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Die Gartenlaube (1868)/Heft 1

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]

No. 1.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.




Der Schatz des Kurfürsten.[1]
Historische Erzählung von Levin Schücking.


1.

Das Jahr 1807 nahte sich seinem Ende. Napoleon hatte durch einige neue blutige Schlachten, durch einige neue Vergewaltigungen empörter Völker im Laufe desselben die Welt seinem großen Ziele, der Herrschaft des ewigen Friedens, um mehrere Etappen näher gebracht. Er hatte in demselben Gedanken, in seinem rastlosen Drang, die Segnungen der Civilisation zu sichern – so priesen es die kaiserlichen Hofrhetoren – ein ganz neues Königreich geschaffen. In Ermangelung eines besseren hatte er ihm den Namen Westphalen gegeben. Die Hauptstadt dieses „Westphalens“ war die alte Landgrafenresidenz Cassel geworden. Seine Provinzen waren aus aller Herren Ländern zusammengeschnitten; die Grenzen waren von der Willkür gezogen worden, und dieselbe Willkür hatte einen hoffnungsvollen jungen Marineofficier als König desselben angestellt, dem der zusammengeflickte Herrschermantel vortrefflich zu seinem krausen Haar und seinem lustigen Italienergesichte stand.

Der Hof des „niedlichen Königs“ Jerôme residirte auf der Wilhelmshöhe, die nun die Napoleonshöhe hieß; hoch über dem Frontispiz des Schlosses erhob sich eine schlanke Fahnenstange und daran flatterte die französische Tricolore, mit dem neuen Wappen des neuen Königs eines neuen Reiches in der Mitte. Der junge Seemann ließ lustig seine Flagge wehen, dem scharfen, kalten Nordwinde zum Trotz, der zornig über den Habichtswald herüberblies und sie hin- und herpeitschte, als ob er sie in Stücke zerreißen wollte, aber vergebens; der Sturm, der sie in Stücke zerriß, sollte von einer andern Seite kommen.

Derselbe scharfe Winterwind, der sich so mit König Jerôme’s Flagge raufte und an der Stange rüttelte, ohne sie bezwingen zu können, spielte auch mit dem langen, grünen Reitermantel eines hohen, starkgebauten jungen Mannes, welcher, die Allee von Cassel herauf kommend, dem Schlosse zuschritt und zuweilen sich wenden mußte, um die Enden seines Mantels, wenn der Wind sie weit auseinander geweht hatte, wieder um sich schlagen zu können. In solchen Augenblicken sah man, daß er die hübsche grüne Uniform eines neu gebildeten westphälischen Regiments trug … unter dem Mantelkragen verrieth sich eine auf der linken Schulter liegende Epaulette; der junge Mann mußte also Lieutenant sein.

Er hatte ein hübsches, höchst gewinnendes Gesicht, welches weit davon entfernt war, Züge classischer Schönheit zu zeigen; es war mit seiner stark ausgebildeten Stirn, seinen breiten Wangen, seiner kurzen Nase gewiß nicht danach angethan, zum Modell eines Bildhauers zu dienen, aber es verrieth die volle Kraft und Frische der Jugend. Die unter starken Brauen ein wenig tief liegenden braunen Augen leuchteten von Intelligenz, von Jugendmuth und vielleicht auch Uebermuth; um die vollen rothen Lippen des Mundes lag ein Zug von großer Gutmüthigkeit, und Alles in Allem, auch der beste Patriot konnte dies blühende, vom Sturm und der Anstrengung des Kampfes mit ihm doppelt geröthete Gesicht nicht ansehen, ohne diesem „deutschen Jünglinge“ in der französischen Uniform gut zu werden.

Von dieser französischen Uniform konnte ja auch er wohl sagen: „Ach, es war nicht meine Wahl!“ wie es Tausende mit ihm sagten!

Von einem der Baumstämme in seinem Wege leuchtete ihm ein großer weißer Anschlagzettel entgegen, halb abgerissen, so daß unten die Fetzen des Papiers im Winde flatterten und gegen die Rinde des alten Baumes schlugen – oben aber stand die Zahl 100,000 mit weithin sichtbaren großen Ziffern darauf gedruckt.

„Hunderttausend Franken!“ murmelte der junge Mann, flüchtig den Zettel mit den Augen streifend und weiter schreitend. „Ein Schuft würde für weniger zum Verräther! Wozu so viel?“

Er schritt, als er in die Nähe des Schlosses bis an das große Bowlinggreen gekommen, rechts ab, dem Gebäude des Marstalls zu. Die Seitenthür zu demselben stand weit offen und ließ in eine lange düstere Perspective blicken, aus der wie eine monotone Musik der Schall von aufgestampften Hufen und das Auf- und Niederrollen der Halfterketten – dazwischen das ungeduldige Gewieher und Schlagen eines Pferdes, der zornige Ausruf eines Stallknechts drangen. Dunkle Gestalten, Männer in grauen Stalljacken, bewegten sich im Mittel- und Hintergrunde dieser Perspective, aber kaum sichtbar mehr, denn in dem tiefen, langen Raum herrschte bereits völlige Dämmerung. Ganz hinten wurde schon die erste der in der Mitte des breiten Ganges hängenden Laternen angezündet.

Der Officier warf seinen Mantel zurück, als er in die behaglich warme Atmosphäre eintrat, welche den Raum erfüllte.

Bei einem der Pferdestände, in welchem ein Stallbedienter beschäftigt war, einem stattlichen Rappen die Abendstreu unterzuwerfen, blieb er stehen.

„Guten Abend, Wilhelm,“ sagte er, „ich komme aus der Stadt und bringe Dir einen Gruß von Deiner Mutter.“

„Ich danke Ihnen, Herr Lieutenant,“ antwortete der junge Mann, wie es schien, mißvergnügt.

[2] „Wie geht es Euch, meinem Rappen und Dir?“

„Wie es eben geht, dem Rappen besser als mir … heut’ zu Tage geht’s den Thieren besser als den Menschen; die Thiere bleiben, was sie waren, die Menschen aber müssen sich in Dinge fügen, welche ihnen an der Wiege wahrhaftig nicht vorgesungen sind. Meine arme Mutter, die ihre Wittwenpension verloren, sie hat eine Schneiderin werden müssen, und ich habe meinen Graveurstichel fortwerfen müssen, um diese lange Strohgabel in die Hand zu nehmen und Piqueur im Leibstall Seiner königlichen Majestät zu werden … Gott besser’s!“

„Darüber solltest Du eigentlich nicht so bitter klagen,“ antwortete der Lieutenant zu dem Pferde tretend und seinen glänzenden Hals klopfend, „ich kann Dir sagen, daß mit der Luft da draußen verglichen eine außerordentlich behagliche Atmosphäre in Seiner Majestät Leibstall herrscht, und wenn Dir Deine alte Liebhaberei für Pferde, Reiten und Fahren zu Deiner jetzigen bescheidenen Stelle verholfen hat, so dank’ Du Gott dafür; es giebt Leute, die mehr verloren haben, als ihre Gehülfenstelle beim Hofgraveur und die Aussicht, einmal selber ein schlecht bezahlter Hofkünstler zu werden. Und übrigens da Du mir in melancholischer Stimmung zu sein scheinst, will ich Dir noch einen Gruß bringen, der Dich heiterer stimmen wird … Du weißt, von wem er kommt.“

Wilhelm warf einen fragenden Blick aus seinen großen blauen Augen auf den Lieutenant.

„Wirklich?“ sagte er.

Der Lieutenant nickte lächelnd. „Ich habe die Frauenzimmer,“ fuhr er fort, „bis über die Ohren in Sammet, Seide, Blumen und Flittertand versunken gefunden … sie hatten Arbeit vollauf mit Maskenanzügen für die Damen vom Hofe, Deine Elise stichelte sich die Finger wund an einem Griechinnencostüm für Mademoiselle de Boucheporn …“

„Aha,“ sagte Wilhelm lächelnd, „und im Auftrage der Mademoiselle de Boucheporn haben der Herr Lieutenant auch wohl nur bei meiner Mutter vorgesprochen, um dann im Schlosse berichten zu können, wie weit die Arbeit gefördert ist …“

„Da irrst Du, Wilhelm, ich habe Deine Mutter besucht, um nach der guten Frau, bei der ich fünf Jahre im Hause gewohnt habe und die mich in dieser Zeit wie einen Sohn verpflegt hat, zu schauen. Und diesem Umstande verdankst Du es ganz allein, wenn ich Deine Elise gesehen habe und Dir Nachrichten von ihr bringen kann. Sie sieht ein wenig blaß und angegriffen aus, Deine Elise; ich hoffe, Du hast ihr keinen Kummer gemacht,“ setzte der Lieutenant scherzend hinzu.

„Ich? nein, ich bin’s nicht,“ entgegnete Wilhelm mit einem Seufzer.

„Du bist’s nicht? Das lautet, als ob’s ein Anderer wäre, der ihr Kummer machte? Ist’s etwa die Sorge um ihren Vater? Der gute Steitz sieht freilich schon lange wie ganz verändert und umgewechselt aus – ich glaube, es ist im ganzen Lande Keiner, dem, was geschehen ist, so zu Herzen geht, wie dem alten Steitz. Er scheint ohne seinen gnädigen Kurfürsten nicht leben zu können, der Mann schleicht umher wie ein Gespenst, so still und gebückt und in sich versunken.“

Wilhelm stützte das Kinn auf seine Hand und nachdenklich zu Boden blickend antwortete er:

„Was er eigentlich hat, weiß ich nicht, aber so viel ist gewiß, daß Elise sehr schwer mit ihm auskommt und daß er ihr auch zornig erklärt hat, sie müsse sich das Verhältniß zu mir ganz und gar aus dem Kopf schlagen, und ich solle mich nicht mehr in seiner Wohnung betreten lassen …“

„In der That?“ fragte der Lieutenant überrascht, „das hat der gute alte Herr doch wohl nur im Zorn gesagt …“

„Im Zorn, ja, doch ist es sein bitterer Ernst gewesen – und was ist am Ende auch daran Wunderbares? Als meine Mutter noch ihre Pension als Predigerwittwe hatte und ich die Aussicht auf eine kleine Hofanstellung, da mochte ich dem Herrn Steitz willkommen sein als Schwiegersohn. Seitdem ist meine Mutter eine Schneiderin, eine Putzmacherin und ich bin Reitknecht geworden – nichts als ein armer Reitknecht … Sie müssen gestehen, Herr Lieutenant, daß das die Sachen ändert,“ fügte Wilhelm mit einem bittern Lächeln hinzu.

Der Lieutenant war still geworden.

„Willst Du, daß ich einmal mit dem Herrn Steitz rede?“ sagte er dann.

„Nein,“ versetzte Wilhelm, „das ist für’s Erste unnütz und würde nichts helfen. Es ist unnütz, denn die Elise und ich bleiben uns doch treu, das weiß ich von ihr und sie weiß es von mir, ein glühendes Eisen brächte uns nicht auseinander. Und helfen wird uns nichts, als bis einmal der Wind von einer andern Seite bläst und diese Franzosen …“

„Pst!“ machte der Lieutenant und räusperte sich … Der Stallbediente, welcher die Laternen anzündete, war bis zu der gekommen, welche unmittelbar neben ihnen hing, und zog sie jetzt tief zu sich herab, um den Docht darin zu entflammen.

Als er sie wieder in die Höhe geschoben und Wilhelm zu dem aufflammenden Lichte empor sah, nahm der Lieutenant in den Zügen des jungen Mannes, in welche der helle Schein fiel, einen tief schmerzlichen Ausdruck wahr … Dieser blonde, so ernst und nachdenklich aussehende jugendliche Kopf paßte nicht zu der grauleinenen Stalljacke und der langen Strohgabel Wilhelm’s.

„Du hast Recht,“ sagte der Lieutenant, als der Laternenanzünder gegangen war … „auch ich denke, es können und es müssen andere Zeiten kommen … ich glaube jedoch nicht, daß sie so rasch kommen, wie Viele sagten, und ich fürchte, Du und Deine Elise, Ihr könntet Beide darüber alt werden. Aber deshalb verliere den Muth nicht, Du weißt, der König beehrt mich mit seiner besonderen Gunst …“

„Das thut er freilich,“ fiel Wilhelm ein, „sonst hätte er Ihnen den Rappen da nicht geschenkt …“

Unten im Stalle wurde in diesem Augenblick ein lauter Stimmenwechsel hörbar, und die in dem langen Raume Anwesenden versammelten sich dort zu einer Gruppe, die immer dichter wurde.

Der Lieutenant schritt hinab, um zu sehen, was der Grund des kleinen Auflaufes sei.

Als er näher kam, sah er inmitten der Gruppe einen großen, stattlichen Mann in Uniform, der alle Andern überragte und in großer Heftigkeit auf einen kleinen, in einen braunen Civilrock gekleideten Herrn einredete und dabei im höchsten Zorn weit lauter schrie, als es nöthig war, um sich dem dicht vor ihm stehenden Civilisten verständlich zu machen.

„Aber so nehmen Sie doch Vernunft an, Herr Oberst,“ rief dieser, „wenn ich Sie doch versichere, daß wir gar keinen Platz für Ihre zwei Pferde haben …“

„So werfen Sie meinethalben zwei Dienstklepper hinaus, um Platz zu schaffen,“ schrie der Oberst, „ich sage Ihnen, daß ich ein Pferd für mich und eins für meine Ordonnanz hier untergebracht und versorgt sehen will, und das schon morgen, mein Herr Moulard.“

„Ich werde die Befehle des Königs darüber einholen und befolgen, nicht die Ihrigen, mein Herr La Croix,“ schrie der Stallmeister Moulard dagegen; „bis dahin müssen Sie sich gedulden, und wenn der Graf Boucheporn mich als Maître de Logis versichert, daß Sie auch die Zimmer im Schloß nicht haben werden, welche Sie verlangen, so weiß ich überhaupt nicht, was Sie mit dem Platz für Ihre Pferde wollen!“

„Das hat Graf Boucheporn Sie versichert? Also Graf Boucheporn ist einmal wieder der, welcher hinter der Sache steckt? Jarnitonnerre! Graf Boucheporn wird nicht müde, mir Liebesdienste zu beweisen. Nun, wir werden doch sehen, ob der König oder sein Maître de Logis im Schlosse zu befehlen hat. Graf Boucheporn soll sich hüten vor mir! Ah, Lieutenant Mensing – Sie sind da? … Sie sind ja so etwas wie Hausfreund bei Boucheporn und seiner hübschen Tochter … Sie mögen gehen und es ihm sagen – ich kümmere mich den Teufel drum!“

Der Lieutenant Mensing legte, als er sich so unvermuthet von dem Obersten angeredet sah, salutirend die Hand an seine Dienstmütze, der Stallmeister Moulard aber kehrte ihm den Rücken und ging davon; der Oberst wandte sich jetzt auch und ging fluchend und wetternd den langen Mittelgang hinab, um den Stall zu verlassen.

„Diese Franzosen haben immer Zank und Streit,“ sagte Wilhelm, als der Lieutenant wieder zu ihm getreten war, „und dann gerathen sie gleich in einen Zorn und in ein Toben, daß man meint, sie werden sich wenigstens den Hals brechen. Was war’s?“

„Der Gensd’armerie-Oberst La Croix beansprucht eine Wohnung für sich im Schlosse und Platz für zwei Pferde im Stalle,“ antwortete der Lieutenant, „und der Graf Boucheporn, der sich, ich glaube schon früher, in Paris mit ihm überworfen hat, will sie ihm nicht einräumen.“

[3] „Es thäte Noth, daß man noch ein neues Schloß, doppelt so groß wie das alte, und noch einen neuen Marstall baute,“ erwiderte Wilhelm, „für all das gierige Hofvolk, das freie Wohnung und Pferdefutter verlangt!“

„Ich muß gehen und meinen Rapport abliefern,“ bemerkte der Lieutenant, „gehab’ Dich wohl, Wilhelm, und sei guten Muthes.“

Der Officier ging in’s Schloß und wandte sich hier den der Generaladjutantur eingeräumten Bureaux zu, wo er einen Rapport abzugeben und eine Meldung zu machen hatte. Als er das Schloß wieder verlassen wollte und, auf der Portalschwelle stehen bleibend, seinen Mantel eben dichter um sich schlug, um in das Wetter draußen hineinzuschreiten, fühlte er eine Hand leise, beinahe wie zitternd, sich auf seine Achsel legen; er blickte um und sah im Schein der zwei auf der Rampe flammenden und im Winde hin und her flackernden Lichter in das Gesicht eines ältlichen Mannes, der aus großen Augen mit einem eigenthümlichen Blicke zu ihm aufschaute, fast wie hülfeflehend, wie ganz namenlos geängstigt, in dessen bleichen Zügen etwas unheimlich Gespanntes lag und dessen zitternde Stimme doch mit einer solchen Unbefangenheit und Heiterkeit „Guten Abend, mein lieber Herr Mensing!“ sprach, daß Niemandem das Gezwungene des Tones hätte entgehen können; ein Kind hätte es wahrgenommen, wie sehr sich dieser Mann Gewalt anthat, um so unbefangen zu sprechen.

