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Die Gartenlaube (1873)/Heft 34

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[543]

No. 34.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Schuster Lange.

Novelle von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)


„Ich fand eine Frau, der die schwarzen Trauerkleider von einfachen Schnitt gut ließen,“ erzählte Meister Lange weiter. Sie konnte einige Jahre älter sein, als ich, und war doch noch jung zu nennen. Ob sie mir damals auch hübsch erschien, weiß ich nicht. Ich glaube, sie hielt sich zu strenge gegen den jungen fremdanziehenden Gesellen, als daß ich’s hätte sogleich merken können. Sie war sehr bekümmert und sagte mir offen, daß ihr Geschäft schlecht gehe und die alten Kunden schon ausblieben, da sie schlechte Waare erhielten. Schon nach acht Tagen wußte sie, daß sie an mir einen geschickten Arbeiter und einen gewissenhaften Menschen gewonnen hatte, dem sie Vertrauen schenken konnte. Es war ihr lieb zu hören, daß ich eines Pfarrers Sohn sei, und sie meinte, so etwas hätte sie mir gleich angesehen, da ich nicht wäre, wie die Andern. Sie weihte mich nun näher in ihre Verhältnisse ein, und wir beriethen gemeinsam, wie zu helfen sei. Es gelang ihr, auf das Haus ein Darlehn aufzunehmen; ich machte damit für sie gute Ledereinkäufe. Meine Arbeit gefiel, und bald hatten wie so viel zu thun, daß noch ein zweiter Geselle und ein Lehrbursche Beschäftigung fanden.

Meine Cameraden in der Herberge hatten im Ganzen nichts Unwahres berichtet, und doch erschien mir Alles in anderem Lichte. Mir gefiel das alte Handwerkerhaus, an dem die Jahrhunderte vorübergegangen waren, ohne daran viel zu ändern. Es sah nicht so schmuck aus, wie jetzt; überall waren die Spuren des Verfalls nur zu deutlich sichtbar. Aber es war auch nichts hineinrenovirt, was nicht dazu paßte, und es lockte mich um so mehr, mir auszudenken, wie man es wieder wohnlich machen könnte, ohne doch an der überkommenen Einrichtung etwas zu stören. Das Handwerk selbst gewann mir hier aber auch eine andere Bedeutung. Es wurde gleichsam wieder seßhaft, ging nicht zur Miethe, wuchs mit dem Bürgerhause zusammen und beruhte auf etwas mehr, als auf der Arbeit von zwei Händen die mit dieser und dem Handwerkszeug umzugehen gelernt hatten. Wenn ich in die Thür eintrat, mußte ich immer zu der Figur des alten Werkmeisters aufsehen, der so bürgerlich stolz und selbstbewußt das Haus hütete, und die kernigen Sprüche, die in der Gesellenstube gegenüber den Arbeitstischen auf die Wand geschrieben waren, schienen mir mehr Weisheit zu enthalten, als große Bücher. Sie gehörten gerade an die Stelle hin und hatten gerade Bedeutung für Den, der dort saß und arbeitete. Die Menschen, die das Haus gebaut und eingerichtet hatten, hielten etwas auf sich. Nur ein schmaler Raum in der Stadt gehörte ihnen; den füllten sie aber auch ganz aus, den nannten sie mit Stolz ihr Eigenthum, den gründeten sie dem Handwerk, das ihnen Ehre und Ansehen in der Gemeinde gab. Ich hatte keinen Theil daran und fühlte mich hier doch etwas.

