem Aeußern errieth ich Ihre Nationalität. Ich war auch schon in Deutschland, am längsten in Sachsen. Dresden ist eine reizende Stadt, auch Leipzig hat mir sehr gefallen.“
„Ah, da sprechen Sie Deutsch, mein Herr.“
„Nicht sonderlich, ich habe es sechs Jahr nicht mehr geredet, lese es aber noch. Doch, hier sind wir vor Ihrer Wohnung.“
Der Blousenmann trug mein Gepäck die drei Treppen hinauf und legte es vor der Thür meines Zimmers nieder.
„Wie viel bin ich Ihnen schuldig?“
„Geben Sie was Sie wollen, mein Herr.“
Ich hatte keine kleinere Münze als ein Fünffrankenstück, der Mann hatte etwas so Feines, ja ich möchte sagen Vornehmes, daß ich es ihm freundlich gab. Er dankte und war mit unglaublicher Schnelligkeit verschwunden. Einem andern Blousenmanne würde ich nicht mehr als zwei Franken gegeben haben.
Einige Tage später wandelte ich in dem Tuileriengarten umher, als mein Blick auf eine schlanke junge Dame von ungewöhnlichem Liebreiz fiel. Natürlich bemerkte ich endlich auch den Herrn, an dessen Arm sie hing, und war nicht wenig erstaunt über dessen Aehnlichkeit mit meinem Blousenmann. Er selbst konnte es aber unmöglich sein, denn der Anzug des Herrn, den ich vor mir sah, war so fein und elegant, wie ihn nur Männer aus den höheren Ständen zu tragen pflegen. Ich faßte ihn scharf in das Auge, er schritt mit vornehmer Gleichgültigkeit an mir vorüber. Einige Tage nach jener Begegnung trat einer meiner Freunde bei mir ein, welcher, wie ich, Mitglied eines Männergesangvereins ist. Er brachte ein mir neues Männerquartett, welches mir beim Durchlesen sehr gefiel.
„Haben Sie die Stimmen dazu? Wir könnten es bei unserer nächsten Versammlung studiren.“
„Ich habe keine Stimmen, und es wird schwer sein, sie rasch zu schaffen.“
„Merkwürdig, daß in Paris so ein großer Mangel an correcten Notenschreibern ist.“
„Gar nicht merkwürdig, die Franzosen sind nicht so musikalisch wie wir Deutschen. Wollen Sie aber Compositionen abgeschrieben haben, so gehen Sie nur zu Haar und Steinert. In diese Buchhandlung kommt wöchentlich ein junger Mann und holt ab, was dort für ihn niedergelegt wird; er schreibt sehr gut und richtig und ist nicht übertrieben theuer.“
Ich befolgte den Rath meines Landsmannes und trug denselben Tag noch einige Musikalien nach der deutschen Buchhandlung, um die Herren Haar und Steinert zu bitten, sie dem Copisten zu übergeben. Ich fragte nach dessen Adresse.
„Der Copist giebt seine Wohnung nicht an, ist aber vollkommen zuverlässig,“ war die Antwort.
Ich erhielt nach einigen Tagen, als ich wieder, vorfragte, die Copien, erhielt sie, mit angenehmer Schrift, durchaus richtig und zu mäßigem Preise. Als ich etwa sechs Wochen später wieder mit Musikalien in die deutsche Buchhandlung ging, sah ich einen jungen Mann, der mir bekannt vorkam.
„Da ist der Herr, welcher die Noten copirt,“ rief der Buchhändler mir zu.
„Schön. Wollen Sie diese Arbeit übernehmen?“
„Gern, mein Herr.“
„Sah ich Sie nicht schon?“
„Möglich!“
Obgleich der Notenschreiber einen grauen modernen Sommeranzug trug, wie ihn anständige Handwerker zu tragen lieben, erkannte ich doch in ihm meinen Blousenmann. Als wir zusammen die Buchhandlung verließen, sagte ich: „Die von Ihnen empfohlenen Cigarren sind vortrefflich.“
„Nicht wahr?“
„Sie sind wohl sehr musikalisch?“
„Etwas; ich lernte in Leipzig einige Zeit singen.“
„Aber dann ist es mir unbegreiflich, daß –“
„Ah, daß ich auch eine geringere Arbeit that? Hm, der Mensch muß zu leben verstehen! Guten Tag, mein Herr.“
[578] Mich interessirte der junge Mann im höchsten Grade und ich ging ihm durch mehrere Straßen nach. Gern hätte ich seine Wohnung erspäht, aber plötzlich bog mein Mann um eine Ecke und war im Getümmel verschwunden. Zur bestimmten Zeit erhielt ich meine Musikalien; den Schreiber selbst sah ich längere Zeit nicht, obgleich ich mir Mühe gab, ihn aufzufinden.
Es gehört zu meinen Liebhabereien, zuweilen in irgend eine Kirche zu gehen, wenn kein Gottesdienst ist, wie ich auch zuweilen, wenn ich gerade ein Schauspielhaus offen sehe, hineinschlüpfe und mich im Dunkeln bis auf die Bühne hinauf suche, um mich ein Viertelstündchen zwischen den Coulissen herumzutreiben. In der Kirche bete ich und denke der Zeit, wo ich zum ersten Male an meiner Mutter Hand in die katholische Kirche in Dresden trat, entzückt über den schönen Gesang der Italiener. Im Theater erinnere ich mich an die glückliche Knabenzeit, wo ich alle Obstdreier, welche ich reichlich von Pathen und Tanten erhielt, zusammensparte, um wöchentlich wenigstens zweimal das Theater zu besuchen, und wo ich der Ansicht war, daß die Familie Devrient die wichtigste in Europa, daß überhaupt auf Gottes Welt nichts Schöneres als ein gutes Theater sei; wo ich für jeden dramatischen Dichter, Componisten, für jeden genialen Bühnenkünstler ohne Weiteres durch das Feuer gegangen sein würde und wo ich endlich am Allerseelentage und jeden Feiertag stets einen Kranz auf das Grab des Schauspielers Stein legte, der mich als Jungen zu Thränen gerührt hatte. Glückliche Knabenzeit! – Also ich ging in eine der ältesten, finstersten Kirchen von Paris. Draußen war es drückend heiß, im Schiff der Kirche angenehm kühl. Ich setzte mich ruhig hin und phantasirte. Ein alter Kirchendiener erschien mit schleppenden Schritten, nahm einige buntgestickte Decken von den Altären und legte sie sorglich zusammen, befahl einer Frau in seinem Gefolge, die Spinngewebe nicht wieder zu übersehen, und verschwand gleich einem Schatten hinter dem Hochaltar. Jetzt rauschten Gewänder, frische liebliche Stimmen wurden hörbar, zwei junge Frauen traten ein, einfach, aber fein gekleidet.
„Habe nur keine Angst, liebes Herz,“ sprach die Kleinere, „das macht sich Alles. Siehst Du, hier stehst Du, neben Dir auf dieser Stelle Dein Verlobter. Ich habe ja mit Henri auch vor acht Monaten auf demselben Platze gestanden. Jetzt kniee nieder, so, ganz gut, Alles wird vortrefflich gehen, und setze den rechten Fuß ein wenig vor, meine Mama hat mir das befohlen, dann behältst Du das Hausregiment. Das Mittel ist probat, Henri hat mir noch nie widersprochen. So, zieh’ den Handschuh ab, gieb den Ring hin, richtig; o, meine liebe Helene, Du wirst Alles mit dem besten Anstande durchführen. Wenn Du nur nicht so entsetzlich früh getraut würdest, Ihr werdet gar keine Zuschauer haben.“
„Armand wünscht es so und ich thue Alles, was er will.“
„Thorheit, zu was bist Du denn schön und legst ein neues weißes Gewand an, wenn Dich kein Mensch außer Armand sehen und bewundern soll?“
Die Damen drehten sich um und schwebten an mir vorüber; die Schlanke, welche Helene genannt wurde, war keine Andere, als das schöne Mädchen, das ich vor mehreren Monaten im Tuileriengarten am Arme eines vermeintlichen Blousenmannes gesehen hatte. Es sollte also am nächsten Morgen getraut werden, und mit wem? Aus der Kirche tretend, begegnete ich einem meiner Bekannten, einem Maler, welcher am Odeontheater angestellt war. Wir begrüßten uns und schlenderten Arm in Arm nebeneinander her.
