Die Gartenlaube (1867)/Heft 26
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No. 26. | 1867. | |
Drei Tage waren seit des Professors Ankunft vergangen; sie hatten das einförmige Leben in dem alten Kaufmannshause völlig verwandelt, aber für Felicitas waren sie wider alles Erwarten ruhig verflossen. Der Professor hatte sich nicht wieder um sie gekümmert; er schien den Verkehr mit ihr auf die erste und einzige Unterredung beschränken zu wollen. Sie athmete auf, und doch – seltsamer Weise – hatte sie sich nie mehr gedemüthigt und verletzt gefühlt, als jetzt… Er war einige Mal in der Hausflur an ihr vorübergegangen, ohne sie zu sehen – freilich war er da ärgerlich gewesen und hatte ein grimmiges Gesicht gemacht, was ihn durchaus nicht verschönte. Frau Hellwig ließ es sich nämlich, trotz aller seiner Bitten und Vorstellungen, nicht nehmen, ihn hinunter in das Wohnzimmer zu bescheiden, wenn Besuchende aus ihrem Bekanntenkreis kamen, die ihn zu sehn wünschten. Er erschien nothgedrungen, aber dann stets als sehr unliebenswürdiger, schroffer Gesellschafter… Es kamen aber auch viele Andere täglich, die von Heinrich hinauf gewiesen wurden in das zweite Stockwerk – Hülfesuchende, oft sehr dürftige, armselige Gestalten, die Friederike zu jeder anderen Zeit ohne Weiteres an der Schwelle zurückgewiesen haben würde; sie schritten jetzt zum Aerger der alten Köchin und eigentlich auch gegen den Wunsch und Willen der Frau Hellwig über die schneeweiß gehaltene, förmlich gefeite Treppe des vornehmen Hauses und fanden droben ohne Unterschied Einlaß und Gehör. Der Professor hatte hauptsächlich Ruf als Augenarzt; es waren ihm Curen gelungen, die andere anerkannt tüchtige Fachmänner in das Bereich der Unmöglichkeiten verwiesen hatten – der Name des noch sehr jungen Mannes war dadurch plötzlich ein glänzender und gepriesener geworden.
Frau Hellwig hatte Felicitas das Abstäuben und Aufräumen im Zimmer ihres Sohnes übertragen. Der kleine Raum erschien völlig verwandelt, seit er bewohnt wurde; vorher mit ziemlichem Comfort ausgestattet, glich er jetzt weit eher einer Karthäuserzelle. Ein gleiches Schicksal wie den Guirlandenschmuck hatte die bunten Kattunvorhänge ereilt – sie waren sofort unter den Händen des Professors als lichtraubend gefallen; ebenso hatten einige unkünstlerische, mit großer Farbenverschwendung illuminirte Schlachtenbilder an den Wänden weichen müssen; dagegen hing plötzlich ein sehr alter, in eine dunkle Ecke des Vorsaals verbannter Kupferstich, trotz seines zerbröckelnden schwarzen Holzrahmens, über dem Schreibtisch des Bewohners. Es war ein wahres Meisterstück der Kupferstecherkunst, eine junge, schöne Mutter vorstellend, die ihr Kind zärtlich in ihren pelzverbrämten Seidenmantel hüllt. Die wollene Decke auf dem Sophatisch und mehrere gestickte Polster waren als „Staubhalter“ entfernt worden, und auf einer Kommode standen statt der Meißner Porcellanfiguren die Bücher des Professors, dicht aneinander gedrängt und symmetrisch geordnet. Da sah man kein umgeknicktes Blatt, keine abgestoßene Ecke, und doch wurden sie ohne Zweifel viel gebraucht; sie steckten in sehr unscheinbarem Gewande und waren je nach der Sprache, in der sie geschrieben, uniformirt – das Latein grau, Deutsch braun etc. … „Genau so versucht er die Menschenseelen zu ordnen,“ dachte Felicitas bitter, als sie zum ersten Mal die Bücherreihen sah, „und wehe, wenn eine über die ihr angewiesene Farbe hinaus will!“
Den Morgenkaffee trank der Professor in Gesellschaft seiner Mutter und der Regierungsräthin; dann aber ging er auf sein Zimmer und arbeitete bis zum Mittag. Er hatte gleich am ersten Morgen den Wein zurückgewiesen, den Frau Hellwig zu seiner Erquickung hinaufgeschickt; dagegen mußte stets neben ihm eine Karaffe voll Wasser stehen. Es schien, als vermeide er geflissentlich, sich bedienen zu lassen – nie benutzte er die Klingel; war ihm das Trinkwasser nicht mehr frisch genug, so stieg er selbst hinunter in den Hof und füllte die Karaffe auf’s Neue.
Am Morgen des vierten Tages waren Briefe an den Professor eingelaufen. Heinrich war ausgegangen, und so wurde Felicitas in das zweite Stockwerk geschickt. Sie blieb zögernd vor der Thüre stehen, drin wurde gesprochen; es war eine Frauenstimme, die, wie es schien, eben eine längere Ansprache beendete.
„Doctor Böhm hat mit mir über das Augenleiden Ihres Sohnes gesprochen,“ antwortete der Professor in gütigem Ton; „ich will sehen, was sich thun läßt.“
„Ach, gnäd’ger Herr Professor, ein so berühmter Mann, wie Sie –“
„Lassen Sie das, Frau!“ unterbrach er die Sprechende so rauh, daß sie erschrocken schwieg. „Ich will morgen kommen und die Augen untersuchen,“ setzte er milder hinzu.
„Aber wir sind arme Leute; der Verdienst ist gering –“
„Das haben Sie mir bereits zweimal gesagt, liebe Frau!“ unterbrach sie der Professor abermals ungeduldig. „Gehen Sie jetzt; ich brauche meine Zeit nöthiger… Wenn ich Ihrem Sohn helfen kann, so geschieht es – Adieu!“
Die Frau kam heraus und Felicitas schritt über die Schwelle. Der Professor saß am Schreibtisch; seine Feder flog bereits wieder über das Papier. Er hatte aber doch das junge Mädchen eintreten sehen, und ohne das Auge von seiner Arbeit wegzuwenden, [402] streckte er die Linke nach den Briefen aus. Er erbrach einen derselben, während Felicitas wieder nach der Thüre zu schritt.
„Apropos,“ rief er, schon halb und halb in den Brief vertieft, „wer stäubt denn hier im Zimmer ab?“
„Ich,“ antwortete das junge Mädchen stehen bleibend.
„Nun, dann muß ich Sie ersuchen, künftig meinen Schreibtisch mehr zu respectiren. Es ist mir sehr unangenehm, wenn ein Buch auch nur von seiner Stelle gerückt wird, und hier fehlt mir sogar eines.“
Felicitas schritt gelassen nach dem Tisch, auf welchem mehrere Bücherstöße lagen.
„Was hatte das Buch für einen Titel?“ fragte sie ruhig.
Es zuckte Etwas wie ein Lächeln durch das ernste Gesicht des Professors. Die Frage aus einem Mädchenmunde klang aber auch eigenthümlich naiv und bedenklich im Studirzimmer des Arztes.
„Sie werden es schwerlich finden – es ist ein französisches Buch,“ erwiderte er. „Cruveilhier. Anatomie du système nerveux steht auf der Rückseite,“ setzte er hinzu – wieder zuckte es über sein Gesicht.
Felicitas zog sofort eines der Bücher hervor; es lag zwischen mehreren anderen französischen Werken.
„Hier ist es,“ sagte sie. „Es lag jedenfalls noch auf der Stelle, wo Sie es selbst hingelegt hatten – ich nehme keines der Bücher in die Hand.“
Der Professor stützte seine Linke auf den Tisch, drehte sich mit einem Ruck nach dem jungen Mädchen um und sah ihm voll in’s Gesicht.
„Sie verstehen Französisch?“ fragte er rasch und scharf.
Felicitas erschrak; sie hatte sich verrathen. Freilich verstand sie nicht allein Französisch, sie sprach es auch leicht und fließend – die alte Mamsell hatte sie vortrefflich unterrichtet. Jetzt sollte sie antworten, und zwar entschieden antworten. Die stahlgrauen Augen mit dem unabweisbaren Blick wichen nicht von ihrem Gesicht, sie hätten die Lüge jedenfalls sofort abgelesen – sie mußte die Wahrheit sagen.
„Ich habe Unterricht gehabt,“ entgegnete sie.
„Ach ja, ich entsinne mich, bis zu Ihrem neunten Lebensjahr – und da ist Etwas hängen geblieben,“ sagte er, indem er sich mit der Hand die Stirn rieb.
Felicitas schwieg.
„Das ist ja auch der unglückliche Casus, an welchem wir mit unserem Erziehungsplan gescheitert sind, meine Mutter und ich,“ fuhr er fort. „Es ist Ihnen zu viel weis gemacht worden, und weil wir darüber unsere eigene Ansicht hatten, so verabscheuen Sie uns als Ihre Peiniger und Gott weiß was Alles, nicht wahr?“
Felicitas rang einen Augenblick mit sich, aber die Erbitterung siegte. Sie öffnete die blaßgewordenen Lippen und sagte kalt: „Ich habe alle Ursache dazu.“
Einen Moment runzelten sich seine Augenbrauen wie in heftigem Unwillen; allein vielleicht erinnerte er sich so mancher trotzigen und unfreundlichen Antwort, die er oft als Arzt von ungeduldigen Patienten ruhig hinnehmen mußte. … Das junge Mädchen da vor ihm krankte ja auch seiner Meinung nach an einem Irrthum; daraus entsprang jedenfalls die Gelassenheit, mit der er sagte: „Nun, von dem Ihnen gemachten Vorwurf der Verstecktheit spreche ich Sie hiermit frei – Sie sind mehr als aufrichtig… Uebrigens werden wir uns über Ihre schlechte Meinung zu trösten wissen.“
Er nahm den Brief wieder auf und Felicitas entfernte sich. Als sie auf die Schwelle der offenen Thür trat, da flog ein Blick des Lesenden ihr nach. Der Vorsaal war erfüllt von warmem Sonnenglanz; die Mädchengestalt stand plastisch da in dem dunkleren Zimmer, wie ein Gemälde auf Goldgrund. Noch fehlte den Formen jede Rundung und Fülle, die bei der vollkommen entwickelten Frauenschönheit unerläßlich ist; trotzdem erschienen die Linien weich und zeigten in der Bewegung eine unbeschreibliche Grazie, man möchte sagen, jene Schmiegsamkeit, wie sie die Märchenpoesie ihren schwebenden und huschenden Gestalten andichtet… Und was war das für ein merkwürdiges Haar! Gewöhnlich erschien es kastanienbraun; wenn aber, wie in diesem Augenblick, ein Sonnenstrahl darauf fiel, dann blinkte es röthlich golden. Es erinnerte durchaus nicht an jenes geschmeidige, lang herabfließende Frauenhaar, wie es einst unter dem Helm der schönen Spielersfrau hervorgequollen. Ziemlich kurz, aber von mächtiger Fülle, Welle an Welle bildend, sträubte es sich noch sichtbar widerwillig in dem dicken, einfach geschlungenen Knoten am Hinterkopf. Einzelne starke Ringel befreiten sich stets eigenmächtig und lagen, wie eben jetzt, auf dem weißen Halse.
Der Professor bog sich wieder über seine Arbeit; aber der Gedankenfluß, den vorhin die Bürgersfrau unterbrochen, ließ sich nicht sofort wieder in die rechte Bahn lenken. Er rieb sich verdrießlich die Stirn und trank ein Glas Wasser – vergebens. Endlich warf er, ärgerlich über die Störungen, die Feder auf den Tisch, nahm den Hut vom Nagel und ging die Treppe hinab… Hätte der Mohrenkopf, der als Tintenwischer seinem gelehrten Herrn seit Jahren gegenüberstand, den großen, grinsenden Mund noch weiter aufzureißen vermocht, er hätte es sicher gethan, und zwar vor Erstaunen – da lag die Feder, dick angefüllt mit frischer Tinte, und der unglückliche Mohr lechzte vergeblich nach dem Naß und dem gewohnten Vergnügen, mit seinem Kleid ihre vielvermögende Spitze blank zu putzen – unerhört! Der peinlich pünktliche Mann war zerstreut.
„Mutter,“ sagte der Professor, im Vorübergehen das Wohnzimmer betretend, „ich wünsche ferner nicht, daß Du mir das junge Mädchen mit Aufträgen hinaufschickst – überlasse das Heinrich, und ist er einmal nicht da, so kann ich schon warten.“
„Siehst Du,“ entgegnete Frau Hellwig triumphirend, „Dir ist schon nach drei Tagen diese Physiognomie unerträglich; mich aber hast Du dazu verurtheilt, sie neun Jahre lang um mich zu dulden!“
Ihr Sohn zuckte schweigend die Achseln und wollte sich entfernen.
„Der frühere Unterricht, den sie bis zu des Vaters Tode erhalten, hat völlig aufgehört mit ihrem Eintritt in die Bürgerschule?“ fragte er, sich nochmals umwendend.
„Was das für närrische Fragen sind, Johannes!“ rief Frau Hellwig ärgerlich. „Habe ich Dir nicht ausführlich genug über diesen Punkt geschrieben, und ich dächte auch gesprochen bei meinem Besuch in Bonn?… Die Schulbücher sind verkauft worden und die Schreibehefte habe ich in derselben Stunde verbrannt.“
„Und was hat sie für Umgang gehabt?“
„Was für Umgang? … Na, eigentlich nur den mit Friederike und Heinrich; sie hat es ja selbst nicht anders gewollt.“ Jener grausam boshafte Zug erschien in dem Gesicht der Frau, infolge dessen sich die Oberlippe leicht hob und einen ihrer Vorderzähne sehen ließ. „Ich habe es natürlich nicht über mich gewinnen können, sie an meinem Tisch essen zu lassen und in meiner Stube zu dulden,“ fuhr sie fort; „einmal war und blieb sie das Wesen, das sich zwischen Deinen Vater und mich gedrängt hat, und dann wurde sie ja immer unausstehlicher und hoffärtiger. Ich hatte ihr übrigens ein paar Töchter aus christlichen Handwerkerfamilien ausgemacht, mit denen sie umgehen sollte; aber Du weißt ja, daß sie mir erklärt hat, sie wolle nichts mit den Leuten zu schaffen haben, das seien Wölfe in Schafskleidern u. dergl. … Na, Du wirst in den acht Wochen, die Du Dir selbst aufgebürdet hast, schon noch Dein blaues Wunder sehen!“
Der Professor verließ das Haus, um einen weiten Spaziergang zu machen.
Am Nachmittag desselben Tages erwartete Frau Hellwig mehrere Damen, meist fremde Badegäste, zum Kaffee. Er sollte im Garten getrunken werden; und weil Friederike plötzlich unwohl geworden war, so wurde Felicitas allein hinaus geschickt, um Alles vorzurichten. Sie war bald fertig mit ihrem Arrangement. Auf dem großen Kiesplatz, im Schutz einer hohen Taxuswand, stand der schöngeordnete Kaffeetisch, und in der Küche des Gartenhauses zischte und brodelte das Wasser im Erwarten seiner Umwandlung zu dem allgeliebten Mokkatrank. Das junge Mädchen lehnte an einem offenen Fenster des Gartenhauses und sah wehmüthig sinnend hinaus… Da draußen duftete, grünte und blühte es so lustig und harmlos in die blaue, stille Luft hinein, als habe nie ein verheerender Herbststurm an den Zweigen gerüttelt, nie, der Winterfrost seinen tödtenden Krystall um vergehende Blumenhäupter gesponnen. Vor Jahren hatte es ebenso farbig geleuchtet auf Büschen und Beeten für ihn, dessen warmes, weiches Herz nun in Staub zerfiel, für ihn, der seine helfende, stützende Hand überall anlegte, wo es galt – bei seinen emporsprossenden Blumen, wie [403] bei Menschenhülflosigkeit und Elend… Die jungen Blumenaugen da allerorten lächelten jetzt ebenso fröhlich in andere, kalte Gesichter, und die Menschen sprachen nicht mehr von ihm. … Hierher hatte er sich und die kleine Waise gerettet vor den vernichtenden Blicken und der schneidenden Zunge da drin in der Stadt – nicht allein zur lustigen Sommerzeit; wenn draußen der Frühling noch mit dem Winter rang, da prasselte hier im weißen Porcellanofen ein tüchtiges Feuer; ein dicker Teppich auf dem Boden wärmte die Füße, die Büsche drückten ihre Knospenansätze gegen die erwärmten Scheiben, auf denen einzelne, verwegene Schneeflocken rettungslos zerschmolzen, und über den weiten, noch wüsten Gartenplan guckte der halbbeschneite Berg herein mit dem wohlbekannten Pappelkreis auf der Stirn … traute, liebe Erinnerungen! Und da drüben standen die Nußbäume; die kaum entwickelten Blätterzungen hingen in diesem Augenblick müßig und unbewegt, wie trunken vom goldenen Sonnenlicht, über einander. … Was hatten sie einst dem Kinde Alles zugeflüstert! Süße, selige Verheißungen von Welt und Zukunft, Träume, so klar und schattenlos, wie der unbewölkte Himmel droben – und dann war es plötzlich dunkel und dräuend über dem schuldlosen Haupt des Spielerskindes geworden, ein greller Blitz der Erkenntniß hatte die Blätterzungen zu Lügnern gemacht.