„Ah, Sie sind es! … Guten Abend, Herr Inspector,“ antwortete der Officier dem Manne, der sehr elegant in Frack, kurze, seidene Beinkleider und seidene Stümpfe gekleidet war, die dargestreckte, aus glänzend weißen Manschetten hervorragende Hand schüttelnd … „aber um Himmelswillen, wie sehen Sie denn aus, Sie blicken mich ja an, als ob Sie einen Geist sähen, lieber Steitz … sind Sie nicht wohl?“

„Wohl? gewiß sehr wohl; weshalb meinen Sie, ich wäre nicht wohl? ich befinde mich à merveille, lieber Freund…“

Der blasse und jetzt plötzlich scheu um sich blickende ältliche Herr rief dies mit einem auffallenden Eifer und einem erzwungenen Lachen aus, daß es unheimlich anzuhören war.

„Hören Sie, lieber Steitz,“ sagte der Lieutenant, seinen Arm unter den des Inspectors schiebend, „gehen Sie in Ihre Wohnung zurück?“

„Das wollte ich eben … wollen Sie mich begleiten?“

„Wenn Sie’s erlauben, ja; wir sind alte Freunde, denk’ ich, oder besser, Sie sind immer voll Freundlichkeit und Güte gegen mich gewesen, und darum möchte ich mir jetzt herausnehmen, Ihnen eine kleine Strafpredigt zu halten; das mag von einem so jungen Menschen, wie ich bin, einem so respectabeln Herrn wie Ihnen gegenüber, sehr anstandswidrig sein … thut aber nichts, es geht nun einmal nicht anders; die Strafpredigt verdienen Sie, und es kann sie Ihnen kein Anderer halten, denn kein Anderer hier oben kennt das Geheimniß, das Sie drückt, als ich …“

Die beiden Männer waren während dieser Worte aus dem Schloßportal hinausgeschritten und gingen auf dem Kieswege davor links dem Nebengebäude zu, in welchem die Wohnung des Schloßinspectors Steitz lag.

Bei den letzten Worten des Officiers aber war der Inspector plötzlich, wie von einem elektrischen Schlage berührt, stehen geblieben … Mensing fühlte, daß eine Erschütterung durch seine ganze Gestalt ging, daß der Arm, der auf dem seinen lag, zitterte.

„O mein Gott,“ sagte er, wie nach Athem ringend, „Sie wissen – Sie, Mensing, Sie wissen …?“ und wie mit einem Ausbruch von Leidenschaft, aber mit ängstlich gedämpfter Stimme rief er dann: „Was – was sagen Sie? Was wissen Sie?“

Mensing schaute, betroffen von dieser gewaltigen Aufregung des Mannes, in die Züge desselben, deren Ausdruck ihm die dunkelnde Nacht verbarg, aber die noch entsetzter und bleicher, als vorhin, auszusehen schienen.

„Es kommt mir vor, als ob dieser alte Steitz über all das, was der arme Mensch in der letzten Zeit hat erleben müssen, verrückt geworden wäre!“ sagte sich der Officier, und den Arm des alten Herrn wieder ergreifend, antwortete er: „Ich weiß, was Ihnen im Stillen am Herzen nagt, lieber Inspector. Es ist nicht allein, daß Sie, der alte, treue Diener, der sein Blut und sein Leben hingeben möchte für seinen Herrn, sich nicht in die Wendung, die unser Aller Schicksal genommen hat, finden kann – das ist es nicht allein … es liegt Ihnen noch etwas Anderes auf der Seele …“

„Mir liegt nichts, gar nichts auf der Seele!“ unterbrach ihn abermals stehen bleibend und mit der leidenschaftlichsten Erregung seines ganzen Wesens der Inspector … „Mensing, ich bitte Sie, was sollte mir auf der Seele liegen – der König hat mich in meinem Amt, in vollen Würden und Einkommen gelassen und …“

„Nur gemach, rufen Sie nicht so laut, alter Herr,“ versetzte der Officier mit ruhiger Bestimmtheit, „und kommen Sie weiter, damit wir in Ihrem stillen Zimmer gemüthlich und unbelauscht von der Sache reden können!“

„Ja, ja, kommen Sie,“ fiel der Inspector jetzt leise aufathmend, flüsternd ein, als ob eine innere Angst ihm alle Kraft des Widerspruchs und des Widerstandes plötzlich gebrochen habe, „kommen Sie, Mensing, kommen Sie, lassen Sie uns reden, reden davon – o mein Gott, es bricht mir das Herz ab, wenn ich nicht endlich einmal mit einem ehrlichen Menschen davon reden kann … von … den guten alten Zeiten.“

Und so langsam und schleppend, wie der Inspector bisher geschritten, so aufgeregt hastig eilte er jetzt, den jungen Mann mit sich fortziehend, davon, seiner Wohnung zu.

Die Wohnung des Inspectors lag in einem ansehnlichen Nebengebäude, zu ebener Erde. Man trat aus dem Gange in das Wohnzimmer, dann in ein zweites dahinter liegendes; es war das Arbeitszimmer des Inspectors. Obwohl dieser, der in seiner Jugend mit Landgraf Friedrich dem Zweiten in Paris und Italien gelebt, der als bevorzugter Diener mit seinem Kurfürsten, Wilhelm dem Ersten, in tägliche persönliche Berührung kam, in seiner äußern Erscheinung, in seinem sorgfältigen gewählten Anzuge, in seinem ganzen Wesen den Hofmann zeigte, waren die Zimmer doch mit ganz bürgerlicher Bescheidenheit, fast Aermlichkeit eingerichtet. Aber der Ofen flackerte behaglich in dem Arbeitszimmer; eine mit einem Schirm verhüllte Lampe erleuchtete es; hinter dem Tisch mit der Lampe breitete ein lederüberzogener Ruhesessel einladend seine Arme aus, – kurz, der kleine Raum machte einen höchst behaglichen Eindruck, und der Inspector seufzte wie erleichtert auf, als er die Thür hinter sich geschlossen und nun matt sich in seinen Sessel fallen ließ.

Der Officier warf seinen Mantel ab und zog sich einen Stuhl an den Tisch, so daß er dicht neben den Inspector zu sitzen kam.

„Sehen Sie, lieber Steitz,“ sagte er, indem er seine Hand auf den Arm des alten Mannes legte, der mit den großen, eingesunkenen und feuchten blauen Augen die Lampe anstarrte, „sehen Sie, ich wohne drunten in der Stadt bei der Frau Momberg, und zur Frau Momberg geht Ihre Tochter, um Nähen, Schneidern und was weiß ich Alles von ihr zu erlernen; und weil nicht allein die Frau Momberg, sondern auch die Elise wissen, daß sie mir vertrauen können, so brauchen Sie sich nicht zu verwundern, daß ich in das ganze Geheimniß eingeweiht bin …“

Der Inspector Steitz hatte, während der Officier so sprach, ihm langsam sein Gesicht zugewendet und ihn mit einem Blick furchtbarer Spannung angesehen.

„Die Elise … die Momberg … Mensing, ich bitte Sie um Christi unseres Herrn willen, Sie wollen nicht sagen, daß die Momberg, die Elise wissen …“

„Nun, was sollten sie nicht?“ fiel Mensing erstaunt ein. „Sie haben ja selber der Elise gesagt, daß der junge Mensch, den Elise als ihren Bräutigam betrachten durfte, jetzt, seitdem er nichts mehr als ein Reitknecht ist, Ihre Schwelle nicht mehr …“

„Wie? der Wilhelm?“ fuhr Steitz auf, „und davon reden Sie? von dem?“

„Wovon anders – Sie haben geglaubt, Steitz, als Vater so handeln zu müssen, und sehen doch, daß Ihres einzigen Kindes Herz dabei bricht, und nun …“

„Also das ist Alles, das ist das ganze Geheimniß, das Sie wissen?“ rief der Inspector mit einer Erleichterung aus, welche er gar nicht zu verbergen bemüht war.

Mensing sah ihn höchst überrascht und mit scharf prüfendem Blick an.

„So handelt es sich um etwas Anderes, Schlimmeres, Steitz, das Ihnen am Herzen nagt?“

Der alte Herr antwortete nicht; er hatte den Kopf auf die Hand gestützt und seufzte wieder aus tiefster Brust.

„Hören Sie, lieber Inspector,“ fuhr der junge Mann fort, „ich denke, Sie kennen mich. Sie wissen auch, wer ich bin und wem ich meine Existenz verdanke! Ich bin der Sohn eines ehrlichen Handwerkers. Die Prinzessin Marie, die Schwester Ihres alten Landgrafen, dem Sie Alles verdanken, hat mich erziehen [4] lassen; sie hat für mich gesorgt, sie hat mich in Verhältnisse gebracht, die mir ohne ihre Güte unerreichbar geblieben wären. Der geächtete Kurfürst hat mich zum Officier gemacht; ihm gehört nicht allein unsere Treue als unserem angestammten Landesherrn, wir gehören auch durch die Dankbarkeit, Sie wie ich, unserem Fürstenhause an, und wären schlechte Menschen, wenn wir das je vergäßen! Darum lassen wir uns als ein paar gute Hessen die Hand geben und … einander vertrauen! Sie haben ein wichtiges Geheimniß auf dem Herzen – also eines, das unsern gnädigen Herrn betrifft … ich sehe das … und Sie sollen sich jetzt das Herz erleichtern, indem Sie reden. Sehen Sie mir in’s Gesicht, Steitz; sehe ich aus, wie ein Mann, der Sie verrathen könnte?“

„Nein, Mensing, nein,“ sagte gepreßt der alte Mann, indem er die Hand des Officiers ergriff und krampfhaft drückte. „Sie sehen nicht so aus, und ich will Ihnen vertrauen; ich will Sie um Ihren Rath, Ihre Hülfe bitten, – ich muß, ich muß ja, denn wird mir nicht Rath, nicht Hülfe, so bringt mich die Geschichte unter die Erde!“

„Also, was ist es? Um was handelt es sich? … Es will nicht über Ihre Lippen, Steitz … soll ich rathen? Handelt es sich am Ende um des Kurfürsten Schatz?“

Steitz machte zusammenschreckend eine Bewegung, als ob er dem Officier das Wort auf den Lippen zurückhalten wolle, dann flüsterte er: „Um Gottes willen, sprechen Sie leise …“

„Also, Sie haben ihn, diesen vielgesuchten Schatz, auf dessen Angabe die Regierung einen Lohn von hunderttausend Franken gesetzt hat?“

„Und Todesstrafe für den, der ihn fortbewegt oder dabei Hülfe leistet!“ flüsterte Steitz kaum hörbar.

„Ihnen, Ihrer Obhut hat der Kurfürst ihn überlassen?“

„Es ist so, Mensing, es ist so … ich will Ihnen Alles sagen, ich will mein Leben in Ihre Hände geben, ich will Ihnen vertrauen, Mensing …“

„Bei Gott, Steitz, das dürfen Sie!“

„So hören Sie zu. Als der Kurfürst entfloh in der Hast jener schrecklichen Nacht des ersten November vorigen Jahres, konnte er nur einen Theil seines Reichthums mit sich nehmen. Das übrige, es sind mehrere Millionen in gemünztem Gold, in Papieren, in Noten der Bank von England, in Goldgeräthen, – das Alles wurde in Kisten verpackt, und mir vertraute der Kurfürst diesen Schatz an … als er eingepackt wurde, waren die Minister von Waitz und von Witzleben zugegen, dann aber blieb Alles allein in meiner Obhut. Anfangs bangte ich nicht um meinen Schatz; ich hatte ihm ein sicheres Versteck gegeben, wo ihn Niemand fand, und ich wußte, unter Denen, welche darin eingeweiht waren, war kein Verräther. Erst als König Jerôme den Entschluß faßte, auf der Wilhelmshöhe zu residiren, begann mein Leiden, meine Äugst … denn denken Sie sich, Mensing, mein Erschrecken, als eines Tages ein königlicher Ingenieurofficier zu mir kommt und mir befiehlt, ihn auf das Dach des Schlosses zu geleiten; da oben über dem Frontispiz in der Mitte habe er eine große Fahnenstange errichten zu lassen für das königliche Banner …“

„War denn der Schatz auf dem Dache verborgen?“

„Auf dem Dache nicht allein,“ flüsterte der Inspector, „nein, just über dem Frontispiz war er eingemauert, just da, wo dieser schreckliche Franzose seine Fahnenstange wollte errichten lassen … wer in aller Welt hätte denken können, daß dieser Schiffscapitän von König werde auf der Wilhelmshöhe eine Flagge aufziehen lassen wollen …“

„Das konnten Sie freilich nicht denken, denn es ist eine ganz neue Mode, eine absonderliche Marotte unserer Majestät … aber was begannen Sie?“

„Was ich begann? Mein Gott, ich stand wie vernichtet, ich zitterte an allen Gliedern, die Gedanken gingen mir wirr durch den Kopf, – es war ein Glück, daß der Ingenieur durch mein Stottern, mein Ausflüchtesuchen nicht argwöhnisch wurde, weil er sich vorstellte, daß ich mit der französischen Sprache nicht fertig werde. Endlich gab mir der stürmische Regentag den Vorwand, ihn fortzubringen; ich erklärte ihm, daß ich bei solchem Wetter ein Arbeiten auf dem Dache nicht verstatten könne, weil es in den unter dem Frontispiz liegenden Saal durchregnen und die Decke desselben verderben werde; ich müsse dawider erst Vorkehrungen treffen lassen … und so gelang es mir, den Menschen für einen oder zwei Tage los zu werden.“

„Welche Lage!“ rief Mensing aus. „Was begannen Sie?“

„Ich rannte zu den ehemaligen Ministern des Kurfürsten, zu Waitz und Witzleben; aber sie sandten mich achselzuckend fort, der Schatz sei mir anvertraut, nicht ihnen, sagten sie … ich mußte mir anderswo Hülfe schaffen … und ich fand sie … ich fand treue hessische Männer … drunten in Wahlershausen … wir gingen, mit dem nöthigen Geräth versehen, in der nächsten Nacht in’s Schloß, wir erstiegen den Dachraum und zogen die Millionen aus ihrem Versteck … und dann trugen wir sie still und sacht hinab, zum Schlosse hinaus, bis …“

„Bis?“ fragte Mensing, den Athem anhaltend.

(Fortsetzung folgt.)




Nach dem Maskenballe.

Die Töne wirbeln in wilder Hast,
Wild wirbeln die bunten Paare,
Sie halten im Fluge sich fest umfaßt,
Es flattern die Bänder und Haare.
„Zum Tanz, mein Liebchen, was zittert Ihr?
Was athmet Ihr so beklommen?“ –
„Mir war, als hätt’ ich zu Seiten hier
Der Mutter Stimme vernommen!“ –

„Das Mütterlein schlief in sichrer Nacht,
Als Ihr von dannen hüpftet,
Und mit mir hinaus in die stille Nacht
Zum Feste der Freude schlüpftet.“ –
„Und seht Ihr nicht dort das bleiche Gesicht?
Es blicket mich an mit Grimme!
Fort, fort! Ihr haltet mich fürder nicht –
Mich rufet der Mutter Stimme!“

Und sie stürmet hinaus, die Straßen entlang,
Von Ahnung fortgerissen.
Es folget ihr nach in hastigem Gang
Der Geist – das böse Gewissen.
Es klingt, wie ein dumpfer Grabeschor,
Im Sausen des eisigen Windes
Der Ruf, der schreckliche, an ihr Ohr:
„Weh, weh, des verlorenen Kindes!“

Und sie tritt in’s Haus in behendem Lauf
Und die Glieder beben und wanken,
Doch eilt sie die dunklen Treppen hinauf
In’s Gemach der geliebten Kranken.
Wie matt die Lampe, wie still das Gemach!
„Schläft Mütterchen?“ fragt sie mit Bangen.
Die Nachbarin spricht: „schaut selber nach!
Sie ist – zur Ruh gegangen.“

Da stürzt sie in jäher Seelenqual
Am Bette der Mutter nieder:
„O hebe nur noch ein einzig Mal
Die lieben Augenlider!
Nur einmal strecke noch aus die Hand,
Sie auf mein Haupt zu legen!
Ich kann nicht leben in Schimpf und Schand’
Und ohne der Mutter Segen!

Noch einmal rege den bleichen Mund –
O Mutter, habe Erbarmen,
Mit einem Wörtlein thu mir kund,
Daß Du verzieh’n mir Armen!
Dein reuig Kind kehr’ ich zurück –
Willst Du mich nicht erheben?
Verlorener Segen, verlorenes Glück –
Zwiefach verlorenes Leben!“

Der Morgen dämmert durch’s Fenster lind,
Vergoldend der Kammer Wände.
Die Nachbarin blickt auf das büßende Kind
Und hebt zum Himmel die Hände:
„O geh’ mit ihr nicht in’s Gericht!
Weß Herz ist frei von Fehle?
Erbarm’ Dich in Deiner Gnade Licht,
Herr, der – verlorenen Seele!“

Rud. Löwenstein.
[5]

Die Heimkehr vom Maskenballe.
Nach einem Originalgemälde von L. Katzenstein.

[6]
Alte Städte und altes Bürgerthum.
1. Nürnberg im Norden. Von Moritz Busch.
I.

Es war in der dunkeln Zeit kurz nach der Unterwerfung und Bekehrung der heidnischen Sachsen durch Karl den Großen, als sich in einem Walde nicht fern von dem Bischofssitz, den der Kaiser im heutigen Elze für Ostphalen gegründet, ein Wunder begab.