Die Meisterin hatte nur die Bildung eines Mädchens aus dem kleinen Handwerkerstande genossen, aber sie wollte auch gar nichts vorstellen, als eine brave Schustersfrau. Und doch war sie mehr, es lebte in ihr so etwas von der Würdigkeit des alten Handwerkerstandes fort, wie sie mir sonst nirgends so bewußt geworden war. Das Haus hatte ihren Eltern und Großeltern gehört, und sie war darin aufgewachsen, wie vor ein paar Hundert Jahren eine Erbtochter aufgewachsen sein konnte. Sie wußte wenig von der Welt, zeigte aber einen klugen Verstand bei Allem, was in ihren Wirkungskreis fiel, und hütete sich darüber hinaus urtheilen zu wollen, Sie hatte ihre eigenen festgewurzelten Begriffe von Wohlanständigkeit und wußte in jedem Augenblicke ganz genau, was ihr und was Anderen zukam. Es lag so in ihrem ganzen Wesen, daß man sich gegen sie nichts glaubte herausnehmen zu dürfen, und doch ging sie mit Jedem in ihrer gemessenen Art ganz frei um, als ob eine andere Form gar nicht möglich und jedes Vorkommniß schon vorher bedacht wäre. Sie arbeitete an den Werktagen mit der Magd um die Wette, aber sie blieb immer die Frau Meisterin, und wenn sie Sonntags aus der Kirche kam und sich in dem weißgescheuerten Putzzimmer auf das alte Sofa setzte, von dem jedes Stäubchen sorgsam fortgebürstet war, und ein Capitel in der Hausbibel las oder aus der Erbtasse mit dem breiten Goldrande ihren Kaffee schlürfte, wußte doch Jeder, daß sie sich als eine Bürgersfrau fühlte und als solche respektiert werden wollte. Wer über sie hinter ihrem Rücken zu lachen Lust hatte, fand dazu leicht Gelegenheit, ihr aber ein kränkendes Wort in’s Gesicht zu sagen, hätte auch der lüderlichste Mensch nicht den Muth gehabt.

Ich hatte anfangs beabsichtigt, nur kurze Zeit, längstens einen Monat, dort zu arbeiten und dann mit meinen Ersparnissen die Heimath aufzusuchen; aber es wurden vier oder fünf Monate daraus, und dann kam mir das Fortgehen schwer genug an. Die Meisterin bekannte, daß das Geschäft so gut gehe, wie seit einem Jahre nicht, und daß sie mir diesen günstigen Umschwung zu danken habe. Sie setzte mich mit vollem Vertrauen über Alles und folgte im Kleinsten meinem Rathe; unser Verhältniß wurde so freundschaftlich, wie es zwischen der Meisterin und ihrem Gesellen werden konnte, wenn Beide ihre Stellung nicht vergessen. Und das geschah nicht; wie ich zu ihr sprach und wie sie zu mir sprach, konnte darüber gar kein Zweifel sein.


[544] Wir hatten Gefallen aneinander, aber es schien stillschweigend abgemachte Sache, daß wir uns, auch wenn wir ganz unbeobachtet waren, nur bis auf einen bestimmten Punkt nahe treten dürften. Ich respectirte die Meisterin und auch die alleinstehende junge Wittwe, deren guten Ruf zu hüten die Pflicht der Hausgenossen war, aber ich gestehe auch, daß ich damals noch an dem Hochmuthe litt, keine Neigung aufkommen lassen zu dürfen, die mich gänzlich an meinen Berufsstand fesseln mußte, und sie hinwieder kam nicht von dem Gedanken los, daß ich zwar ihr gegenüber ein Geselle, aber doch eines Pfarrers Sohn sei und vornehme Verwandte habe, und daß mir noch irgendwo und wie ein großes Loos zufallen werde, an dem sie doch nur freundschaftlich theilnehmen könne. Diese Rücksichten, die uns schienen trennen zu müssen, trugen doch gerade mit dazu bei, uns zusammenzuhalten; wir merkten gar nicht, daß bei meinem längeren Aufenthalte eine Gefahr sei, und hätten uns gegen einander vielleicht nie ausgesprochen, wenn ich nicht endlich doch gegangen wäre.