Näher kommende Männerstimmen und das Knarren der Gartenthür schreckten Felicitas aus ihrem trüben Grübeln auf. Durch das nördliche Eckfenster konnte sie sehen, wie der Professor in Begleitung eines anderen Herrn den Garten betrat. Sie schritten langsam dem Hause zu. Jener Herr kam seit einiger Zeit öfter zu Frau Hellwig; er war der Sohn eines sehr angesehenen, der Familie Hellwig befreundeten Hauses. Im Alter mit dem Professor gleichstehend, hatte auch er seine Erziehung in dem Institut des strenggläubigen Hellwig’schen Verwandten am Rhein erhalten. Beide waren dann, freilich nur für kurze Zeit, Studiengenossen auf der Universität gewesen, und wenn auch völlig verschieden in Charakter und Anschauungsweise, hatten sie doch stets freundschaftlich zu einander gestanden. Während Johannes Hellwig fast sofort nach Beendigung seiner Studienzeit den Lehrstuhl bestiegen, war der junge Frank auf Reisen gegangen. Erst vor Kurzem hatte er sich auf Wunsch seiner Eltern herbeigelassen, sein juristisches Examen zu machen; er war nun Rechtsanwalt in seiner Vaterstadt und harrte der Dinge und Clienten, die da kommen sollten.
Wie er so näher schritt, war er eine fast vollkommen schöngebildete Männererscheinung – ein geistreiches Gesicht über schlank und edel geformten Gliedern. Vielleicht hätte dieser sehr zierliche Kopf mit der feinen, etwas reich verlaufenden Profillinie einen weiblichen Eindruck gemacht; aber so wie er getragen wurde, fest und sicher auf den Schultern und unterstützt von entschiedenen, wenn auch sehr eleganten Bewegungen der gesammten Gestalt, ließ er diesen leisen Tadel nicht aufkommen.
Er nahm eben die Cigarre aus dem Munde, betrachtete sie aufmerksam und schleuderte sie dann verächtlich von sich. Der Professor holte sein Etui hervor und bot es ihm.
„Ei Gott bewahre!“ rief der Rechtsanwalt, indem er mit komischer Geberde beide Hände abwehrend ausstreckte. „Es könnte mir doch nicht einfallen, die armen Heidenkinder in China und Gott weiß, wo noch, zu bestehlen!“
Der Professor lächelte.
„Denn so wie ich Dich kenne,“ fuhr der Andre fort, „hältst Du jedenfalls mit unbestreitbarem Heroismus Dein Kasteiungswerk aus der Jugendzeit fest, d. h. Du bestimmst Dir täglich drei Cigarren, rauchst aber consequent nur eine, während das Geld für die beiden anderen in Deine Missionssparbüchse fließt!“
„Ja, die Gewohnheit habe ich noch,“ bestätigte mit ruhigem Lächeln der Professor; „aber das Geld hat eine andere Bestimmung – es gehört meinen armen Patienten ohne Unterschied.“
„Nicht möglich! … Du, der starre Vorkämpfer pietistischen Strebens, der getreueste unter den Jüngern unseres rheinischen Instituts-Despoten! Befolgst Du so seine Lehren, Abtrünniger?“
Der Professor zuckte die Achseln. Er blieb stehen und streifte nachdenklich die Asche von seiner Cigarre.
„Als Arzt lernt man anders denken über die Menschheit und die Pflichten des Einzelnen ihr gegenüber,“ sagte er. „Ich habe stets das eine große Ziel im Auge gehabt, mich wahrhaft nützlich zu machen; um das zu erreichen, habe ich Vieles vergessen und verwerfen müssen.“
Sie schritten weiter und ihre Stimmen verhallten. Allein auf dem Kiesweg, den sie wandelten, lag die Sonne träge und brütend, sie kehrten, in ihr Gespräch vertieft, fast instinctmäßig zurück unter die Akaziengruppe, die ihre Zweige über den am Hause hinlaufenden, mit breiten Steinplatten belegten Weg hing und ihn kühl und schattig machte.
„Streite nicht!“ hörte Felicitas den Professor ein wenig lebhafter als gewöhnlich sagen. „Daran änderst Du nichts… Genau, wie vor so und so viel Jahren, langweile ich mich entweder entsetzlich, oder ich ärgere mich in weiblicher Gesellschaft; und – das kann ich Dir sagen – mein Verkehr als Arzt mit dem sogenannten schönen Geschlecht ist auch durchaus nicht geeignet, meine Meinung zu erhöhen… Welch ein Gemisch von Gedankenlosigkeit und Charakterschwäche!“
„Du langweilst Dich in weiblicher Gesellschaft, sehr begreiflich!“ eiferte der junge Frank, unter dem Eckfenster stehen bleibend. „Suchst Du doch geflissentlich die geistig einfache, um nicht zu sagen, einfältige … Du verabscheuest die moderne weibliche Erziehung – in mancher Hinsicht freilich nicht ohne Grund – ich bin auch kein Freund von geistlosem Claviergeklimper und gedankenloser, französischer Plapperei, aber man muß das Kind nicht mit dem Bad verschütten… In unserer Zeit, wo der männliche Geist fast täglich neue, ungeahnte Bahnen betritt, wo er mitwirkt, schafft und genießt bei dem mächtigen Aufschwung, den das Menschengeschlecht nimmt, da wollt Ihr das Weib womöglich hinter die mittelalterliche Kunkel, in den Kreis und zugleich in den engen Ideengang ihrer Mägde zwingen – das ist nicht allein ungerecht, es ist auch thöricht. Das Weib hat die Seele Eurer Söhne in den Händen, in einem Stadium, wo sie am empfänglichsten ist, wo sie die Eindrücke wie Wachs aufnimmt und gerade sie unverwischbar durch’s ganze Leben trägt, als wären sie in Eisen gegraben! … Regt die Frauen an zu ernstem Denken, erweitert den Kreis, den Ihr Egoisten eng genug um ihre Seelen zieht und welchen Ihr weibliche Bestimmung nennt, und Ihr werdet sehen, daß Eitelkeit und Charakterschwäche verschwinden!“
„Lieber Freund, den Weg betrete ich ganz sicher nicht!“ sagte der Professor sarkastisch, indem er langsam einige Schritte weiterging.
„Ich weiß wohl, daß Du eine andere Ueberzeugung hast – Du meinst, das Alles erreiche man müheloser durch eine fromme Frau… Mein sehr verehrter Professor, auch ich möchte keine unfromme Lebensgefährtin – ein weibliches Gemüth ohne Frömmigkeit ist eine Blume ohne Duft. Aber seht Euch wohl vor! Ihr denkt, sie ist fromm, mithin besorgt und wohl aufgehoben, und während Ihr sie vollkommen und sorglos gewähren lasset, erwächst Euch eine Tyrannei in Eurem Hause, wie Ihr sie von einer weniger frommen Frau nun und nimmer ertragen würdet. Unter dem Deckmantel der Frömmigkeit schießen leicht alle im weiblichen Charakter schlummernden schlimmen Neigungen auf. Man darf grausam, rachsüchtig und auch ganz gehörig hochmüthig sein und im blinden Zelotismus Schönes und Herrliches verdammen und zerstören – Alles im Namen des Herrn und im sogenannten Interesse des Reiches Gottes.“
„Du gehst sehr weit.“
„Gar nicht… Du wirst schon noch einsehen lernen, daß auch der erwägende Verstand gehörig geklärt und ausgebildet und das Gemüth der Humanität zugänglich gemacht sein muß, wenn die Frömmigkeit der Frau wahrhaft beglückend für uns sein soll.“
„Das sind Ziele, auf die ich gar nicht Lust habe, loszusteuern,“ erwiderte der Professor kalt. „Meine Wissenschaft beansprucht mich und mein Leben so völlig –“
„Ei – und die dort?“ unterbrach ihn der Rechtsanwalt leiser, während er nach dem Eingang des Gartens zeigte. Dort hinter der Gitterthür erschien die Regierungsräthin in Begleitung ihres Kindes und der Frau Hellwig. „Ist sie nicht vollkommen die Verwirklichung Deines Ideals?“ fuhr er mit nicht zu verkennender Ironie fort. „Einfach – sie erscheint stets in weißem Mull, der ihr, nebenbei gesagt, vortrefflich steht – fromm, wer wollte das bezweifeln, der sie in der Kirche mit den schwärmerisch emporgerichteten, schönen Augen sieht? Sie verabscheut alles Wissen, Denken und Grübeln, weil es dem Wachsthum ihres Strickstrumpfes oder ihrer Stickerei hinderlich sein könnte – ist eine [404] standesgemäße Partie, denn diese Gleichheit gilt Dir ja auch als unerläßlich zu einer guten Ehe – en fin, man bezeichnet sie allgemein als diejenige, welche Dich –“
„Du bist boshaft und hast Adele nie leiden mögen,“ unterbrach ihn der Professor gereizt, „ich fürchte, lediglich aus dem Grunde, weil sie die Tochter des Mannes ist, der Dich sehr streng gehalten hat… Sie ist gutmüthig, harmlos und eine vortreffliche Mutter.“
Er schritt auf die langsam näher kommenden Damen zu und begrüßte sie freundlich.
Es dauerte nicht lange, so war der Kiesplatz belebt von anmuthigen Frauengestalten, die, meist in hellen Muslin oder Gaze gehüllt, wie weiße Sommerwolken, auf- und abschwebten. Die dunklen, steifen Taxuswände gaben einen vortrefflichen Hintergrund für diese graziösen, leichtbeschwingten Wesen; silberhelles Lachen und lebhaftes Geplauder schollen durch die weiche Luft, dann und wann unterbrochen durch eine der sonoren Männerstimmen. Der geladene Kreis war bald vollzählig, man gruppirte sich um den Kaffeetisch und die Arbeitskörbchen wurden hervorgeholt.
Auf einen Wink der Frau Hellwig schritt Felicitas mit dem Kaffeebret über den Kiesplatz.
„Mein Wahlspruch ist: ‚Einfach und billig!‘“ hörte sie die Regierungsräthin in munterem Ton sagen, als sie näher kam. „Ich trage grundsätzlich im Sommer keinen Stoff, der mich über drei Thaler kostet.“
„Sie vergessen aber, meine liebe Frau Regierungsräthin,“ widersprach eine andere junge, sehr geschmückte Dame, während ein boshafter Blick über die gerühmte einfache Toilette glitt, „daß Sie auf diesem billigen Stoff eine Menge gestickter, mit Spitzen garnirter Einsätze tragen, die den Werth der Robe selbst mindestens um das Dreifache übersteigen.“
„Bah, wer wird diesen Duft nach prosaischen Thalern berechnen!“ rief der junge Frank, belustigt den feindlichen Blick auffangend, den beide Damen austauschten. „Man sollte meinen, er trüge die Damen himmelwärts, wären nicht – ja, wären nicht zum Beispiel solche dicke, goldene Armbänder, die unzweifelhaft wieder zur Erde niederziehen müssen!“
Sein Auge haftete mit sichtbarem Interesse auf dem Handgelenk der nicht weit von ihm sitzenden Regierungsräthin; es zuckte wie unwillkürlich zurück, und eine hohe Röthe bedeckte für einen Moment Stirn und Wangen der jungen Wittwe.
„Wissen Sie, meine Gnädige,“ sagte er, „daß mich dieses Armband seit einer halben Stunde lebhaft beschäftigt? … Es ist von prächtiger, uralter Arbeit. Was aber meine Wißbegierde ganz besonders reizt, das ist die muthmaßliche Inschrift, dort inmitten des Kranzes.“
Das Gesicht der Regierungsräthin hatte bereits wieder seine zartrosige Farbe; ihre sanften Augen blickten ruhig auf, während sie unbefangen die Armspange löste und ihm hinreichte.
Felicitas stand in diesem Augenblick hinter dem Rechtsanwalt. Sie konnte bequem den Schmuck in seinen Händen sehen. … Seltsam, es war bis in die kleinsten Einzelheiten derselbe Armring, der im Geheimfach der alten Mamsell lag und ohne Zweifel eine geheimnißvolle Rolle im Leben der Einsamen spielte; nur war er hier von weit geringerem Umfang, er umschloß ziemlich eng das feine Handgelenk der jungen Frau.
„daz ir liebe ist âne kranc,
Die hât got zesamme geben
ûf ein wünneclichez leben“.
las der Rechtsanwalt geläufig. „Merkwürdig,“ rief er, „die Strophe hat keinen Anfang… Ah, es ist ja ein Bruchstück aus den Minnesängern, und zwar aus dem Gedicht ‚Stete Liebe‘ von Ulrich von Lichtenstein; die ganze Strophe lautet in der Uebersetzung ohngefähr:
Wo zwei Lieb einander meinen
Herziglich in rechter Treu’
Und sich Beide so vereinen,
Daß die Lieb’ ist immer neu,
Die hat Gott zusammengeben
Auf ein wonnigliches Leben.
Dieses Armband hat unzweifelhaft einen treuen Cameraden, der ihm eng angefügt ist durch den „Anfang der Strophe,“ bemerkte er lebhaft angeregt. „Ist das Seitenstück nicht in Ihrem Besitz?
„Nein,“ entgegnete die Regierungsräthin und bückte sich auf ihre Arbeit, während der Schmuck von Hand zu Hand ging.
„Und wie kommst Du zu dem sehr merkwürdigen Stück, Adele?“, frug der Professor herüber.
Wieder stieg eine leise Röthe in das Gesicht der jungen Dame.
„Papa hat es mir vor Kurzem geschenkt,“ antwortete sie, „Gott weiß, von welchem Alterthümler es stammt!“
Sie nahm den Schmuck wieder in Empfang, legte ihn um den Arm und richtete dabei eine Frage an eine der Damen, wodurch das Gespräch sogleich eine andere Wendung erhielt.
Während die Aufmerksamkeit Aller auf das interessante Armband gerichtet gewesen war, hatte Felicitas die Runde um den Tisch gemacht; man hatte sich rasch bedient, ohne die Trägerin des Kaffeebretes weiter zu beachten. Sie ging ebenso unbemerkt, wie sie gekommen, nach der Küche zurück. Auf Bitten der kleinen Anna, die sich auf dem schattigen Weg neben dem Hause tummelte, blieb sie einen Moment stehen, griff, Haupt und Oberkörper elastisch zurückbeugend, mit hochgehobenen Armen in die niederhängenden Aeste der zunächststehenden Akazie und versuchte, einen Zweig für das Kind zu brechen… Für eine tadellos gebaute weibliche Gestalt kann es nicht leicht eine vortheilhaftere Stellung geben, als die, in welcher das junge Mädchen für einige Augenblicke verharrte – der Rechtsanwalt nahm plötzlich seine Lorgnette, er war ziemlich kurzsichtig; diese zwei dunklen Männeraugen, die mit sichtlichem Erstaunen auf der jugendlichen Gestalt unter der Akazie hafteten, wurden scharf beobachtet, und zwar von der scheinbar sehr eifrig stickenden Regierungsräthin. Nachdem Felicitas in’s Haus gegangen war, ließ der junge Mann das Glas fallen – er hatte offenbar eine hastige Frage auf den Lippen, mit welcher er sich an Frau Hellwig wenden wollte, aber die junge Wittwe schnitt ihm sofort das Wort ab; sie verlangte Aufklärung über einen Unfall, der ihm auf einer seiner Reisen zugestoßen war, und brachte ihn somit geschickt auf ein Thema, das er selbst sehr gern berührte.
Später erhob sie sich geräuschlos und schritt hinüber nach dem Gartenhaus.
„Liebe Caroline,“ sagte sie, in die Küche tretend, „es ist nicht nöthig, daß Sie drüben bedienen… Ah, ich sehe, da ist ja ein Kaffeewärmer, das macht sich vortrefflich! … Füllen Sie die Kanne mit heißem Kaffee; ich werde sie mitnehmen und das Einschenken selbst besorgen – es ist so gemüthlicher für die Gäste, und – aufrichtig gesagt – Sie sehen zu erbärmlich aus in dem verwaschenen Kattunkleidchen. Wie mögen Sie sich nur in diesem kurzen, abscheulichen Rock vor Männeraugen sehen lassen! ist geradezu unanständig – fühlen Sie das nicht selbst, Kind?“
Der geschmähte Rock war der beste des jungen Mädchens, ihr sogenannter Sonntagsrock. Freilich war er verwachsen und bereits ziemlich mißfarben; aber er war tadellos sauber gewaschen und gebügelt… Daß ihr nun auch das noch zum Vorwurf gemacht wurde, worein sie sich stets stillschweigend und klaglos gefügt hatte, machte sie bitter lächeln; aber sie schwieg – war doch jedes vertheidigende Wort überflüssig und hier geradezu lächerlich.
Als die Regierungsräthin an den Kaffeetisch zurückkehrte, war ein Gespräch, das sie vorhin zu vereiteln gesucht hatte, bereits im vollen Gange.