Karl’s Sohn, Ludwig der Fromme, hielt während eines Besuchs in Elze einige Stunden nordöstlich von da eine Jagd ab. Dabei wurde eine Messe gelesen, bei welcher der Priester eine Kapsel mit Reliquien der Jungfrau Maria an einem Baume aufhing, der ihm als Altar diente. Bei der Heimkehr geschah es, daß die Kapsel vergessen wurde, und als man sich ihrer erinnerte und zurückkehrte, um sie zu holen, siehe da hatte ein unterdeß mit der Schnelligkeit von Jonas’ Kürbis aufgesproßter Rosenstrauch das heilige Gefäß dermaßen mit seinen Ranken umsponnen, daß man durchaus nicht zu ihm gelangen konnte. Der Kaiser, davon benachrichtigt, verstand den Wink. Die Mutter Gottes wollte, daß ihre Reliquien hier blieben, und das geschah also. Man baute an die Stelle eine Capelle und verlegte dann sogar den Bischofssitz an die Wunderstätte in der Wildniß.

So ungefähr die Legende, deren volle Glaubwürdigkeit zu beweisen ich dem würdigen Küster überlasse, welcher sie mir im vorigen Sommer mit der solchen Hütern von Heiligthümern eigenen Salbung erzählte. Es wird ihm nicht leicht fallen. Eins aber kann er für sich anführen, den Rosenstock, der in wunderbarer Jugendlichkeit noch heute grünt und blüht und der dieses sein ewig junges Leben, diese unerschöpfliche und unzerstörbare Triebkraft seiner ganzen Umgebung mitgetheilt zu haben scheint. Wohl tausendjährig ist er das älteste lebende organische Gebilde Norddeutschlands. Die kleine Waldcapelle neben ihm ist zu einem stattlichen Dome emporgewachsen, und von dem Dome, gleichsam dem Stamme, haben sich im Laufe der Jahrhunderte langgestreckte Straßen und Gassen, gleichsam die Aeste und Zweige, nach einer Anzahl anderer Kirchen, gleichsam den Blättern und Blumen des Rosenstrauchs der Urzeit, ausgebreitet. Dieser Rosenstock, welchen die Gottesmutter der Legende, vielleicht aus dem Paradiese, in die Wildniß des neunten Jahrhunderts pflanzte, ist im neunzehnten noch grün und gesund, der Segen aber, der in ihn gelegt war, hat ihn zugleich zu einer unserer merkwürdigsten Städte aussprossen lassen.

Die Stadt, von welcher ich rede, ist Hildesheim, die älteste, die sehenswertheste, und in gewissen Beziehungen die lebensvollste Mittelstadt des deutschen Nordens, reich vor Allem an Blüthen, menschlichen Kunsttriebes, wie sein Rosenstock reich ist an natürlichen Blüthen, neben diesem Wunder für den Botaniker nicht weniger ein Gegenstand der Bewunderung für den Freund architektonischer Schönheit, wegen der Fülle privater und öffentlicher Bauwerke aus alter, zum Theil uralter Zeit, die es aufweist, mit ähnlichem Rechte wie Lübeck das Nürnberg des Norden’s genannt.

Im Folgenden ein paar von den Hauptmomenten aus der Geschichte der tausendjährigen Bischofsstadt, dann in einem zweiten Abschnitt eine Schilderung ihrer jetzigen Gestalt und ihres heutigen Lebens.

Die von der Mutter Maria oder, wie die weltliche Geschichtsforschung meint, von Kaiser Ludwig’s praktischem Blick für das Bisthum Ostphalen gewählte Centralstätte auf einem der Hügel, zwischen denen sich die harzentsprossene Innerste in die große norddeutsche Tiefebene hinauswindet, war ein glücklicher Gedanke. Infolge dessen wuchs der neugegründete Ort vermuthlich – wir schauen auf Dämmerungszeiten zurück, in denen wir nicht viel mehr als die Namen der zwölf ersten Bischöfe erkennen und das Uebrige zu errathen haben – ziemlich rasch. Erst eine Capelle, die wir uns sehr bescheiden vorzustellen haben, dann eine größere, doch ebenfalls noch sehr anspruchslose Kathedrale nebst den strohgedeckten Wohnungen für die zu ihr gehörige Geistlichkeit, das Ganze gleich einer Burg gegen die von Norden her streifenden Heiden mit starken Mauern umgeben, wurde diese Niederlassung von Priestern und Mönchen durch Ansiedelung von schutzsuchendem Laienvolk, Freien und Unfreien, die sich ihrerseits zuletzt gleichfalls mit Festungswerken umschirmten, zur Stadt. Von der Kathedrale aus wurden Klöster als Vorwerke der Burg gegründet, die Stadt setzte Vorstädte an und allmählich entwickelte sich ein reger Verkehr von Handwerk und Handel.

Erst mit dem zwölften Nachfolger Gunthar’s, des ersten Bischofs der Diöcese, mit Bernward, lichten sich für uns die Zeiten. Der Glanz des Genies dieses großen Mannes leuchtete weit hin über die dunkeln Lande und strahlte, verstärkt durch die Heiligenglorie, mit der die Kirche später sein Haupt umgab, auch in unsere Tage hinein, obwohl fast tausend Jahre ihn von uns trennen. Indem er ein Helfer der Armuth war, indem er Handwerk und Kunstfleiß der Bürger durch Rath und That förderte, indem er die ganze Stadt in die vorhandenen Festungswerke einschloß und indem er die bis Hildesheim vorgedrungenen Normannen mit gewaffneter Hand zurückschlug, indem er für Bildungsanstalten sorgte, war er in Wahrheit, was sein Biograph von ihm sagt, der Patron der Stadt. Die Wunder, die sein Leichnam that, wollen wir zu dem des Rosenstocks legen, die bewundernswerthen Werke, die der lebende Bernward als Künstler in einer rauhen und wenig schöpferischen Zeit geschaffen und die Hildesheim noch heute schmücken, sollen uns seine wahren Wunder sein. Die ehernen Thürme am Paradies des Domes, die metallene Säule mit Scenen aus dem Leben Christi auf dem Platze vor demselben, vor Allem aber die Michaeliskirche, das großartigste Werk der deutschen Baukunst jenes Jahrhunderts und noch jetzt, obwohl Vieles von der alten Anlage verschwunden ist, eine der schönsten romanischen Kirchen Deutschlands, sind solche Wunder.

Bernward’s Nachfolger zu Ehren, dem später gleichfalls heiliggesprochenen Godehard, gründete Bischof Bernhard der Erste im ersten Drittel des dreizehnten Jahrhunderts ein Kloster und daneben die herrliche St. Godehardskirche im spätromanischen Stil, das zweite classische Denkmal der mittelalterlichen Baukunst in Hildesheim. Andere Bischöfe fügten Anderes hinzu, die meisten der hier herrschenden Kirchenfürsten der späteren Zeit sorgten mehr für weltliche Dinge, und sie hatten Ursache dazu, indem einerseits der raubsüchtige Adel und die auf Ländererwerb bedachten Fürsten der Nachbarschaft ihren Besitz bedrohten, andererseits das Bürgerthum den geistlichen Herren gegenüber sich fühlen lernte und immer energischer darnach strebte, sich von ihnen unabhängig zu machen.

So hatte namentlich Bischof Gerhard vor nunmehr fünfhundert Jahren viel mit Raubrittern und deren Gönnern an den nächstgelegenen Fürstenhöfen zu kämpfen, und einer dieser Kriegsstürme führte zu einer Schlacht, welche zu den Glanzpunkten in der Geschichte Hildesheims zählt und über die ich, da man im letzten Sommer ihr fünfhundertjähriges Gedenkfest feierte, ausführlicher berichte. Herzog Magnus von Braunschweig und Erzbischof Dietrich von Magdeburg mit vielen Grafen und Edlen sagten im August 1367 Bischof Gerhard Fehde an, und bald darauf erschienen sie mit einem zahlreichen Heer raubend und brennend auf dessen Gebiet. Ruchlos schonten sie selbst die Kirchen nicht. Ein Kundschafter meldete, der Bischof sei in Angst und suche vor dem Altar Hülfe. Gerhard aber war andern Schlags. Er verzagte nicht, sondern waffnete seine Bürger, Bauern und Mönche und rückte dem Feinde mannhaft entgegen. Sein Gebet zur heiligen Jungfrau hatte gelautet: „Verleih’ uns den Sieg, dann sollst Du unter einem goldenen Dache wohnen; wo nicht, so wirst Du fortan auch kein Strohdach mehr Dein nennen.“

Am 3. September, dem Tage des heiligen Remaclus, standen sich die Heere auf einem Felde zwischen den Dörfern Farmsee und Dinklar, das seitdem der Streitacker heißt, gegenüber. Gerhard hatte fast nur Fußvolk, und seine Leute verhielten sich zu den Gegnern, die in der Reiterei ihre Hauptstärke hatten, wie Eins zu Drei. Der streitbare Bischof aber ließ sich dadurch nicht stören. „Leve Keerel,“ rief er, auf die Reliquien hinweisend, die er bei sich trug, „truret nich, hie hebbe ik dusent Mann in miner Mawen!“ (Liebe Kerle, trauert nicht, hier habe ich tausend Mann in meinem Aermel.) Die übermüthige Ritterschaar, voll Verachtung vor dem bürgerlichen Häuflein, stürmte in wildem Rennen siegesgewiß gegen dieses heran. Aber die Bischöflichen hielten den Anprall aus und drangen muthig vor. Lange wehrten sich die [7] Ritter. Einen Augenblick zagten Gerhard’s Bauern. Aber er ermuthigte sie, indem er auf den Abt von St. Michael hinzeigte, der in blankem Harnisch den Mönchen und Bürgern voranschritt, während ihm ein Scapulier vom Helm bis zum Gürtel herabrollte. „Ji Menner met den Hunen,“ rief Gerhard den wankenden Bauern zu, „wat steit ji da sau, seit mal, wu de Mönnik fechtet!“ (Ihr Männer mit den Hüten, was steht ihr da so, seht mal, wie der Mönch ficht.) Und die Wankenden ermannten sich; die Gegner wandten ihre Rosse in Verwirrung, ritten ihr eigenes Fußvolk nieder und verwickelten ihr ganzes Heer in ihre Flucht. Die Bischöflichen hinter ihnen her. Was sich nicht gefangen gab, wurde erschlagen oder in die Fuse gejagt. Erst die Nacht und ein furchtbares Wetter mit Donner und Blitz machten der Verfolgung ein Ende. Die heilige Moritzfahne der Magdeburger wurde erbeutet, eine Menge vornehmer Leute, darunter ein Graf von Anhalt, ein Graf von Querfurt, ein Herr von Saldern, der Ritter Johann von Hadmersleben, mit dem sein Geschlecht erlosch, bedeckte den Boden als Leichen, Andere, unter ihnen die Führer der Feinde Gerhard’s, Herzog Magnus und der „ehrsame Vater in Gott“, Bischof Albert von Halberstadt, sowie einer der Ahnherren des jetzigen preußischen Ministerpräsidenten, Ritter Nicolaus von Bismarck, wurden gefangen nach Gerhard’s Burgen gebracht und mußten sich mit hohen Summen lösen. Der siegreiche Bischof aber hielt der Mutter Gottes sein Versprechen. Sie wohnte fortan unter einem goldnen Dache, dessen Gestalt ein Reliquienbehältniß uns aufbewahrt hat.

Das Ringen der Bürgerschaft nach Unabhängigkeit von den Bischöfen und freier Entwickelung ihrer Interessen begann frühzeitig und setzte sich, fast immer erfolgreich, durch das ganze Mittelalter und bis über dasselbe hinaus fort. Die Kaufleute hatten schon unter Bernward directen Handel mit England getrieben. Berühmt waren die Goldschmiede Hildesheims. Daneben blühte die Weberei. Die Stadt erweiterte sich mehr und mehr und nahm zugleich an Wohlstand zu. Die Bischöfe waren häufig in Geldverlegenheiten, und sie bedurften dann die Hülfe der Bürger, die sie mir Abtretung von Gerechtsamen erkaufen mußten. Was die Stadt nicht erkaufen konnte von Privilegien, wußte sie sich, zäh ihr Ziel verfolgend, bei passender Gelegenheit zu ertrotzen. Das Ergebniß dieses Kampfes zwischen der Bürgerschaft und ihren Fürsten war, daß Hildesheim schon zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts, wo es Mitglied der Hansa wurde, eine thatsächlich freie Stadt im Stifte war. Im Jahre 1292 bestätigte der Bischof noch die Gilden der Leinweber und Knochenhauer, später entstehende Handwerkergenossenschaften bedurften solcher Genehmigung nicht mehr. Als das fünfzehnte Jahrhundert begann, war die Stadt im unbestrittenen Besitz der Gerichtsbarkeit und Polizei, sie erhob Zölle und Steuern, schlug Münzen und fühlte sich so stark, daß sie sich allerlei Eigenmächtigkeit gegen die Bischöfe erlaubte, die dagegen nur noch Klagen hatten. Blos noch Aeußerlichkeiten, wie die Huldigung, gestand man den Fürsten zu, die lediglich im ältesten Theile Hildesheims, der durch einen Mauernkranz von der Altstadt geschiedenen Domfreiheit, und nach einigen Beziehungen in der Neustadt noch als gebietende Herren schalteten.

Die Reformation fand in Hildesheim erst spät Eingang. Als deren Geist sich in den unteren Ständen, unter den Handwerksgesellen und Kleinbürgern regte, trat ihm der Rath, an seiner Spitze der energische Bürgermeister Christoph Wildesüer, in Gemeinschaft mit dem Bischofe mit scharfen Verboten entgegen. Aber die Zahl der Freunde Luther’s wuchs allmählich, und als sich 1542 das Heer des schmalkaldischen Bundes dem Stifte näherte, schloß man sich demselben an, und die Reformation wurde eingeführt.

Späteren Versuchen des Bischofs, dem alten Glauben wieder Geltung zu verschaffen, setzten die Bürger, jetzt eifrige Lutheraner, trotzigen Widerstand entgegen. Die katholisch Gebliebenen, namentlich die Mönche, waren schwerer Unbill ausgesetzt. Eingriffe in die fürstbischöfliche Jurisdiction, Benachteiligungen des geistlichen Besitzes waren an der Tagesordnung. Ein Amtmann des Bischofs, der einen Bürger geschlagen, weil er unbefugt in der Innerste gefischt, wurde ohne Proceß vom souveränen Volke verurtheilt und trotz seiner vornehmen Verwandtschaft auf der Steingrube vom Kohlenträger der Stadt enthauptet.

„Die Einwohner Hildesheims,“ so schrieb vor langer Zeit Lauenstein, einer der Historiker der Stadt, „sind eines hitzigen, heftigen, zu kühnen Thaten inclinirenden Naturells; will man ihr Temperament etwas genauer determiniren, so ist wohl gewiß, daß die meisten temperamenti cholerico-sanguinei, die wenigsten aber temperamenti cholerico-melancholici sind.“ Das war damals, und das ist noch heute so. Die Hildesheimer sind im Durchschnitt von ihren niedersächsischen Nachbarn durch Haltung und Gebahren vielfach verschieden, lebendiger, rascher, freiheitslustiger, mehr zu Parteiungen geneigt, vielleicht weil sie theilweise von anderm Blute sind, wahrscheinlicher, weil das alte republikanische Leben in ihnen nachwirkt.

Die erwähnte Gemüthsart der Hildesheimer gab sich nach ihrer edlen Seite auch im dreißigjährigen Kriege kund, in welchem sie auf das Entsetzlichste zu leiden hatten. Pappenheim erzwang von der Stadt Aufnahme einer kaiserlichen Garnison, welche sofort allerlei Gewaltthat zu verüben begann und namentlich den Rücktritt der Bürger zur katholischen Kirche zu erzwingen versuchte. Die Kirchen wurden den Lutherischen genommen, ihre Geistlichen, bis aus wenige vertrieben, die Katholiken auf jede Weise geschont, die Protestanten auf jede Weise gedrangsalt, die Convertiten erfuhren alle denkbare Bevorzugung. Aber dennoch traten von den zweitausend Bürgern damals nur zwei wieder in die alte Kirche ein!

Noch übler erging es der Stadt im folgenden Jahre, als braunschweigische Truppen vor ihren Mauern eintrafen. Die Bürger wurden jetzt von dem kaiserlichen Commandanten aufgefordert, für den Kaiser die Waffen zu ergreifen. Sie weigerten sich, und alle Mittel, sie zur Nachgiebigkeit zu bringen, Güte wie Gewalt, waren vergeblich. Der Rath schwankte, aber die von ihm berufene Bürgerschaft blieb bei ihrer Weigerung, und nun wurde hier von den Kaiserlichen so arg gehaust, wie in keinem größeren Orte des römischen Reiches. Daneben stieg durch die Belagerung der Mangel am Nothwendigsten auf kaum glaubliche Höhe. Zuletzt hatte die Noth einen solchen Grad erreicht, daß man von Seiten der Bürgerschaft den Commandanten bat, in Masse die Stadt verlassen zu dürfen, und daß, als dies abgeschlagen worden, der Rath allen Ernstes darüber berieth, ob man sich nicht das Leben nehmen sollte.

Endlich, als zwei kaiserliche Heere, die der Garnison Entsatz bringen sollten, geschlagen worden waren, übergab der Commandant Gryfort die Stadt. Dieselbe war gründlich verarmt und in den meisten Theilen verödet. Ein Viertel fast ihrer Häuser war ganz verschwunden, über dreihundert der übriggebliebenen standen allein in der Altstadt leer. Jahrhunderte vergingen, bevor die Gemeinde und die Einzelnen wieder zu einigem Wohlstande gelangten. In der Zwischenzeit bot die Stadt mehr als ihre größeren Nachbarstädte das Bild der Armuth und Kraftlosigkeit.