„Viel zu thun, lieber Duresnelle?“
„Sehr wenig; was wird denn bei uns aufgeführt? Wenn ein Stück nicht geradezu mit Glanz durchfällt, wiederholt man es zwanzig Mal. Die deutschen Bühnenschriftsteller beklagen sich über die abweisenden Manieren der Theaterregenten, sie sollen nur hierher kommen, dann werden sie Geduld lernen. Wer hier nicht Verbindungen hat oder zu einer Clique gehört, dem nützt das größte Talent nichts und Genie ist nur ein Hinderniß. Diese Tage gab mir ein junger Schriftsteller ein reizendes Lustspiel, voll Geist, dabei gemüthlich. Es hat ein Jahr beim Director des Théâtre Gymnase gelegen, jetzt hat er es zurückerhalten. Ich habe vorgestern mit dem Regisseur des Odeontheaters davon gesprochen und der Autor will es ihm geben; vielleicht setzt er bei uns die Aufführung durch.“
„Ist jetzt Probe?“
„Nein, das heißt, es werden keine Schauspieler da sein, aber eine neue Decoration von mir ist aufgestellt, das Theater wird beleuchtet sein und ich will sehen, wie sich mein Machwerk ausnimmt; es ist eine Gartenscene.“
„Darf ich mitgehen?“
„Sehr gern; da hab’ ich gleich Ihr Urtheil, mein Freund.“
Als wir nach der Prüfung der Decoration, welche vortrefflich gelungen war, auf den dunkeln Corridor traten, der zu dem Sprechzimmer des Regisseurs führt, begegnete uns ein Herr, dessen Züge ich in diesem Dämmerlicht nicht zu erkennen vermochte; der Maler, dessen Auge an diese Dunkelheit gewöhnt war, rief ihm zu: „Nun, haben Sie den Regisseur gefunden?“
„Dank Ihrer Empfehlung, er ließ sich sprechen.“
„Und wie ließ dieser Beherrscher der Geister sich vernehmen?“
„Er geruhte zu versprechen, mein Drama zu lesen; in fünf bis sechs Monaten soll ich wieder nachfragen.“
„Das ist schon viel, also Geduld! Beharrlichkeit führt zum Ziel!“
Der Autor lachte leise, und wir gingen weiter.
„Lieber Freund, wie heißt der junge Schriftsteller?“
„Delisle, aber ich glaube, es ist nur ein angenommener Name.“
„Die Stimme kam mir bekannt vor, sie erinnerte mich an einen Notenschreiber, den ich kenne und der mich interessirt.“
„Delisle ist musikalisch, ein Notenschreiber aber schwerlich.“
„Ist dieser Poet reich oder wenigstens wohlhabend?“
„Er muß Geld haben, denn er ist stets fein gekleidet, wohnt ganz hübsch und hat das sichere Wesen eines Mannes, welcher schuldenfrei ist.“
„Nun, dann hat Ihr Herr Delisle hier einen Doppelgänger.“
„Das ist möglich!“
Am andern Morgen stand ich ungewöhnlich früh auf, kleidete mich rasch an und ging nach der Kirche, in welcher ich gestern die schöne Helene erblickt und – sie möge mir verzeihen – belauscht hatte. Nur wenige Menschen waren in dem Gotteshause versammelt, in der Nähe des ersten Seitenaltares, vor welchem soeben ein junges Paar copulirt wurde. Die Braut war die liebliche Helene, der Bräutigam der junge Mann, mit welchem ich sie im Tuileriengarten gesehen hatte, der Doppelgänger meines Blousenmannes und Notenschreibers. Als das neuvermählte Paar an mir vorüberschritt, fiel ein Sonnenstrahl auf ihre Gesichter, sie strahlten von Glück. Eine größere Aehnlichkeit, als zwischen meinem Manne und dem Armand dieser bezaubernden Helene, habe ich nie gesehen. Ich wünschte im Geiste dem Ehepaare alles erdenkliche Glück und sah, wie es in die elegante Equipage stieg, welche vor der Kirchthür es erwartete.
Wieder vergingen einige Wochen, in denen ich weder meinen Blousenmann, noch die schöne Helene sah. Eines Abends ging ich in das Théâtre Gymnase und traf dort einen mir bekannten Buchdruckereibesitzer. Wir sprachen über Dieses und Jenes, auch über ein eben erschienenes neues Buch, dessen viele Druckfehler damals das Lesepublicum sehr belustigten.
„Das kommt davon, wenn leichtsinnige oder ungebildete Menschen die Correctur besorgen,“ bemerkte mein Bekannter; „in meiner Officin kommt dergleichen nicht vor, ich habe einen Corrector, der nie einen Fehler übersieht, ja oft sogar dem Autor mit seinen Kenntnissen aushilft. Aber lupus in fabula, da ist der Gegenstand meines Lobes. Sehen Sie dorthin!“
Ich folgte der Richtung von Herrn Leoni’s Augen und – unfern von uns saßen in einer Loge Herr Armand nebst Gemahlin.
„Wie, dieser elegante Mann ist Ihr Corrector?“
„Warum nicht? Ich sagte Ihnen ja eben, daß er ein sehr gebildeter Mann ist.“
„Jedenfalls ein sehr fleißiger,“ dachte ich, „aber mein Blousenmann? Unmöglich.“
„An einem schönen Tage erhielt ich ein Billet, in welchem die alte Madame Genton mir meldete, daß sie die beiden Gemächer, welche ich bewohnte, fortan selbst brauche. Ich sah mich also nach einer anderen Wohnung um und fand eine, die mir zusagte, auf der Place de la Concorde, und zum Glück nicht höher, als im dritten Stock. Eines Abends öffnete ich das Fenster und hörte im Zimmer über mir von einer angenehmen Baritonstimme ein deutsches Lied, aber in französischer Uebersetzung, sehr gut vortragen. Auf meine Frage, wer über mir wohne, sagte der Portier: [579] „Herr von Dunois nebst Gemahlin und Dienerin, ein hübsches, junges Paar. Sie haben den ganzen vierten Stock gemiethet; zwei Zimmer bewohnt eine ältliche Malerin, Mademoiselle Dufour.“
Ich überlegte, ob ich Herrn von Dunois meinen Besuch als Hausgenosse machen solle oder nicht, unterließ es aber, weil mir der Portier, den ich ein wenig ausfragte, sagte, Herr und Frau Dunois lebten nur für sich.
„Der Winter rückte näher und ich kam auf den Einfall, bevor es noch kälter würde, Freunde im Elsaß zu besuchen, welche mich eingeladen hatten. Ich beschloß, mit dem ersten Zuge zu reisen; als ich auf die Straße trat, bemerkte ich drei Schritte vor mir einen Blousenmann, welcher ebenfalls nach dem Bahnhofe ging, wo er sich in der Halle hinstellte, um die Ankunft des ersten Zuges zu erwarten.
„Schon beim Geschäft?“ rief ich ihn an.
„Ja, Herr, der Arbeiter muß früh aufstehen.“
Ich ging weiter, mich abermals fragend: „Sind Herr Delisle und dieser Mann wirklich nicht identisch?“
Als ich nach zwei Wochen zurückkam, begegnete ich noch an demselben Tage dem Decorationsmaler im Grand Café.
„Denken Sie, Eugen, ich habe es durchgesetzt, das Drama von Delisle ist angenommen.“
„Das freut mich für Sie. Wann wird es in Scene gehen?“
„O, sobald noch nicht, vielleicht in sechs Monaten, vielleicht über’s Jahr.“
„Und der Titel?“
„‚Der Mensch muß zu leben verstehen.‘ Der Inhalt ist etwas unwahrscheinlich, doch nicht unmöglich, das Ganze höchst unterhaltend.“
Ich hatte diesen Titel schon einmal gehört, nur wußte ich nicht wo. Eine mir liebe Arbeit und nasses Wetter fesselten mich mehrere Tage an das Zimmer. Eines Abends hörte ich über mir wieder singen, und jetzt hielt es mich nicht länger, ich nahm meinen Hut und stieg die Treppe hinauf, um mich als Hausgenossen und dankbaren Bewunderer des Sängers vorzustellen. Die Dienerin meldete mich an, ich wurde angenommen und in ein sehr behaglich eingerichtetes Gemach geführt. Am Kamin, dessen Feuer das blasse, schöne Gesicht der Dame beleuchtete, saß Helene; mein Hausgenosse, Herr von Dunois, war der Doppelgänger meines Blousenmannes, auch des Ersteren Sprache war wie die meines Mannes. Bald kam ich mit Herrn von Dunois in ein anziehendes Gespräch; als ich mich verabschieden wollte, ward ich zu längerem Bleiben aufgefordert. Die junge Frau machte Thee für uns Drei und dann musicirten wir. Später kam die Malerin und ergoß sich in bittere Klagen über allerlei Aerger mit Kunsthändlern. Frau von Dunois versuchte lieblich, sie zu trösten, doch Herr von Dunois lachte: „Ah, bah! Wer nimmt auch Alles so schwer wie Sie, Mademoiselle Dufour; der Mensch muß zu leben verstehen.“
„Das ist der Titel eines neuen Dramas, welches wir nächstens im Odeon-Theater sehen werden; es ist von Delisle.“
Herr von Dunois lächelte ein wenig und sagte: „Im Vertrauen, da wir Hausgenossen sind und hoffentlich Freunde werden, das Stück ist von mir. Doch behalten Sie dies vor der Hand noch für sich.“
„Zuverlässig, Herr von Dunois.“
Als wir bekannter wurden, sagte ich einmal zu ihm, daß er einen Doppelgänger habe. Er lachte.