„Auffallend schön?“ wiederholte Frau Hellwig rauh auflachend. „Pfui, mein lieber Frank, was soll ich von Ihnen denken! … Auffallend, ja, das gebe ich Ihnen eher zu; aber auffallend, wie ein Mädchen nicht sein soll… Sehen Sie sich doch dies blasse Gesicht mit den liederlichen Haaren genauer an! Diese herausfordernden Mienen und leichtfertigen Bewegungen, die Augen, die respectablen Leuten unverschämt und dreist in’s Gesicht starren – das sind Erbstücke einer elenden, zuchtlosen Mutter. Art läßt nicht von Art, und was hinter’m Zaun geboren ist, das wird sein Lebtag nicht ehrbar… Ich hab’s erfahren; neun Jahre lang hab’ ich mir keine Mühe verdrießen lassen, dem Herrn eine Seele zuzuführen – dies verstockte Geschöpf hat alle meine Sorgfalt zu Schanden gemacht!“
„Ach, Tantchen, das ist ja nun bald überstanden!“ begütigte die Regierungsräthin, während sie Kaffee einschenkte und herumreichte. „Noch einige Wochen, und der böse Störenfried verläßt Dein Haus für immer… Ich fürchte leider auch, daß der gute Same auf steinigen Boden gefallen ist – ein edler Zug steckt
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ganz gewiß nicht in einer Seele, die, undankbar genug, bisher nur danach gestrebt hat, die Fesseln der Moral und guten Sitten abzuwerfen… Uebrigens wollen wir, die wir das Glück haben, von gesitteten Eltern abzustammen, nicht zu streng mit ihr in’s Gericht gehen – der Leichtsinn steckt im Blut… Wenn Sie in Jahr und Tag wieder auf Reisen gehen, Herr Frank,“ wandte sie sich scherzend an den Rechtsanwalt, „so kann es sich schon ereignen, daß Sie unter einem fremden Himmelsstriche Tantchens ehemalige Hausgenossin als Grazie auf dem Seil oder im Circus bewundern dürfen.“
„So sieht sie nicht aus!“ sagte plötzlich der Professor in seinem ruhig entschiedenen Tone. Er hatte bis dahin consequent geschwiegen; sein Widerspruch, der sehr mißbilligend klang, mußte mithin doppelt auffallen. Frau Hellwig wandte sich jäh und zornig um nach ihrem Sohn, und die Augen der jungen Wittwe verloren für einen Moment die stereotype Sanftmuth; gleich darauf schüttelte sie jedoch gutmüthig lächelnd den Lockenkopf und öffnete die Lippen, ohne Zweifel, um Liebes und Freundliches zu sagen; aber sie wurde verhindert – ein lautes Weinen Aennchens scholl über den Kiesplatz, und infolge dessen, was die Regierungsräthin im Umdrehen erblickte, stieß sie selbst einen Schrei des Entsetzens aus. Das Kind lief, so schnell es sein schwerfälliger Körper gestattete, auf seine Mutter zu; in der angstvoll emporgestreckten Rechten hielt es krampfhaft ein Päckchen Schwefelhölzer fest, das Röckchen aber stand in hellen Flammen. Wir sagten, die Mutter stieß einen Schrei des Entsetzens aus, zugleich irrte ihr verstörter Blick über die eigene leicht feuerfangende Toilette – wie geistesabwesend, mit tödtlich erblaßtem Gesicht streckte sie abwehrend ihre Hände dem Kind entgegen und war mit einem Sprung hinter der schützenden Taxuswand verschwunden.
Die „in Duft“ gekleidete Damengesellschaft zerstob wie eine aufgescheuchte Taubenschaar unter lauten Angstrufen nach allen [406] Richtungen hin; nur Frau Hellwig erhob sich tapfer zur Rettung des Kindes, und die beiden Herren sprangen sofort hinüber; allein sie kamen zu spät. Felicitas stand bereits da, sie breitete ihre Kleider aus, schlug sie eng um das brennende Kind und suchte die Flammen zu ersticken – sie waren zu mächtig; der dünne Kattunrock des jungen Mädchens fing selbst Feuer, es züngelte gierig an ihr empor. Rasch entschlossen preßte sie das Kind in ihre Arme, flog durch den Grasgarten, den Damm hinauf und warf sich in den vorüberrauschenden Mühlbach.
Todesgefahr und Rettung hatten sich in wenige Augenblicke zusammengedrängt; ehe die beiden Herren nur die Absicht des fortstürzenden Mädchens begriffen, war das Feuer bereits gelöscht. Sie betraten den Damm in dem Augenblick, als Felicitas, wieder aufrechtstehend, und das triefende Kind auf dem rechten Arm haltend, mit der Linken in die Zweige eines Haselstrauches griff, um, sich gegen das hier mit großer Gewalt vorüberschießende Wasser zu halten. Mit den Herren zugleich erschien die Regierungsräthin auf dem Damm.
„Mein Kind, rettet mein Aennchen!“ rief sie in verzweiflungsvollen Tönen, es sah aus, als wolle sie schnurstracks in das Wasser laufen.
„Mache Dir die Schuhe nicht naß, Adele, Du könntest leicht den Schnupfen bekommen,“ sagte der Professor mit beißender Ironie, während er rasch hinabstieg und Felicitas beide Hände bot, um sie zu stützen; aber er ließ sie langsam wieder sinken – das erst völlig ruhige Gesicht des jungen Mädchens hatte sich plötzlich verwandelt, eine tiefe Falte grub sich zwischen ihre Brauen, und jener tödtlich kalte, feindselige Blick, den er bereits kannte, traf sein Auge. Sie reichte ihm, das Gesicht abwendend, die kleine Anna hin, und schwang sich dann, die Hand des Rechtsanwaltes mit einem schwachen Lächeln der Dankbarkeit ergreifend, auf den Damm.
Der Professor trug das Kind in das Gartenhaus, entkleidete es mit Hülfe der jammernden Mutter und forschte nach den muthmaßlichen Brandwunden, aber es war, wunderbar genug, fast unverletzt; nur die linke Hand, von welcher, wie es selbst weinend erzählte, das Feuer ausgegangen war, zeigte Brandspuren. Die Kleine hatte, während die Regierungsräthin in der Küche gewesen, unbemerkt die Schwefelhölzchen vom Heerd genommen; beim Anzünden draußen im Garten war ein Zeugstreifen, den man in Folge einer kleinen Schnittwunde um ihren Daumen gewickelt, in Brand gerathen; sie hatte die Flamme am Kleid abzustreifen gesucht und dadurch das Unglück herbeigeführt.
Die geflüchteten Damen kehrten nun auch sämmtlich zurück. Ein Gemisch von Wehklagen und Glückwünschen für die Mutter des geretteten Kindes strömte von all den zarten Lippen, und der „arme Engel“ wurde mit Liebkosungen überschüttet.
„Aber, beste Caroline,“ sagte die Regierungsräthin mit sanftem Vorwurf zu dem jungen Mädchen, das, bang auf das Ergebniß der Untersuchung harrend, in ihrer Nähe stand, „konnten Sie denn Aennchen nicht ein wenig draußen im Garten überwachen?“
Der Vorwurf war zu ungerecht.
„Sie hatten mir wenige Augenblicke zuvor verboten, das Haus zu verlassen,“ entgegnete Felicitas finster, mit einem ihrer durchdringenden Blicke auf die Frau, während das Roth der Entrüstung in ihre Wangen stieg.
„So, ei, warum denn das, Adele?“ frug Frau Hellwig verwundert.
„Mein Gott, Tantchen,“ antwortete die junge Wittwe, ohne jedwedes Zeichen der Verlegenheit, „das wirst Du leicht begreifen, wenn Du Dir dies Haar ansiehst. … Ich wollte ihr und uns den üblen Eindruck ersparen, den Nachlässigkeit stets hervorrufen muß.“
Felicitas griff bestürzt nach ihrem Kopf; sie war sich bewußt, ihr Haar mit ängstlicher Sorgfalt geordnet zu haben; aber der Kamm, der nie recht fest sitzen wollte in den dicken, widerspenstigen Wellen, war entschlüpft – er lag höchst wahrscheinlich im Mühlbach. Das aufgelöste, wundervolle Gelock wogte wie ein Glorienschein um Wangen und Schultern, noch bestreut mit einzelnen Perlen des aufgepeitschten Wassers.
„Ist das Alles der Gesammtausdruck Ihrer Dankgefühle für die rettende Hand, die ihr Kind unversehrt durch Feuer und Wasser getragen hat, meine Gnädige?“ fragte der Rechtsanwalt scharf – sein Auge hatte bis dahin fast unverwandt auf Felicitas geruht.
„Wie mögen Sie nur so ungerecht von mir denken, Herr Frank!“ vertheidigte sich die junge Wittwe tief gekränkt. „Ein Mann wird freilich nie recht das Mutterherz begreifen lernen; es zürnt im ersten Augenblick wider Willen Denen, die ein Leiden des geliebten Kindes hätten verhüten können, wenn es auch dankbar anerkennt, daß sie ihr Versehen durch die schließliche Rettung gesühnt haben. … Meine theure Caroline,“ wandte sie sich an das junge Mädchen, „ich werde Ihnen den heutigen Tag nie vergessen. … Könnte ich doch in diesem Augenblicke schon beweisen, wie dankbar ich Ihnen bin!“ Rasch, als ob sie einer plötzlichen Eingebung folge, löste sie das Armband und reichte es Felicitas hin. „Da nehmen Sie vorläufig – es ist mir sehr werth; aber für die Rettung meines Annchens könnte ich das Liebste freudig opfern!“
„Felicitas schob tief verletzt die Hände zurück, die ihr den Schmuck um den Arm legen wollten.
„Ich danke,“ sagte sie mit jenem stolzen Zurückwerfen des Kopfes, welches die demuthsvollen Gläubigen an dem Spielerskind stets so entsetzlich fanden; „ich werde mich nie für das Genügen der Nächstenliebe bezahlen lassen; noch weniger aber bin ich gesonnen, irgend welches Opfer anzunehmen. … Sie sagen selbst, daß ich einfach ein Versehen gesühnt habe, und sind mir mithin nicht im mindesten verpflichtet, gnädige Frau.“
Frau Hellwig hatte der Regierungsräthin das Armband bereits weggenommen.
„Du bist nicht bei Trost, Adele!“ schalt sie ärgerlich, ohne Felicitas’ stolze Antwort weiter zu beachten. „Was soll denn das Mädchen mit dem Dings da anfangen? … Schenk’ ihr ein Kleid von derbem, haltbarem Gingham, das kann sie besser brauchen – und damit ist die Sache abgemacht, basta!“
Nach den letzten Worten ging der Rechtsanwalt hinaus. Er holte seinen Hut und trat unter das offene Fenster, an welchem Felicitas stand.
„Ich finde, daß wir sammt und sonders sehr grausam gegen Sie sind!“ rief er ihr zu. „Zuerst werden Sie mit schnödem Gold verwundet, und dann sehen wir Sie ungerührt in durchnäßten Kleidern dastehen. … Ich werde in die Stadt laufen und das Nöthige für Sie und die kleine Brandstifterin herausschicken.“
Er grüßte und entfernte sich.
„Er ist ein Narr!“ sagte Frau Hellwig zornig zu den Damen, die ihm verdrießlich und mit schlechtverhehltem Bedauern über sein Gehen nachblickten.
Der Professor hatte, mit dem Kind beschäftigt, kein Wort in die Belohnungsdebatte fallen lassen; wer ihm aber nahe gestanden, der mußte wissen, daß seit dem Moment, wo die Regierungsräthin dem jungen Mädchen das Armband angeboten hatte, sein Gesicht stark geröthet war … Zum Frauenarzt, oder wohl gar zu einem jener feinen, geheimen Medicinalräthe, die hohe und höchste Krankheiten und Launen zu ihrem besonderen Studium machen, war er sicher nicht geschaffen. Er hatte etwas entsetzlich Rücksichtsloses dem zarten Geschlecht gegenüber. Es war doch so natürlich, daß man sich über den Unfall des Kindes zu Tode erschreckt hatte und gar zu gern über die etwaigen Folgen beruhigt sein mochte; aber auf alle die theilnahmvollen Fragen der Damen hatte der Mann der Wissenschaft nur kurze, trockene Antworten, ja, einige etwas schuldlos klingende Bemerkungen wurden sogar mit beißendem Sarkasmus gegeißelt.
Er überließ die in einen dicken, wollenen Shawl gewickelte Kleine endlich den zarten Händen und schritt auf die Thür zu. Felicitas hatte sich in die fernste Ecke des Salons zurückgezogen – dort glaubte sie sich völlig unbeobachtet. Mit schmerzhaft emporgezogenen Schultern lehnte sie an der Wand; ihr Gesicht hatte eine fahle Blässe angenommen, das vor sich hinstarrende Auge unter den gerunzelten Brauen und die fest aufeinander gepreßten Lippen zeigten unverkennbar, daß sie physisch litt – sie hatte eine bedeutende Brandwunde am Arm, die ihr unsägliche Schmerzen verursachte.
Im Begriff, die Thür zu schließen, sah der Professor noch einmal forschend in das Zimmer zurück; sein Blick fiel auf das junge Mädchen, er fixirte sie einen Moment scharf und stand plötzlich mit wenig Schritten vor ihr.
„Sie haben Schmerz?“ fragte er rasch.
„Er läßt sich ertragen,“ antwortete sie mit zitternden Lippen, die sich sofort krampfhaft wieder schlossen.
[407] „Die Flamme hat Sie verletzt?“
„Ja – am Arm.“ Trotz ihrer Leiden nahm sie eine zurückweisende Haltung an und wandte das Gesicht nach dem Fenster – sie konnte um Alles nicht in diese Augen sehen, die sie seit ihrer Kindheit verabscheute. Er zögerte einen Augenblick; aber die Pflicht des Arztes siegte.
„Wollen Sie nicht meine Hülfe annehmen?“ fragte er geflissentlich langsam und in gütigem Ton.
„Ich will Sie nicht bemühen,“ entgegnete sie mit finsterem Blick; „ich kann mir selbst helfen, sobald ich in der Stadt sein werde.“
„Nun, wie Sie wollen!“ sagte er kalt. „Uebrigens gebe ich Ihnen doch zu bedenken, daß meine Mutter vorläufig noch Anspruch auf Ihre Zeit und Kraft hat. Sie dürfen sich schon aus dem Grund nicht muthwillig krank machen.“ Bei den letzten Worten vermied er, Felicitas anzusehen.
„Ich vergesse das nicht,“ versetzte sie minder gereizt; sie fühlte recht gut, daß dies Zurückführen auf ihre Pflicht nicht geschah, um sie zu demüthigen, er wollte sie offenbar bestimmen, seine ärztliche Hülfe anzunehmen. „Ich kenne unser Uebereinkommen genau,“ fügte sie hinzu, „und Sie werden mich bis zu der letzten Stunde auf dem mir angewiesenen Platze finden.“
„Nun, ist auch hier Deine ärztliche Hülfe nöthig, Johannes?“ fragte die Regierungsräthin hinzutretend.
„Nein,“ sagte er kurz. „Aber was thust Du noch hier, Adele?“ fuhr er verweisend fort. „Ich habe Dir vorhin gesagt, daß Anna sofort in die frische Luft muß, und begreife nicht, weshalb Du den Aufenthalt hier in dem schwülen Zimmer für nöthiger hältst.“
Er ging zur Thür hinaus, und die Regierungsräthin beeilte sich, ihr Kind auf den Arm zu nehmen; sämmtliche Damen folgten ihr. Drüben am Kaffeetisch saß Frau Hellwig längst in unerschütterter Gemüthsruhe. Zwischen der vorletzten Maschentour und dem jetzt unter ihren Fingern wachsenden neuen Streifen des Strickstrumpfes lag die Todesgefahr zweier Menschen; aber das hatte jenes Gleichgewicht, welches auf stählernen Nerven und einer noch härteren Seele beruhte, nicht zu stören vermocht.
Endlich kam Heinrich mit den ersehnten Kleidern. Er war so gelaufen, daß ihm der Schweiß von der Stirn rann.
Es war am 6. März dieses Jahres, einem dieser abscheulichen, stürmischen Tage, deren uns das heurige Frühjahr in Menge gebracht, als ich in einer geschäftlichen Angelegenheit das Kaulbach’sche Atelier aufsuchen mußte.
Durch die langen Corridore des ehemaligen Jesuitenklosters, in dem jetzt die fröhliche Künstlerjugend der Akademie haust, pfiff und tobte der Wind und als ich über den Hof gehen mußte, längs des kleinen Gartens, in dem früher die ehrwürdigen Patres S. societatis Jesu lustwandelten, hätte mir der Sturm fast den Regenschirm aus der Hand gerissen, so daß ich im Atelier des großen Meisters wie in einem rettenden Hafen anlangte.
Auf mein Klopfen tönte das „Herein“ nicht so kräftig wie gewöhnlich. Kaulbach saß nicht wie sonst immer an der Staffelei, die Kohle lag müßig auf dem großen, runden Tisch und der Meister lehnte nachdenklich an einem Stuhl und starrte auf ein Blatt Papier.
Statt der sonst immer so warmen Hand streckte er mir das Blatt entgegen; es war ein Telegramm:
„Heute früh zehn Uhr ist Cornelius gestorben.“
„Cornelius todt?!“ sagte ich bestürzt.
„Auch er hinüber, der von den Guten der Beste, von den Großen der Größte war; es will Abend werden, die Blätter fallen ab,“ klagte der Meister, einst der Schüler des Mannes, den heute der Tod von einem großen und segensreichen Wirken abberufen hatte.