Aber wenn der alte Wohlstand geschwunden war, so nicht der alte Unabhängigkeitssinn und die alte Lebendigkeit und Ausdauer in Vertheidigung wirklicher oder vermeintlicher Rechte. Die Braunschweiger wollten durch Einnahme der Stadt ein Besitzrecht auf dieselbe erlangt haben. Die Bürgerschaft erkannte diesen Anspruch nicht an und setzte Wiederherstellung des alten Verhältnisses durch. Später versuchten einzelne Bischöfe, ihre Machtbefugniß über die Stadt wieder mehr auszudehnen. Die Hildesheimer aber vereitelten diese Angriffe jedesmal. Der Rath maßte sich bisweilen an, Dinge zu verfügen, die gegen das Interesse der Stadt waren, allein sofort war die Bürgerschaft gegen ihn auf den Beinen, und fast immer wußte sie ihren Willen durchzusetzen. Die Chronisten der Stadt haben noch im vorigen Jahrhundert eine ganze Reihe solcher Kämpfe zu verzeichnen. Auch die einzelnen Theile der Stadt befehdeten sich bisweilen in bitterem Ernste, und namentlich der den Neustädtern aus alten Privilegien erwachsene Zwang, nur altstädtisches Bier zu trinken, führte 1791 bis 1793 zu Excessen, die fast mit Blutvergießen endigten. Die verlorene alte Kraft wuchs langsam wieder, das alte Leben und die alte Parteisucht waren niemals ganz gewichen. Hildesheim trat in das neue Jahrhundert als ein Anachronismus ein. Viele Aeußerlichkeiten der Vergangenheit waren erhalten, allein sie waren meist Formen ohne Inhalt. Gleichgültig sahen daher die Meisten zu, als 1801 Preußen für die auf dem linken Rheinufer an Frankreich abgetretenen Landstriche unter Anderem mit der Stadt und dem Stift Hildesheim entschädigt wurde und das alte republikanische Wesen nun auch in der Form ein Ende hatte. Auch als fünf Jahre darauf die Stadt zum Königreich Westphalen geschlagen wurde und Hildesheim die Eigenschaft einer Unterpräfectur des [8] Oberdepartements erhielt, regten sich kaum irgendwelche Zeichen von Mißvergnügen gegen diese abermalige Umwandlung, und eben so gefügig nahm man die dritte Metamorphose innerhalb zweier Jahrzehnte hin, welche Hildesheim zu einer Stadt des mit allerlei anderen Annexionen vergrößerten Welfenreiches machte.

Es war damals anderwärts eben auch nicht anders, und überdies schlummerte der alte Freiheitssinn der Bürgerschaft nur. 1830 und 1831 merkte man das an ziemlich lebhaften Zuckungen, und an der Bewegung von 1848 nahm die Stadt eifrigen Antheil. Man hatte durch Ernst August erfahren, was die Welfenherrschaft zu bedeuten habe. Wieder wohlhabender geworden, fühlte sich das Bürgerthum wieder mehr. König Georg’s Willkürregiment ließ den ganzen Freiheitstrotz einer im Kampf mit den Bischöfen erzogenen Bevölkerung wieder erwachen. Die Stadt Hildesheim war fortan der Hauptsitz der Opposition im Süden Hannovers, und diese Opposition, die Anfangs mehr demokratischer Natur gewesen, nahm später eine stark nationale Färbung an, wenigstens bei der Mehrzahl der zu ihr Gehörigen. Der berüchtigte Wermuth erhielt Auftrag, die spröde Stadt für das Welfenthum zu gewinnen, und Meister in allen den kleinen Polizeikünsten, welche zu Erfolgen auf der Oberfläche führen, mit den Demokraten Weinhagens gegen die Nationalen, mit den großdeutschen Katholiken gegen die Protestanten operirend, selbst unsaubere Mittel nicht verschmähend, hatte er allerdings nach einiger Zeit mehrere Erfolge auszuweisen. Namentlich gelang es ihm, die unbemittelte Classe gegen den Magistrat aufzustacheln, der die Seele der Opposition, aber zugleich die Seele bei jeder Förderung der wahren städtischen Interessen war. Die Majorität und darunter den Kern den Bürgerschaft hat er nicht zu sich herüberzuziehen vermocht. Er konnte weiter kommen, und er wäre vielleicht weiter gekommen, als die preußische Occupation die Stadt vor dieser Verführung bewahrte. Wermuth schoß sich, als er sein letztes Spiel verloren sah, eine Kugel in den Kopf. Sein begabtester und thatkräftigster Gegner, Senator Römer, war Hildesheims erster Vertreter im norddeutschen Reichstag.




Erinnerungen an Heinrich Heine.
Von Heinrich Laube.
I.

Zwischen 1826 und 1827 habe ich den Namen Heine’s zum ersten Male nennen hören. Ich war Fuchs auf der Universität Halle und gehörte zur Burschenschaft. Diese Studentenverbindung hatte bekanntlich ein patriotisches Ziel. Von den älteren hallischen Mitgliedern wurde aber damals auch immer betont, daß der Student sich nicht blos um Kneipe und Fechtboden, sondern auch um die eben lebende Literatur zu bekümmern habe. Niedersächsische Studenten waren es vorzugsweise, Hildesheimer, Oldenburger, Hanseaten, welche zuweilen von Heine sprachen. Das will sagen: sie erwähnten witzige Aeußerungen dieses jungen Schriftstellers.

Ich kann nicht sagen, daß mir das einen besonderen Eindruck gemacht hätte. Ich war nicht auf literarische Dinge gestellt, obwohl ich auf dem Gymnasium die Wochenblätter unsicher gemacht mit mittelmäßigen Versen und obwohl ich von Halle aus mit Adolph Müllner in Berührung gekommen war. Ein paar Meilen von Halle entfernt, gab er in Weißenfels die Mitternachtszeitung heraus und belehrte mich da in einem ausführlichen Schreiben über die Fehler von Sonetten, welche ich ihm eingeschickt hatte. Heute ist mir dies ein Zeichen von der literarischen Stille, welche damals in Deutschland herrschte. In Weißenfels wurde ein wichtiges Journal herausgegeben, und der Redacteur hatte Zeit und Lust, einem unreifen Studenten über schlechte Sonette einen langen Brief zu schreiben!

In dieser stillen Zeit tauchte Heinrich Heine auf. Er hatte seine Jugend in Düsseldorf verlebt. Seine Eltern sind offenbar begabte Menschen gewesen. Der Vater ein Geschäftsmann, seine Mutter von der holländischen Seite her. Mit der letzteren kokettirte Heinrich frühzeitig: er widmete ihr eine Schrift und gab mit Nachdruck ihren Familiennamen an: von Geldern. Daß seine Mutter von Adel und eine Christin gewesen, das war etwas, was er betont sehen wollte. Als ich ihn später einmal auf diesen Gedankengang aufmerksam machte, nickte er mit dem Kopfe und sagte: „Allerdings!“ Es hat nicht an Genealogen gefehlt, welche diesen Familienstolz einen erkünstelten nannten und das ,von’ in ein gleichgültiges ,van‘ verwandelten. Eine holländische israelitische Familie, welche in das nahe Düsseldorf eingewandert, habe sich dies „van“ beigelegt, welches nur eine geographische Bedeutung habe. Dies ist auch wahrscheinlich, denn Heinrich Heine ging niemals näher auf diese Frage ein. Es war ihm ein verführerischer Witz, daß er aus einer Mischung christlichen Adels und jüdischer Race entsprossen sein könne, und von Mutterleibe aus romantisches Mittelalter, eingeweicht in zersetzende Geistesschärfe, darstelle. Sein literarisches Wesen wird ja durch solche gemischte Abstammung prächtig erklärt. Wenn ich ihn mit dieser Racentheorie aufzog, so lachte er und sprang auf ein anderes Thema über. Es war ein Zug seiner Eitelkeit aus seiner poetischen Jünglingsperiode. Das Leben hatte diesen Zug später in ihm verwischt. Aber die halbe Lüge war durch eine Widmung an „die geborene von Geldern“ gedruckt und eingeführt; er trug sie auf leichter Schulter weiter und schüttelte sie von der rechten auf die linke Achsel, wenn zudringlich daran getippt wurde.

Er sollte die Rechte studiren und war zu dem Ende in Bonn, in Göttingen und in Berlin. Jede diese Städte hat ihm ein Contingent stellen müssen für seine schriftstellerische Armee. Auch die Vaterstadt Düsseldorf. Seine Geburt fällt noch in’s drittletzte Jahr des vorigen Jahrhunderts, er wuchs auf unter der Franzosenherrschaft am Rheine, der regierende Herr seiner Heimath hieß Kaiser Napoleon. Sein Vater war in enger Berührung mit der „großen Armee“, er führte Lieferungsgeschäfte für dieselbe und kam in persönliche Berührung mit den Marschällen. Der Napoleoncultus datirt also aus seinen frühesten Jugendeindrücken. Daß er ihn poetisch ausbildete und in seinem Buch der Lieder drucken ließ, gehört zu seinen stärksten Dreistigkeiten. Denn die Freiheitskriege pulsirten während der zwanziger Jahre noch in allen deutschen Herzen, und der Name Napoleon bezeichnete den ärgsten Landesfeind.

Dieser Napoleonswelt ist er übrigens auch immer und bis zuletzt treu geblieben. Insofern treu geblieben, als er ihr stets die größte Macht zutraute. Immer wenn in Frankreich der Boden bebte, da erwartete er die Napoleoniden. In den vierziger Jahren, als die Orleans heftig angegriffen wurden und man mit der Republik drohte, da sagte er: „Denk’ an mich, wenn sich das Alles unmächtig erweist! Die Kinder der alten Soldaten bedecken ganz Frankreich. Ihr Gott, welcher ihnen volle Gleichheit, Stärke und Ruhm erschafft, heißt Napoleon. Unter diesem Namen gestaltet sich Frankreichs Zukunft.“ – Außer ihm dachte damals kein Mensch an eine Napoleonische Zukunft. Der Poet sah tiefer als irgend ein politischer Scharfblick.

Sein Contingent aus Bonn hieß August Wilhelm Schlegel. Sein Contingent ans Göttingen wurde der nahe Harz, der Schauplatz seiner Reisebilder. Sein Contingent aus Berlin Hegel.

Berlin war in jener Zeit ein recht langweiliger Ort. Der Aufschwung aus dem Jahre 1813 wurde sorgfältig und immer sorgfältiger gedämpft in den politischen Folgerungen, welche ihm inne wohnten. Das rüttelte sich bereits in ein System, als der blasse und magere Heine in der Behrenstraße wohnte und in den breiten und leeren Straßen der Friedrichsstraße umherschlenderte. Mißmuth und Langeweile verschonten ihn nicht, Drang nach Schriftstellerruhm begann in ihm zu nagen, und er suchte Leute kennen zu lernen, welche dafür etwas bedeuteten: Hitzing, Gans, Varnhagen, Rahel. Letztere, vom Judenthnm stammend, belebte ihn am meisten; er lenkte öfters gegen Abend seine Schritte nach dem stattlichen Hause in der Mauerstraße, dessen ersten Stock Varnhagen mit seiner Gattin schon damals bewohnte. Ich habe zehn Jahre später, inmitten der dreißiger Jahre, oft mit Varnhagen darüber gesprochen, ob man wohl die schriftstellerische Laufbahn Heine’s habe vorhersehen können. Kaum! war das Ergebniß.

[9] Rahel hat er noch am meisten interessirt, ihr war er auch am verwandtesten. Dem Herzen nach gar nicht, aber dem Geiste nach. Für die Uebrigen war er gar zu wenig flüssig im persönlichen Verkehre. Er war Zeit seines Lebens launisch. Und nur wenn er guter Laune war, erschien er ausgiebig. Dann aber auch in hohem Grade. In freundschaftlichem Briefverkehr mit Varnhagen ist er übrigens bis an sein Lebensende verblieben; persönlich wiedergesehen jedoch haben sie sich nicht.

Was von Heine selbst schriftlich auf uns gekommen ist aus jener Berliner Zeit und bald nach derselben, das gehört zu seinen dürrsten Arbeiten. Eine kleine Reise in’s polnische Land hinein, welche im Gubitz’schen „Gesellschafter“ gedruckt wurde, und der Briefwechsel mit einem Freunde Moser zeigen nur geringe Spuren des Heine’schen Talentes. Seine mißlichen Eigenschaften: Ueberhebung, Ruhmsucht, manierirtes Haschen nach Witz, stehen im Vordergrunde und belästigen, weil eben von einem Hintergrunde noch nicht viel zu spüren ist. Er ist dieser mißlichen Eigenschaften nie ganz Herr geworden, aber er lernte sehr schnell, er sah mit genialem Auge sehr viel, er füllte also seinen Geist sehr rasch, und deshalb treten schon nach wenigen Jahren diese mißlichen Eigenschaften in solchen Schatten, daß man sich nicht mehr genöthigt fühlt, sie vorzugsweise anzuschauen. Er findet frühzeitig den Tact für seine Fähigkeiten, verläßt den Weg ruhiger Darlegung und Begründung, auf welchem ihm wenig Reize blühen, und wendet sich der freien Erfindung zu. In ihr verwerthet er seine besten Gaben, und zwar auf eine neue Weise. Er ist poetisch und witzig. Dies Dichten und Trennen spricht er zum ersten Male in einem Athem aus. Damit begründet er eine eigene literarische Kraft des Namens Heine.

Ich will nicht sagen, daß diese poetisch-witzige Fähigkeit absolut neu gewesen. Es haben sie manche Humoristen, namentlich englische, besessen, es liegt in Voltaire eine ähnliche Mischung vor Augen, sie war in starkem Grade Shakespeare zu eigen, welchem der Witz überall eindrang und welchem der weite Begriff des Witzes überall zu schaffen gab. Aber ein Dramatiker kann und muß seine Gaben vertheilen, und dadurch gewinnen sie eine ganz andere Form und Wirkung, als wenn die Mischung immer aus ein und demselben Munde strömt. Und gerade dieser ein und derselbe Mund, aus welchem Heine in dem bald erscheinenden „Buch der Lieder“ und in den „Reisebildern“ die grellen Gegensätze sprudelte, Witz im Arme der Poesie, Poesie in den Krallen des Witzes, gerade dies war der überraschende neue Effect. Ich brauche das Wort „Effect“ absichtlich. Man wird immer irre gehen, wenn man Heine nach Inhalt und Gesinnung beurtheilen will. Er war durchweg Künstler, und nur Künstler; die Form, der Effect war ihm die Hauptsache.

Ich habe in Gesprächen mit ihm oft mit Staunen bemerkt, welch’ eine Theilnahme für dramatische Form er zeigte, wie er eigentlich darnach schmachtete, ein Stück schreiben zu können, welches aufgeführt würde. Er peinigte mich mit der wiederholten Frage, ob denn sein „Almansor“ und „Ratcliffe“ wirklich nicht aufführbar wären. Mir war diese Sehnsucht nach dramatischer Form ein merkwürdig Zeichen, ein Zeichen, daß auf dem Grunde seines Talents das Drama geruht hätte. Ruhige Kraft, Gerechtigkeit des Sinns und Geduld der Entsagung auf persönliche Gelüste hat ihm gefehlt, er hat sein dramatisches Talent für Monologe Heine’s verbraucht, und so ist seine schriftstellerische Form entstanden, welche eine wilde Ehe von Gegensätzen zeigt.

Der dramatische Embryo in ihm zog ihn denn auch zu Shakespeare, wie zu keinem andern Poeten. Es war ihm ein Genuß, als ihn ein französischer Buchhändler veranlaßt hatte, zu Stahlstichfiguren Shakespeare’scher Charaktere einen erklärenden Text zu schreiben. Einen erklärenden Text schrieb er freilich nicht, die Shakespeareerklärer waren ihm ein Gräuel, und seine Späße über den poetischen Unverstand oder Querverstand derselben waren Legion, aber Ekstasen schrieb er über Shakespeares Figuren. Sehr wunderlich war er dabei, wenn er über Inscenesetzung der schwer darstellbaren Stücke Shakespeares sprach. Die alte englische Bühne mit ihrem naiven Apparate wieder einzuführen, fand er lächerlich – dafür hatte er zu lange in Paris gelebt – aber eine neue Bühne dafür zu erfinden, schien ihm mitunter wünschenswerth. „Und ein neues Publicum auch,“ warf ich dazwischen.