„Nun, jetzt, wo ich Sie genau kenne, will ich es Ihnen gestehen: der Blousenmann steht vor Ihnen.“
„Wie, Blousenmann, Notenschreiber, Corrector, dramatischer Schriftsteller in Einer Person?“
„Ah, bah, der Mensch muß zu leben verstehen. Hören Sie meine Geschichte. Meine Kindheit war die traurigste, soweit die Kindheit eines gesunden Jungen trübselig sein kann. Ich wohnte mit meinen Eltern in einer engen Gasse im sechsten Stockwerk und mußte oft Tage lang zu Hause bleiben, weil ich keine Schuhe hatte. Mein Vater wurde Herr Baron genannt, er las viel, seufzte über seine Armuth und gar oft gingen wir Drei, Vater, Mutter und ich, hungrig zu Bett. Eines Tages kam ein Jugendfreund meines Vaters und bot ihm eine Stelle an. Mein Vater erwiderte: ‚Wie gern würde ich sie annehmen, hieße ich nicht Baron S.‘
‚Leider macht unser Stand so Vieles für uns unmöglich, noblesse oblige,‘ bemerkte meine Mutter.
Der Freund lachte, zuckte die Achseln, ging und kam nie wieder. Als ich vierzehn Jahre alt war, starben meine Eltern an Einem Tage an der Cholera. Ich beweinte sie aufrichtig und dachte nach, wovon und wie ich von jetzt an leben sollte. Meine Kenntnisse waren gering, denn es hatte an Geld gefehlt, um mich in eine Schule schicken zu können. Ich erinnerte mich des Freundes meiner Eltern und suchte ihn auf, ihn um einen Rath zu bitten. Er hörte mich freundlich an, ehe er fragte: ‚Was können und wünschen Sie, Armand?‘
‚Ich kann wenig und wünsche mir Kenntnisse und durch diese meinen Unterhalt zu erwerben. Ich besitze jetzt nichts.‘
‚Gut, Armand, ich will Ihnen Aufnahme in eine gute Schule verschaffen, und sobald Sie sich Geld zu erwerben vermögen, sollen Sie mir meine Auslagen wieder erstatten. Doch noch Eins: Sie sind Baron, welche Arbeit nennen Sie standesgemäß?‘
‚Jede, welche ehrlich ist; vom Baronstitel kann ich wahrhaftig nicht satt werden.‘
‚Sehr vernünftig, mein lieber Armand,‘ lachte er, ‚das Leben scheint Manchem eine Last, dem Andern nur ein Vergnügen, Dieser verkürzt es sich selbst, Jener will es ewig haben, meine Devise ist: Der Mensch muß zu leben verstehen.‘
Ich lernte fleißig, da ich aber doch Kleider brauchte, suchte ich Geld zu erwerben. Ich schrieb für Autoren die Manuscripte in das Reine, las später Correcturen, und weil ich doch Bewegung brauchte und nicht Zeit zum Spazierengehen hatte, so ging ich täglich früh und Abends, nachdem ich eine Blouse übergeworfen und eine Mütze aufgesetzt hatte, auf einen der Bahnhöfe und trug, was ich nicht zu schwer fand und eben bekommen konnte. Ich machte damit täglich drei bis fünf Franken, nie weniger, zuweilen mehr. Als ich eben ausstudirt, starb mein bester Freund, der für mich gesorgt hatte, mehr als mein Vater. Er hinterließ mir einige Pretiosen und dreitausend Franken. Einen Theil des Geldes legte ich in eine Sparcasse, den andern benutzte ich zu einer Reise nach Deutschland, wo ich viel lernte. Ich spürte die Neigung, Schriftsteller zu werden, und täglich wuchs mein Schaffenstrieb. Ich wollte für die Bühne schreiben und hatte mir demnach ein hohes Ziel gesteckt. Aber, ehe ich Ruf gewinnen kann, ehe mein Drama zur Aufführung kommt, muß ich doch leben! Und wie kann ich, wenn ich Dramen schreiben will, Geld erwerben? So dachte ich! Ich beschloß also, nach wie vor jeden Tag wenigstens einmal den Lastträger zu machen, um doch tagtäglich etwas Geld zu erwerben, auch wandte ich jede Woche einen, zuweilen auch zwei Tage auf Lesung von Correcturen. Ich habe, da ich leicht arbeite, auch einige Romane geschrieben, welche mit Beifall aufgenommen und mir ziemlich hoch honorirt wurden, allein die Bühne lockte mich mehr als das Gebiet des Romans. Ich miethete mir eine ländliche Wohnung in der Nähe des Südbahnhofes und lebte daselbst, meine Zeit zwischen Hand- und Kopfarbeit theilend, sehr behaglich. Vor etwa zwei Jahren sah ich zum ersten Mal meine Helene, zu einer Zeit, wo ich eben Herr und nicht Diener war. Später hat sie mir gestanden, daß sie auch mich bemerkt gehabt hat; unsere Liebe war: Liebe auf den ersten Blick, gegenseitig, folglich glücklich! Als ich Helenen näher kennen lernte, entdeckte ich täglich schönere Eigenschaften des Geistes und Herzens an ihr und erbat von ihrer Tante – Helene ist eine Waise – die Genehmigung, mich um der Nichte Herz bewerben zu dürfen. Wir verlobten uns, von Heirath wollte aber Madame Leon eher nichts wissen, als bis ich meiner Braut eine gesicherte Existenz bieten könnte, da Helene selbst nur ein sehr geringes Vermögen besitzt. Indeß, ich hatte durchaus nicht Lust, Helenen und mir das Leben durch Hoffen und Harren zu verbittern. Ich arbeitete einige Monate angestrengt, um ein hübsches Sümmchen in der Hand zu haben, dann bestürmte ich die Tante so lange mit Bitten, bis sie nachgab, und – meine geliebte Braut wurde meine Frau. Ihr sagte ich ehrlich, wie hoch sich meine Einnahmen beliefen, und sie erklärte, daß es ihr ebenfalls Freude machen würde, Geld zu erwerben. Sie ist eine ebenso geschickte wie flinke Stickerin; die Morgenstunden, welche ich bei meinem Schreibtische zubringe, benutzt sie, um am Stickrahmen allerhand Zierlichkeiten zu schaffen, welche sie in die Läden abliefert. Die späten Nachmittags- und Abendstunden benützen wir zum Ausgehen, oder ich lese ihr vor, während sie näht, kurz, wir leben höchst vergnügt. Da wir einander das Wort gegeben haben, vor vier Uhr, wo wir speisen, niemals Feierabend zu machen, so freuen wir uns [580] jeden Tag wie Schulkinder auf den Glockenschlag, und das einfache Mahl mundet uns herrlich.“
„Und was sagt Ihre Gemahlin zu Ihren Morgenspaziergängen als Blousenmann?“
„Davon weiß sie nichts. So gutmüthig und opferwillig wie sie ist, würde sie sich Entbehrungen auflegen, was mir peinlich wäre. Ich schleiche mich früh, wenn sie noch schläft, fort, sie glaubt, daß ich einzig meiner Gesundheit wegen einen Morgenspaziergang mache; wenn ich zurückkehre, finde ich sie, mich freudig begrüßend, bei der Bereitung des Frühstückes, welches mir doppelt willkommen ist. Niemand weiß, daß der Blousenmann und Notenschreiber mit dem Schriftsteller identisch, und kommt es einmal später an das Licht, nun, dann bin ich entweder so unbekannt, daß sich Niemand darum bekümmert, oder so berühmt, daß es mir in den Augen romantischer Personen eine Glorie verleiht, daß ich einst auch Handarbeiter war, denn mit den wachsenden Einnahmen werde ich die Blouse ablegen. Der Mensch muß eben zu leben verstehen!“
Wie viel Tausend Europäer stürzen jährlich in’s Wasser und verlieren ihr Leben im Kampfe mit diesem fürchterlichen Elemente! Was für Mittel hat denn nun die europäische Vernunft ausgesonnen, um solchem Unglücke vorzubeugen, und mit welchem Erfolge? Sie hat Korkwämser, Schwimmgürtel und andere artige Dinge vorgeschlagen, die wirklich gegen das Ertrinken sichern, wenn man sie – am Leibe hat. Da sitzt aber eben der Knoten; Niemand hat sie am Leibe, wenn er in’s Wasser fällt. Es ist zum Verwundern, daß die Vernunft hierbei nicht mit der Mode in Verabredung trat, was doch sonst so häufig der Fall ist; daß sie, wenn diese Dame Pochen, Culs de Paris und Andres mehr gäng und gebe machte, daß sie, sage ich, diese Dinge nicht von Kork lieferte. So wären die Damen vor dem Ertrinken gesichert gewesen; den Herren hätte sie dann auch leicht durch falsche Schultern und andere Zusätze zu Hülfe kommen können.
Sie setzt Prämien auf die Rettung der Verunglückten. Das ist vielleicht schön, wenn es an innerlichen Prämien fehlt und wenn die Retter im Wasser nicht ebenso rettungslos sind, wie die zu Rettenden; wenn ihre ganze Hülfe nicht allein darin besteht, am Ufer um Hülfe zu schreien, Kähne, Stangen etc. zu suchen, indeß der Unglückliche unterliegt.