„Er hatte das Ziel seines Lebens erreicht und war hoch an Jahren.“ –
„Sie kannten Cornelius nicht persönlich,“ sagte Kaulbach eifrig, „sein Körper war allerdings ein schwächliches Gehäuse für die große Seele, aber diese Seele war eine so mächtige, daß sie gleichsam für den Körper mit garantirte. Mir war’s immer, als könnte der Mann nicht sterben, wenn er nicht selbst wolle, und nun ist er doch hinüber. Es will Abend werden, memento mori!“
„Wie kommen Sie nur zu dieser Stimmung, Herr Director? Sie, der Sie sich wie Ninon de L’enclos einer ewigen Jugend erfreuen!“
„O meine ewige Jugend! Lieber Freund, ich bin ein alter Mann, zweimal so alt als Sie; es wird Zeit, daß ich mich auch zur großen Reise rüste. Lange hat mich nichts so ergriffen wie diese Nachricht! Wenn wir auch nicht persönlich mit einander verkehrten, wenn unsere beiderseitigen ‚jungen Freunde‘ sich immerhin mit Erfolg bemühten Zwietracht zwischen uns zu säen und es ihnen sogar bei Cornelius gelang ihn gegen mich zu erbittern, – in meinem Herzen hat er immer gelebt und jetzt, wo er dahin ist, fühle ich erst so recht tief und schmerzlich, was wir alle an ihm verloren. Mir persönlich aber ist sein Tod ein memento mori gewesen, das mit furchtbarem Ernst an mein Ohr geklungen. Es wird Zeit, ich will abschließen, aber drei Aufgaben möchte ich noch vollenden, ehe mir die Kohle für immer aus der Hand fällt.“ –
„Die eine ist der Nero, da steht schon die Zeichnung auf der Leinewand; die zweite kenne ich auch, das ist der Gipfelpunkt Ihres Schaffens, die Sündfluth, von der ich leider jetzt erst einige Skizzen gesehen habe.“
„Es ist auch nicht mehr davon vorhanden und Jahre werden dazu gehören, um den furchtbaren Stoff zu bewältigen, wie ich ihn mir gedacht – lange Jahre und momento mori! Cornelius hat auch noch viel unvollendet zurücklassen müssen und nicht geglaubt so plötzlich von dem kräftigsten Wirken abberufen zu werden.“
„Wenn Sie nach dem Alter von Cornelius rechnen, so haben Sie mindestens noch zwei Decennien, Herr Director!“
„Garantiren Sie mir die Hälfte Zeit gesunden Schaffens, so will ich zufrieden sein und Alles vollenden.“
„Hoffen wir das Beste, und ich meine, es sei wahrhaftig kein thörichtes Hoffen. Aber Sie sprechen von drei Werken, was ist denn das dritte?“
„Mein Todtentanz; habe ich Ihnen noch nichts davon gezeigt? Kommen Sie mit mir, mir ist ohnedem das Arbeiten verleidet, und wir sind beide in der rechten Stimmung, einen Todtentanz zu betrachten; er ist im oberen Atelier.“
Stumm gingen wir neben einander die Treppen hinauf und traten in die obere Werkstatt, in welcher der Meister nur im Sommer zu arbeiten pflegt, während er im Winter im Koloßsaal (so genannt von der darin stehenden Koloßstatue) malt. Ich hatte das obere Atelier lange nicht betreten, es war noch Alles drin wie sonst und doch muthete mich Alles anders an.
Wie sonst grüßte das riesengroße Bild der Schlacht von Salamis wie ein alter Freund mir entgegen, aber die in tiefen, hellen, glühenden Farben prangenden Weiber, an deren üppiger Schönheitsfülle sich so oft mein durstiges Auge erquickt, schienen zu frieren auf der kalten Leinewand. In der Ecke lehnte wie sonst das lebensgroße Bild von Franz Liszt, aber die bleichen, scharfen Züge, um welche die langen Haare wild flatterten, kamen mir noch gespenstischer vor als früher. War’s mir doch, als schaute schon der Abbé Franz Liszt, der den heiß ersehnten Frieden im Clerus der alleinseligmachenden Kirche jetzt endlich gefunden, mit müden, matten Augen aus den genialen, blasirten Zügen des einst so lebensfrohen, so hastig genießenden Virtuosen heraus. Und da mein alter Freund, der Vampyr-Hamlet, wie ich’s getauft hatte, das lebensgroße Portrait eines jungen ungarischen Baron von Bronay, das Kaulbach vor langen Jahren als Hamletstudie gemalt. Wie stimmte das Bild mit den tiefen grübelnden Augen so vortrefflich zum Ganzen! Ward doch, als sollte er heraustreten aus seinem Rahmen, der ungarische Hamlet, und sein berühmtes Gespräch mit Horatio auf dem Kirchhof beginnen und [408] über Todtenschädel philosophiren und fragen: „Glaubst Du, Horatio, daß Alexander nach seinem Tode auch so aussah?“ Dabei prasselte der Regen an die großen Atelierfenster, der Sturm heulte und rüttelte draußen an den Läden, ein kalter, unheimlicher Hauch ging durch die hohen Räume und durchfröstelte mich bis in’s Mark.
Kaulbach schien ähnliche Eindrücke zu haben: „Ist’s nicht da drinnen, als sei ich schon gestorben?“
„Wenn schon, das und das und das,“ dabei deutete ich auf die einzelnen Gemälde, „bleibt, das stirbt nicht.“
„So kalt, so öde, so moderduftig, das ist die rechte Stimmung für einen Todtentanz. Da ist das erste Blatt,“ sagte der Meister und stellte den Carton auf die Staffelei.
Es ist ein eigenthümlicher Zug, der durch unsere germanische Natur wie ein rother Faden geht, diese Sehnsucht zum Tode, dieser Hang über die letzten Geheimnisse des Lebens nachzubrüten. Ist doch die Chorea Machabaeorum der immer und immer wiederkehrende Vorwurf gewesen, den unsere Künstler seit dem vierzehnten Jahrhundert sich mit Vorliebe aneigneten und in den verschiedensten Weisen ausführten.
Wie war ich gespannt, als ich von Kaulbach zum ersten Mal das Wort „Todtentanz“ hörte. Daß er, der eine Geschichte der Menschheit mit glühendem Pinsel geschrieben, das größte Geschichtswerk aller Zeiten, den Todtentanz nur in der erhabensten und großartigsten Weise bringen konnte, versteht sich wohl von selbst.
Aber wie??
Da war nun des Räthsels volle Lösung, so unendlich einfach, so still erhaben, so überwältigend tragisch!
Napoleon der Große sitzt vor einer Weltkugel, einen Cirkel in der Hand. Zu seinen Füßen sind die Karten der seinem Schwerte unterworfenen Länder ausgestreut, sein gedankenschwerer Blick starrt finster hinaus in’s Unendliche: „Ihm ist die Erde zu klein, er suchet nach neuen Welten“. Sein Adjutant, der geflügelte Tod, schiebt der einen Spitze des Cirkels als „neue Welt“ einen schauerlichen Globus unter, einen Todtenschädel. Von den mit den Emblemen des Napoleonismus bedeckten Wänden hebt sich als düsteres „mene, mene tekel upharsin“ in scharfen Umrissen das Bild des starren Felseneilandes St. Helena. In dem Ganzen die tiefe, stille Ruhe des Grabes, die ernste Majestät des Todes! Das Bild Napoleon’s, die schönen, stillen Züge, die marmorne Stirn, unter der die welterschütternden Gedanken wohnten, weckt alle die Erinnerungen von einstens; der ganze Groll und Haß unserer Väter, der so oft an dieser ehernen Ruhe machtlos zerschellte, bis er endlich doch den Koloß zerschmetterte, wird lebendig; wieder herauf tauchen die Erinnerungen an die Erzählungen unserer Mütter, denen wir mit kleinen, ängstlich klopfenden Kinderherzen in langen Winterabenden lauschten, jene Erzählungen von den wilden Völkerwanderungen, die im Anfange unseres Jahrhunderts durch Europa rasten und alles Bestehende über den Haufen warfen, von den bärtigen, fremden Männern, die, von der Gluth der ägyptischen Sonne gebräunt, ihrem Adler folgten von den heißen, sonneverbrannten Wüsteneien in Spanien bis in die öden, eisigen Steppen Rußlands, von all’ dem unsäglichen Jammer, von all’ der gräßlichen Noth, die ihren Fußtritten folgten.
Und dieser Adler, dem Alle zujauchzten, als er seinen freudigen Siegesflug über die Welt begann, war dieser Mann; auf sein Geheiß begannen die Völker in Waffen zu wandern von den Pyramiden bis zum Kreml, auf sein Gebot flammten Dörfer und Städte in die Höhe, auf seinen Befehl gingen Millionen in den Tod, durch seinen Willen stiegen Könige von ihren Thronen und Reiche, die für ewig gegründet schienen, verschwanden von der Erde.
Und diesem Mann, der sich allmächtig dünken mußte in der Fülle seiner Kraft und Stärke, diesem Manne, den schon nach wenigen Decennien die Sage mit ihren nebelhaften Schleiern umhüllte und ihn im Volksmunde zum Halbgott machte, nahte doch endlich die ewige Allmacht, mit ihrem ernsten, gewaltigen: „Bis hierher und nicht weiter!“
Der stumme Träger dieser Botschaft, wie ist er gewaltig gezeichnet, der gewaltige Tod! Das ist nicht der Tod,
„der da lauert am Krankenpfühl
Und das wimmernde Kind auf die Bahre legt;
Nein, der Schlachtenlenker im Kampfgewühl,
Der den Mann und den trotzigen Jüngling erschlägt.“
Am Brande der lodernden Städte hat er sich seine Schwingen versengt, die Kugeln der von ihm zum Morden geführten Schaaren haben seine Gewänder zerfetzt: so bietet der würdige Adjutant des großen Schlachtenlenkers dem Herrscher die neue Welt – den grinsenden Todtenschädel.
Es liegt eine welterschütternde Ironie in diesem Bilde, eine furchtbar ernste Mahnung in ernster, schwerer Zeit.
Wird sie verstanden werden?! –
Dies Blatt steht nicht allein da, es ist nur der Anfang einer Reihe von erschütternden Bildern, auf denen die Großen und Mächtigen dieser Erde mit dem Tode den letzten Reigen tanzen.
Und weil es die sind, die der jüngsten Vergangenheit angehören, die, welche wir zum Theil selbst noch gekannt oder deren abgeschlossenes Leben uns, der Gegenwart, klar genug daliegt, um schon historisch richtig beurtheilt werden zu können, und doch wieder nahe genug, daß wir ein lebhaftes persönliches Interesse daran gewinnen müssen, so wird dieser „Todtentanz“ des großen Meisters jedenfalls eines seiner Werke werden, das in der langen Kette derselben auf das höchste Interesse und die schwerwiegendste Bedeutung Anspruch machen muß und kann.
Verehrer des Dichters Victor Hugo hatten mir’s bei meiner Abreise nach Jersey halb und halb zur Pflicht gemacht, demselben ihre Grüße zu überbringen; mir selbst aber konnte es nur erwünscht sein, für dasjenige, was in seinen Dichtungen mir theils sympathisch, theils antipathisch war, im persönlichen Berühren und Aussprechen eine Ausgleichung zu finden. Einige Wochen nach meiner Ankunft in Jersey erkundigte ich mich deshalb nach seinem Aufenthalt. Mein alter Hauswirth bedeutete mich indessen in ziemlich gereiztem Tone: „Dieser Herr ist nicht mehr hier.“ – „Gott sei Dank!“ fügte seine Schwiegertochter hinzu. Nähere Aufklärung war weder von ihr noch von ihm zu erhalten.
In der Bibliothek von St. Helier fand ich bald darauf Gelegenheit, von einem früheren Gesinnungsgenossen Victor Hugo’s über dessen Verbleiben Auskunft zu erhalten, und jetzt erinnerte ich mich allerdings, vor Jahren schon in den Zeitungen die Ausweisung einer Anzahl französischer Flüchtlinge erwähnt gefunden zu haben. Wie ich glaube, handelte es sich damals um Reclamationen Seitens der französischen Regierung. Es war hinzugekommen, daß einer der in Jersey verweilenden Flüchtlinge, Felix Piat, der Königin Victoria in einem offenen Briefe über ihren Besuch bei Louis Napoleon den Text gelesen, und daß sich eine Anzahl der übrigen Flüchtlinge den Ansichten Felix Piat’s angeschlossen hatte – genug, der englische Gouverneur, im Einverständniß mit einem sogenannten Indignations-meeting, das auf der Place Royale in St. Helier abgehalten wurde, machte von seinem Ausweisungs-Rechte Gebrauch.
Die Schwester-Insel Guernsey ihrerseits beeilte sich, die Ungastlichkeit Jersey’s gut zu machen. Die Etats von Guernsey luden Victor Hugo zur förmlichen Uebersiedelung ein; und da, im Gegensatz zu den Gesetzen Jersey’s, auch den Katholiken die Erwerbung eignen Grundbesitzes auf Guernsey gestattet ist, so folgte Victor Hugo nicht nur dem ehrenden Rufe, sondern kaufte sich sogar auf Guernsey an. Dieses der ungefähre Hergang. Es mögen seitdem etwa zehn Jahre verstrichen sein.
Als ich im vorigen October auf Jersey ankam, hatten bereits die Herbststürme begonnen. Das Meer war sehr unzuverlässig geworden. Die englischen Dampfböte wurden häufig durch Nebel [409] und Orkane am Auslaufen verhindert. Dazu kamen noch widersprechende Nachrichten über Victor Hugo’s zeitweiligen Wohnsitz. Ich verschob meinen Ausflug nach Guernsey und den übrigen Canal-Inseln daher auf den Frühling. Mein Jersey-Aufenthalt ging bereits zu Ende, als ich dem Dichter in den ersten Tagen des April meinen brieflichen Gruß mit der Anfrage entsandte, ob er überhaupt gegenwärtig in Guernsey verweile und ob ihm mein Besuch willkommen sei. Mit dem rückkehrenden Dampfboot traf ein Antwortschreiben ein, das beide Fragen höflich bejahte.
Am 5. April Morgens sieben Uhr machte ich mich demnach auf die Reise. Nach einer anderthalbstündigen Fahrt zeigten sich im Nord-Osten die kecken Umrisse der festungsartigen Insel Serk und gleichzeitig die langgestreckte, mäßig hohe Küstenlinie Guernsey’s. Noch eine halbe Stunde bei ruhiger werdendem Meere, und wir hatten die Hauptstadt Guernsey’s, St. Peter’s Port, erreicht. Diese Insel hat nicht ganz Jersey’s Umfang, und mein Wirth war während des Winters nicht müde geworden, die großen Vorzüge seiner Insel zu rühmen. Aber auch Guernsey verbindet mit einer Fülle großartiger Naturschönheiten den großartigen Charakter, welcher Jersey so anziehend macht, und als sich jetzt die amphitheatralisch um die blaue Meeresbucht gelagerten Häuser von St. Peter’s Port in bunter Mannigfaltigkeit vor mir ausbreiteten, freute ich mich des anmuthigen Panorama’s um des Verbannten willen zwiefach. Gewiß, Ovid aß das Brod der Fremde mit herberen Empfindungen; gewiß, Dante vergrub sich mit unheilbarer verwundetem Gemüthe in seine patriotischen Grübeleien; Camoëns, auf das ferne Macao verwiesen, mochte seinen schattenlosen Kerker mit berechtigterem Zorne hassen; und die Verbannten unter unseren deutschen Dichtern haben zumeist weit trübere Jahre erleben müssen, indem ja die Noth des Daseins sogar die Leier ihren Händen entwand. Doch auch in sorgenfreien Verhältnissen, auch in freiwilliger Selbstverbannung entbehrt die Heimath sich nicht leicht, und so war es mir ein wohlthuendes Gefühl, daß hier die Natur alle ihre Zauber vereinigt hatte, um den heimathflüchtigen Dichter zu trösten.
Wer Syra, Genua oder Amalfi vom Meere aus erblickt hat, kann das dort Gesehene etwa auf St. Peter’s Port übertragen. Eine Straße baut sich über die andre, eine Häuser-Reihe guckt der andern über die Achsel. Was dem Hafen zunächst gelegen ist, erscheint geschäftsmäßig, altmodisch, von dem Betriebe des Schifferverkehres in Anspruch genommen, nur das, was höher liegt, zeigt sich gepflegter, während das zuhöchst Gelegene, theils englische Cottages, theils prächtige Villen, aus dem Grün einer überaus üppigen Vegetation hervorlugt. Dazwischen ragen mancherlei Kirchen, ein stattliches Gymnasium, die mächtigen Bäume eines Volksgartens und ein neugothischer Thurm auf, der zum Ausblicke über die ganze Ausdehnung der Insel dient und als Erinnerungszeichen an einen Besuch der Königin Victoria erbaut wurde; endlich, zur Linken der Stadt, höher als ihre höchsten Straßen, hält eine von grünem Rasen bedeckte Citadelle, mit mächtigen Geschützen wohlversehen, den Blick trotzig gen Süden, nach dem französischen Festlande gerichtet. Der Union Jack, die englische Flagge, flatterte hoch oben fröhlich im Winde.
Es war gegen Mittag, als ich meine Schritte nach demjenigen Theile der Stadt lenkte, auf welchen man mich bei meiner Frage nach Victor Hugo’s Wohnung verwiesen hatte. Hauteville, einer der hohen, weithin sichtbaren, aristokratischen Stadttheile, welche die Küste krönen, enthält unter andern schönen Baulichkeiten ein schon vom Meere aus deutlich erkennbares, zweistöckiges, ansehnliches Haus, das sich vor den übrigen durch sehr wohnliche Dach-Einrichtungen auszeichnet. Längs der Dachrinne ist ein Geländer angebracht; in derselben Weise hat jeder Erker eine Galerie; Treppen verbinden Eins mit dem Andern; endlich erhebt sich auf der rechten Dach-Seite ein blumenumgebenes Glashaus, das einem photographischen Atelier nicht unähnlich sieht. Dieser schwebende Garten bildet die Dichterwerkstatt Victor Hugo’s. Man hatte mir den beneidenswerthen Zufluchtsort schon vom Meere aus gezeigt und mir unter mancherlei Zusätzen, die hier nicht füglich nacherzählt werden können, zu verstehen gegeben, daß der Dichter seit Längerem ohne seine Familie lebe. Als ich jetzt an dem von der Straße gesehen etwas unschön casernenartigen Gebäude schellte, öffnete mir eine blonde französische Magd von gesetzten Jahren.