„Da hast Du Recht!“ rief er lachend, „die Bühne des neunzehnten Jahrhunderts ist oben und unten nicht mehr für phantastische Poeten. Wir müssen uns an’s Ballet halten.“

Wirklich schrieb er eins und zwar den „Faust“. Diese Arbeit gehört in seine letzten fünf Jahre, und er bestand hartnäckig auf dem Wunsche, daß es im Wiener Hofoperntheater ausgeführt würde. Dort mußte ich das Manuscript einreichen. Es war brillant geschrieben und strotzte von geistreichen Bosheiten gegen die herkömmlichen Anschauungen über Himmel und Hölle. Die Hölle natürlich besonders, welche den Faust haben sollte, war reichlich bedacht. Bedacht! Denn es lag der Reiz mehr im Gedanken, als im Vorstellbaren, und wenn ich mir den Balletmeister vergegenwärtigte, welcher solch’ geistvolles Poëm in Scene setzen sollte, so geschah dies nicht ohne Heiterkeit. Indessen fehlte es doch auch nicht an phantastischer Schilderung zu Aufgaben für den Maler, Decorateur und Maschinisten. Holbein, welcher das Operntheater dirigirte, war ganz bestürzt über die Zumuthung. Er hatte sich grundsätzlich nie mit solch’ lästerlicher Poesie beschäftigt und rettete sich schleunigst hinter die spanische Wand der Technik. Diese sagte mit Recht: solch’ ein Manuscript sei ja kein Balletbuch, denn es fehle jegliche scenische Eintheilung. – Freilich mit noch besserem Rechte hätte man diesen Entwurf einem geistvollen Balletmeister wenn es einen solchen gab, überantworten können, damit er den plastischen Kern herausschäle und ihm so viel, als erreichbar, vom Kometenschweife des Gedankens belasse. Dann war wohl ein originelles Faust-Ballet daraus zu entwickeln. Heine’s Manuscript hätte als Nachwort dem Büchelchen angehängt werden können, welches der Zuschauer an der Casse kauft. Der denkende Zuschauer, wenn es solche im Ballet giebt, hätte nach der Vorstellung daheim dies Nachwort gelesen, um zu entdecken, daß er äußerst geheimnißvolle und bedenkliche Dinge sorglos angeschaut. Mit solcher Perspective tröstete ich damals Heine, welcher sehr ungehalten war über die Geistlosigkeit der Theaterherren.

„Für Dich sind sie ja auch nicht erschaffen,“ entgegnete ich, „denn Du raffst in einzelne Zeilen zusammen, wovon ein ganzer Theaterabend Nahrung verbreiten will.“ Dies leuchtete ihm ein, wenigstens seiner Eitelkeit. Und es war im Grunde das, was ich oben angedeutet: seine Muse war ein dramatischer Embryo, der die Entwickelung nicht mochte, weil er sie für langweilig hielt. Kurzweil war seine Losung.

Dieser Balletentwurf „Faust“ ist damals auch nach Berlin gekommen, und die „Satanella“ Taglioni’s soll daraus entstanden sein. Die Verwandtschaft ist verzweifelt entfernt, und von der Seele des Heine’schen Ballets ist der „Satanella“ nicht ein Atom zugegangen.

Nach der Universitätszeit war Hamburg der Aufenthaltsort für Heine geworden. Seine Eltern waren längst vom Rheine dorthin übergesiedelt. Der Vater scheint ein spekulativer Kopf gewesen zu sein, aber das Glück scheint ihm nicht gelächelt zu haben. In Hamburg dagegen residirte der glückliche Fürst des Heine’schen Stammes, Salomo Heine, der Millionär. Er hat sich immer wohlthätig und freigebig erwiesen gegen die Familie des Dichters. An Witzworten über ihn hat es natürlich nicht gefehlt; sie bleiben nie aus, wenn Geld und Geist mißlich neben einander gestellt werden. Das bekannteste war sein Urtheil über den jungen Dichter Heinrich: „Wenn er was gelernt hätte, so brauchte er keine Bücher zu schreiben.“ Es klingt ganz so gut, als ob es Heinrich selbst erfunden hätte. Ich habe übrigens Heinrich nie anders von seinem Oheim Salomo sprechen hören, als mit Hochachtung und einer warmen Zurückhaltung, welche er seinem ungeberdigen Satyr grundsätzlich aufzuerlegen schien. Der Onkel Salomo und dessen Sohn Karl waren die einzigen Wesen, die er auch in vertrautem Gespräche nie antastete, und wenn ihm ein scherzhaftes Wort über sie entschlüpfte, so polsterte er dies sogleich mit einer Watte von Gutmüthigkeit, welche sonst ein ganz fremder Artikel war auf seinem Lager. Namentlich hegte er einen tiefen Respect vor der sittlichen Größe des Vetters Karl, selbst dann noch, als ihm dieser Vetter schwere und nicht eben lobenswerthe Sorgen machte wegen der Rente, welche der Oheim Salomo ausgesetzt hatte für den poetischen Neffen. Das Testament Karl Heine’s, ein wahres Staatsmuster von Güte und weiser Fürsorge, hat später dargethan, daß Heinrich den Charakter seines Vetters ganz richtig geschätzt hatte.

Dennoch hatte der Aufenthalt Heinrich Heine’s in Hamburg bis zum Jahre 1830 etwas Unbehagliches für ihn. Seine ersten Bücher, „Buch der Lieder“ und „Reisebilder“, hatten ihm wohl eine pikante Berühmtheit verschafft, aber diese wurde doch viel [10] bestritten, und der junge Dichter fühlte das Bedürfniß, mit geräuschvollerem Flügelschlage vom Alsterpavillon aus aufzusteigen und über die Länder dahin zu fahren. Seine Ansprüche waren groß. Er hatte auch nichts versäumt, die gemeinen Hindernisse einer breiteren Laufbahn aus dem Wege zu räumen: in Göttingen hatte er seine Promotion zum Doctor Juris zu Wege gebracht, um einen Titel und eine gewisse Anwartschaft zu haben, und von Göttingen aus war er einmal plötzlich nach Langensalza gefahren und hatte sich dort taufen lassen. Religiöse Sehnsucht nach der christlichen Gemeinschaft hatte ihn nicht getrieben, wohl aber Sehnsucht nach freier bürgerlicher Gemeinschaft. Nun saß er da in dem kaufmännischen Hamburg, welches den blassen, unqualificirbaren Doctor im Vorübergehen fragend ansah, und harrte unruhig des Windes, der ihn weiter heben sollte. Täglich trat er an der Ecke des Gänsemarktes in den Buchladen seines Verlegers Julius Campe und fragte nach Neuigkeiten. Campe war ganz geeignet, zu stacheln. Er war ein politischer Buchhändler in der doppelten Bedeutung dieses Wortes, und erkannte die Neigung des deutschen Lesepublicums sehr wohl. Humor! Humor in politischer Richtung! Das war sein Recept für neue Bücher. Heine bedurfte zwar keiner Leitung im Ganzen, denn sein eigentliches Talent vertrug sie gar nicht, es ging mit ihm selber durch. Aber Fingerzeige über die Stimmung des Tages waren ihm stets willkommen, und Reizung war immer wirksam auf ihn. Da brach die Julirevolution aus, und die Laufbahn Heine’s war entschieden. Auf den hoch gehenden Wogen des europäischen Dranges, mit veralteten Beschränkungen zu brechen, schiffte er sich ein unter politischer Flagge, schrieb zu einem Buche von Kahldorf gegen den Adel eine herausfordernde Vorrede und – ging nach Paris.

Hierdurch ist Zweierlei über ihn gekommen: er hat die Heimath verloren und ist den politischen Schriftstellern eingereiht worden. Die zweite Hälfte seines Lebens, über ein Vierteljahrhundert, hat er in Frankreich zugebracht, nur auf ein paar Wochen ist er ein einziges Mal wieder zum Besuche seiner Mutter in Hamburg gewesen. Dadurch ist er aller leiseren und feineren Uebergänge im Vaterlande verlustig geworden und hat statt dieser französische Denk- und Sprechweise in sich aufgenommen. Dies ist hochwichtig für die Beurtheilung seines Wesens.

Nicht ganz so wichtig, aber wichtig ebenfalls ist es, daß er mit der politischen Uniform bekleidet wurde. Sie hat sein wahres Bild in den Augen der Welt einfach verwirrt und hat ihn selbst nur zu oft irre geführt.

Er war ein Poet, nicht aber ein Politiker. Es war ein Zufall, und für ihn ein unglücklicher Zufall, daß gleichzeitig mit ihm Ludwig Börne aus Deutschland nach Frankreich flüchtete. Diese und manche andere Aehnlichkeit hat zwei grundverschiedene Männer aneinander gekoppelt in der öffentlichen Meinung, und sie Jahrzehnte lang einer Kritik nach gleichen Maßstäben überliefert. Solcher gleichmäßige Maßstab mußte Beiden Unrecht thun, Heine in der Gegenwart, Börne für die Zukunft. Die Gegenwart unterschätzte Heine, die Zukunft – es geschieht jetzt schon – wird deshalb Börne unterschätzen. Die Schriften Börne’s werden allmählich neben den Heine’schen den Schaffungskeim vermissen lassen, und man wird sich wundern, wie eine scharfe Tagespolemik einem Weltkriege habe gleich geachtet werden können, so wie man sich in unsern Tagen gewundert hat, daß Börne’s reiner, consequenter Charakter mit klarem, wenn auch negativem Zwecke neben dem unruhigen, wechselvollen, pietätslosen Geiste Heine’s auch nur in Vergleich kommen könne.

Da lebten sie denn in Paris neben einander und in den ersten dreißiger Jahren versuchten sie es, freundschaftlich neben einander zu leben. Vergebliches Bemühen! Ein Bemühen wenigstens von Seiten Börne’s, welcher gerne vermieden hätte, das Ansehen der Partei zu schwächen durch einen Bruch mit Heine. Es war unmöglich innerhalb der Naturgesetze, welche jedem von Beiden innewohnten. Börne hatte ein bestimmtes Ziel, ein politisches. Demokratische Freiheit war der Inhalt seines Strebens. Die Schrift, welche er drucken ließ, war ihm nichts weiter als die Waffe. Hätte er eine andere wirksamer zu handhaben gewußt, er hätte diese andere Waffe vorgezogen. Nicht um Literatur, nicht um Kunst, nicht um Consequenzen, welche über Politik hinaus liegen, war es ihm zu thun. Was literarisches Talent an ihm war und was er in stiller Frankfurter Zeit als Herausgeber der „Wage“ zu heitern Genrestücken ausgebildet hatte, das war in ihm selbst zurückgetreten wie Dilettantenthum. Die politische Mission, in welche ihn die Revolutionszeit geführt, war ihm Alles geworden, und wenn er einmal an etwas Speculatives herantrat, so geschah auch dies nur in specifisch politischem Sinne. Nur der Mensch im Staate beschäftigte ihn.

Der Mensch im Staate war aber für Heine nur ein kleiner Theil des Menschen. Er behandelte diesen kleinen Theil auch vielfach, aber er that es leichtsinnig; es interessirten ihn zahlreiche andere Theile des Menschen nicht minder. Und so mußte er das gewissenhafte Lebensinteresse Börne’s bei hundert Gelegenheiten verletzen. Wie konnte ein solches Gespann gleichen Schritt halten! Ein Arbeitsroß und ein Flügelroß! Pflügen wollte das eine, fliegen das andere! So kam es denn zwischen ihnen zu jenem Bruche, welcher die Liberalen in Deutschland peinigte. Das Resultat dieses Bruches war nach Börne’s Tod ein Buch über Börne, welches Heine schrieb, welches kunterbuntes Aergerniß verursachte und widerwärtigen Parteiscandal, ja ein Duell Heine’s zur Folge hatte.

Um die Zeit, da er mit diesem Buche schwanger ging, lernte ich Heine in Paris persönlich kennen; brieflich war ich seit Jahren mit ihm in Verkehr gewesen.

Heine war damals (1839) auf der Höhe seines Lebens, körperlich wie geistig. Sein Leib war feist, seine Geistesstimmung munter und behaglich; er glich einem Abbé aus dem achtzehnten Jahrhundert. Hing er doch überhaupt, da er noch im vorigen Jahrhundert geboren war, mannigfach zusammen mit diesem geistreichen Säculum, ein Seitensprößling Voltaire’s, in der Poesie mit stärkerer deutscher Milch aufgesäugt, im Witze mit französischem Weine getränkt. Es ist nichts Zufälliges, daß in den fünfziger Jahren seine in’s Französische übersetzten Schriften so tiefen Eingang finden konnten bei den französischen Schriftstellern, so tiefen Eingang, wie ihn seit Jahrhunderten kein unfranzösischer Autor gefunden. Man lese Beuillot’s „Odeurs“! Dieser giftige Franzose, welcher für die Interessen der Kirche zu schreiben vorgiebt, sagt es zum ersten Male grimmig heraus: „Den tiefsten Einfluß, und natürlich verderblichsten Einfluß, auf die modernen Schriftsteller Frankreichs hat Henri Heine ausgeübt.“


„Der alte Feldherr“ in Solothurn.

Nach Mittheilungen eines Zeitgenossen.

In Zuchwil, eine Viertelstunde von Solothurn, der Hauptstadt des gleichnamigen Schweizer-Cantons, liegt ein stiller Dorfkirchhof, zu dessen Besuch ich heute die Leser der Gartenlaube einladen möchte. Nicht als ob es einer jener herrlichen Friedhöfe wäre wie der Père Lachaise in Paris oder die Friedhöfe von Berlin, Frankfurt, München u. dgl., wo wir in einem Pompeji der herrlichsten Grabmäler wandeln und ob all’ der monumentalen Pracht vergessen, daß der Fuß über ein Leichenfeld wegschreitet; oder als ob er gar mit einem der classischen Campi santi von Italien wetteifern könnte, wo der ewig blaue Himmel und der Reflex des Meeres selbst den düstern Schatten der Cypressen zu mildern vermögen. Ein einfaches Kirchlein, auf allen Seiten von Gräbern umgeben, die mit Buchs eingefaßt und mit wilden Nelken geschmückt sind, ein paar Trauerweiden und Ulmen, eine niedrige Mauer als Einfriedung und rings herum üppige Obstbäume und patriarchalische Strohdächer, die grüßend gegen die Stätte des Todes sich hinneigen – das ist der Gottesacker von Zuchwil! An der innern Seite der Einfassungsmauer aber erhebt sich ein hohes Grabmal aus Jurakalk, das die einfache Unterschrift trägt: Viscera Thaddei Kosciuszko. Und unter diesem Denksteine ruht das Herz des großen polnischen Helden, des Siegers von Dubienka.

Am 15. October waren es fünfzig Jahre, seit der greise Feldherr in Solothurn sein edles Leben aushauchte. Dort hatte [11] der müde Wanderer, der zwei Erdtheile mit dem Ruhme seiner Thaten erfüllt hatte, eine neue Heimath und die ersehnte Ruhestätte gefunden. Die Leiche, die nach seinem ausdrücklichen Wunsche in freier Erde ruhen sollte, wurde auf das Gesuch der polnischen Nation und des Kaisers Alexander nach Krakau gebracht und in der Gruft der alten Könige Polens beigesetzt. Sein Herz aber blieb in dem Lande zurück, wo es sich in seiner ganzen Größe und Liebenswürdigkeit gezeigt hatte, wo der Feldherr vor dem erhabenen Priester der Menschheit zurücktrat, wo der Kämpe für die höchsten Güter der Menschheit den Beweis leistete, daß er ob der Menschheit auch den einzelnen Menschen nicht vergaß. Wenn man von Kosciuszko spricht, so ist es immer nur der glühende Patriot, der treffliche Stratege, der löwenkühne Held – der Kosciuszko der Geschichte. In Solothurn aber lebt sein Bild in der Erinnerung des Volkes fort wie der sagenhafte Held einer Legende, wie der gute Eckard, der Freund der Kinder und der Armen; und nicht an den Mann mit dem kühnen Blick und dem schlagfertigen Arm, an den Soldaten mit der Kurtka und der polnischen Feldmütze mit dem Federstutz denken wir, wenn wir von unserm Kosciuszko sprechen, sondern an einen alten Herrn im blauen Ueberrock mit einer rothen Nelke im Knopfloch, an einen freundlichen Greisenkopf mit mildem Lächeln um die Lippen, an den großen Wohlthäter des Landes, der auf seinem kleinen schwarzen Pferde unermüdlich die Hütten des Elends und der Armuth als ein Bote des Friedens aufsucht.

Die Erinnerungen an die letzten Lebensjahre des großen Polen, wie sie theils noch im Munde des Volkes fortleben, theils in Zeitschriften und Flugblättern sich zerstreut vorfinden, zusammenzustellen, das Bild des historischen Kosciuszko zu vervollständigen und damit ein Erinnerungsblatt zur fünfzigjährigen Feier seines Todestages in der Gartenlaube niederzulegen, ist der Zweck der nachstehenden Zeilen.




In der blutigen Schlacht von Maciejowice (10. October 1794), dem Pharsalus Polens, war trotz der unerschütterlichsten Tapferkeit Kosciuszko’s ungeübte und schlecht bewaffnete Schaar von der furchtbaren Uebermacht Suwarow’s geschlagen worden. Mit Wunden bedeckt, von Blutverlust erschöpft, sank er selbst mit dem Rufe: „Finis Poloniae!“ vom Pferde. In russische Gefangenschaft gerathen, sollte er auf den Befehl der gereizten Kaiserin Katharina in dem festen Schlosse von Gregor Orloff sein Leben als russischer Staatsgefangener beschließen. Als aber Kaiser Paul den russischen Thron bestieg, war seine erste That ein hochherziger Act der Milde. Durchdrungen von ritterlicher Hochachtung für den edlen Feind seines Landes, ging er selbst in Begleitung seiner ältesten beiden Söhne, der Prinzen Alexander und Constantin, in das Gefängniß Kosciuszko’s und verkündete ihm seine Freiheit und diejenige seiner mit ihm gefangenen Freunde. „Je vous remets votre épée, mon général,“ fügte er hinzu, „en vous demandant votre parole de ne jamais vous en servir contre les Russes.“ (Ich gebe Ihnen Ihren Degen zurück, mein General, indem ich Ihr Wort fordere, daß Sie ihn nie wieder gegen die Russen führen wollen.) Zugleich beschenkte er ihn mit fünfzehn hundert Bauern und, um ihn unabhängig zu stellen, mit einer Geldsumme von zwölftausend Rubeln.