Sie zieht endlich den armen, leblosen Kämpfer heraus und überliefert ihn der medicinischen Kunst, um ihn von dieser methodisch in’s süße Leben zurückführen zu lassen. Fern sei aller Spott, nur Achtung, wahre, innige Achtung, fühle ich für die menschenfreundlichen Aerzte, die hierin arbeiten. Aber bringt ein Naturkind herbei, von den sogenannten Wilden, die mit dem Wasser so vertraut wie mit der Luft sind, laßt es Alles mit ansehen, und es wird am Ende, wenn der Todte wirklich wieder aufersteht, fragen: „Wendet Ihr Europäer denn diese Mittel an, weil Euer Bruder ertrunken ist, oder laßt Ihr ihn ertrinken, damit Ihr Gelegenheit habt, diese Mittel anzuwenden?“
Dergleichen Anführungen und Auseinandersetzungen wären vielleicht vor siebenzig Jahren nöthig gewesen, um die Schwimmkunst dem großen Publicum zu empfehlen, und man brachte dergleichen Empfehlungen damals wirklich vor. Wir, das gegenwärtig lebende Geschlecht, wollen uns ein wenig darauf zu Gute thun, daß wir nicht mehr so pathetischer Ansprachen bedürfen, um uns zu überzeugen, daß Reinlichkeit und körperliche Rüstigkeit wünschenswerthe Dinge sind. In allen nur einigermaßen bedeutenderen deutschen Städten existiren, zum Theil mit den Schulen und sonstigen Bildungsinstituten verbunden, jetzt seit einer Reihe von Jahren schon mehr oder weniger zweckmäßig eingerichtete öffentliche Schwimmanstalten. Der Prospect, mit welchem das Gründungscomité für die auf Actien in’s Leben zu rufende neue Schwimmanstalt zu Leipzig, der die Stadt die Ausfüllung einer in der Reihe der öffentlichen Wohlfahrtsinstitute entstandenen fühlbaren Lücke verdankt, am 26. Februar 1866 vor die Oeffentlichkeit trat, konnte mithin den wohlthätigen Einfluß des Badens und Schwimmens auf die Entwickelung und den Gesundheitszustand von Jung und Alt als eine bekannte und anerkannte Sache voraussetzen.
Seit fast einem Vierteljahrhundert besaß Leipzig eine Schwimmanstalt; sie befand sich an der Westseite der Stadt, wo die Elster sich dieser in einem kleinen Bogen zuwendet, ein wenig oberhalb der Stelle, an welcher der Marschall Poniatowsky 1813 ertrank. Als sie angelegt wurde, breitete sich noch auf beiden Seiten des Flusses eine im Privatbesitz befindliche Wiese aus. Im Mai 1842 von einem Privatmanne, Herrn Neubert, begründet und hauptsächlich nach den Vorschlägen des bekannten Schriftstellers von Corvin-Wiersbitzki erbaut, erhielt sie im Laufe des Sommers unter dessen Direction ihre Vollendung. Ueber zwanzig Jahre trafen sich seitdem die Freunde der Schwimmkunst und des kühlenden Flußbades in ihren Räumen und fühlten sich heimisch darin. Inzwischen wuchs die Stadt, Gärten und Wiesen machten einem neuen Theile derselben Platz und der Zeitpunkt rückte heran, wo die vorschreitende Bebauung der nächsten Umgebung den längeren Fortbestand der Anstalt unzulässig machen mußte. Die Häuserreihen, welche auf unserem Bilde der neuen Schwimmanstalt den Hintergrund füllen, umfaßten völlig die Stelle, welche ihre Vorgängerin einnahm.
Es war natürlich, daß die Frage über die Verlegung die betheiligten und maßgebenden Kreise lebhaft beschäftigte. In den Erwägungen, welche beiderseits darüber gepflogen wurden, stellte sich endgültig die Ansicht fest, daß für das Unternehmen besser gesorgt sein würde, wenn es nicht von Seiten der Stadt selbst ausgeführt und erhalten werde, da diese einestheils weder so schnell, noch so wohlfeil bauen, anderntheils auch nicht einmal so vortheilhaft verwalten könne, wie Privatleute. Beliefen sich doch die Herstellungskosten der allerdings sehr vollständigen und großartig ausgedachten Schwimmanstalt, welche das Rathsbauamt im Auftrage projectirte, auf die abschreckend hohe Summe von mehr als hundertundzwanzigtausend Thalern. Der Rath entschloß sich daher, sobald im Spätsommer vorigen Jahres die Neubert’sche Anstalt für immer geschlossen war, einer größeren Anzahl mehrjähriger Besucher derselben in einer am 23. October abgehaltenen Versammlung die Bildung einer Actiengesellschaft für den vorliegenden Zweck zu empfehlen, dieser aber die unentgeltliche Ueberlassung des erforderlichen Areals zu verheißen. Ein in jener Versammlung gewählter vorbereitender Ausschuß prüfte hierauf wiederholentlich die Bedürfnisse und Aussichten der Anstalt, suchte sich aus den an ähnlichen Unternehmungen andernorts gemachten Erfahrungen ein selbstständiges Urtheil zu bilden, ließ die Baupläne des Rathsbauamtes vereinfachen und durch den Architekten Herrn Dimpfel neue Risse und Kostenanschläge entwerfen, erlangte später seitens der Stadt die feste Zusicherung, daß diese den erforderlichen Flächenraum der zu bildenden Gesellschaft auf fünfundzwanzig Jahre unentgeltlich überlassen, das Bassin, sowie Zu- und Abflußcanal für Rechnung der Stadtcasse herstellen und für kürzeste Zugänge sorgen wolle. Endlich fand der Beschluß des Rathes auch die einstimmige Genehmigung der Stadtverordneten.
Darüber war der Winter vergangen; erst im März dieses Jahres konnte die Zeichnung der bei den so gewonnenen Grundlagen noch für nothwendig, aber auch ausreichend erachteten sechshundert Actien zu fünfzig Thaler begonnen werden. Sie war schneller bewerkstelligt, als man dachte, die Gesellschaft constituirte sich und legte die weiteren Maßregeln, insbesondere auch die Ausführung des Baues und die Betriebsordnung, alsbald in die Hände eines aus fünfzehn Mitgliedern bestehenden Verwaltungsrathes. In den letzten Tagen des April geschah auf der Stelle, welche die Anstalt jetzt einnimmt, der erste Spatenstich, am 8. Juli waren die Baulichkeiten – Dank der energischen Thätigkeit des Herrn Wasserbauinspectors Georgi, welcher die Ausgrabungen leitete, des Architekten Dimpfel, welcher den Bau beaufsichtigte, und der Gewerken, der Baufabrik Wenck, Werner und Voigt und des Maurermeister Klemm – soweit gefördert, daß es möglich war, die „Saison“ zu eröffnen. Von da an ließ sich gemächlich vollenden, was eilig angefangen war. Unsere Abbildung zeigt die fertige Anstalt in reger Benutzung. Sie liegt, etwa sechszehn Minuten westlich von der Mitte der Stadt entfernt, auf einer
[581][582] Insel, welche von dem bei der im Laufe des Jahres vorgenommenen Flußregulirung geradegelegten Hauptbett der Elster nach der Stadt hin und einem für Hochfluthen offen gelassenen Arme desselben eingeschlossen wird. Ueber das erstere führt eine neue so hoch gelegte Brücke, daß die kleinen Dampfschiffe, welche jetzt die Elster von dem neuen Dorfe Plagwitz herein befahren, ungehindert darunter weg gelangen, über den letzteren eine alte ziemlich baufällige Brücke, die sogenannte Heubrücke. Jene Brücke bildet von der Plagwitzer Straße her den Hauptzugang zur Anstalt, welche durch ihre Lage auf der Insel gegen nähere Anbauten auf eine lange Reihe von Jahren gesichert erscheint.
Mitten durch die Insel führt der Länge nach ein Canal, der sich bald auf eine Strecke von einhundertachtzig Ellen zu einer fünfzig Ellen breiten teichartigen Fläche, dem eigentlichen Schwimmbecken, erweitert. Oberhalb und unterhalb der Erweiterung befinden sich Grabenköpfe, welche sie vom Canal abschließen, den Eintritt des Hochwassers verhindern und eine völlige Absperrung des Wassers möglich machen, wenn es wünschenswerth erscheinen sollte, zum Zwecke der Reinigung des Bodens das Wasser in den westlichen tief gelegenen Fluthgraben abzulassen. Das obere Stück jener Erweiterung ist bis auf eine Tiefe von vier bis sechs Ellen ausgegraben und für den ausschließlichen Gebrauch der Schwimmer bestimmt, das untere Drittel gehört den Badenden, Männern und Kindern. Es hat eine Tiefe von fünf bis anderthalb Fuß. Die ansteigende Sohle ist theils mit Ziegeln gepflastert, theils wird sie, wo der Ausflußcanal in gleicher Tiefe mit dem Schwimmbecken hindurchgeht, von einem Gitter aus Latten gebildet. Das Ganze ist von einer aus Pfählen und Pfosten gefügten Uferverkleidung eingeschlossen, welche bis zur Höhe des höchsten Wasserstandes aus Eichenholz, darüber aus Tannenholz gefugt ist und einen elf Fuß breiten, gleichfalls mit tannenen Dielen belegten Breterweg (Perron) trägt.