Von dem Zwecke meines Kommens unterrichtet, fragte sie, ob eine Audienzstunde vorgängig nachgesucht und bewilligt worden sei, und entschloß sich erst nach allerlei Bedenklichkeiten, meine Karte auf’s Dach zu tragen. „Denn,“ sagte sie, „Mr. Victor Hugo arbeitet zwar um diese Zeit nicht mehr, er beginnt schon früh um 6 Uhr – aber er wird jetzt eben mit seiner Toilette beschäftigt sein; dann ist seine Frühstücksstunde; hierauf folgt, bis zur Tischzeit, Excursion im Wagen; genug, er ist gerade heute völlig besetzt.“ Ich versprach der besorgten Dienerin, mich schlimmsten Falls bei der Wahrnehmung, daß es ihm gut gehe, beruhigen zu wollen, und begab mich auf ihren Vorschlag einstweilen durch einen Corridor, dessen Wände von oben bis unten mit bemalten Rococo-Porcellan-Tellern tapezirt waren, in den wohlgepflegten Garten.
Derselbe hatte eine beträchtliche Länge, bot übrigens keinerlei englische Partien, wie man deren auf Jersey und Guernsey sonst in so reizvoller Auswahl sieht, und verlief sich allmählich in einen wohlbestellten und ummauerten Gemüseacker. Hier war ein Gärtner mit allerlei Frühlingsdelicatessen vollauf beschäftigt. Auch eine zweite Magd, wiederum in vorgerückten Jahren, zeigte sich eifrig beflissen, ihre Schürze – vermuthlich für das „Frühstück“ – mit schmackhaften Lenz-Erstlingen zu füllen, wobei sie große irdene Topfglocken aufzuheben und die darunter aufgeschossenen Rhabarber-Stauden behutsam auszuschneiden hatte. Spargelbeete erzählten an anderen Stellen von weiteren Tafelfreuden. Riesen-Erdbeeren standen in voller Blüthe und verhießen binnen Monatsfrist eine hübsche Anzahl aromatischer Nachtische. Auch Pfirsiche blühten. Es war nichts vergessen, was dem Gaumen irgend Labe bieten konnte.
Jenseits eines immergrünen Gebüsches stand ich still, um meinen Betrachtungen einen weiteren Horizont zu gönnen. Zu Füßen dieser paradiesisch gelegenen Häuser und Gärten von Hauteville blinkte das blaue Meer mit seinen großen und kleinen Schiffen; das in’s Meer hinausragende, alt historische Castel Cornel blitzte tief unten mit allen seinen Fenstern im Mittagssonnenschein. Weiter gen Süden zeichnete sich, in bräunlich rothen Felsenmassen vom weißlichen Dunste der Ferne abgehoben, der vielgestaltige Inselarchipel, welcher, in der Richtung nach dem alten Mutterlande Frankreich, die Vorhut Guernsey’s bildet, – Granittrümmer des Festlandes, durch die wilden Strömungen des Canals vor Zeiten zu vereinsamten Klippeneilanden gemacht. Mit ewigem Grün geschmückt und von der Frühlingssonne warm beschienen, sahen sie aber nichts weniger als unwirthlich aus und beschäftigten das Auge immer von neuem durch die malerische Wirkung ihrer kühnen Linien.
Als ich meinen Blick von dem entzückenden Bilde nach dem Hause zurückwandte, aus welchem noch immer keine Rückmeldung zu mir gelangt war, bemerkte ich, daß sich auf dem Dache etwas Menschliches bewegte, und zwar in einem Zustande, der wohl füglich erst auf den Anfang jener gegen mich erwähnten Toilettenstunde hindeuten konnte. Die Gestalt war aus dem Glasbehälter in’s Freie getreten, um, wie ich jetzt erkannte, eine orientalische Waschung zu verrichten und sich dabei eines vollständigen Luftbades zu erfreuen. Der kurze weiße Vollbart und das weiße Haupt des rüstigen Mannes ließen mir keinen Zweifel über die Person, die ihren Freiheitsideen hier in so unbefangener Weise Genüge that. Es war in der That niemand anders als der Dichter der „Orientales“ selbst.
In unserem kleiderreichen Zeitalter verlernt man so sehr den Anblick des Nackten, daß ich einige Zeit brauchte, um mich in das ungewöhnliche Schauspiel zu finden. Und diese wurde mir allerdings. Der glückliche Mansarden-Bürger! Er schien weder durch die etwaigen Vorurtheile der englischen Nachbarschaft, oder die Nähe der Dienerschaft beengt, noch auch durch den Gedanken behelligt, daß Audienz-Wartende, wie es mir geschah, aus den Schattengängen nach der paradiesischen Scene dort oben hinaufblicken möchten. Auch nach seiner Rückkehr in den gläsernen Behälter blieb er noch eine gute Weile in gleicher Ursprünglichkeit sichtbar, und als ich, nach seinem endlichen Verschwinden, meine Uhr befragte, gewahrte ich, daß diese meine erste Audienz volle 20 Minuten gedauert hatte. Immerhin konnte der Zweck meiner Reise nun kein ganz vereitelter sein. Es war mir jedenfalls ein Stück praktischer Lebensphilosophie vorgeführt worden, das seines Gleichen suchte. Ich war nicht nur in Rom gewesen, ich hatte auch den Papst gesehen.
Aber die Besorgnisse der Pförtnerin erwiesen sich überhaupt als übertrieben. Eine munterblickende Zofe, wie Molière deren so fröhliche gezeichnet hat, war mehrfach in den Gängen des Gartens sichtbar geworden. In Begleitung eines chocoladefarbenen Windspiels [410] kam sie nun knixend an mich heran, und lud mich ein, ihr zu folgen. „Nur in den ersten Stock, Monsieur,“ setzte sie hinzu, da ich fragend nach dem Dach hinüberblickte, und führte mich dann jenseits des Porcellan-Corridors an den Fuß einer Treppe, die mit so vielen schweren Stoffen umhängt und beschattet war, daß man schier in eine Wolke hinein zu steigen glaubte. Meine Führerin wußte mir indessen durch dieses künstliche Dunkel hindurch zu helfen, und als sie sich schließlich mit der Bitte um ein kurzes Gedulden empfahl, befand ich mich in einem zweifenstrigen, mäßig großen Zimmer, zu dessen erschöpfender Betrachtung mir abermals eine geraume Muße gelassen werden sollte. Genüge hier die Erwähnung, daß die Auswahl der Rococomeubel eine höchst sorgfältige war, daß über dem Pianino unter einem Baldachin eine aus Verviers datirende Improvisation Victor Hugo’s in goldnem Rahmen angebracht war: „les fleurs sont“ etc. etc. von einem Bewunderer des Dichters ihm in kalligraphischer Verherrlichung zugeeignet; daß ferner über dem breiten Kamine zwei Photographien mit der Unterschrift „Victor Hugo, Guernsey 1858,“ hingen, – angetuschte Federzeichnungen phantastischer Art, Burgen mit wehenden Bäumen und Wolken, genial genug, etwa im Geschmacke Salvator Rosa’s; daß endlich auf einem Tische ein Heft mit der Vignette: „Registre de la Bibliothèque,“ und mit dem Zusatze „contenant 1200 volumes“ ausgelegt war, ein Nachschlagebuch, das sich übrigens auf diesen volltönenden Titel beschränkte und kein Inhaltsverzeichniß enthielt. Neben solchen mehr decorativen Dingen war dem Besucher der Anblick zweier Reliquien intimerer Art gegönnt: das Aquarellportrait einer sehr lieblichen jungen Dame, wie ich vermuthe, das Bild der in der Seine ertrunkenen Tochter des Dichters, und davor, auf einer Rocococommode, – wohl der nämlichen wehmüthigen Erinnerung geweiht – der Gypsabguß eines jugendlichen Armes.
Endlich nahten Schritte, der Thür-Vorhang bewegte sich, und Victor Hugo trat ein.
Er ist bekanntlich 1802 geboren, also fünfundsechszig Jahre alt; aber seine äußere Erscheinung straft alle desfallsigen Angaben Lügen. Die Bewegungen des mittelgroßen Mannes sind rasch, sein Gang ist elastisch, seine Haltung völlig ungebeugt, seine Stimme hat frischen Klang, sein dunkles, nicht vorwiegend seelenvolles Auge blickt scharf drein, man glaubt einem vorzeitig Ergrauten von achtundvierzig bis höchstens fünfzig Jahren gegenüber zu stehen. Was seine Redeweise betrifft, so spricht er mit großer Leichtigkeit, ohne gerade wählerisch in seinen Ausdrücken zu sein, oder durch Gedankenblitze zu überraschen. Auch ist es, als ob der lange Aufenthalt unter den ziemlich derben Canal-Insulanern, vielleicht auch das Zurücktreten anderer Einflüsse, die dem Franzosen sonst so eigenartige Formen-Anmuth abgeschwächt hätte. Dabei gewahrt man allerdings sehr bald, daß der prophetisch positive Ton seiner Schriften aus seiner eigensten Natur entspringt. Was ist und werden wird, liegt fertig vor seinen Augen. So und nicht anders muß sich der Weltenlauf gestalten. Einzig das Wann bleibt das Geheimniß der Götter.
Orakelsprüche dieser Art lassen sich nicht füglich wörtlich nacherzählen. Selbst wenn, wie es hier geschah, auf theilweise bereits Gedrucktes hingewiesen wird, also in dem Weiterberichten keinerlei Indiscretion liegen kann, so verbietet sich’s doch – für mein Gefühl wenigstens – aus dem einfachen Grunde, daß eine derartige Wiedergabe all jenes Zaubers der Unmittelbarkeit entbehrt, welche in der lebendigen Wechselrede auch den gewagtesten Aussprüchen noch häufig eine gewisse nüchterne Verständigkeit verleiht. Als Summe der von Victor Hugo vorausgesagten Dinge – meine Einwendungen gehören nicht hierher – sei denn nur kurz erwähnt, daß er Europa auf dem Wege erblickt, sich zu einer einzigen großen Völkerfamilie zu verschmelzen. Dieser Proceß wird sich, da ihm die Sprachgrenzen für die allein vernünftigen Grenzen gelten, durch das Aufkommen „einer Sprache für Alle“ vorbereiten. Anwartschaft auf diese Rolle haben nur drei der jetzt lebenden Sprachen, die deutsche, die italienische, die französische. Die erstere hält Victor Hugo aber für die Italiener für zu schwierig; die zweite wiederum scheint ihm für die Deutschen allzugroße Anstrengungen zu erfordern; somit bleibt als künftige europäische Universal-Sprache das Französische. In dieser Sprache wird – versteht sich nach Beseitigung der Monarchien – in einem künftigen europäischen Parlamente unser Welttheil seine Angelegenheiten berathen und zum Austrage bringen. Dies etwa die Hauptperspective.
Wie bald nun diese Umgestaltung sich vollziehen wird, ist nicht wohl zu bestimmen. Sollte Napoleon morgen gestürzt werden – Victor Hugo nannte ihn immer nur Monsieur Bonaparte – so würde die französische Demokratie morgen der deutschen mit dem Zurufe Aimons-nous! die Hand entgegenstrecken; die deutsche würde diese Hand ergreifen; man würde Freihandel, vollständige Entwaffnung und gleiche Rechte Aller proclamiren; und binnen Kurzem würde die Sonne der Freiheit den Fruchtkern der neuen Verbrüderung zum stattlichen Baume entwickeln. Unter so veränderten Beziehungen würde natürlich auch das kirchliche Leben dann seine Revolution durchzumachen haben, und zwar in derselben Weise, wie die Herrschaft der Freiheit alle übrigen Einrichtungen ohne staatliche Einmischung naturgemäß umgestalten müßte. Wie man jetzt den Arzt rufen lasse und ihm seine Mühe und Leistung bezahle, eben so dann den Herrn Pfarrer.
Ich hatte mancherlei Zweifel laut werden lassen, wie ich vermuthe nicht grade zur Befriedigung Victor Hugo’s, dem es entschieden nicht darum zu thun war, die Ansichten andrer Kreise über diese Materie zu vernehmen. Aber die Annahme, daß sich Europa früher oder später einfach zum Französischen bekehren werde, schien mir denn doch eine so eigenthümliche Auffassung der sämmtlichen andern lebenden und lebenslustigen Sprachen vorauszusetzen, daß ich zum Schluß die Frage nicht unterdrücken mochte, ob Victor Hugo sich denn mit der englischen oder deutschen Sprache vertraut gemacht habe? – „Weder mit dieser noch mit jener,“ lautete die Antwort; „und zwar, was das Englische betrifft, trotzdem ich bereits achtzehn Jahre lang unter Engländern lebe und mit ihnen verkehre. Beweist aber das nicht besser als alles Andere, wie allgemein das Französisch bereits als Universal-Sprache acceptirt ist? Byron hätte in Frankreich nimmermehr mit bloßem Englisch ausgereicht. In Deutschland, höre ich, weiß man in jedem Hotel in unserer Sprache Bescheid zu geben. Und Sie selber, reden Sie nicht mit mir französisch?“ Meine Wißbegierde war nun im hohen Grade befriedigt – und da unser leidiger Sprachenfleiß uns denn schon halbwegs zu Franzosen gemacht hat, so ist es für die Gartenlaube wohl hohe Zeit, sich auf fremde Lettern einzurichten. –
Ein Bataillon der tapferen Coburg-Gothaer ward am Tage der Schlacht bei Langensalza, deren Jahrestag wir in dieser Woche feiern, von dem preußischen Feldherrn bestimmt, die Eingänge und Thore der Stadt vom Feinde zu säubern und diesen aus den südlichen Vorstädten zu vertreiben. Die Hannoveraner ließen es aber hier noch nicht zu einem ernsten Kampfe kommen, sondern zogen sich nach einigen Schüssen bei der Annäherung der Preußen zurück.
Unsere Freunde hielten am Eingange der Stadt eine kurze Rast, um sich nach einem dreistündigen Marsche in heißer Sonnengluth und im Staub etwas zu erholen. Ein nicht enden wollendes Hurrah- und Jubelgeschrei begrüßte die befreundeten Truppen, aus Hütten und Häusern trugen ihnen die freudig erregten Bürger Labungen aller Art zu und drückten ihnen brüderlich die Hände. Auch ich, einer der Nahewohnenden, hatte mich unter Volk und Krieger gemischt und den letzteren tapfer zugetragen. Als ich eben im Begriffe war, mit den leeren Trinkgefäßen in meine Wohnung zurückzukehren, wurde ich von einem der Officiere, einem hochgewachsenen, schönen, jungen Mann, zurückgehalten und angeredet.
„Mein verehrter Herr,“ sagte er, „ich höre, daß Sie der ..… sind. Mein Vater ist Ihr Standesgenosse. Dies, sowie Ihre soeben an uns bewiesene Menschenfreundlichkeit giebt mir den Muth, eine herzliche Bitte auszusprechen. Es hat dringende Eile, denn in wenig Augenblicken ziehen wir dem Feinde entgegen. Ob ich falle oder davon komme, Gott allein weiß es. Denken Sie, mein jüngster Bruder, mein und aller Liebling daheim, ist unserer Colonne [411] von Gotha heimlich nachgelaufen, aus Liebe und Sorge für mich. Meine Angehörigen in der Ferne besuchten mich gestern dort, um sich von mir zu verabschieden. Bei ihrer Wegfahrt befand sich der Knabe unter ihnen, saß zwischen Vater und Mutter. Wer kann sich aber mein Entsetzen vorstellen, als ich auf der Höhe dort, beim Sammeln und Antreten, den Knaben hinter einem Gepäckwagen hervorkommen sah, vor Schmutz kaum zu erkennen! Er warf sich in meine Arme, vor meine Kniee und bat flehentlich, ihn da zu behalten. ‚Laß’ mich bei Dir, Bruder Eduard, stoße mich nicht weg! Ich habe keine Ruhe, und jagst Du mich hier fort, so komme ich dort wieder!‘ Dies waren und sind seine Worte, und wollte ich auf ihn einschlagen oder ihn mit Gewalt entfernen lassen, es würde mir zu nichts fruchten, er würde entspringen und mir von Neuem nachlaufen. Aber es darf nicht sein, denn ein Unfall des Knaben könnte unsere Eltern mit Herzeleid in die Grube bringen. Rathen, helfen Sie! Was ist zu thun? Ich bitte Sie um Gotteswillen, nehmen Sie sich seiner an; behalten Sie ihn hier, bis Alles vorüber! Der Knabe ist in seiner Sorge um mich fähig, hinter mir her und geradezu in den Tod zu laufen. Was kennt oder achtet ein Kind die Gefahr! die brüderliche Liebe macht ihn ganz gleichgültig gegen Alles. Bitte, mein theurer Herr, ich flehe um Ihren Beistand!“
Die Angst des guten Bruders, ebenso sehr die Liebe des Knaben, bewegten mich tief; unmöglich konnte ich mein Herz solch’ flehentlicher Bitte verschließen und andererseits durfte der Jüngere sich nicht unnütz opfern. Ich hatte meinen Entschluß gefaßt. Als der Officier mir den Knaben zugeführt, hoch aufgeschossen und mit einem Auge, in welchem eine ganze Welt voll Liebe thronte, ergriff ich freundlich seine Hand und sprach zu ihm: „Friedrich, so heißt Du ja wohl, Dein guter Bruder hat Dich mir bis heute Abend anvertraut, dann will er Dich selbst wieder abholen. Du kannst nicht mit ihm ziehen, das erlaubt weder Kriegsbrauch noch Kriegsgesetz, das würden Officiere und Cameraden nicht zugeben. In die Schlacht ziehen nur Männer und nicht Knaben; aber willst Du den Ort und die Gegend sehen, wo Dein Bruder kämpfen wird, so werde ich Dich nach jenem Thurme führen, von dessen Höhe Du das Schlachtfeld überschauen kannst. Und zu Deiner Sicherheit und Belehrung will ich selbst mit hinaufsteigen und Dir zur Seite bleiben; meine zwei Enkel hier, Otto und Willy, sollen uns begleiten. Ermanne, fasse Dich, wir meinen es gut mit Dir und Deinem lieben Bruder und mit allen unseren Befreiern; wir beten für sie und Du wirst sehen, Gott wird sie nicht verlassen.“
Beide Brüder umschlangen sich in der zärtlichsten Umarmung, der ältere aber riß sich endlich los, küßte noch einmal den beinahe ohnmächtigen Friedrich und legte ihn in meine Arme. „Lassen Sie ihn nicht von sich,“ flüsterte er; „hüten Sie ihn wie Ihren Augapfel, sonst verschwindet er Ihnen unter den Händen!“ Ich winkte, ergriff den Willenlosen und führte ihn in Begleitung der andern Kinder in meine Wohnung. – „Still’ gestanden! Gewehr auf! Marsch!“ hörte ich noch commandiren, und als wir oben an das Fenster traten, war der Platz bereits leer. Ich führte meinen Schützling in Mitte der beiden Knaben bald darauf nach dem Thurm, denn alle drei hatten unten keine Ruhe. Als wir oben angelangt waren und einen Blick nach Morgen warfen: ha, da lag das ganze Schlachtfeld bis in seine fernsten Flügel zur Linken und Rechten vor uns.