Sobald er von seinen schweren Wunden geheilt war, segelte der polnische Feldherr nach Amerika, wo er als amerikanischer Brigadegeneral mit großer Ehre empfangen wurde und seinen väterlichen Freund Washington wiedersah. Eine diplomatische Sendung führte ihn bald darauf nach Frankreich, dessen Nationalversammlung ihn schon mehrere Jahre früher zum Ehrenbürger dieses Landes ernannt hatte. Sobald seine Geschäfte in Paris beendet waren, zog er sich in die Gegend von Fontainebleau zurück, wo er auf dem Schlosse Berville bei seinem treuen Freunde Zeltner, Gesandten der schweizerischen Eidgenossenschaft, ein zurückgezogenes, den Wissenschaften und der Erziehung der Kinder Zeltner’s gewidmetes Leben führte. Als aber nach der Völkerschlacht von Leipzig die Heere der verbündeten Mächte Frankreich überflutheten und die Wellen des Kriegslärms bis an sein Tusculum schlugen, als so manches Andere seinen Blick in die Zukunft verdüsterte, verließ er nach fünfzehnjährigem glücklichen Aufenthalt sein Adoptivvaterland, reiste nach der Schweiz und schlug seinen dauernden Wohnsitz in Solothurn auf.

Kurz vor seiner Abreise sollte er noch den Beweis erhalten, daß der Glanz seines Namens im Norden noch nicht erbleicht war. Die russischen und polnischen Truppen wütheten in der Umgebung von Fontainebleau mit Mord und Brand. Kosciuszko konnte diesen Gräueln nicht länger zusehen, und als er in der Nähe von Berville solchen Banden begegnete, die eben ein paar arme Hütten in Brand stecken wollten, sprengte er mitten unter sie und rief mit lauter Stimme: „Halt, Soldaten! Als ich noch brave Krieger von Polen anführte, war kein Gedanke an Plünderung, und strenge würde ich Soldaten und noch unnachsichtlicher Officiere gestraft haben, die sich so benommen hätten!“ – „Und wer bist Du,“ rief man von allen Seiten, „daß Du Dich anmaßest, uns das zu bieten?“ – „Ich bin Kosciuszko.“ – Da warfen Soldaten und Officiere ihre Waffen weg, baten kniefällig um Verzeihung, umfaßten nach Landessitte sein Knie und streuten als Zeichen der Reue Staub auf ihr Haupt. – Berville blieb verschont, das Schloß erhielt eine Ehrenwache von Kosaken und Kaiser Alexander versicherte Kosciuszko in einem Handschreiben seiner Hochachtung und lud ihn zu sich nach Paris ein.

Solothurn bot so Manches dar, was diesen Aufenthaltsort Kosciuszko lieb und werth machen mußte. Ein stilles, schmuckes Städtchen in reizender Lage, auf der einen Seite den blauen Jura mit seinen Tannenwäldern und seinem malerischen Höhenprofil, auf der andern in duftiger Ferne die langgestreckte Kette der Schweizer-Alpen; nach allen Seiten schattige Lindenalleen (sie sind seither vom Boden verschwunden) und würzige Tannenwälder, hübscher Wiesengrund und die schönsten Aussichtspunkte für den Freund der Natur. Nirgends war die Poesie der Landschaft durch rauchende Schlote oder unmalerische Bauwerke rasselnder Fabriken unterbrochen. Die Stadt selbst zählte nur fünftausend Einwohner, aber sie war Sitz einer Regierung und eines Gymnasiums, und das sichert immer einen Kern der Bildung und Gelehrsamkeit. Die Einwohner endlich waren von jeher ein aufgewecktes, lebensfrohes Völklein, das sich durch entgegenkommende Liebenswürdigkeit gegen Fremde auszeichnete. Mehr als Alles das galt aber Kosciuszko der Umstand, daß Solothurn die Vaterstadt seines theuren Pariser Freundes Zeltner war und daß dort ein Bruder desselben wohnte, Altstatthalter X. Zeltner, der nur zu glücklich war, den alten Degen in seiner Familie aufzunehmen.

Groß war das Aufsehen, welches die Nachricht von der Ankunft des berühmten Fremden in Solothurn erregte. Die Bürgerschaft der Stadt bezeigte ihm ihre Hochachtung durch einen feierlichen Aufzug des Schützencorps und der Staatsrath sandte eine eigene Deputation in’s Zeltner’sche Haus, um ihm seine Verehrung an den Tag zu legen und seine guten Dienste anzubieten. Kosciuszko lehnte aber mit Bescheidenheit alle Auszeichnungen ab. In der Familie seines neuen Gastfreundes hatte er Geistes- und Gesinnungsverwandte, einen liebenswürdigen, gebildeten Familienkreis, Begeisterung für alles Hohe und die herzlichste Aufnahme gefunden.

Der hochbetagte Greis, der, durch Wunden und lange Leiden geschwächt, der Pflege bedurfte und doch allein auf der Welt stand, fühlte sich unter diesen guten Menschen rasch zu Hause und der Entschluß stand fest, seinen Wanderstab hier niederzulegen. Der biedere Sinn des Hausvaters, das stille hausmütterliche Walten von dessen Gattin und die Gesellschaft der muntern Kinder waren ihm gleich anziehend; und das einfache, zurückgezogene, auf sich selbst und wenige Hausfreunde angewiesene Leben der Familie stimmte vollkommen mit seinen Neigungen überein. Selbst der einfache bürgerliche Ton und die bescheidenen Verhältnisse des Hauses standen im Einklang mit seinen Lebensgewohnheiten. Er hatte nie äußern Glanz und Gepränge geliebt, und wie er auf dem Gipfel seiner Lebensstellung, als Dictator von Polen, als allmächtiger Naczelnik, einfach soldatisch gelebt hatte, so nahm er auch jetzt an den einfachen Mahlzeiten der Familie Theil, schlief auf einem Feldbette und hielt sich nur einen alten treuen Diener und für seine Ausflüge in die Umgebung ein kleines Pferd.

Sein Leben war regelmäßig, seine Zeit soldatisch streng eingetheilt. Ein Theil derselben war der eigenen wissenschaftlichen Ausbildung gewidmet und Geographie und Geschichte seine Lieblingsstudien, die ihm schon zur Zeit seiner Gefangenschaft auf Schloß Orloff die Zeit verkürzt hatten. Mehr aber, als für sich selbst, sorgte er für die Ausbildung von Emilie Zeltner, der zwölfjährigen Tochter seines Freundes. Das sinnige, reichbegabte [12] Mädchen hatte beim ersten Eintritte in’s Haus sein Herz erobert, und da sich auch die Kleine mit dem ganzen Enthusiasmus einer erregbaren Natur an den Alten anschloß, entstand ein rührendes Verhältniß zwischen diesen zwei an Alter so verschiedenen Seelen, das bis zum Tode des Generals fortdauerte. Dieser hatte sich ausbedungen, die höhere Ausbildung der kleinen Freundin selbst zu besorgen, und so gab er ihr denn täglich gewissenhaft Stunden in Geographie und Geschichte, namentlich des alten Roms. Noch besitzen wir die Berichte gebildeter Polen, die zufällig Zeugen solcher Stunden waren und mit Rührung des innigen Verhältnisses zwischen ihrem angebeteten Helden und „sa chère petite amie“ gedenken, Aber auch außerhalb der Lehrstunden war Fräulein Zeltner der Lieblingsumgang Kosciuszko’s. Er war von jeher ein Kinderfreund gewesen und stellte die Naivetät des weiblichen Wesens über Alles; und wie er nie ausging, ohne seine Taschen voll Zuckerwerk zu haben, um die ihn auf der Straße jubelnd begrüßenden Kinder zu beschenken, so wurde auch Emilie von ihm bei allen Anlässen beschenkt und gefeiert. Ihr zu Ehren veranstaltete er kleine Kinderbälle, wo er sich mit rührender Herzlichkeit unter die Jugend mischte, an den Spielen Theil nahm und mit den Kindern scherzte und lachte. Ja, so groß war Emiliens Einfluß auf ihren väterlichen Freund, daß sie zuletzt die Vermittlerin zwischen ihm und der Außenwelt wurde; sie mußte ihm Bittschriften überreichen, Unterstützungsgesuche übermitteln und dergleichen.

Der Friedhof von Zuchwil mit Kosciusko’s Grabmal.0 Nach der Natur aufgenommen von Süterlin.

Im Uebrigen lebte Kosciuszko in Solothurn sehr zurückgezogen, auf einen kleinen Kreis bewährter Freunde beschränkt, Gelehrte, Kaufleute, Officiere, die sich jeden Abend zu einer Tasse Thee bei ihm einfanden. Höflichkeitsbesuche machte er keine und die müßige Neugierde, die sich so gern berühmten Männern an die Fersen heftet, hielt er sich fern. Am liebsten verkehrte er mit Landleuten, Handwerkern und Taglöhnern; stundenlang konnte er den Landwirthen bei ihrer Feldarbeit zusehen, sie über Einzelnes befragen und sich die verschiedenen Gebräuche erklären lassen. Auch in den berühmten Steinbrüchen bei Solothurn war er ein häufiger und gern gesehener Gast, und nicht selten legte er beim Bewegen von Lasten und dergleichen selbst Hand an. Seine Ausflüge in der Umgebung der Stadt machte er meist zu Pferde und ohne alle Begleitung, die Heerstraßen vermied er, schlug einsame Feld- und Waldwege ein und suchte die armen Hütten der am Jura sich hinziehenden Dörfer, die niedrigen Behausungen armer Steinmetzen und Tagelöhner auf. Wo er da einen bedürftigen, mit der Noth des Lebens ringenden Familienvater, einen Kranken auf dem Siechbette wußte, stieg er vom Pferde, band es an einen Baumstamm, trat unter das arme Dach und brachte Trost und reichliche Gaben. Zu diesem Behufe hatte er denn auch immer bei diesen täglichen Besuchen in den Satteltaschen seines Pferdes ein paar Flaschen alten Weines, die er als Lebensessenz armen Kranken brachte. Lange ahnte Niemand, wer der hohe freundliche Greis mit dem liebevollen Blick und der immer offenen Hand war; denn ehe die Armen aus ihrer Ueberraschung über seine Liebesspenden gekommen waren, saß er zu Pferde und trabte einer neuen Hütte der Armuth entgegen. Doch auch die Bettler auf der Straße, der reisende Handwerksgeselle und Invalide wurde nicht vergessen, und nie machte er sich auf die Straße, ohne eine Hand voll Scheidemünze in seiner Tasche zu tragen. Sein Pferd war mit den Gewohnheiten seines Herrn so vertraut, daß es bei jedem Armen, der an der Seite der Straße lag oder den bittenden Blick zu seinem Reiter emporhob, stehen blieb und nicht von der Stelle wich, bis das übliche Scherflein gespendet war. Da diese Wanderungen täglich, ohne Rücksicht auf Regen und Schneegestöber statt fanden, so kannte der General bald die Armentopographie der Umgebung bis auf stundenweite Entfernungen.

Der Winter des Jahres 1816–17 war bekanntlich ein sogenanntes Hungerjahr und die Theuerung erreichte eine Höhe, daß selbst die Wohlhabenden sich viele Beschränkungen auflegen mußten. Die segensreiche Thätigkeit, die Kosciuszko um diese Zeit entfaltete, [13] war unbeschreiblich. Mit verdoppeltem Eifer setzte er seine Besuche zu Pferde fort, vertheilte täglich an fünfzig Arme Geldgeschenke, regte zu Sammlungen, zu Speiseanstalten für die Armen an und war überall thätig. Selbst hohe Summen verwandte er oft auf einmal, um unverschuldete Armuth vom Untergange zu retten. Als er eines Abends spät hörte, daß zwei brave Familien der Stadt wegen einer bedeutenden Geldschuld in wenigen Tagen aus Hof und Haus vertrieben werden sollen, händigte er Frau Zeltner sogleich das Geld ein, um es noch am selben Abend den Bedrängten zu übersenden. „Zögern Sie ja nicht,“ fügte er bei, „den braven Leuten noch heute das Geld zuzustellen; man darf sie keinen Augenblick länger in diesem Kummer lassen. Und sollten sie schon schlafen, lassen Sie dieselben aufwecken; es wird ein freudiges Erwachen sein und ein um so ruhigerer Schlummer wird darauf folgen, wenn das Elend nicht mehr über ihrem Haupte schwebt.“

Kosciusko.
Nach dem Originalportrait von Rieker, im Besitz des Herrn Bankier Brunner in Solothurn.

Nichts aber stellt die echt humane Geistesrichtung unseres Helden in ein schöneres Licht, als der folgende Zug. Im März 1817 war ein armer Landpfarrer, der sein Lebenlang in einer der ärmsten Pfarreien des Cantons als Seelenhirt gewirkt hatte, von den Behörden mit einer der reichsten Pfründen bedacht worden, damit er den Abend seines Lebens ohne Sorgen und Mühe verleben könnte. Die Ernennung war mit einem sehr ehrenden Anerkennungsschreiben begleitet. Der edle Greis konnte sich aber nicht entschließen, um seiner eigenen Behaglichkeit willen seine geliebte Heerde zu verlassen, und lehnte die Beförderung dankend ab. Kaum hatte K. diesen schönen Zug der Entsagung vernommen, als er sich auf den Weg machte, um diesen echten Priester Christi kennen lernen. Als er bei dem bescheidenen Pfarrhaus ankam, war der Geistliche bereits am Rasiren und ließ sich entschuldigen, daß er in diesem Aufzuge den hohen Besuch nicht empfangen könne. Allein Kosciuszko ließ sich nicht zurückhalten; mit jugendlichem Ungestüm drang er in das Zimmer des braven Landpredigers, schloß ihn mit Thränen in den Augen in seine Arme, bat ihn um seine Freundschaft und bezeigte ihm auf jegliche Weise seine Hochachtung. Das Pfarrhaus am Jura wurde von da an ein Lieblingksziel der Spazierritte des wackern Generals.

Während seines zweijährigen Aufenthaltes in Solothurn machte K. auch größere Reisen zu Pferde, um die Schweiz kennen zu lernen. So besuchte er im Sommer 1816 die classischen Stellen des Vierwaldstättersees und das Schlachtfeld von Morgarten. Als er dort an Ort und Stelle die Einzelnheiten jener denkwürdigen Kämpfe studirte, wurde sein Herz von alten Erinnerungen an die eigenen Erlebnisse wehmüthig bewegt, und tiefergriffen drückte er die Hand seines Freundes Zeltner und flüsterte: „Ach, hätte mich bei Maciejowice auch ein Hühnenberg gemahnt und hätte Poninski Reding’s Schnelligkeit besessen!“

Eine spätere Tour galt der französischen Schweiz und namentlich der weltberühmten Erziehungsanstalt des großen Volkslehrers Pestalozzi in Yverdon. Zwei Tage brachte er dort zu, wohnte den Unterrichtsstunden bei, verkehrte mit dem lebhaftesten Antheile mit Lehrern und Schülern und wurde mächtig angeregt. Bis zum Tode beschäftigte ihn der Gedanke, auch in Polen Schulen und Lehrerseminarien im Geiste des großen Pädagogen von Yverdon zu begründen.

[14] Kurz vor seinem Tode sollten noch zwei Begegnungen, wie ein Gruß aus der fernen Heimath, einen belebenden Lichtstrahl in sein stilles Dasein senden. – In einem der Nonnenklöster von Solothurn lebte auch eine Polin, die in Folge der politischen Ereignisse ihre Heimath verlassen und in diesen Mauern eine Zufluchtsstätte gefunden hatte. Sobald der General davon vernommen hatte, besuchte er sie in strengem Incognito und unterhielt sich freundlich mit ihr in der Muttersprache. Plötzlich aber erglühte die Nonne, wie aus einem Traume erwacht, und ehrfurchtsvoll ein paar Schritte zurücktretend, rief sie aus: „Sie sind Kosciuszko! Ich habe als Mädchen in Polen Ihr Bild als Medaille an der Brust fast aller Damen gesehen und es kann kein zweites Gesicht auf Erden geben, in dessen Zügen sich so viel Hohes und Edles vereinigt, als das des großen Naczelnik.“

Die zweite Begegnung war der Besuch, den die edle Fürstin Lubomirska, eine der ersten Frauen Polens, ihm auf der Durchreise nach Italien im Zeltner’schen Hause abstattete und der auf seinen Wunsch einige Wochen verlängert wurde. Ihre feine Unterhaltungsgabe, ihre Liebenswürdigkeit und ihr heiterer Sinn beglückten noch seine letzten Lebenstage. Denn Kosciuszko war schon damals leidend und ahnte, gleich den Sehern des Alterthums, sein herannahendes Ende. Beim Abschiede, welcher sehr bewegt war, versprach ihm die Fürstin, im künftigen Frühling den Besuch zu wiederholen. Kosciuszko schüttelte aber wehmüthig das Haupt und bat sich von ihr ein Unterpfand der Erinnerung aus. Die Fürstin schickte ihm bald darauf von Lausanne aus einen goldenen Fingerring mit der Inschrift: L'amitié à la vertu. (Die Freundschaft der Tugend.) Als aber der Reif in Solothurn ankam, war die Hand, welche er schmücken sollte, im Todeskampfe erstarrt! –

Im Vorgefühle, daß sein Leben zur Neige gehen werde, hatte er auch wohl jene großartige Handlung begangen, die ganz Europa mit Bewunderung erfüllte und seinen humanen aufgeklärten Sinn in so schönem Lichte zeigte: die Freigebung seiner Unterthanen auf seinem Rittergute Siechnowice. Die denkwürdige Urkunde, die am 2. April 1817 ausgestellt wurde, erklärte die Landleute des von seiner obengenannten Herrschaft abhängigen Dorfes zu freien Staatsbürgern, zu Eigenthümern des von ihnen besessenen Grund und Bodens, frei von allen Abgaben, Gefällen und Frohndiensten an die Eigenthümer des Gutes. – Gleichzeitig ernannte er seine Nichte, Katharina Estkowa, und deren Kinder zu Eigenthümern dieser seiner Besitzung. –

Im Herbste desselben Jahres, herrschte zu Solothurn eine bösartige Typhusepidemie, die wahrscheinlich mit dem Nothstande jenes Jahres im Zusammenhang stand. Die Seuche sollte auch für den edlen Grafen verhängnisvoll werden: am ersten October wurde er von den Vorboten der Krankheit befallen. Mit der ihm eigenen Ruhe ordnete er sogleich seinen letzten Willen an. Den Haupttheil seines nicht unbeträchtlichen Vermögens, hinterließ er der Familie Zeltner und bedachte namentlich seine theuere Emilie auf’s Väterlichste. Die Armen, sowie das Waisenhaus und verschiedene andere Wohlthätigkeitsanstalten wurden reichlich ausgestattet und überdies seinem biedern Freunde und Anwälte Amiet eine beträchtliche Summe in Baar übergeben, um sie unter verschämte Arme zu vertheilen. Ausdrücklich verfügte er, daß bei seiner Beerdigung alles Gepränge vermieden werde; dagegen sollte der Sarg von sechs Armen zu Grabe getragen werden. – Nachdem Kosciuszko diese Anordnungen getroffen hatte, legte er erleichtert die Feder weg und rief aus: „Nun ist mir wohl.“ Die Ueberzeugung seines nahen Todes stand aber bei ihm fest, obgleich die Erscheinungen der Krankheit nicht bedrohlich waren und sein Geist bis zum Tode ungetrübt blieb. Ruhig unterhielt er sich mit Freund Zeltner, der kaum von seiner Seite wich, über seine Vergangenheit und über die Zukunft Polens, eine Frage, die ihn bis zum letzten Athemzuge beschäftigte.