Zwischen dem Bad für die Schwimmer und dem für die Nichtschwimmer führt eine mit Geländern versehene Brücke von der einen Seite des Perrons zur andern; sie ist zur „Abrichtung“ bestimmt, d. h. bietet den Schwimmlehrern den Standort. An ihren Ausgängen befindet sich auf beiden Seiten ein Thürmchen mit den Vorrichtungen für kalte Sturz- und Regenbäder. Zwei Brunnen, welche hier unter dem gemauerten Boden des Bades liegen, liefern dazu ein kühleres und frischeres Wasser, als der Fluß es in der heißern Jahreszeit bringt. Im Uebrigen hat das Bassin keine besondere Einfassung, abgesehen von den Stellen, wo sich die in’s Wasser führenden Treppen befinden.
Für die Anlage und Ausstattung der Gebäude, welche das Bassin umgeben, boten die bewährten Einrichtungen der ehemaligen Neubert’schen Anstalt den Anhalt, so daß eine frühere Beschreibung der letzteren zum Theil wörtlich auf die neue übertragen werden kann, doch ist Alles höher, weiter und freier geworden. Am untern schmalen Ende (im Mittelgrunde unseres Bildes) erhebt sich nunmehr das zweistöckige massive Wirthschaftsgebäude; es enthält die Zimmer für den Expedienten, die Schwimmmeister und sonstigen Anstaltbeamten, den Restaurateur und mehrere geräumige Wirthschaftslocale zu den Seiten der Eingangshalle. An der der Stadt abgewendeten Langseite zieht sich eine große offene Auskleidehalle mit Bänken, Kleiderhaken hin, die nöthigen Badetoilettenbedürfnisse, Stiefelknechte, Spiegel, Bürsten und Kämme, liegen hier in richtigen Abständen vertheilt an Ketten oder werden aus dem mittelsten vergitterten Abschnitte der offenen Halle ausgegeben. Gegenüber in ziemlich gleicher Länge befindet sich das Gebäude, welches die Räume zum getrennten Auskleiden der Einzelnen enthält. Es besteht aus fünfzehn gleichen ziemlich quadratischen Zimmern nebeneinander. Der Eingang in dieselben ist vom Perron. Rechts und links von diesem Eingange befinden sich an den Wänden des Zimmers auf jeder Seite vier abgesonderte Zellen, die von einander durch Holzwände getrennt und durch eine besondere Thür zu verschließen sind. Diese Zellen umschließen abermals Alles, was zur Bequemlichkeit beim Aus- und Ankleiden der Badenden dient. Da das mittelste jener fünfzehn Zimmer zum Ausgeben der Wäsche an die regelmäßigen Besucher der Anstalt gebraucht wird und keine Zellen enthält, so beträgt die gesammte Zahl derselben einhundert und zwölf. Tragbare eiserne Bänke stehen zwischen den Thüren.
Dem Besucher der Anstalt, welcher durch die Eingangshalle hereintritt und sich, je nachdem er sich im geschlossenen oder offenen Raume entkleiden will, links oder rechts wendet, fallen aber am meisten die mancherlei Vorkehrungen auf, welche zur turnerischen Uebung des Springens in das Wasser und dergleichen Uebung im Wasser selber vorhanden sind: schwimmende Balken oder Walzen, schwimmende Bänke, eine Wippe mitten im Wasser, ein über demselben hängendes Seil, ein Holzkreuz, ein Floß etc. Selten sieht man diese Geräthe unbenutzt; besonders die muntere Jugend macht unaufhörlich darauf ihre Künste, führt mit kleinen Rudern bewehrt das Floß auf dem Wasserspiegel hin und her, kippt und wälzt es um, reitet auf Kreuz oder Walze, macht sich den ruhigen Sitz streitig, stürzt sich oder fällt herab und kommt so bald auf die eine, bald auf die andere Art in die wunderlichsten Lagen, bis sie mit dem Wasser so vertraut wird, wie eine Wasserratte. Die große Ausdehnung des Wasserspiegels macht es möglich, dieses Spiel zu gestatten, für das die meisten andern geschlossenen Schwimmanstalten in Flüssen den Raum nicht hergeben können. Mit besonderer Vorliebe endlich ist für die Liebhaberei der Wasserspringer gesorgt. Rechts und links liegen Breter theils fest, theils auf Federn, damit sie wippen und den Schwung des Springers vermehren, mit Matten überzogen, damit der Fuß nicht gleitet. Am obersten Ende des Schwimmbads erhebt sich bis 26 Fuß frei über dem Wasser das eigentliche Springgerüst, in der Mitte eine erhabene Brücke, unter der Schaukelreck und Schaukelringe angebracht sind, an welchen die turnfertigen Kinder, Jünglinge und Männer Leipzigs von der Höhe herab über die Wasserfläche hinausfliegen, um sich im kühnen Absprunge und Ueberschlag mitten in die Fluth zu stürzen, daneben auch ein festes Reck über dem Wasser. Schwerlich findet man gegenwärtig an einem anderen Orte derartige Vorkehrungen in gleicher Vollständigkeit zu einem schönen Ganzen vereinigt, und ebenso gewiß schwerlich eine gründlichere Benutzung, da der Sinn für turnerische Ausbildung in Leipzig lebendiger ist als irgend sonst. Wurden doch in der ersten Woche der Benutzung der neuen Schwimmanstalt 3483 einzelne Billets, außerdem zu billigerem Preise noch 91 Dutzend und endlich 241 Abonnementbillets verkauft, so daß sich ungeachtet des äußerst niedrig gegriffenen Preissatzes eine Einnahme von mehr als 525 Thaler ergab. Auch ist die Anstalt fort und fort fleißig besucht geblieben, trotz der Ungunst des Wetters und so mancher widrigen Verhältnisse in diesem verhängnißvollen Sommer. Als ein schönes Werk und Beispiel des praktischen, auf gemeinnützige Zwecke gerichteten Sinnes der Leipziger Bürgerschaft darf jedenfalls auf allgemeine Anerkennung Anspruch machen.
Ein Meerwunder. Etwa zwanzig englische Meilen Seewegs von dem Punkte entfernt, wo sich zwischen Dover und Calais die gegenüberliegenden Küsten Englands und Frankreichs am nächsten kommen, erhebt sich vor einem prachtvollen Meereshorizonte an bewaldeter, hügliger Küste die Stadt Ramsgate, eines der beliebtesten Seebäder der Londoner Mittelclassen. In der That ist es mit seinen Klippenpromenaden und Hafendämmen, seinem herrlichen Wellenschlage und seinem sandigen Strande ein reizender sommerlicher Seeaufenthalt, und was den Weltverkehr betrifft, den uns hier die nah und fern vorüberziehenden Schiffe gleichsam vor Augen demonstriren, so können sich nur sehr wenige andere Seebäder Großbritanniens mit diesem Ramsgate messen, wo sich das ganze gewaltige Handelstreiben von der Nordsee durch den Canal in den atlantischen Ocean und von dem atlantischen Ocean zurück in die Nordsee unaufhörlich vor unsern Blicken auf und nieder bewegt. Dies ist denn auch ein Hauptgrund, warum ich gerade hier so gern meine Villeggiatur halte.
Auch diesen Sommer verlebte ich, dem Dunst und Lärm der Weltstadt entronnen, ein paar genußreiche Wochen in Ramsgate. Eines Morgens vom Bade zurückkehrend, stieg ich die Ostklippe von Ramsgate hinan und warf, einen Moment auf dem steilen Wege ruhend, den Blick über die See, als das „Meerwunder“ mir in’s Auge fiel, von dem ich die Leser der Gartenlaube unterhalten will. Ein Schiffchen, nicht größer, als ein Fischerboot, aber ganz ausgestattet wie ein Dreimaster: Masten, Raaen, Stangen, Segel, Alles in größter seemännischer Vollständigkeit und, um den seltsamen Hinblick zu krönen, das ganze Fahrzeug von oben bis unten mit wehenden, weiß-roth-blauen Wimpeln geschmückt. Fast in demselben Moment wurde im Hafen die amerikanische Flagge aufgehißt und nun entdeckte [583] ich auch dieselbe gesternte und gestreifte Flagge in diminutiver Gestalt am Vorderende des kleinen Dreimasters. Die ganze Erscheinung war über alle Maßen fremdartig, beinahe märchenhaft. Man hätte glauben mögen, ein Seegespenst, eine Fata Morgana zu sehen; aber da fuhr es am hellen, lichten Tage dahin und unzweifelhaft deutlich hob seine Gestalt sich gegen die schwarzen Bäuche anderer Schiffe ab. Als ich oben auf der Terrasse der Klippe ankam, fand ich schon eine Anzahl Spaziergänger, um den dort stationirten Küstenwächter geschaart, in lebhafter Unterhaltung über das wundersame kleine Fahrzeug. Ich erfuhr nun, was ich vermuthet, daß nämlich das Schiffchen aus Amerika komme und The Red, White and Blue (Roth, Weiß und Blau) benamst; daß ferner schon vor zwei Tagen ein Canalpilot in der Nähe von Hastings an Bord gegangen sei, der zuerst die Nachricht verbreitet habe, diese Nußschale komme geraden Weges von New-York über den atlantischen Ocean, habe eine Bemannung von zwei Leuten, einem Capitän und einem Steuermann, als einzigen Passagier aber einen Hund und beabsichtige, ohne weitern Verzug seine Reise nach London fortzusetzen. Die Nachricht klang selbst für unsere an das Abenteuerlichste gewöhnten Ohren kaum glaublich, und halb staunend, halb ungläubig sahen wir dem kleinen Fahrzeug nach, bis es, um die nächste Klippe segelnd, vor unseren Blicken verschwand.