Ich bot dem jungen Friedrich das mitgebrachte Fernrohr und er verfolgte mit ängstlicher Hast den Zug seiner Coburger Landsleute, ihren Vormarsch und ihre Aufstellung zur Bedeckung der preußischen Batterien auf dem nahen Jüdenhügel.
Auf einmal schrie einer der Knaben: „Großpapa, jetzt muß eine Kanonenkugel in unsere Reiterei am Jüdenhügel eingeschlagen sein. Sieh’ nur, eine Menge Pferde springen herrenlos umher. Du lieber Gott, es betrifft fast lauter Landwehrleute. Da ist ‘was Schlimmes passirt; siehe, die ganze Reiterei sammt den Coburgern zieht sich weg und stellt sich hinter dem Jüdenhügel auf!“
„Um so ruhiger und getroster können wir deshalb sein,“ fügte ich möglichst unbefangen hinzu; denn die Gesichter der Kinder lagen voll Schrecken und Betrübniß. „Ihr seht, die Anführer verstehen ihr Handwerk und suchen ihre Leute zu schonen.“ Aber auf den jungen Friedrich schienen diese Tröstungen geringen Eindruck zu machen. Unverwandt sah er mit dem Glase in die Ferne, seine Hände zitterten, sein Antlitz war erdfahl.
So wogte der Kampf hin und her, und wenn man nicht gewußt hätte, daß es um Leben und Tod ging, dieses Schauspiel und herrliche Panorama wäre wahrhaft bezaubernd gewesen; aber das glänzende Bild hatte einen schaurigen Hintergrund und der Tod hielt auf diesen gesegneten Fluren eine reiche Ernte.
Der laute Ruf von der Straße nach Wein, Essig, Wasser, nach Hülfe, enthüllte mehr und mehr die Schrecken des Kampfgewühls. Auch mich trieb Hülferuf und Angstschrei vom Thurme hernieder, nachdem ich die Kinder in sichere Obhut des eigenen Schwiegersohnes übergeben. Wer beschreibt aber meine Bestürzung, als ich nach kurzer Zeit den Thurm von Neuem bestieg und unter den Anwesenden den jungen Friedrich vermißte, auch Niemand über sein Verschwinden Auskunft geben konnte. Alt und Jung waren dermaßen mit dem Anblick und Laufe der Schlacht beschäftigt, daß alles Andere vergessen schien. Wie eifrig ich jeden Winkel des alten finsteren Thurmes durchspähte, so laut ich den Namen Friedrich rief, der Flüchtling war und blieb wie von der Erde verschwunden. Ich ahnte, wohin er geflohen: in das nahe Schlachtgewühl zu seinem Bruder. Es bekümmerte mich sehr und ich machte mir Vorwürfe, aber es war zu spät.
Ich übergehe den Lauf und Ausgang der Schlacht, es gehört dieses Bild in einen andern Rahmen. – Am andern Tage früh kam ein Bote aus dem nächst gelegenen Lazarethe und erbat dort meine Gegenwart. „Unter unsern Verwundeten ist ein Officier,“ sprach der Mann, „der Sie kennt und sprechen möchte; er läßt Sie um Ihren Besuch bitten.“ Ein nothwendiges Geschäft im Hause hielt mich zurück und ich schickte deshalb meinen Schwiegersohn mit dessen zweien Knaben, um das Anliegen des Officiers zu erforschen; aber wie groß waren mein Erstaunen und Bedauern, als sie mit einem Verwundeten zurückkamen, den zwei Landwehrmänner mehr trugen als führten. Und wer war der Arme? Es war der schöne Jägerofficier von dem Coburger Bataillon, von einer Vollkugel an der Schläfe gestreift und dadurch niedergeworfen. Und wer schlich hinter ihm her, blaß, erschöpft und matt bis zum Umsinken? Unser Ausreißer, der junge Friedrich. – Ohne für jetzt weiter etwas zu fragen, denn der Officier war fast ganz bewußtlos, entkleideten wir ihn und brachten ihn zu Bette. Der herbei gerufene Hausarzt untersuchte seinen Zustand und erklärte: „Starke Hirn- und Rückenmarkerschütterung! Eisumschläge auf Kopf und Nacken und die größte Ruhe!“ – Sofort wurden die nöthigen Vorbereitungen getroffen und Friedrich blieb mit unsern Knaben zur Pflege an dem Bette des Schwerathmenden; Alle Versuche und Vorstellungen, den ganz erschöpften Friedrich zu eigner Schonung und Ruhe zu bringen, blieben erfolglos. Er wich und wankte nicht und ließ sich eine kleine Erfrischung fast nur mit Gewalt aufnöthigen. Den ganzen langen Sommertag und auch während der Nacht blieb der treue Hüter in seinem Samariterdienste. Erst gegen Morgen, als des Kranken Athem ruhiger wurde und Schlaf eintrat, ließ er sich von uns erbitten, ein Stündchen zu ruhen. Seine Erschöpfung war so groß, daß er in einen wahrhaft todtenähnlichen Schlaf versank. Wir ließen beide Brüder ungestört, Ruhe und Schlaf war das beste Heilmittel.
Als Friedrich endlich erwachte, war es bereits Abend und es fing an zu dunkeln. Hastig sprang er in die Höhe, das ängstliche Auge blickte nach dem Kranken. Und o Freude und Wonne! die Blicke desselben zeigten klares Bewußtsein; er lächelte seinem Bruder zu, hob die Hand und drohte mit dem Finger.
Der freudig erregte Knabe kniete am Bette des Kranken nieder, ergriff seine beiden Hände und küßte sie unter Thränen. „O bitte, bitte, nur ein einziges Wort,“ flüsterte er dem Bruder zu. Dieser aber war in sichtbarer Rührung; seine Augen standen voll Thränen, die Lippen zitterten, unfähig eines jeden Wortes. Endlich legte sich der Sturm seiner Gefühle; er streichelte und klopfte dem Knieenden die Wangen, spielte mit dessen Haare und beruhigte sich mehr und mehr.
Aber seine Augen schlossen sich bald wieder, der Kopf fiel zurück, er schlummerte ein. „Mein lieber Friedrich, fürchte nichts,“ sprach ich tröstend zu dem Knaben, als ich seine ängstlichen Blicke sah; „das ist der Schlaf wiederkehrender Gesundheit. Ueberzeuge Dich selbst: Athem und Pulsschlag gehen ruhig.“ – Der Knabe lebte von jetzt an immer mehr auf und ließ sich sogar zeitweise von seinen jungen Freunden Otto und Willy bei der Krankenpflege ablösen. –
[412] Seine heißen Gebete und unsere herzlichen Wünsche gingen in Erfüllung: mit dem Kranken wurde es täglich besser und an einem der folgenden Tage war er im Stande, seine Erlebnisse auf dem Schlachtfelde zu erzählen.
„Eine Centnerlast wälzte sich von meiner Seele,“ sprach er, „als ich meinen Bruder Friedrich wohlgeborgen in Ihren Händen sah, und ich zog getrosten Herzens von dannen. Unser Bataillon war zur Bedeckung der preußischen Batterien auf dem Jüdenhügel bestimmt und nahm daselbst mit zwei Schwadronen Cavalerie – Dragoner und Husaren – Stellung. Dicht an dieser Anhöhe hat irgend ein Sonderling im freien Felde einen kleinen Garten angelegt, hinter dessen noch jungen Bäumen und schwacher Umzäunung wir aber dem Feuer des Feindes von dem Kirchberge des nahen Dorfes Merxleben – dem Centrum der Hannoveraner und ihrer massenhaften Artillerie – sehr ausgesetzt waren. Einschlagende und platzende Granaten deuteten bald genug unsere Gefahr an und der Commandirende gab deshalb Befehl, hinter die Anhöhe des Jüdenhügels zurückzugehen, um dem Feinde nicht sichtbar zu sein.
Aber auch dahin sandten die Hannoveraner ihre Vollkugeln und Granatschüsse, ja sogar Bombenfeuer mußten wir aushalten. Indem ich den Schall und Flug der Kugeln beobachtete, bemerkte ich beim Niedersehen in einiger Entfernung an einem Feldstein eine Gestalt in knieender Stellung und mit erhobenen Händen. Eine schreckliche Ahnung drang in meine Seele: Ist das nicht Friedrich, entsprungen und von Neuem nachgelaufen? Für einige Minuten stand ich starr, in furchtbarer, innerer Aufregung. Endlich ermannte ich mich, hob drohend den Degen und gebot durch Zeichen, indem ich auf die einschlagenden Granaten verwies, sich augenblicklich zu entfernen. Wer aber nicht ging, das war Friedrich. Er streckte mir fortwährend die Arme entgegen, rief meinen Namen, flehte und wich und wankte nicht. Was blieb mir am Ende übrig? Ich mußte den Knaben zu mir rufen, aber ich that es mit Zähneknirschen, in der fürchterlichsten Erregung. In diesem Augenblicke hätte ich ihn tödten können. Er sah meinen Zorn und rief: ‚Durchbohre mich, Eduard, tritt mich mit Füßen, nur treibe mich nicht wieder von Dir!‘ Ich stand rath- und thatlos; da rief der Hauptmann: ‚Lieutenant, lassen Sie den Knaben nur hier, nicht jede Kugel trifft!‘ Zu ihm selbst sprach er: ‚Junge, Du hast einen dummen Streich gemacht; eine Schlacht ist Männersache, Kinder gehören in’s Haus zu Vater und Mutter! Der Allmächtige möge Dich schützen!‘
Kaum war das Wort gesprochen, als von Neuem und in nächster Nähe eine Granate einschlug, zersprang und den braven Mann selbst schwer am Fuße verletzte. ‚Lieutenant,‘ rief er, ‚lassen Sie mich aus dem Gefechte tragen, ein Granatsplitter hat mich getroffen, ich leide große Schmerzen!‘ Ein folgender Granatschuß hatte noch eine verhängnißvollere Wirkung: er verwundete den hoch zu Pferde sitzenden Bataillons-Commandeur tödtlich und außerdem noch eine Menge unserer Leute.
Eben wollte ich den Knaben, unter Hinweis auf diese schrecklichen Vorgänge, von Neuem zur Flucht antreiben, als ich urplötzlich ein Ohrengebraus empfand. Es war mir wie Glockengeläute, wie das Summen eines Bienenschwarms; dann glaubte ich wieder Trommelschall und den Donner heransprengender Cavalerie zu vernehmen. Endlich verwirrten sich meine Gedanken immer mehr, das Bewußtsein schwand gänzlich. Was weiter mit mir geschah, ist mir unklar. Lassen Sie uns den Knaben hören.“
„Ich habe nicht viel zu erzählen,“ fuhr der junge Friedrich fort. „Kaum hattest Du die Verwundeten aus dem Gefechte tragen lassen und Dich zu mir gewandt, als ich Dich in die Kniee sinken und zur Erde fallen sah. Mit einem lauten Schrei warf ich mich über Dich her. In diesem Augenblicke stürmte eine Colonne der Hannoveraner dem Jüdenhügel zu und die preußischen Batterien mußten sich zurückziehen. Hannover’sche Dragoner brausten heran und suchten das Bataillon zu zersprengen; ich aber hielt Dich fest umschlungen, unbekümmert um all’ diese schrecklichen Kämpfe. Als sich das Gefecht nach der Stadt zu gezogen hatte und der ganze südliche Abhang frei lag, nahten sich die braven Turner von Gotha, um die Verwundeten aufzuheben und in Sicherheit zu bringen oder die Todten anzusammeln und nach den Friedhöfen zu schaffen. Auch Dich hielten sie für todt, ich selbst glaubte es; da, als sie Dich hoben, schlugst Du die Augen ein wenig auf. ‚Halt!‘ riefen die Wackeren, ‚der Officier ist nicht todt; auf den Wagen mit ihm und in’s Lazareth!‘ Unter Wonneschauern bemerkte ich Dein Erwachen und folgte den Menschenfreunden in das nahe Lazareth der Vorstadt. Du mit sechs anderen Verwundeten, Ihr fandet Euer Lager im ersten Zimmer des Kaffeehauses; aber Niemand bekümmerte sich um Euch Armen, denn immer neue Wagenladungen, darunter die Schwerverwundeten, füllten die Wohn- und Gastzimmer, die großen Säle des Hauses, selbst die überbauten Kegelbahnen, die Lauben und Hütten im Garten.
‚Wasser, Wasser!‘ schrieen meine Verwundeten im Vorderzimmer; Wasser für die lechzenden Zungen, für die brennenden Wunden. Keinen Augenblick zögerte ich. An der Straße, vor dem Hause, stand ein Brunnen, eine Gießkanne fand ich im Garten. Unaufhörlich trug ich frisches Wasser herbei, labte die Schmachtenden und kühlte ihre Wunden. Dir, mein geliebter Bruder, legte ich von Minute zu Minute kalte Umschläge auf das Haupt, wie mir einer der Turner gerathen hatte. Auf diese Weise war die Nacht vergangen und der Morgen angebrochen; aber da sich auch jetzt Niemand um meine sieben Verwundeten bekümmerte, faßte ich mir endlich ein Herz und erkundigte mich bei dem freundlichen Hauswirthe nach Ihrem Namen, und als mir derselbe genannt wurde, ließ ich bei Ihnen um Hülfe bitten. Das Uebrige wissen Sie.“
Ich nickte und erzählte unserem Verwundeten weiter: „Mein Schwiegersohn übernahm es an meiner Statt, in dem Lazarethe nach dem unbekannten Bittsteller zu forschen und Sie, den Verwundeten, hierher schaffen zu lassen. Es war dies keine leichte Sache, denn einmal wurden Sie noch als Gefangener betrachtet, anderntheils wollten die hannöverschen Aerzte Sie nicht losgeben, und es mußte unter Hülfe des menschenfreundlichen Wirthes eine kleine Kriegslist angewendet werden, um Sie mit Wehr und Waffe frei und aus dem Hause zu bringen. Ich war nicht wenig erstaunt und betrübt, als ich Sie ankommen sah, gestützt und gelehnt und mehr getragen, als geführt. Unser Ausreißer Friedrich an Ihrer Seite ließ mich nicht lange in Zweifel über die Person des Ankommenden. Ein guter Geist hatte dem Knaben eingegeben, unsere Hülfe zu suchen. Sie befanden sich, obwohl nicht geradezu verwundet, dennoch in einem sehr bedenklichen Zustande und jetzt kann ich es schon sagen: ich fürchtete einen Schlaganfall; aber der Höchste hat geholfen, die Gefahr ist vorüber.“
Noch etwa vierzehn Tage blieb der junge Officier in unserer Pflege und hatte sich bis dahin soweit erholt, daß der Arzt seinen Transport in die waldige Heimath erlaubte, ja sogar dringend empfahl. „Der Wald mit seinen aromatischen Nadelhölzern, die schattigen Buchen,“ sprach er, „sowie die Ruhe, Stille und Abgeschiedenheit in der schönen Natur wird die Schwächen und Störungen des Nervenlebens am schnellsten und sichersten heben!“
Und so zog unser junger Officier eines Tages mit Bruder Friedrich von dannen, begleitet und geführt von liebenden Händen aus der Heimath. Beide gingen nicht ohne Thränen inniger Liebe und Dankbarkeit, und Brief und Gruß bekunden den Langensalzaer Freunden immer wieder, daß sie unvergessen sind.
Als ich vor einigen Jahren die südliche Krim besuchte, führte ein russischer Freund, der für mehrere Wochen sich mir als Reisegefährte angeschlossen hatte, in der ehemaligen Tatarenhauptstadt Baktschisarai (d. i. Gartenschloß) mich zum Palast der Khane und hier sofort zu einem Heiligthum seiner stillen Verehrung. In einer der vielen hohen Vorhallen, die im glanzstrahlenden Hofe des ungeheuren Gebäudes vor den Sälen und zahllosen Gemächern sich wölben und in welchen viele Fontainen auf blühendweiße und reichvergoldete Marmorbecken niederrauschen, blieb er vor einer der letzteren stehen. Das Wasser derselben quoll ruhig aus der hohen Säule und fiel aus dem obersten Becken, in welchem es sich sammelte, in zwei andere, in welchen es sich theilte,
[414] indem es nun in mehr und immer mehr Schüsselchen auseinanderfloß, bis es endlich nur noch in einzelnen Tropfen langsam abrinnen konnte.