Feierlich und ergreifend war der Augenblick, als Kosciuszko von seinem Freunde und dessen Familie Abschied nahm. Alle knieten an dem Bette des theuren Kranken nieder, Jedem ertheilte er seinen Segen, für Jeden hatte er ein Wort der Liebe. Dann ließ er sich nach alter Sitte seinen Säbel reichen, schaute ihn ein paar Augenblicke wehmüthig an und legte ihn dann an seine Seite, als wollte er ihm die Wache über seine Asche anvertrauen. – Am 15. October gegen Abend nahmen seine Kräfte rasch ab und Allen drängte sich die Ueberzeugung auf, daß es mit seinem Leben zur Neige gehe. Auf einmal richtete er sich, mit Anstrengung aller Kräfte auf seinem Lager auf, reichte Herr und Frau Zeltner seine Hände, grüßte mit sanftem Lächeln seine Emilie[2] – und sank mit einem Seufzer todt in die Kissen zurück. –

Die Leiche wurde am folgenden Tage obducirt und dann einbalsamiert. Sie war über und über mit den Spuren alter Wunden bedeckt; mehrere tiefe Narben schmückten seine Brust und auf seinem Kopfe kreuzten sich mehrere Hiebe. Beim Entkleiden der Leiche fand man auf seiner Brust ein weißes Taschentuch, das er seit seiner Jugend immer dort getragen hatte und dessen Bedeutung nur Wenige kannten. Es war das letzte Liebespfand von Louise Sosnowska, der Tochter des Marschalls von Lithauen, das er seit vierzig Jahren als theure Reliquie seiner reinen und einzigen Liebe auf dem Herzen trug. Vierzig Jahre früher, als der berühmte Todte noch ein unbekannter Capitän war, hatte er um die Hand der jungen Dame angehalten. Die stolzen Eltern hatten den unbegüterten Edelmann hart abgewiesen. Eine Entführung war die Folge dieses Bescheides, und schon waren die beiden Liebenden unter dem Schutze der Nacht entflohen und dem Ziele ihrer Wünsche nahe, als bewaffnete Verfolger sie erreichten. Kosciuszko vertheidigte sich wie ein Löwe, wurde aber überwältigt und sank schwerverwundet zusammen. Als er aus seiner Betäubung erwachte, war Alles, was er von seiner Geliebten fand, ein Taschentuch, das sie fallen gelassen und das mit seinem Blute befleckt war. Er hob es auf; es war dasselbe Taschentuch, das man nach seinem Tode vorfand. Um dieser unglücklichen Liebe willen verließ der junge Officier den polnischen Dienst und widmete seinen Degen der Befreiung Amerikas. In der Erinnerung an diese Liebe mied er auch später jede Gelegenheit einer ehelichen Verbindung. – Fräulein Sosnowska wurde später die Gattin eines hochgestellten Polen, allein auch sie bewahrte in treuester Freundschaft die Erinnerung an ihren geliebten Thaddäus.

Das Leichenbegängniß des Helden war einfach, ohne alles militärische Gepränge, aber erschütternd durch die allgemeine Trauer, durch die Schaaren derer, denen er Vater gewesen und die nun wehklagend dem Sarge folgten. Sechs arme Greise trugen den Sarg. Voran schritten Waisenkinder mit Trauerschärpen, Blumen in den Händen tragend. Der Sarg war unbedeckt, damit ganz Solothurn noch einmal die theuern Züge des edeln Freundes sehen könnte. Jünglinge schritten an der Seite und trugen des Todten Schwert, Hut, Feldherrnstab, den amerikanischen Cincinnatusorden und Lorbeer- und Eichenkränze auf schwarzsammtnen Kissen. In der Jesuitenkirche von Solothurn wurde die Leiche, nachdem der feierliche Gottesdienst zu Ende war, in einen bleiernen Sarg gelegt, dieser mit dem obrigkeitlichen Siegel versehen, in einen zweiten Sarg von Eichenholz geschlossen und in dem Grabgewölbe der Kirche beigesetzt.

Groß war in Polen der Schmerz bei der Kunde vom Tode des großen Bürgers! Unerträglich schien der Gedanke, daß der große Vaterlandsvertheidiger in fremder Erde ruhen sollte. Im Namen des polnischen Volkes wurde Kaiser Alexander angegangen, zu gestatten, daß die Leiche des enthusiastisch verehrten Feldherrn dem heimathlichen Boden zurückerstattet werde. Dieser Fürst, der bei wiederholten Anlässen seine Hochachtung und Sympathie für Kosciuszko bezeugt hat, genehmigte das Gesuch auf das Bereitwilligste. Die Regierung von Solothurn ehrte die Ansprüche Polens, und so wurde denn die Leiche wieder aus ihrer Gruft gehoben und feierlich, unter Begleitung des Fürsten Jablonowski, Kaiser Alexanders Kammerherrn, nach Polen gebracht. Sein Herz aber war bei der Einbalsamirung in eine metallene Kapsel gebracht und auf dem Kirchhofe von Zuchwil beigesetzt worden. „Das Herz des polnischen Feldherrn hat für die ganze Welt geschlagen, möge es denn auch hier der Verehrung der ganzen Menschheit zugänglich sein!“ Herr Altlandvogt Zeltner, der diese Anordnungen getroffen, hatte mit diesen Worten die Auslieferung dieser Reliquie an Polen verweigert. –

Und so sind wir wieder auf dem Punkte angelangt, von welchem diese Erinnerungen an den großen Polen ausgingen, auf dem Friedhof von Zuchwil, vor dem einfachen Denksteine aus Jurakalk, bei dem schon so manche Thräne geflossen, so manches wehmüthige Erinnerungsfest gefeiert worden, zu dem Hunderte und Hunderte von gebeugten polnischen Flüchtlingen gepilgert sind. [15] Und hier möge auch dieser kurze Bericht abbrechen. Die Todesfeierlichkeiten, die in fast allen Residenzen bei der Nachricht vom Tode Kosciuszko’s begangen wurden, die Reden und Gedichte, mit denen ihn alle gebildeten Nationen verherrlichten, die Monumente, die ihm zu Krakau und Westpoint in Nordamerika errichtet wurden – sie galten dem Helden und dem glühenden Patrioten, während dieser kurze Abriß aus seinem Leben den Dulder Kosciuszko, den edeln aufopfernden Freund, den Vater der Armen und sein kindlich reines Herz in Erinnerung bringen sollte.

Möchte es diesen Zeilen gelungen sein, für unsern Helden, dessen Name als Feldherr und Patriot unsterblich sein wird, auch dieses rein menschliche Interesse zu wecken. R. O. Ziegler.     


Blätter und Blüthen.

Eine Jubiläumsscene. In Nr. 13 des vorigen Jahrgangs führte die Gartenlaube mit Hinweisung auf das seltene Ehrenfest, welches der allgemein gefeierte Böckh am 15. März d. J. begehen durfte, ein Bild der Persönlichkeit dieses Mannes, besonders nach der Seite seiner Bürgertugenden hin, ihren Lesern vor. Inzwischen ist der würdige Greis aus unausgesetzter, von den weittragendsten Erfolgen gekrönter Tätigkeit durch einen sanften Tod gerissen worden. Noch werden denen die Augen feucht, die ihm nahe gestanden, wenn sie des Heimgegangenen gedenken, und manches stille Opfer der Pietät wird ihm in den weitesten Kreisen durch ehrendes Andenken in warmem Herzschlage dargebracht. Da tritt denn gerade jetzt mancher Vorfall aus dem reichen Leben des Mannes aus dem Dunkel der Vergangenheit mit plastischer Lebensfrische wieder vor die Seele. So erinnert sich Referent mit besonderem Vergnügen folgender Episode.

Allgemeine Verehrung hatte den bescheidenen Gelehrten genöthigt, am 15. März 1857, an welchem Tage Böckh fünfzig Jahre im Besitze des Doctordiploms war, aus seiner Zurückgezogenheit herauszutreten und sich die üblichen, ihm mit besonderer Freudigkeit und aufrichtiger Hingebung dargebrachten Huldigungen gefallen zu lassen. Da durfte denn auch ein kleiner Kreis seiner unmittelbaren Schüler es sich nicht nehmen lassen, mit der schüchternen Gabe einer wissenschaftlichen Abhandlung und wohlgesetzten Rede sich dem theuern Lehrer zu nahen. Es war zehn Uhr Morgens, als die Deputation, zu der auch Referent gehörte, das wohlbekannte Haus in der Linksstraße, das Böckh bis zu seinem Tode bewohnt hat, mit untadelhafter weißer Cravatte und einem vor Stolz und Spannung an die Jünglingsbrust pochenden Herzen betrat. Wir wurden in das Empfangszimmer geführt, wo wir bereits eine kleine Schaar von Festgenossen in malerischer Gruppirung versammelt fanden. Mit liebenswürdiger Herzlichkeit kam uns der Jubilar entgegen, und während der Sprecher seine wohlmemorirte Rede vortrug, konnte ein feinerer Beobachter auf Böckh’s heute ungewöhnlich ernsten Zügen das ihm so wohl anstehende schalkhafte Lächeln mehrmals auftauchen und wieder verschwinden sehen. Sicher hatte er erwartet, an einem Tage, wo er der officiellen Reden gar viele zu hören und zu beantworten hatte, von dem mit ihm in täglichem Verkehre stehenden engeren Schülerkreise weniger pomphaft und langathmig begrüßt zu werden. Doch unsern guten Willen anerkennend, entgegnete er uns zwar kurz, aber in äußerst freundlichen und mit attischem Salz stark gewürzten Worten, ließ uns indeß auch heraushören, daß es ihm Bedürfniß sei, aus dem Rahmen des officiellen Ceremoniells, in welches sein Wesen heute widerwillig hineingezwängt war, wo es anging, herauszuschlüpfen. Darum erklärte er uns auch mit liebenswürdiger Offenheit, daß er Lust habe, vor dem Erscheinen anderer Deputationen sich in sein Studirzimmer zurückzuziehen, um in der stillen Verborgenheit desselben der heute verpönten, aber von ihm leidenschaftlich verehrten Cigarre einige Augenblicke traulichen Beisammenseins zu widmen. Sprach’s und verschwand in dem angrenzenden Heiligthum, durch dessen halboffene Thür wir, während uns Erfrischungen gereicht wurden, den Jubilar nach einem halb angerauchten, in einer Guttaperchaspitze steckenden Glimmstengel greifen und sich bald mit sichtbarem Behagen in duftenden Rauch einhüllen sehen konnten, dessen blaue Ringe schnell die letzte Spur officiellen Ernstes von seiner Stirn zu jagen schienen.

Doch o weh! schon nach wenigen Augenblicken kündete wieder officielles Klingeln neue Gratulanten an. Kaum hatte der Jubilar das Corpus delicti bei Seite und sein Gesicht in die nöthigen feierlichen Falten gelegt, als ein freundliches Männchen mit pergamantnem, aber geistreichem Antlitz in’s Zimmer sprang und dem überraschten Jubelgreis um den Hals fiel. Das war keine wohldurchdachte, auf Stelzfüßen daherschreitende Rede, was da von den beweglichen Lippen des seltsamen Gratulanten floß, was er jedoch sprach, das quoll aus einem warmen, bewegten Herzen und drang mit unwiderstehlicher Gewalt in die Seele. Das mußte eine leidenschaftlich glühende Natur sein und gerade in diesem Augenblicke mußte der reiche Zündstoff im Innern derselben zu lichtheller Flamme auflodern. Und wer war der Mann mit dem Feuer des Jünglings und dem Antlitz des Greises? Wir erfuhren’s sogleich. Denn jetzt trat Böckh an des Fremden Hand zu uns und sprach mit Nachdruck:

„Meine Herren, Ihnen, meinen jüngsten Schülern, kann ich nicht umhin, meinen ältesten Schüler vorzustellen; es ist der Herr Generaldirector Beer.“ Fast schien es, als wollte der Sprecher unsern ungeübten Blick erst durch den Schleier der Ahnung oder des Zweifels auf die vor uns stehende große Persönlichkeit lenken, da er uns dieselbe nicht mit der landläufigen Bezeichnung „Generalmusikdirector Meyerbeer“ vorführte. Nach einer kurzen Pause, in der er sich an unserm Staunen geweidet, fuhr er fort: „Ja, diesem waren meine ersten tappenden Lehrversuche gewidmet, als ich als junger Fant nach Absolvirung meiner Studien nach Berlin kam. Ich unterrichtete ihn im Hause seiner Mutter im Griechischen.“

„Richtig,“ fiel Meyerbeer ein, „aber ich gestehe erröthend, daß dieser gefeierte Lehrer mit seinem ersten Schüler keine besondere Ehre eingelegt hat. Die Wissenschaft, die von seinem beredten Munde floß, fand bei mir nicht den fruchtbarsten Boden.“

„Weil derselbe auf andere Weise cultivirt wurde,“ fiel scherzend Böckh ein, „denn allerdings wurde mir oft, wenn ich zu ihm ging, des Hauses Pforte mit dem Donnerworte aufgethan: ,Den Du suchest, der sitzt auf seiner Clause und componirt,‘ was für mich immer ein Signal war, mich zurückzuziehen.“

„Ja,“ sagte Meyerbeer, „das war damals schon meine Passion.“

Noch flogen die Scherze anmuthig von Mund zu Mund, als die Ankunft neuer Deputationen der reizenden Scene ein Ende machte. Uns aber hatte dieselbe ein neues Blatt aus dem vielbewegten Leben des greisen Gelehrten geöffnet und mancherlei hochwogende Gedanken in unserer Seele angeregt. Zwei hochgefeierte Männer hatten noch vor der Pforte ihres Ruhmes stehend engere Beziehungen zu einander gefunden und dieselben in einem vielbewegten Leben zu dem unzerreißbaren Bande der Achtung und Freundschaft ausgebildet, auf welches sie jetzt an ihrem Lebensabend mit freudiger Genugthuung hinblicken durften. Hatten wohl zufällige, äußerliche Beziehungen in diesen beiden Männern die natürlichen Gegensätze von Christenthum und Judenthum, von süddeutschem und norddeutschem Wesen, von strenger, zersetzender Wissenschaft und frei schaffender Kunst nicht allein auszugleichen, sondern zu wahrer Harmonie der Seele umzugestalten vermocht? Nein, innere geistige Factoren mußten thätig gewesen sein, um dieses wunderbare Zusammenklingen zweier so verschieden geformter Naturen zu bewirken. Beide Männer, jeder ein Stern erster Größe in einem der beiden Fächer, in denen der deutsche Geist anerkanntermaßen andere Nationen überragt, waren eben deutsche Männer. In ihnen lebte echt deutsche Gesinnung mit dem ganzen Reichthum ihres ernsten Strebens und ihrer sinnigen Gemüthstiefe. Deutsches Wesen schienen Beide gerade dadurch, daß sie zum Gegenstand ihres Denkens und Schaffens das Ausland machten, zu bewußter Klarheit in sich entfaltet zu haben. Deutsches Wesen also war es, in dem sich der hellenisirende süddeutsche Gelehrte mit dem italienisirenden und französirenden norddeutschen Künstler zusammengefunden hatte. Hätte unser verschleiertes Auge damals ein noch verdecktes Blatt der Geschichte aufheben und über zehn wechselvolle Jahre hinwegschweifend die Morgenröthe deutscher Einheit, die von beiden Männern nur der eine erlebt hat, schauen dürfen, dann würde die eben geschilderte Scene eine noch viel höhere Weihe für das entzückte Seherauge gewonnen haben.
Dr. F.     