Im Laufe des Morgens wurde das Wetter stürmisch und ich hörte Tags darauf, The Red, White and Blue habe die Dienste eines Zugdampfers in Anspruch nehmen müssen und sei in dem etwa zehn englische Meilen entfernten Hafen von Margate vor Anker gegangen. Durch das ungewohnte Erlebniß und den Bericht des Küstenwächters interessirt, fuhr ich daher noch denselben Nachmittag in Begleitung einiger Freunde mit der Eisenbahn nach Margate hinüber, um womöglich an Bord zu gehen und von der Bemannung selbst über Schicksale und Bestimmung des außerordentlichen Schiffchens authentische Details zu erfahren. Wir fanden das kleine weiß-roth-blaue Meerwunder richtig im Hafen von Margate, bereits umgeben von einer Anzahl neugieriger Ruderboote. Die Bootsleute von Margate, wie nicht mehr als billig, waren in bester Stimmung. „Wollen Sie die Red, White and Blue sehen, Sir?“ schallte es uns aus einem halben Dutzend Kehlen entgegen. „Kommen Sie, Sir!“ Und bald saßen auch wir im Boote und flogen dem Amerikaner zu.
Da lag der kleine Heros, nicht mehr als etwa sechsundzwanzig Fuß lang, sechs Fuß breit, von dritthalb Tonnen Gehalt, wettergeschlagen, aber noch immer in seetüchtigem Zustande. Man durfte nicht daran zweifeln, alle Zeugen wiederholten die erstaunliche Geschichte, dies Miniaturschiff war von New-York über den atlantischen Ocean gesegelt. Zwei furchtlose Männer, begleitet von einem Hunde, hatten das so oft besprochene, aber noch nie vollendete Wagstück ausgeführt. Da standen sie, die Hände in den Taschen, offenbar mit sich selbst zufrieden, und tauschten mit ihren bewundernden Besuchern heitere Worte aus. Endlich kam auch an uns die Reihe und wir hörten als Zweck der Fahrt: die Yankees seien herübergekommen, um bei der großen internationalen Ausstellung von 1867 in Paris zugegen zu sein und „den Franzosen zu zeigen, daß sie nicht Alles zusammen hätten ohne eine Curiosität wie diese, die den übrigen Dingen zur Folie dienen könne.“
„Also eine Yankeespeculation!“ wird der Leser ausrufen. Ja wohl, weiter nichts, aber trotzdem nicht minderer Beachtung würdig. Alles wohl berechnet. Denn, um zur Ausstellung anzukommen, hätte man bis zum Februar des nächsten Jahres Zeit gehabt; allein mitten in den Winterstürmen würde eine solche Fahrt geradezu Wahnsinn gewesen sein. Die einzige Chance des Gelingens bot der Sommer, und mitten im Sommer segelte man demnach von New-York ab und langte nach siebenunddreißig Tagen an der englischen Küste in Margate an. Aber doch, welche Kühnheit, welche Ausdauer, welches Geschick setzt diese Fahrt voraus! – in ihrer Art in Wahrheit kaum eine weniger wunderbare Unternehmung, als die atlantische Telegraphen-Expedition, deren Größe die Welt in Staunen setzt. Ich will nur noch erwähnen, daß die Argonauten des Red, White and Blue, von denen der eine sich Capitän Hudson, der andere Mr. Fitch nennt, bald nach ihrer Abfahrt von New-York bei regnerisch stürmischem Wetter die Entdeckung machten, daß das Deck ihres Schiffchens lecke, und somit nicht allein ihren Reisevorrath durchnäßt sahen, sondern auch den größten Theil des Weges in nassen Kleidern zubringen mußten. Sie hatten einen Kochofen an Bord, konnten denselben jedoch aus eben jenem Grunde nur bei seltenen Gelegenheiten gebrauchen und waren nicht wenig froh, als der Capitän eines Schiffes, dem sie am südwestlichen Ende des englischen Canals begegneten, ihnen eine Flasche Branntwein zum Geschenk machte, um ihre steif und müde gewordenen Glieder zu erwärmen. Die Provisionen an Bord bestanden aus einhundert und zwanzig Gallonen Wasser, zweihundert Pfund Brod, fünf Pfund Kaffee, zwei Pfund Thee, vier Kasten geräucherte Häringe, fünfzehn Pfund geräuchertes Rindfleisch, siebenzehn Pfund Käse, allerlei Gewürz und Pickles, einer Anzahl hermetisch verschlossener Kasten mit präparirten Speisen und sechs Flaschen Branntwein und Whiskey. Das Innere, welches durch eine Fallthür erreicht wird, enthält vier Gemächer, zwei cylinderförmige an den Seiten, zwei viereckige von etwa vier Quadratfuß Flächeninhalt an beiden Enden. Die Seitengemächer geben genügenden Raum zum Liegen, sehen aber übrigens Särgen ähnlicher, als Betten. Mehrmals warfen Wind und Wellen das kleine Fahrzeug senkrecht auf seine Starbordseite und nur mühsam konnte die eingeströmte See durch Ausschöpfen entfernt werden. Die Schiffsuhr wurde gleich anfangs durch Nässe unbrauchbar, ein Chronometer fehlte, Compaß und Quadrant allein mußten daher als Wegweiser und Zeitmesser Dienste thun.
Am schlechtesten befand sich übrigens während der ganzen Fahrt der vierbeinige Passagier, der Hund, obgleich seine Genossen ihr Möglichstes thaten, ihn aufzuheitern. Als wir an Bord des Red, White and Blue waren, lag die arme Bestie mißmuthig, krank, mit gesenktem Kopf und Ohren in der Ecke neben dem Steuerruder und gab nur von Zeit zu Zeit, wenn man sich ihm näherte, ein wehmüthiges Winseln von sich. Capitän Hudson und sein Genosse erfreuten sich des unsäglichen Luxus, wieder trockenes Zeug auf dem Leibe zu haben und ihre Gliedmaßen yankeeartig bequem der Länge und Breite nach ausstrecken zu können. Boote auf Boote fuhren inzwischen von allen Selten heran und noch bei unserer Rückfahrt sahen wir The Red, White fand Blue ringsum von neugierigen Besuchern umgeben. Später erfuhr ich aus der Zeitung, daß die arme Fanny (so hieß der Hund) während der Weiterfahrt von Margate auf der Themse gestorben sei. Das Schiffchen ist seitdem nach dem Krystallpalast in Sydenham transportirt, wo es wahrscheinlich noch eine Zeit lang das sensationslustige Londoner Publicum herbeilocken wird, ehe es zu der von seinen Eigenthümern beabsichtigten Rundreise in den englischen und französischen Häfen wieder unter Segel geht und (falls Neptun ihm auch ferner seinen allerhöchsten Schutz gewährt) im nächsten Jahre schließlich auf der großen Ausstellung in Paris erscheint.
Berichterstatter im Felde. So lang es noch ohne Gefechte vorwärts geht, hat der Berichterstatter eine ruhigere Thätigkeit; er bewegt sich mit dem Hauptquartier weiter und zieht nur nach Ankunft im Quartier, welches auch nicht so bald gefunden zu sein pflegt – denn er muß sich selber einquartieren – Erkundigungen über etwaige Vorkommnisse ein, resp. legt dem Officier des Hauptquartiers, welcher damit beauftragt ist, Rechenschaft ab über das, was er heute zu schreiben beabsichtigt. Diese beiderseitige Mühwaltung ist nöthig, da der Feder ganz ohne Arg eine Nachricht entschlüpfen kann, deren Mittheilung aus strategischen Rücksichten unterbleiben muß. Der Friedensverband der Truppentheile z. B. ist gelöst, um dem Feind die Schätzung der gegenüberstehenden Truppen zu erschweren, es wäre daher unvorsichtig, wollte man bestimmte Regimenter, denen man begegnet ist, nennen, bevor der Feind mit ihnen zusammengetroffen ist. Aehnliche Dinge, die zu vermeiden sind, lernt der aufmerksame Beobachter bald ab; er lernt einen Officier und Beamten des Hauptquartiers nach dem andern kennen, er unterscheidet bald Diejenigen, welche ihm gern mit Rath und That an die Hand gehen, und es währt nicht lange, so beginnt der Correspondent sich als ein Mitglied des Hauptquartierverbandes zu fühlen.