„Hier,“ sprach mein Freund, „stehst Du vor dem Brunnen der Thränen, die er noch heute, wie vor hundert Jahren, nur tropfenweise vergießt und die dennoch den Stein, auf welchen sie fallen, in dieser Zeit zum Becken ausgehöhlt haben. Gerade so sind sie einst aus den schönen Augen der Maria Potocka geflossen, jener polnischen Gräfin, deren wunderbare Reize den gewaltigen Khan Krim Gherai zum liebeflehenden Mann umwandelten. Von einem der vielen Verheerungs- und Raubzüge, zu welchen hier, vor den Thoren ihrer Residenz, die Tataren-Khane der Krim ihre Reiterschaaren versammelten und vor denen Türken und Polen zitterten, ja die oft genug selbst Moskau in Schrecken setzten, brachte der Khan Krim Gherai die schöne Gräfin als Gefangene heim und hörte von diesem Augenblicke auf, Rosse und Waffen allein zu lieben. Alles, was nur die innigste Zuneigung ersinnen kann, wandte er auf, um sich die Huld seiner Schönen zu erwerben. Im Paradiese der Krim, in der blumen- und quellengeschmückten Stadt Baktschisarai, führte er sie in die prachtvollsten Gemächer seines Schlosses und machte sich zum Diener aller ihrer Wünsche; ja, sogar eine christliche Capelle ließ er ihr bauen und katholische Priester kommen, damit ihr Herz sich zu ihrem Gott wenden könne, gewiß das Aeußerste, zu welchem einen Nachkommen Dschingiskhan’s, des Christenverfolgers, die glühendste Liebe vermögen konnte. Aber jeder Liebesthat begegnete ihr Haß, die Sehnsucht nach der Heimath und ihren Lieben verschloß ihm den Weg zu ihrem Herzen. Hier, an dem Brunnen der Thränen, war ihr liebster Aufenthalt; sie weinten mit einander in ein Becken, – und fast schien es, als ob der gefürchtete Held von Tausenden von Kriegern zum Dritten im Bunde der Thränen werden sollte. Denn des Khans Liebe blieb grenzenlos, sein Heldensinn hatte nur noch ein Ziel: die Besiegung ihres Kummers. Da mußte es auch in ihrem edlen Gemüthe zum Wandel kommen: an des Hasses Stelle trat das Mitleid, und schon bahnte die Achtung vor seiner Seelengröße, wenn auch über Dornen, den Rosenweg zur Liebe, – als die Eifersucht allen Kämpfen ein Ende bereitete. Eine Georgierin, des Khans frühere Favoritin, ermordete die schöne Maria. Wie seine Liebe war nun auch des Khans Schmerz und Rache grenzenlos. Er ließ alle Frauen seines Harems enthaupten und die Mörderin von Pferden zerreißen. Und nachdem er über die irdische Hülle der Maria Potocka ein Grabmal mit aller Pracht des Orients erbaut, verließ er die Stätte seiner Qualen, bestieg sein Schlachtroß und durchzog die Länder seiner Feinde an der Spitze seiner wilden Reiterschaaren mit Feuer und Schwert, bis er den Tod im Kampf gefunden. – Das ist nun hundert Jahre her. – Die Geschichte hat dies nicht verzeichnet und verweist es in das Gebiet der Sage, aber die Poesie hat der Geschichte dieser Herzen sich angenommen und Puschkin, den russischen Byron, zu seiner schönsten Dichtung begeistert, seiner ‚Thränenquelle‘.“
Puschkin’s Dichtung ist leider noch lange nicht in so weiten Kreisen bekannt, als sie es verdient, aber sein Name besitzt Glanzes genug, um einen Widerschein auch in diese Räume zu werfen, die er verherrlicht hat. Vor zehn Jahren zog allerdings die taurische Halbinsel in Folge des türkenfreundlichen Kriegs der Westmächte gegen Rußland die Augen des gesammten Abendlandes mehr auf sich, als heute; die Donner der Gladiatorenkämpfe von fünf Nationen nach dem Willen ihrer Machthaber sind verhallt, und mit dem letzten Todten ward auch das Interesse für die Gegenwart des Landes begraben. Dagegen lebt hier ein Stückchen Morgenland treugepflegt fort, das zu allen Zeiten die Blicke sinniger Beschauer von Völkerlebensbildern auf sich lenken wird; auf dieses uns aufmerksam gemacht zu haben, ist das Verdienst unseres Reisemanns Kohl, dessen Schilderungen schon Manchen, und auch mich, nach einem vorher kaum geahnten Reiseziel in Bewegung gesetzt, und zu diesem lassen nun auch unsere Leser sich gern hinführen.
Wir wandelten weiter in den Höfen und Galerien des alten Palastes, in welchem über dritthalbhundert Jahre, bis 1784, wo die russische Kaiserfahne auf seinen Zinnen aufgepflanzt wurde, die Fürstenthrone jener Mongolen standen, welche im dreizehnten Jahrhundert die von der Völkerwanderung dorthin geschleuderten Trümmer der Alanen, Gothen, Kumanen und anderer Stämme unterjochten und die taurische Halbinsel zur „Krim“ (Krym), d. h. Festung, ihres Reichs machten. Alle Spuren früheren Völkerdaseins sind verschwunden, von Cimmeriern und Scythen spricht kein Stein mehr, nur die Dichtkunst hat Thoas, den taurischen König, und Iphigenia, die ihrem Bruder Orestes und dessen Freunde Pylades zu Liebe einst dort die Menschenopfer abgeschafft haben soll, im Gedächtniß der Nachwelt erhalten; versunken sind die Mauern der griechischen Städte, die einst am Gestade der Halbinsel blühten, mühsam sucht man aus den Münzen, die der Boden verbarg, die Geschichte des Bosporanischen Reichs zu ergründen, selbst ein Mithridates hinterließ kein Denkmal seines pontischen Königthums, und die Werke der Römer überdeckte die Fluth der Völkerwanderung. Eine so reiche Vergangenheit – und dennoch ein für die Kunde der Vorzeit verödetes Land! – Nur durch die Mongolen oder Tataren hat sich ein Bruchstück des alten Völkerlebens der Krim bis auf die Gegenwart erhalten.
Nachdem nämlich Potemkin die Unterjochung des Landes in seiner Weise vollendet, ersah die kluge Kaiserin Katharina als das beste Mittel, das Volk ihrem Willen fügsam zu machen, die Schonung seiner nationalen Eigenthümlichkeit und der Stätten seiner besondern Verehrung. Vor Allem wurde der Palast der Khane und die Moschee desselben, die größte und herrlichste von Baktschisarai, in ihrer überkommenen Gestalt und Pracht sorgfältig erhalten, ja die Stadt selbst den Tataren zum alleinigen Wohnsitz angewiesen. Die meisten der hier wohnenden Russen tragen als Beamte oder Militärs die Uniform des Kaisers. Alles übrige Leben ist echt tatarisch geblieben. Wie zur Zeit, wo sie den Pflug scheuten und auf Kosten ihrer Nachbarn nur „als Helden“ lebten, erfüllt noch heute die Stadt mit ihren etwa zwölftausend Bewohnern ein heiteres, ewig von Musik, Gesang und Tanz angeregtes Treiben und halten Sitten und Trachten der Männer und Frauen sich von jedem europäischen Culturanflug fern. So ist es denn gekommen, daß, wenn heute die alten Khane wiederkehrten in ihr Schloß, sie wenig verändert finden würden; die Gärten prangen im alten paradiesischen Schmuck der Blumen und Quellen, die Kuppeln und Minarets der Moschee ragen noch wie einst gen Himmel; in den Sälen hängen noch die alten Tapeten an den Wänden, die Rohrdecken liegen noch auf den gedielten Fußböden, die grünen und rothen Divans laden noch immer zu traulichem Niederlassen ein und der große Rathssaal ist jeden Augenblick bereit, um den Khan die Männer seines Vertrauens zu versammeln. Nur der Harem steht öde, leer und verlassen da zwischen seinen hohen Mauern, und von dem Lugthurm desselben blicken nicht mehr sehnsüchtige Frauenaugen zu den lockenden Bergeshäuptern hinüber oder hinab in die fröhlichen Gassen der Stadt.
Und wenn die alten Khane wiederkehren könnten, sie hätten’s gar nicht so weit, denn alle sind hier noch versammelt, nur in einem besonderen Garten.
Mein Freund führte mich zum Abschluß unserer Wallfahrt durch die Morgenlandspracht dieses von der Natur so wunderbar bevorzugten Fleckchens der Halbinsel zu dem eingeschlossenen Raum hinter der Moschee. Da wars recht still, trotz der zahlreichen Versammlung. Im Schatten Allah’s ruhen hier die Fürsten und Großen des tatarischen Volkes. Die irdischen Reste der Familie Gherai, welche zuletzt die Freuden des Herrschens genoß, haben ihre Stätten in zwei Grüften gefunden, wo etwa zwanzig theils hölzerne, theils marmorne Särge stehen. Eine weit größere Anzahl derselben hat es vorgezogen, zum letzten und längsten Schlafe sich im Freien niederlegen zu lassen. Hier ist’s wunderschön. Durch Weinranken und Blättergrün schaut der blaue Himmel auf die blumigen Gräber und verscheucht alle Trauer, denn die Zeit der Thränen ist hier vorüber, seitdem es keine Khane mehr zu bestatten giebt. Hier ist nur noch historischer Boden unter doppeltem Schutz: des Volkes Verehrung und Rußlands Hut. Darum wunderte ich mich nicht über die Unveränderlichkeit der Marmorbeete in diesem Garten, sondern freute mich wie ein Engländer, der in seinem Murray Alles richtig so findet, wie er’s vor sich sieht, darüber, daß selbst der Krimkrieg der Wahrheit der Kohl’schen Beschreibung dieser Gräber keinen Eintrag gethan hat. Sie standen wirklich so da, all die oben offenen Marmorkästen, welche die Erde für die schönsten Blumen beherbergten, und die hohen Seitenplatten zeigten noch immer an der Form ihrer oberen Enden, je nachdem sie einen Turban oder eine persische Frauenmütze darstellte, wer darunter schlummere, ob ein männliches oder weibliches Wesen. Die Inschriften sind [415] Meisterstücke an Schärfe und Schönheit der Züge. Auch die von Kohl aufgeführten fand ich heraus. Sie alle lassen wohl wünschen, daß der Todtengarten der Khane ein Reiseziel recht vieler Fürsten werden möge, von denen Mancher vor der Tatarenweisheit ihrer Grabsprüche sich beugen dürfte. Hier ruht Dewlet Gherai Khan unter einem Grabmal ohne Dach, und die Inschrift seines Marmors sagt es, warum? „Weil er den Himmel so schön und erhaben fand, daß er beständig aus seinem Grabe nur ihn, die Wohnung Gottes, zu sehen wünscht.“ Und hier liegt Toktamüsch Khan, der auf seinem Grabe statt Denkmals einen Weinstock zu pflanzen befahl, – „damit er, der Fürst, wenigstens im Tode die Früchte bringe, an welchen sein Leben so arm sei.“ Dort hat Selim Gherai Khan sich unter die Regentraufe des Daches der Moschee bestatten lassen, und sein Grabspruch gesteht es ehrlich, – „weil er hoffe, daß das Wasser des Himmels ihn mit der Zeit rein waschen könne vom Schmutze seiner Sünden, deren er so viele zu haben glaube, als Tropfen aus einer Wolke fallen.“ Und wiederum ein Anderer dieser Tatarenfürsten gebot, seine Grabstätte ringsum zu vermauern, nicht etwa, um von der Welt möglichst sicher geschieden zu sein, nein, sondern – „weil er sich nicht werth fühlte, auch nur vom kleinsten Strahle der Sonne beschienen zu werden.“
Wahrlich, die menschlich schöne Freude an der Himmelsherrlichkeit und die herzensehrliche Demuth, die aus diesen Sprüchen redet, ist es allein schon werth, daß wir das Bild, das diesen Artikel schmückt, mit erhöhter Theilnahme betrachten und dem Künstler dafür unsern besondern Dank sagen.
Skizzen aus Oesterreich. I. Eine Messe in der Adelsberger Grotte. Es war Sonntag nach Pfingsten, als ich in der Lindenallee, welche von Adelsberg zu der weltberühmten Höhle führt, zwischen anderen Wandelnden demselben Ziele zuschritt. Man hatte mir schon im Wirthshause des Ortes gesagt, ich werde wohl schwerlich einen Führer finden, denn heute sei Alles festlich geputzt hinab in die Höhle, die alljährlich übliche gottesdienstliche Feier dort zu begehen, aber ich möge mich nur getrost auf den Weg machen, denn an diesem Tage strahle und flimmere jeder Fußbreit des unterirdischen Gesteines, werde ich alle Gänge und Windungen belebt finden. Ein paar handfeste Männer der Gegend, darunter ein Führer von Profession, der aus alter Gewohnheit, oder weil es nöthig sein mochte, oder gar wohl aus Speculation trotz des heiligen Tages und der Höhlenbeleuchtung, sein Grubenlicht mitgenommen hatte, dann einige freundlich blickende Weiber, alle im Sonntagsstaate, waren mir zur Seite, als ich zu der Brücke trat, wo man den Poikfluß durch ein Felsenthor in die Höhle hinabstürzen sieht, und durch eine höher am Berg sich wölbende zweite Felsenpforte in den Berg trat. Die Laterne des officiellen Begleiters, den ich sofort gedungen, war überflüssig, denn hier und dort im sonst wohl stockfinstern Gange blitzten von Gesteinvorsprüngen Lampen und Lichter herab, erhellten in Risse aufgepflanzte Fackeln mit röthlichem Flackerscheine das sich in Windungen dahinziehende feuchte Naturgemäuer und den sich mehr und mehr erweiternden etwas schlüpfrigen Pfad.
Alle waren wir schweigsam, selbst die Weiber. In Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, fühlte ich meine Brust wie zusammengeschnürt. Die Schritte klangen hohl vom Gesteine nieder, unsere Schatten schlüpften bald vor uns hin, bald dehnten sie sich riesig hinter uns im röthlichen Scheine, der doch nicht völlig vermochte, das gierige Düster zu verdrängen.
Doch wie? Ein Murmeln tönte jetzt seltsam in den leisen Schall unserer Tritte hinein. War es das Rauschen des unter dem Steinboden, den wir traten, dahinströmenden Flusses? Klang das Beten der tief im Schooße der Erde versammelten frommen Gemeinde, im Nachhall von Schlucht zu Schlucht sich windend, zu mir hinauf?
Die Höhle erweiterte sich, die Wölbung stieg hoch empor, da und dort senkte sie sich wieder in zahllose kleine Stalagmitenspitzen zerklüftet, während Tropfsteinpfeiler zur Seite wie aus dem Felsen gemeißelt erschienen. Plötzlich aber thut sich vor den Füßen eine tiefe Schlucht auf; wir hemmten unseren Schritt. Ich starrte hinab in die Tiefe. Dort unten flimmerten und blitzten die zum Feste aufgestellten Lichter aus dem Dunkel herauf, es war, als habe das nächtliche Firmament mit seinen Sternen sich in den Schlund dieser Unterwelt versenkt. Wir aber standen in schwindelnder Höhe auf dem Rücken eines Felsens, einer Brücke, welche die Natur erschaffen und über den unten im Abgrunde strömenden Poik gezogen hat. In die Tiefe führt eine steile Holztreppe hinab, der Felsrücken ist doppelt durchbrochen, wie der Führer erklärte, und an der dreiundzwanzigsten Stufe der Treppe mündet die alte Grotte, an der dreiundvierzigsten eine schmale Kluft.
Von eigenthümlichen Empfindungen bewegt blickte ich zu den kühn gewölbten Bogen des Domes empor, die der Lichterglanz nur unbestimmt da und dort in langen, matten Streifen erhellte und um so riesiger erscheinen ließ, dann mußte ich den Blick unwillkürlich wieder dem Abgrunde zuwenden, der mich jetzt wie ein Bergsee anmuthete, auf dessen düsterm Gewässer Sterne und Nachthimmel sich abspiegelten.
Aber die Bauern und Bäuerinnen drängten; sie wollten zur Messe, zum sogenannten Banketsaale, der noch fernab lag und dem Blicke von hier aus unerreichbar.
Die Leute klommen die Treppe hinab, ich und der Führer aber schieden von ihnen an der dreiundzwanzigsten Stufe, denn es galt die alte Grotte zu besichtigen, die reich an Tropfsteinbildungen ist, während das Gestein des Domes nur wenige aufzuweisen hat und schmucklos, aber in gewaltiger Höhe emporragt.
Ein schmaler, wenige Klafter langer Steinabsatz ohne Geländer führte uns zur alten Grotte, die ebenfalls festlich beleuchtet war. Secundenlang hemmte ich den Schritt auf diesem fußbreiten Pfade, die wunderbare Empfindung, welche mich durchbebte, zog meinen Blick wieder und wieder zur Tiefe. Dort unten glitzerte der Fluß im Fackelscheine, zur Seite kletterten die Landleute im Sonntagsstaate, matt beleuchtet, hernieder, zwischen den Lichtern, über den graubraunen, zackigen Boden. hin, glitten Gestalten, gleich uns die Wunderwelt in Staunen und Schweigen durchstreifend.
Die alte Grotte enthüllte mir jetzt ihren Stalaktitenzauber. Wie blitzte da Alles an den Wänden von arabeskengleichen Verschlingungen und Figuren, von köstlichen rothen und weißen Draperien, rothen Orgelpfeifen auf weißflimmerndem Fels, rothen Korallen, aus blendendem Grunde hervortretend, zahllosen Steingestaltungen, in denen die Phantasie hier einen rosafarbenen Wasserfall sieht, dort abenteuerliche Gnomengestalten und ernste Heilige.