Kleinstes Wildpret in der Schweiz. In einem Lande, wie die Schweiz, wo schon die Formation des Bodens und die landwirthschaftlichen Verhältnisse dem Wildstande ungünstig sind und zudem die Waidlust eine sehr verbreitete ist – fast jeder Schweizer ist ja Schütze – kann von großem Wildreichthume keine Rede sein. Wenn wir die Hochjagd ausnehmen, mit der sich fast nur die berufsmäßigen Gemsjäger im Hochgebirge befassen, wird dem schweizerischen Nimrod wenig geboten, und die Zeit dürfte nicht mehr so fern sein, wo der Hase ebenso spurlos verschwindet, wie der Steinbock auf unsern Alpen ausgerottet ist. Ein Wildpret aber, freilich der kleinsten Art, ist in der Schweiz noch im Ueberfluß vorhanden, wird im Herbste in Kesseljagden erbeutet, in Wildgärten gezogen und bildet selbst einen ziemlich schwunghaften Exportartikel: die Weinbergschnecke.

Dieses kleine Schalthier war schon den Römern als feiner Leckerbissen bekannt und wurde von ihnen so geschätzt, daß sie eigene Mastanstalten für dasselbe errichteten. Der große Eiweißgehalt dieser Schneckenart macht sie zu einem sehr nahrhaften Gerichte, und in früheren Zeiten wurde die sogenannte „Schneckenbrühe“ bei allen möglichen Schwächezuständen, namentlich in der Schwindsucht, viel von den Aerzten verordnet. Als eigentliches Nahrungsmittel wird dagegen dies Thier nur in katholischen Ländern an Fasttagen verspeist. Der katholische Ritus, der in dieser Beziehung weniger streng ist, als der griechische, erlaubt nämlich an den Fasttagen den Genuß des Fleisches der kaltblütigen Thiere, der Fische, Frösche und Schnecken, und auch dasjenige der Fischotter, weil sie sich selbst ausschließlich von kaltblütigen Thieren ernährt (!).

Da nun zu den alle Wochen wiederkehrenden Fasttagen (Freitag und Samstag) im Winter, namentlich vom Sonntag Oculi bis Ostern, noch viele außerordentliche Tage des Fleischverbotes kommen, so hat die Weinbergschnecke in solchen Ländern eine hohe religiös-culinarische Bedeutung, ganz besonders aber in den Klöstern, wo der Sinn für die Freuden der Tafel von jeher sehr ausgebildet war. Namentlich sind es die Väter Capuziner, welche die Jagd, Zucht und Zubereitung der Schnecken zu ihrer Specialität machen. Gleich den Austern werden die Schnecken nur in den Monaten mit R verspeist. Das Einsammeln geschieht im Herbst und das eigentliche Jagdterrain sind die Gebirge von zwei- bis viertausend Fuß Höhe. Das Kloster sendet im August und September täglich einige Laienbrüder mit Quersäcken aus, die als Oberjägermeister den Fang leiten und als Treiber die liebe Schuljugend aus den Gebirgsdörfern requiriren. Vorzüglich geeignete Jagdtage sind solche nach warmem Regen, der die Thiere aus ihren Schlupfwinkeln herauslockt. Für die liebe Schuljugend sind solche Gebirgstouren Festtage; wie viel angenehmer dies Waidwerk, als das Einmaleins in der dumpfigen Schulstube, der kleinen Geschenke gar nicht zu gedenken, die ihnen die frommen Väter jedesmal zurücklassen. So ist denn jedesmal ein großes Halloh in den Dorfschulen, wenn der Schnecken-Heerbann erlassen wird, und der Auszug des lärmenden jungen Volkes mit [16] Körben und Stöcken, die bärtigen Mönche im Nachtrab, die schöne Herbstbeleuchtung über die Gebirgslandschaften ausgegossen, wären ein prächtiges Motiv für einen Genremaler. Die Thiere werden so täglich zu Tausenden gesammelt, und schwerbeladen kehren die frommen Väter Abends in’s Kloster zurück und liefern ihren Schatz dem „Schneckengarten“ ab, wo die Thiere gemästet werden. Es ist dies ein großes Gartenbeet, welches mit etwa vier Fuß hohen Brettern eingefriedet ist; an der innern Seite der Bretter ist nebstdem eine kleine Mauer von Sägespähnen errichtet, damit die Thiere nicht herauskriechen können. In diesem Gelaß nun liegen die Schnecken zu Tausenden übereinander und werden täglich mehrere Male gefüttert.

Unglaublich ist die Gefräßigkeit, die in diesen Wildgehegen herrscht; die größten Körbe voll Salat und Kohl sind im Nu verschwunden, und so klein auch die Kinnladen der Thierchen sind – die Schnelligkeit, mit der sie in Thätigkeit versetzt werden, und die große Zahl der Fresser verursachen ein Geräusch, das man schon auf einige Schritte Entfernung hört und welches Ähnlichkeit mit dem Knabbern der Kaninchen hat. Sobald die ersten Fröste vor der Thür stehen, deckeln sich die Schnecken ein, d. h. sie verschließen ihr Gehäuse mit einer Klappe von kohlensaurem Kalk, hinter welcher sie in der klösterlichen Stille den Winterschlaf des Gerechten begehen. Damit ist denn auch der Augenblick gekommen, wo die Schnecken aus dem Paradiese der Schneckengärten verstoßen und in die Keller gebracht werden, in welchen sie, gleich den Cocons, auf Hürden ausgebreitet und zum Verspeisen je nach Bedarf heraufgeholt werden. Die Zubereitung ist sehr complicirt und jedes Kloster hat seine eigenen Recepte und Kräutermischungen. Immerhin aber besteht die erste Operation darin, daß sie sammt dem Deckel bei lebendigem Leibe (zur Strafe für Fraß und Völlerei) gesotten werden, bei welchem Anlasse sie ein halb singendes, halb zischendes Geräusch von sich geben. Die Dichter lassen, trotz aller Einsprache der Naturwissenschaften, den Schwan mit Singen verenden – die Schnecke ist doch auch nicht von schlechten Eltern, singt aber umsonst: kein Poet hat sie noch verherrlicht!

Neben den Klöstern befassen sich auch noch einzelne Privaten mit dem Schneckenfang gewerbsmäßig und treiben mit diesen Thieren einen ziemlich bedeutenden Exporthandel, namentlich nach Italien, und wiederum sind die Klöster die Hauptabnehmer. Das interessante Thier macht oft recht große Reisen, bis nach Süditalien; da es aber nur im Stadium des Winterschlafes versendet werden kann, reist es so ziemlich wie die Mehrzahl britischer Touristen – ohne Nutzen und ohne Vergnügen. Dieser Exporthandel hat seinen Sitz namentlich in der Ostschweiz, den Cantonen St. Gallen, Graubünden und Glarus. Die Thiere werden in starken Fässern mit festen eisernen Reifen versandt, was seinen guten Grund hat. Wenn sie nämlich über die Alpenpässe hinüber und in das Land gelangt sind, wo „ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht“, so entstehen in den Herzen der Gefangenen Frühlingsahnungen; geht die Reise langsam, bleiben sie längere Zeit in südlichen Lagerhäusern liegen, so sprengen sie ihre Deckel und der Freiheitsdrang erwacht. Wohl ist eine einzelne Schnecke schwach, aber Eintracht macht bekanntlich stark, und so ist es denn, namentlich in den voreisenbahnlichen Zeiten, nicht selten vorgekommen, daß feste Fässer von den aufrührerischen Burschen gesprengt wurden und eine Völkerwanderung von „Sclaven, die die Kette gebrochen“, sich über die italienischen Lande ergoß.

Zum Schlusse noch eine culturhistorische Bemerkung: Die Schweiz ist eines der religiös-tolerantesten Länder und von dem Geiste, der einst die Religionskriege hervorgerufen, sind keine Spuren mehr vorhanden. Aber Eines ist positiv: die Protestanten essen keine Schnecken und bekennen einen ausgesprochenen Widerwillen gegen den Genuß dieses „unreinen Thieres“!
R. O.     

Aus Offenbach’s Familienleben. Jacques Offenbach, der Componist so vieler übersprudelnd lustiger, ja übermüthig-sinnlicher Operetten, wie „Orpheus in der Unterwelt“, „die schöne Helena“ und noch vieler anderer, durch deren Ertrag er jetzt zum reichen Mann geworden ist, hat ein vielbewegtes Leben gehabt und lange mit Noth und Entbehrungen gekämpft. Schon mit sieben Jahren kam er aus seiner Vaterstadt Köln nach Paris, wo er hauptsächlich unter Halévy’s Leitung Musik studirte und das Pariser Leben von allen Seiten kennen lernte. Denn dazu hatte der junge Künstler, der in den vornehmen Cirkeln Concerte gab und als Virtuos glänzte, während er daheim in seiner kleinen, einsamen Kammer die härtesten Entbehrungen trug, reichliche Gelegenheit; zu Hause erging er sich in philosophischen Reflexionen, während ihn die ewig wirbelnde Umgebung des Theaters und der Künstlerkreise in den Strudel des Lebens hineinrissen.

Die Sehnsucht nach dem Familienleben führte ihn zu einer frühen Ehe, zu der Verbindung mit einem schönen, guten und geistvollen Mädchen spanischer Herkunft, welches damals in Marseille wohnte. Dieser Schritt war ein Glück für Offenbach, er hatte ihn nie zu bereuen. Er gab ihm Halt im Leben, eine Stütze in der Noth, die Charakterfestigkeit und heiterschöne Laune in das Haus, den theilnahmsvollsten Freund in jeder schwierigen Lage, den schönsten Lohn eines schaffenden Mannes: die verklärende Freude des Weibes über die Triumphe ihres Gatten. Offenbach ist ein trefflicher Familienvater, der seine fünf Kinder mit der tiefsten Liebe umfängt und sein schönstes Glück in ihrem Kreise findet. Den Sinn für das Familienleben, den schönen Zug des Juden, hat er sich trotz des vor seiner Heirath ausgeführten Uebertritts zum Christenthume bewahrt, so daß Niemand den Offenbach des Theaters in dem Hausvater Offenbach vermuthen würde.

Wie lange hatte er schwer zu kämpfen und wie arm war er einst! 1848 mußte er mit Weib und Kind Paris verlassen, da sich dort Niemand um Musik kümmerte und er in der Aufregung, welche daselbst herrschte, keine Ruhe und Muße zum Arbeiten fand. So reiste er denn auf’s Ungewisse mit den Seinen nach Köln; unterwegs im Waggon überreichte ihm plötzlich seine Frau, die liebevolle und muthige Herminie, eine volle Börse und sagte ruhig: „Hier ist Geld, Jacques, das ich mir erspart habe; nimm es zu Dir, damit ich es nicht verliere!“

Das Geld reichte freilich nicht lange aus, während die Tage anscheinend ohne Ende dahin flossen. Da erhielt Offenbach eine Einladung in Frankfurt zu concertiren, aber als er dort ankam, war Frankfurt in Aufregung und keine Möglichkeit, ein Concert zu geben. Nun fuhr der arme Künstler mit einem verzweifelten Entschlusse nach Homburg, versuchte sein Glück an der Spielbank, setzte seinen letzten Louisd’or und gewann eine für seine damaligen Verhältnisse bedeutende Summe, mit welcher er freudig nach Köln zurückkehrte.

Als Offenbach noch nicht verheirathet war, rettete ihn auch einmal der glückliche Zufall vor dem Hunger. Er hatte als Künstler in Paris viele bekannte Familien, in denen er ohne Umstände um sechs Uhr zur Essensstunde erscheinen und sich einladen konnte. In ein solches Haus nun zum Diner zu gehen, entschloß er sich eines schönen Tages, als er die Entdeckung machte, daß seine Casse bis auf drei Francs zusammengeschmolzen war. Er trat in den Salon und fand den Herrn und die Dame im Begriff auszugehen, denn sie waren anderswo eingeladen. Man bedauerte und lud Offenbach für jeden anderen beliebigen Tag ein. Der arme Teufel zwang sich zu der größten Liebenswürdigkeit und schlug den Weg nach einem anderen bekannten Hause ein; allein diese Familie wohnte etwas entfernt, und als Offenbach ankam, war das Diner zu Ende. Er mußte eine Stunde plaudern und ging dann, er wußte selbst nicht wohin. Ganz niedergeschmettert und von Hunger gequält, schritt er in der Passage de Panorama hin und her, da trat ein Herr auf ihn zu und sprach:

„Es freut mich, daß ich Sie treffe! Ihr Bruder war so freundlich, mir vor einiger Zeit in Bordeaux einen Louisd’or zu leihen; da ich nur kurze Zeit in Paris bleibe und nicht weiß, ob ich ihn treffe, so würde ich Sie bitten, das Geld in Empfang zu nehmen.“

Natürlich nahm er es mit Vergnügen und eilte zum nächsten Restaurant, um zu essen. Heute erzählt Offenbach diese Anekdoten lächelnd, denn jetzt kann er eben lächeln. Sein gastfreies Haus – er wohnt in der Rue Lafitte, unweit Rothschild – ist jeden Freitag Abend allen Bekannten geöffnet und zum Diner findet sich auch jede Woche einmal ein Kreis von Bekannten ein. Offenbach’s Salon hat viel Anregendes, ist dabei aber streng bürgerlich; das Theater ist nie darin vertreten, da Herminie Offenbach ihrer Töchter wegen diese Schranke mit Entschiedenheit aufrecht hielt.

Sonntags ist Familiendiner, denn die Familie der Hausfrau ist groß genug, um den Speisesaal und Salon zu füllen. Und welches Leben, wenn die lebhafte spanische Familie und die Kinder beisammen sind – man hört sein eigenes Wort nicht, was den Hausherrn aber nicht abhält, in seinem Zimmer ruhig fortzuarbeiten. Er kann componiren während des größten Lärmes, ja während sein jüngstes Kind, ein reizender blonder Knabe, auf dem Schreibtisch und eine kleine Tochter auf des Vaters Knieen sitzt.

So schafft er von Morgens sieben Uhr bis eilf, dann frühstückt er im Café Riche, welche Gelegenheit er dazu benutzt, um mit seinen Dichtern die Sujets zu besprechen, Aenderungen der Verse und Scenen anzuordnen, mit Verlegern, Theaterdirectoren und Sängern zu unterhandeln, mit Redacteuren und Kritikern zu plaudern und den Lebensbedarf an Pariser Neuigkeiten einzunehmen. Dann geht er zu einer Probe in’s Theater, arbeitet vor dem Diner wieder einige Stunden, besucht die Theater, wo man seine Stücke aufführt, und Nachts arbeitet er, wenn es nothwendig ist, wieder.

In dieser Weise ist Offenbach’s Haus in Paris und seine reizende Villa Orphée am Meeresstrande in Etretat der anstrengendsten Arbeit und dem häuslichen Glücke gewidmet; hier herrschen nur die guten Genien, nicht die tollen, lustigen Kobolde, welche in seinen Stücken hausen.



 An ***
Du lebst und wenn auch nicht für mich,
Ich weiß, Du bist; soll mir dies nicht genügen?
Trink’ ich der Rose Duft, die sich
Dem Tag’ erschließt, nicht auch in vollen Zügen?

5
Des Frühlings Morgensonnenstrahl,

Ist er nicht mein, weil er auch Andern scheinet?
Du bist mein Frühlingsmorgenstrahl,
Von dessen Glanz mein Aug’ geblendet weinet.
Wie ich ein Bild von Künstlerhand

10
Bewund’re ohne Wünschen und Verlangen,

So laß mein Herz nur unverwandt
An Deiner Seele Himmelsschönheit hangen. M. v. T.


Berichtigung. In einer Privatnotiz ist dem Verfasser des kleinen Phantasiegebildes „Das Donauweibchen in Prag“ (Nr. 49, 1867) die Berichtigung zugegangen, daß man damals in dem fürstlichen Palais die „Sonntagskinder“ in Scene setzte und das „Donauweibchen“ – obgleich diese Annahme ziemlich verbreitet – nicht Wenzel Müller zugeschrieben werden darf, sondern dem weniger bekannten Ferdinand Kauer. Die in der Skizze erzählten Einzelheiten dürften sich also auf die „Sonntagskinder“ oder eine andere Oper Müller’s beziehen. Der Verf.     



Inhalt: Der Schatz des Kurfürsten. Historische Erzählung von Levin Schücking. – Nach dem Maskenballe. Gedicht von Rud. Löwenstein. Mit Illustration. – Alte Städte und altes Bürgerthum. 1. Nürnberg im Norden. Von Moritz Busch. I. – Erinnerungen an Heinrich Heine. Von Heinrich Laube. I. – „Der alte Feldherr“ in Solothurn. Nach Mittheilungen eines Zeitgenossen. Von R. O. Ziegler. Mit Abbildung und Portrait. – Blätter und Blüthen: Eine Jubiläumsscene. – Kleinstes Wildpret in der Schweiz. – Aus Offenbach’s Familienleben. – An *** – Berichtigung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Auf Grundlage mündlicher Mittheilungen und mit Benutzung einer Aufzeichnung des Herrn F. W. Hagedorn in Minden. D. Verf.
  2. Die hier vielgenannte junge Dame ist die jetzt noch lebende Frau Gräfin Morosini in Mailand.