Von Stunde zu Stunde rückt man dem Feind näher und bald entspinnen sich kleine Vorpostengefechte, welche immer größere Dimensionen annehmen, bis eines Tages deutlich Kanonendonner gehört wird. Nun beginnen die Schwierigkeiten. Der Correspondent muß suchen, eiligst vorzugehen, ohne daß er darum das Hauptquartier aus den Augen lassen darf, denn bis zur Entscheidung des Kampfes weiß der Commandirende selbst nicht, wohin er gehen wird, und nachher weiß es außer den wenigen Ordonnanzen, welche die Wagencolonne dorthin zu bestellen haben, auch Niemand, weil die Vorsicht diese Geheimhaltung gebietet. Aber auch die Truppentheile muß der Correspondent aufzufinden suchen, welche im Gefecht gewesen sind, da er hier nur interessante Details erfahren kann. Endlich mit Material ausgerüstet, den Tag über genährt von den wenigen Lebensmitteln, die er bei sich führte und die, in der Eile verzehrt, auch wohl häufig mit darbenden Seelen noch getheilt werden mußten, sucht er das Hauptquartier zu erreichen, wo Censor und Post, seine beiden Lebenselemente, allein zu finden sind. Eiligst muß nun geschrieben werden, da die Post gewöhnlich binnen Kurzem abgeht, dann erst ist’s Zeit, sich nach einem Unterkommen umzusehen und zu versuchen, ob irgend Jemand gegen Cigarren, Branntwein und sehr gute Worte dem correspondirenden Magen etwas Bouillon, Fleisch und Brod – natürlich Feldkessel-Kochkunst – zukommen läßt. So geht es dann fast einen, wie alle Tage, wenigstens in dem letzten Feldzuge, wo man beinahe nur verlassene Städte und Dörfer antraf. Nunmehr werden auch Cigarren und Schnaps des Marketenders, die einzige gangbare Münze, immer rarer, wodurch neue Schwierigkeiten entstehen und der Vertreter von Tausenden emsiger Leser, deren Interesse an der Sache zu befriedigen seine Aufgabe ist, zeitweilig zum Almosen-Empfänger herabsinkt. Er lebt so stets in Vorschuß und kann seine drückende Schuld erst in Städten, wo das Geld einen Werth hat, tilgen.
Eine einzige Ausnahme macht der Timescorrespondent, der drei Pferde mit sich führt, ohne daß sie verhungern, und der selbst ewig heiter aussieht, wie der Himmel Italiens. Er reitet frank und frei mit in jedes Schloß, mag der Raum auch noch so knapp sein, scheint nie Mangel zu leiden und Eile drückt ihn nicht, denn er steht ohne Concurrenz da und es ist gleichgültig, ob er heut’ oder morgen seiner Times einen Bericht schickt; dazu ist er in Allem ungenirt und stört, wenn er es für nöthig befindet, die Postbeamten noch Nachts ein Uhr aus dem Schlafe, um ihnen mit freundlichem Lächeln seinen Brief zu übergeben. Seine Einkünfte mögen ihm wohl eine starke Stütze bei dieser Sicherheit sein, denn von den Officieren eines Tages gefragt, auf wieviel dieselben sich etwa belaufen möchten, fragte er seinerseits zuvor nach den Einnahmen eines derselben, eines preußischen Lieutenants, und als dieser, wenn ich nicht irre, antwortete: monatlich zweiundzwanzig Thaler, erwiderte er, er könne englisches Geld nicht so rasch in preußisches übersetzen, er habe aber etwa so viel jeden Tag zu verzehren.
Das Vorgehen zum Gefechte selbst ist eine der mühsamsten Aufgaben. Civilkleidung fällt in einer Gegend, wo nur Uniformen zu sehen sind, doppelt auf. Die Vorsicht gebietet also den Officieren, sich über den Zweck der Anwesenheit eines Civilisten zu erkundigen, was auf hunderterlei Weise geschieht, worunter die der Höflichkeit bis zur Ueberzeugung vom Gegentheil allerdings die allein richtige, aber seltener angewandte ist. Jeder vorbeiziehende Soldat betrachtet den einsamen Civilmenschen mit Aufmerksamkeit und alberne Bemerkungen wie: „Der wird wohl auch bald gehängt werden“ etc. fließen in Menge. Auch dieses wird man bald gewöhnt, endlich jedoch, vom steten Fragen und Antwortgeben erschöpft, läßt der arme Correspondent sich am Rande eines Kornfeldes nieder, um seinen Vorräthen zuzusprechen. Da dröhnt Pferdegetrappel heran, Sand fliegt ihm in’s Gesicht und vor ihm hält ein eben aus der Artillerieschule kommender blutjunger Lieutenant, der es für durchaus nothwendig hält, seinerseits ein Examen abzuhalten. Plötzlich rasselt in breiten Colonnen Artillerie heran und [584] nur ein Sprung hinter einen nahegelegenen Baum rettet den Preßvertreter vor einer gründlichen Presse. Ein anderes Mal marschirt wieder in seinem ahnungslosen Rücken zahllose Cavalerie in Schlachtordnung auf und dröhnt im Galopp über das Feld daher; wieder ein Glück, daß der Correspondent noch ein einsam stehendes Haus erreicht. Nur ein gutes Pferd kann ihn dauernd vor Schaden bewahren, doch, die deutsche Presse pflegt außer dem Hippogryphen kein zweites in ihren Stallungen zu haben, Wagen aber kann man erstens in Kriegszeiten nicht miethen und zweitens nützen sie nichts, sondern hindern beim Vorgehen.
Kommt das Hauptquartier nach Wochen wieder einmal in eine große Stadt, wie Brünn oder Prag, wo das Geld nicht mehr Chimäre ist, dann tritt auch der deutsche Correspondent aus seinem Nichts hervor, jedoch nur, um in kurzer Zeit wie ein Comet nach flüchtigem Glanze vom Himmel zu verschwinden. Geht das Heer stets siegreich vor, wie es in diesem Feldzuge der Fall war, so treten wenigstens in der Censur Erleichterungen ein, indem man einerseits nicht mehr ängstlich zu sein braucht, andererseits es auch bemerkt, wenn die Mittheilungen sich dem natürlichen Gefühl nach in den Schranken der Vorsicht bewegen; wie es dagegen mit einem Correspondenten auf Seiten einer geschlagenen Armee bestellt sein muß, dies Bild kann man sich nach Obigem leicht ausmalen.
Die neueste Katastrophe auf dem Montblanc. Der Krieg hat natürlich im gegenwärtigen Sommer die Reiselust sehr in Schranken gehalten, auch die sonst von Touristen wimmelnde Schweiz und das angrenzende Hochsavoyen sind bis auf die allerjüngste Zeit, wo der wiederkehrende Frieden noch nachträglich manchen verschobenen Reiseplan zur Ausführung zu bringen beginnt, heuer recht fremdenleer geblieben; dennoch ist auch diese stille Saison nicht ihrem Ende nahe gekommen, ohne uns Kunde von neuen Unglücksfällen aus der Alpensteigerwelt zu bringen, die, je kleiner diese letztere heuer selbst ist, um so mehr die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Von einem dieser traurigen Begebnisse wollen wir nach uns gewordenen speciellen Mittheilungen im Nachstehenden einige Einzelheiten berichten, welche durch die Zeitungen minder bekannt worden sind.
Drei junge Engländer, die Gebrüder Young aus Berkshire, hatten die Schweiz bereist, und da sie dort mehrere der höchsten Alpengipfel glücklich erstiegen hatten, wollten sie, in Chamounix angelangt, ihrem Werk die Krone aufsetzen, indem sie dem Montblancgipfel, und zwar ohne Führer, einen Besuch abstatteten. Ihr Unternehmen gelang anfangs nach Wunsch. Am Morgen des 22. August sah man vom Thal aus durch’s Fernrohr, wie die Reisenden auf dem höchsten Gipfel anlangten, und dieses Ereigniß wurde, herkömmlichem Brauch nach, von dem Gasthof in Chamounix, wo sie gewohnt hatten, mit Böllerschüssen begrüßt. Kaum aber war das Echo der letzten Schüsse, welche den Rückzug anzeigten, verhallt, so bemerkten die Beobachter im Thal mit Entsetzen, wie die kühnen Wanderer eine mehrere hundert Meter lange Schneewand hinunterrutschten, welche in einen steilen Abgrund ausläuft. Mit Haarsträuben sahen die Zuschauer, wie die drei Unglücklichen auch diesen Abhang hinunterstürzen; dann zeigt sich am Fuße nichts mehr, als eine ungestalte Masse in wirren Bewegungen, von welchen sich nichts genauer unterscheiden läßt.
Mit Blitzesschnelle verbreitete sich die Schreckensnachricht durch das ganze Chamounixthal. Die Führer, welche hier bekanntlich vollständig organisirt sind, werden sofort durch ihren Vorstand versammelt und eine Rettungskarawane abgeschickt, der sich auch der gerade anwesende, durch seine zahlreichen Montblancbesteigungen ebenso wie durch seine trefflichen Gletscher- und Hochalpenbilder berühmte Maler Loppé aus Genf anschließt. Während sich der Zug in Bewegung setzt, durchspäht man den Schauplatz der Katastrophe abermals mit dem Fernrohr und sieht endlich mit Freude, daß es wenigstens zweien der Verunglückten gelingt, sich zu erheben, während der dritte bewegungslos auf dem Schnee liegen bleibt. Seine beiden Brüder verlassen ihn erst nach dreistündigen vergeblichen Bemühungen, ihn in’s Leben zurückzurufen. Sie suchen wieder zu den sogenannten Petits-Mulets zurückzukehren, indem sie auf ihrem Weg mit fortwährenden Gefahren zu kämpfen haben. Dort angelangt, schlagen sie die Richtung nach den Grands-Mulets ein, wo sie den Augen der Beobachter verschwinden.