Endlich wanderten wir auf dem geländerlosen Pfade zurück zur Treppe und stiegen nun auch in die Tiefe, um jenseits zweiundachtzig Stufen zur Ferdinandsgrotte emporzuklimmen, die dem Beschauer in ihrem blitzenden Tropfsteingebilde eine märchenhafte Ueberschwenglichkeit entgegenhält. Was hat die Einbildungskraft der Menschen nicht Alles in diese wunderbar sich schnörkelnden, emporschiebenden, herabsenkenden, verzweigenden Steinformen hineingeträumt, und wahrlich, wie täuschend hat hier nicht oft auch die Natur das Leben und Menschenwerke beleuchtet, man möchte sagen kunstreich, und jedenfalls vollendet nachgebildet! Da findet man Sanct Peter’s reichgeschnitzten Stuhl, einen rothen Springbrunnen, schwermüthig sich neigende Cypressen, ein Meer mit hoch sich bäumenden, glitzernden Steinwellen, Thiergestalten, Hieroglyphensäulen, malerisch gefaltete Vorhänge oder Schleier, zart und durchschimmernd und mit rosa- und orangefarbenem breiten Saume, Altäre, Obelisken und tausend phantastische Dinge, ja selbst eine Stalaktitbildung, die so wunderbar geformt ist, daß ihr Schatten den Umrissen der heiligen Jungfrau mit dem Jesuskind in täuschendster Weise ähnelt.
Und diese schimmernde, bald groteske, bald erhabene, immer aber eigenthümliche Welt mit ihren vielfachen abenteuerlichen Steinverschlingungen, wie feenhaft war sie in diesem Augenblick durch Fackeln und Lichter beleuchtet, wie geheimnißvoll woben hier und dort die Schatten hinter den sich vordrängenden oder von der Decke herabstarrenden Tropfsteinformen! Ich mußte jenes alten Märchens gedenken, das von dem mit undurchdringlichem Dickicht umgebenen Reiche erzählt, in dem König und Prinzessin, Ritter und Hofgesinde, Vogel und Baum und Alles, was da lebte und webte, durch einen Zauberspruch zu Stein verwandelt ward und träumend ausharrte, bis ein ritterliches Glückskind den Fluch löste und die Prinzessin heimführte.
Noch stand ich gedankenvoll inmitten dieses steinernen Zauberreiches, da klang in weichen Accorden, lauter und lauter erschallend, in geisterhaft verhallenden und von Neuem aufwogenden Tönen ein Gesang, der aus überirdischen Welten herabzuklingen schien.
Staunend blickte ich auf; ich hatte ob all des Wundersamen, das ich hier erschaut, die Feier des Tages vergessen! Mein Führer zog mich lächelnd mit sich fort, nach einer zu gigantischen Umrissen sich dehnenden Höhle. Hunderte von Lichtern und Fackeln erhellten diesen Saal, dessen riesiges Gewölbe kein einziger Pfeiler stützte, an dessen Wänden aber rings prächtige Stalaktitsäulen, von der Meisterhand der Natur geschaffen, sich stolz erhoben. Inmitten dieser Halle war zum heutigen Feste ein Altar errichtet, dort blitzte das Kreuz des Erlösers, stand der Priester im glänzenden Meßgewande, umgeben von Chorknaben, die Räucherfäßchen schwangen und Glöcklein ertönen ließen, kniete eine gläubige Menge, im frommen Choral den Herrn der Schöpfung preisend.
Tief erschüttert, überwältigt, vermochte ich kaum zu athmen. Das Bild, das sich hier mir entrollte, versinnlichte mir in wundersamer Erhabenheit eine längst entschwundene Zeit. So wohl beteten einst die ersten Christen, die Märtyrer ihres Glaubens, insgeheim und in unterirdischen Höhlen, als noch die barbarischen Heiden sie mit Feuer und Schwert verfolgten, so stieg in verschwiegenen Grotten ihr Lobgesang zum Herrscher der Welten empor, zum alleinigen Gotte, dem sie treu anhingen, im Verderben wie im Tode!
Lange noch weilte ich an dieser Stätte, wie festgebannt. Was ich dann noch sah in tiefer sich in das Innere des Berges verzweigenden Höhlen, den staunenswerthen Calvarienberg mit seinen zahllosen Stalaktiten und all die reizenden und abenteuerlichen Gestaltungen, das Alles vermochte nicht den tiefen Eindruck zu verwischen, den ich in jener durch die Natur gewölbten Kirche von jenem unterirdischen Gottesdienste empfangen. Und als ich endlich in dem Gewimmel der geputzten Menschen das Tageslicht wieder begrüßte, als der Himmel über mir blaute und der Sonnenglanz mich goldig umfloß, da fühlte ich aufathmend und bebend, daß ich eine schöne, heilige Erinnerung von hier mit mir fortnehme für das ganze Leben.
[416] Ein Ruck am Schleier des Geheimnisses ist es allerdings nur, aber doch etwas Neues, was uns über die „Geheimnißvollen im Schloß Eishausen bei Hildburghausen“ und namentlich den sogenannten „Grafen Vavel“ soeben brieflich mitgetheilt wird. Unsere Leser erinnern sich aus zwei Artikeln der Gartenlaube,[1] daß vom Anfang dieses Jahrhunderts bis in die Mitte der dreißiger Jahre ein durch hohe Bildung ausgezeichneter und mit reichen Mitteln versehener Mann offenbar der Wächter eines weiblichen Wesens war, das, ohne mit einem anderen Lebenden, als ihm, je in Berührung gekommen zu sein, auch abgeschlossen von der menschlichen Gesellschaft starb und einsam auf dem Stadtberge bei Hildburghausen begraben liegt. Der Mann ließ sich im Leben „Vavel de Versay“ nennen, duldete auch die Bezeichnung „Graf“ ohne Widerspruch, und erst nach seinem Tode, 1845, ward er aus seinen Papieren als ein Herr „van der Valck“ enthüllt, dessen Erben sich unter diesem Namen meldeten und auch seine Hinterlassenschaft ausgehändigt erhielten. Er selbst hat im Leben öffentlich diesen Namen nie geführt, und wenn er sich in mehr vertraulichen schriftlichen Mittheilungen vielleicht „V.“ unterschrieb, so konnte dies nur auf „Vavel“ oder „Versay“, nicht auf „Valck“ gedeutet werden.
Jetzt bringt uns ein Herr W. L. Reinhard, Kaufmann in Hannöverisch-Münden, die Kunde, daß durch seine Hände die Gelder gegangen, die dem räthselhaften Unbekannten nach Eishausen geschickt worden seien. Als er nämlich im Jahre 1844 Commis in der Handlung Jonas Pfeiffer und Sohn in Cassel gewesen, seien vierteljährlich Geldsendungen an einen „Herrn van der Valck“, der in der Nähe von Hildburghausen wohnte, gemacht worden, und zwar sei dies auf folgende Weise geschehen: „Herr van der Valck“ – so schreibt unser Gewährsmann – „schickte quartaliter von seiner Hand ausgestellte Wechsel auf ein Amsterdamer Haus, wenn ich nicht irre P. F. Laarmann und Sohn; diese Wechsel wurden von meinem Hause bei dem Bankgeschäft von Gebrüder Pfeiffer versilbert und ihm das Geld übersandt. Es kann jedoch auch sein, daß ihm die Wechsel vom Hause P. F. Laarmann und Sohn zugesandt waren, daß solche auf Gebrüder Pfeiffer in Cassel lauteten und durch unsere Vermittelung eincassirt wurden. – – Wie groß die Summe war, ist mir ebenfalls nicht genau mehr erinnerlich. Die Gelder wurden an Herrn van der Valck adressirt; ob derselbe aber Leonardus Cornelius oder Ludwig hieß, oder ob nur die Anfangsbuchstaben des Vornamens und welche durch unsere Bücher liefen, darauf kann ich mich nicht mehr besinnen.“
Diese Nachricht antwortet wenigstens auf eine der bisher unbeantwortet gebliebenen Fragen: „Woher bezog der ‚Graf‘ seine Mittel?“ annähernd und es sind neue Namen genannt, welche die Enthüllung der Person des Mannes weiter fördern können.
Dagegen war unsere Hoffnung, daß in Altenburg, in den Tagebüchern der Herzogin Charlotte von Hildburghausen, der Schleier des Geheimnisses vor der Person des unglücklichen Weibes zu heben sei, das um ein ganzes Leben betrogen worden ist, wohl eine vergebliche, denn ich erfahre aus Hildburghausen, daß jene Tagebücher gar nicht mit nach Altenburg gekommen, sondern noch lange auf einem Boden des Hildburghäuser Schlosses zu sehen gewesen seien. Was dort aus ihnen geworden, weiß ich nicht.
Zu beklagen wäre es, wenn diese Hülle von einer offenbaren Unthat ungehoben bliebe. Ist das arme Wesen um sein Leben gebracht worden, was wäre gerechter, als daß ihm wenigstens das Andenken der Nachwelt gerettet und das an ihm begangene Verbrechen von der Geschichte gerichtet würde?
Das Geheimmittelwesen der Gegenwart. I. Nachdem durch die immer größere Ausbreitung dieses Handelszweiges ein Schwindel getrieben wird, welcher seines Gleichen sucht, so erlauben wir uns, von Zeit zu Zeit eine kleine Blumenlese unter den am meisten gerühmten Wundermitteln zu halten und durch chemische Analysen und hieraus festgestellte Calculationen zu beweisen, daß derartige Industrielle nur auf die Geldbeutel ihrer Mitmenschen speculiren und sich keine Scrupel machen, für oft sauer verdiente Groschen Allbekanntes oder Wirkungsloses zu bieten.[2]
1) Stollwerk’s Brustbonbons; Hausmittel gegen Husten, Halsübel etc. Geprüft und attestirt von dreiundzwanzig Aerzten, gekrönt durch zwei Preismedaillen. Ist nach der Untersuchung von Wittstein ganz ordinärer Zucker, welchem man durch ein homöopathisches Quantum eines unschädlichen Kräuterabsudes ein mystisches, schmutzig-trübes Aussehen gegeben hat. Das Paquet enthält knapp fünf Loth Bonbons, kostet vier Neugroschen, hat aber incl. Verpackung einen Werth von elf Pfennigen sächsisch. Man kaufe sich dafür ein Pfund ordinären Zucker zu vier Neugroschen, da man auf Spuren eines Kräuterabsudes getrost verzichten kann.[WS 1]
2) Didier’s weiße Senfkörner; helfen gegen nahezu dreißig Krankheiten, welche der jedem Paquete beigegebene Prospect einzeln aufzählt und dabei bemerkt, daß man diese Liste sogar noch vergrößern könne. Dieselben sind ferner bei den Engländern und Amerikanern in dem Maße populär, daß sie die unentbehrlichen „Gesundheits-Sicherheits-Ventile“ derselben bilden. Ist eine gute, ausgesuchte Sorte weißen Senfes, welche pro Centner einen Werth von höchstens acht Thalern, pro Pfund zwei Neugroschen vier Pfennigen beanspruchen kann. Das halbe Paquet enthält ein Pfund und kostet bei uns siebenzehn bis achtzehn Neugroschen; folglich werfen wir bei jedem solchen Einkauf einen halben Thaler zum Fenster hinaus, abgesehen davon, daß sich die meisten unserer Aerzte gegen dieses Mittel aussprechen.
3) Weißer Brustsyrup von G. A. W. Mayer in Breslau; hilft gegen Alles, was Hals und Brust belästigt. Hager und Jacobsen geben nach ihrer Untersuchung folgende Vorschrift: Zehn Pfund Zucker, drei bis vier Pfund Wasser und drei Pfund Rettigsaft werden abgekocht und abgeschäumt, bis der Zucker vollkommen gelöst ist. Die Originalflasche enthält zweiundsiebenzig Loth solchen Saft und kostet zwei Thaler, ist aber nicht den vierten Theil werth, der Wirkungslosigkeit bei so hartnäckigen Uebeln, für welche der Brustsyrup angepriesen wird, gar nicht zu gedenken.
4) Augenessenz von Romershausen; ist nach W. Müller ein weingeistiger Fenchelsamenauszug im Verhältnisse 1–12. Die Originalflasche enthält ein halbes Pfund dieser sehr simplen Tinctur, kostet einen Thaler, ist aber noch keine vier Neugroschen werth.
5) Bergmann’s Zahnwolle. Ist ordinärer Baumwollfaden, in Staniol gewickelt; wird angebrannt, ausgeblasen und der Rauch der glimmenden Wolle in die Nase eingesogen, bis Thränen aus den Augen kommen und der Zahnschmerz aufhört. Kostet zwei und einen halben Neugroschen und ist keinen Pfennig werth. Kann durch jede brennende Lunte oder durch einen glimmenden Holzspahn ersetzt werden.
6) Kornneuburger Viehpulver, ein Pfund sechszehn Neugroschen, besteht nach R. Hofmann aus achtzig Theilen zerfallenem Glaubersalz, zehn Theilen Schwefel, fünf Theilen Calmus und ebensoviel Enzianwurzel. Eigentlicher Werth drei Neugroschen pro Pfund.
Gedenket Eurer Brüder zur See! Zu wiederholten Malen hat die Gartenlaube Anlaß genommen, die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, die sich im vorletzten Jahre in Bremen gebildet hat, auf das Wärmste der Theilnahme ihrer Leser zu empfehlen. Jetzt nun veröffentlicht der Vorstand des Vereins, Consul H. H. Meier in Bremen, einen Bericht über die im verflossenen Jahre durch die verschiedenen Stationen der Gesellschaft bewerkstelligten Rettungen, welche Zeugniß ablegen von dem reichen Segen, den der Verein bereits gestiftet (es sind zusammen hundertundeinvierzig Menschenleben durch ihn gerettet worden), und zugleich die Rechnungsablage, aus welcher sich zwar ergiebt, daß die Mittel der Gesellschaft schon jetzt eine Erweiterung des Rettungswesens ermöglichen, allein noch nicht im Entfernten hinreichen, um alle unsere Küsten mit den nöthigen Rettungsstationen zu versehen. Er wendet sich daher von Neuem an die Opferfreudigkeit der deutschen Nation und glaubt dies nicht beredter thun zu können, als indem er seinem Rechenschaftsberichte das wirkungsvolle Bild aus Nr. 17 des laufenden Jahrgangs der Gartenlaube beifügt, das nach einer Zeichnung Leich’s die Rettung Schiffbrüchiger mittels Raketenapparat und Rettungsboot so lebenswahr und ergreifend darstellt. Der Bericht ist von dem Generalsecretär der Gesellschaft Dr. H. A. Schumacher in Bremen zu beziehen; wir aber legen das Liebeswerk abermals allen Freunden unseres Blattes recht dringend an das Herz.
Unsere Mitarbeiter bleiben auch im neuen Semester die bewährten, alten. Die Herren R. Benedix, Beta, Bock, Brehm, Brunold, Fr. Gerstäcker, G. Hammer, G. Hiltl, Alfred Meißner, Max Ring, Professor Richter, Carl Ruß, Johannes Scherr, Levin Schücking, Herman Schmid, Schulze-Delitzsch, Albert Traeger, Temme, Carl Voigt, L. Walesrode, Fr. Wallner, die Damen M. von Humbracht, E. Polko u. v. a. werden nach wie vor unser Blatt mit ihren regelmäßigen Beiträgen zieren. Nur einige wenige Titel mögen darthun, daß wir auch im künftigen Vierteljahr unsern Lesern eine reiche Auswahl von Erzählungen und Aufsätzen, Skizzen und Bildern zu bieten haben:
E. Marlitt, das Geheimniß der alten Mamsell. Fortsetzungen und Schluß. – Ein Verbrecher im Frack. Aus den Erinnerungen eines Arztes.– Gefängnißleben zur Schreckenszeit. Von Joh. Scherr. – Die Sünden der heiligen Mission. – Aus den Erinnerungen eines Mitgliedes des Reichstages. – Die Alchemie. Von Prof. Erdmann in Leipzig. – Das erste deutsche Nationalfest. Von Robert Keil. – Der Reformator in der Gießhütte. Mit großer Abbildung. – Ein Besuch in der Herberge der Gerechtigkeit. Von August Becker. – Die Nationaltabakspfeife. Mit vielen Abbildungen. – Pariser Ausstellungsberichte etc. etc. – Der Haberfeldtreiber. Erzählung von H. Schmid etc. etc.
Leipzig, im Juni 1867.
Inhalt: Das Geheimniß der alten Mamsell. Novelle von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Ein neuer Todtentanz. Mit Abbildung. – Ein Besuch bei Victor Hugo. Von R. Waldmüller (Ed. Duboc). – Bruder Fritz. – Ein morgenländischer Gartenpalast und Todtengarten. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen. Skizzen aus Oesterreich I. Von Th. Canisius. – Ein Ruck am Schleier des Geheimnisses. Von Fr. Hofmann. – Das Geheimmittelwesen der Gegenwart. I. Von E. Dietrich. – Gedenket Eurer Brüder zur See!
- ↑ Jahrg. 1863, Nr. 19 und 20 und Jahrg. 1866, Nr. 24.
- ↑ Besonders empfehlenswerth ist das kürzlich erschienene „Taschenbuch der Geheimmittellehre“ von Dr. G. C. Wittstein. Dasselbe enthält eine Zusammenstellung der meisten bis jetzt untersuchten Artikel. Preis 21 Ngr.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ dazu Erklärung von Franz Stollwerck im Heft 33.