Die Rettungskarawane ihrerseits war indeß rüstig vorgedrungen und langte zwischen Mitternacht und ein Uhr bei der bekannten Breterhütte an, die den stolzen Namen des Hôtel Impérial des Grands-Mulets führt. Dort traf sie zwei Franzosen, welche mit ihren Führern den Montblanc besteigen wollten. Kurz nachher gelangten auch die beiden unglücklichen Brüder Young an; der ältere schleppte mühsam den jüngeren fort, welcher seine blaue Brille bei dem Sturz verloren hatte und nun durch die glänzende Weiße des Schnees, wie das den in den Hochalpen Reisenden nicht selten begegnet, momentan gänzlich blind geworden war. Die Brüder erzählen in fliegender Hast die schreckliche Begebenheit: der eine war zuerst auf dem hartgefrornen Schnee ausgeglitten und hatte dann durch das Seil, mit welchem alle Drei nach gewohnter Sitte verbunden waren, die beiden andern in seinen Fall hineingezogen. Nur schwer hatten sich die beiden Ueberlebenden, als sie sich von ihrer ersten Betäubung erholt, von der traurigen Thatsache überzeugen können, daß ihr jüngster Bruder wirklich todt war. Es folgten schreckliche Stunden in der grausigen Einöde, entsetzliche Gefahren bei der Fortsetzung der Wanderung. Trotz aller dieser überstandenen furchtbaren Anstrengungen ließ sich der älteste der Brüder Young dennoch jetzt nicht abhalten, die aus sechs Führern bestehende Karawane zu begleiten, um die Leiche des Verunglückten abzuholen.
Der Sturz hatte oberhalb jenes Wegs stattgefunden, auf welchem der erste Montblancbesteiger, Jacques Balmat, den Bergriesen vor achtzig Jahren erklommen hatte, ein Weg, der seiner Gefährlichkeit wegen schon längst nicht mehr benutzt wird. Dorthin wandte sich also jetzt die Karawane. Lange Stunden vergingen, ohne daß die auf den Grands-Mulets zurückbleibenden Personen etwas von dem Schicksal des Zugs erfuhren. Die erwähnten beiden Franzosen kehrten vom Montblanc zurück, allein sie hatten nichts von den Leuten bemerkt. Inzwischen umzog sich der Himmel immer düsterer, und bald fiel der Schnee in dichten Flocken. Dazu wußte man, daß die Führer ohne Mundvorrath waren. Die größte Besorgniß bemächtigte sich der Zurückgebliebenen; da ruft einer derselben, der ausgezeichnete Führer Baguette: „Laßt uns sie suchen;“ Loppé, Favre, gleichfalls ein Genfer Maler, ein Gendarm und ein zweiter Führer schließen sich ihm an.
Man gelangt bis zum Grand-Plateau; nichts ist zu sehen, auch der Ruf verhallt in der weiten Schnee- und Eiswüste, ohne Antwort zu finden. Die Wanderer ermüden selbst; endlich macht Baguette noch eine letzte Anstrengung, eine steile Felswand zu erklettern, und ist glücklich, als er die fast Aufgegebenen auf einem einzelnen hohen Felsen erblickt. Sie hatten den Weg verloren und waren von Kälte erstarrt. Man wirft ihnen Seile zu und es gelingt ihnen, sich daran herabzulassen; Young läßt sich von der Leiche seines Bruders nicht trennen, auch sie wird auf diesem Wege mitgenommen. Die ganze Energie und Zähigkeit des englischen Charakters zeigt sich überhaupt in diesem jungen Mann. Er verschmäht selbst jetzt noch die so nöthige Ruhe auf den Grands-Mulets und kehrt noch in derselben Nacht nach Chamounix zurück, um am folgenden Morgen auf kürzestem Weg nach England zu reisen und der Mutter die Trauerbotschaft selbst zu bringen.
So schloß diese traurige Episode aus dem sommerlichen Touristenleben in Chamounix. Einige Tage später aber las man in einem Genfer Blatt die Ankündigung einer Fremdenpension in Mornex bei Genf (doch auf savoyischem Boden), worin nach Aufzählung aller sonstigen Annehmlichkeiten des dortigen Aufenthaltes auch angeführt wurde, daß man die Katastrophe vom 22. August von dort durch das Fernrohr habe ausgezeichnet beobachten können. Also „immer ’ran, meine Herren und Damen, wenn das Glück Ihnen wohl will, können Sie auch das Vergnügen haben, den einen oder andern Reisenden am Montblanc den Hals brechen zu sehen!“ Im Punkt der Reclame werden wir Amerika bald nichts mehr vorzuwerfen haben.
Für die Winterabende. Das Jahrhundert Ludwig’s des Vierzehnten von Frankreich, die classische Periode des Hoflebens mit seiner Pracht und seinen Intriguen, die Tage der glänzenden Cavaliere, der galanten Marquis und Marquisen, der Allonge und des Rococo mit den gepuderten Schäfern und Schäferinnen, die Zeit großer Feldherren, vornehmer Abenteurer und Verbrecher, bietet für den geschichtlichen Sitten- und Sensationsroman eine noch lange nicht ausgebeutete reiche Fundgrube. Wie die fesselndsten Romane des ältern Dumas: Königin Margot, die Musketiere der Königin u. a. m. die gestaltenreiche Zeit des „großen Königs“ zum Rahmen haben, so hat jetzt ein bekannter deutscher Schriftsteller, der den Lesern der Gartenlaube namentlich durch eine Reihe interessanter historischer Skizzen lieb geworden ist, Georg Hiltl, denselben merkwürdigen Abschnitt der französischen Geschichte zum Vorwurfe seines ersten größeren Romanes gewählt. „Gefahrvolle Wege. Historischer Roman aus der Zeit Ludwig’s des Vierzehnten“ heißt der Titel des nunmehr in seinen vier Bänden abgeschlossen daliegenden Buches, das wir zwar gewissermaßen als eine Nachahmung der Dumas’schen Muse bezeichnen müssen, das aber neben der Spannung, in welche uns der französische Schriftsteller in seinen Romanen zu versetzen pflegt, auch die Vorzüge des deutschen Gemüthes und deutscher Gründlichkeit zum Ausdruck bringt. Hiltl zeigt sich in seinen „Gefahrvollen Wegen“ als ein Kenner der französischen Memoirenliteratur, wie es in Deutschland wenige ihm ebenbürtige geben dürfte, und hat es verstanden, dies überwältigende Material zu einem abgerundeten, geschichtlich-romantischen Gemälde zu verarbeiten, und damit ein ungewöhnliches Gestaltungs- und Darstellungstalent bekundet.
Eine Menge von interessanten Figuren treten uns aus dem großen Bilde entgegen, als Haupt der Gruppe die berüchtigte Marquise von Brinvilliers, jene entsetzliche Giftmischerin, welche den Gipfelpunkt der Entsittlichung ihrer Epoche repräsentirt, daneben der verrufene Italiener Exili, die stolze Marquise von Montespan, Ludwig’s des Vierzehnten nachmalige Geliebte, der König selbst, der Chevalier von St. Croix und noch viele andere Herren und Damen des Hofes von Versailles – sammt und sonders lebensfrisch und lebenswahr, vollkommen ihrer Zeit und ihrem Charakter treu gezeichnet und nicht etwa nur in einzelnen Situationen und Episoden lose neben einander gereiht, sondern zu einem harmonischen Ganzen organisch mit einander verbunden und zusammengewachsen – mit Einem Worte, die farbenreiche Zeit lebt vor unsern Augen.
Es ist hier nicht der Ort für eine eingehendere oder referirende Kritik des Romanes, wir wollen blos bei dem nahenden Winter mit seinen der Lectüre so günstigen langen Abenden die Aufmerksamkeit auf ein Buch lenken, welches nicht verfehlen wird, manche Stunde nicht nur auf das Unterhaltendste, sondern selbst vielfach belehrend auszufüllen und den Freunden und Freundinnen der Gartenlaube die bewährte Feder Georg Hiltl’s von Neuem lieb und werth zu machen.
R. in W. Ueber Mädchenpensionate in Berlin können wir Ihnen keine Auskunft geben; in der Familie des Dr. Beta in Berlin finden indeß junge Mädchen, die sich wegen ihrer Ausbildung dort aufzuhalten wünschen, freundliche Aufnahme und gewissenhafte körperliche und geistige Pflege. Die Familie lebte zehn Jahre in London und bietet somit jeder jungen Dame Gelegenheit, die englische Sprache theoretisch und praktisch zu erlernen. Eine sechzehnjährige Tochter, die noch immer eine höhere Töchterschule besucht, spricht Englisch so gut wie ihre Muttersprache. Die französische Conversation wird von einer im Hause wohnenden Lehrerin geleitet. Nähere Auskunft ertheilt Frau M. Beta in Berlin, Johanniterstraße 6.
Emil Kr–e in Königsberg. Allerdings sehr post festum gekommen. Zu wortreich und viel zu lang; alle Prägnanz des Ausdrucks fehlt; auch zu viele Bilder und manche falsch angewendet.