Ich hatte ja meine Mutter, meine Schwestern – meines Vaters Grab besuchen wollen, und mein Heimathsdorf lag gar nicht mehr fern. Ich mußte mich der Lieblosigkeit anklagen, daß ich so lange zögerte. Und so stand’s denn eines Morgens bei mir fest, daß am Sonntag Abschied genommen werden müßte. Ich sagte es bescheiden, aber bestimmt der Meisterin bei Tisch und nannte meine Gründe, die wohl gut genug waren. Sie wurde ganz bleich vor Schreck und antwortete nur verwirrt, daß sie mich ja nicht halten könne und meinem Glück nicht im Wege sein wolle. Als ich sie Abends wiedersah, hatte sie verweinte Augen, und es schnitt mir in’s Herz, daß ich ihr Kummer machen müßte, aber es war einmal beschlossen, und ich schwieg. So auch die andern Tage bis Sonntag. Als sie aus der Kirche kam, gab sie mir den verdienten Lohn und einen Thaler darüber und sagte mir, daß ich nun entlassen sei; wenn ich sie aber Nachmittags noch zu Kaffee besuchen wolle, werde es ihr lieb sein. Es war das erste Mal, daß ich in der Putzstube am Sophatisch ihr gegenüber saß und aus einer der großen Tassen mit Goldrand trank und von dem Rosinenkuchen aß, den sie gebacken hatte. Ich glaube auch, so war noch kein abziehender Geselle honorirt worden, so lange das Haus stand. Sie erzählte von ihrem Großvater, der Aeltermann gewesen war, und von der polnischen Prinzessin, der jener kleine Schuh gepaßt hätte, und wie früher doch ganz andere Zeiten gewesen sein müßten und ganz andere Menschen. Zuletzt gab sie mir eine silberne Medaille zum Andenken, die einer ihrer Vorfahren einmal aus Amsterdam mitgebracht hatte, und ich schüttelte ihr gerührt die Hand zum Abschiede und sagte ihr, daß ich mein Lebtage nicht vergessen werde, wie wohl es mir in ihrem Hause geworden.

Als ich auf die Straße trat, war mir’s, als ob die Figur über der Thür mit der Hand drohte, und die Drachen oben die langen Hälse vorstreckten. Ich drückte den Hut über die nassen Augen und eilte fort. –

Meine Mutter fand ich in dem kleinen Pfarrwittwenhause. Drei von ihren Töchtern hatte sie bei sich, die vierte war auf einem Gute als Wirthschafterin eingetreten; geheirathet hatte keine. Es war ein trauriges Wiedersehen, viel trauriger, als ich mir’s gedacht hatte, und als wir zusammen an des Vaters Grabe standen, auf dem nur ein schlechtes Kreuz errichtet war, und meine Mutter mit bitterem Vorwurf sagte: ‚Die Todten sind bald vergessen!‘ da mußte ich laut aufschluchzen und mich selbst anklagen, daß ich so spät erst an die Heimkehr gedacht hatte.

Meiner armen Mutter ging es schlecht. Sie hatte zwar freie Wohnung und einen Morgen Gartenland, aber sonst nur das, was ihr die Wohlthätigkeit des neuen Pfarrers oder der Bauern zuwenden wollte. Die Schwestern machten Handarbeit für Fremde und verdienten wenig. Oft wußten sie am Abend nicht, wie sie den nächsten Tag beleben sollten. ‚Warum hast Du Dich aber nicht an Deine Söhne gewendet?‘ fragte ich die alte vergrämte Frau. ‚An meine Söhne –‘ seufzte sie; ‚habe ich denn Söhne? Sie brauchen so viel für sich – für die Mutter bleibt nichts übrig.‘

Ich wollte es nicht glauben, aber sie wies mir Briefe vor. Der Landwirt hatte sich Jahre lang als Inspector gequält, dann eine kleine Pachtung übernommen und dieselbe wegen Mangels an Mitteln wieder aufgeben müssen, um von Neuem in Dienst zu treten. Der Officier vertröstete auf die Zeit, wenn er Hauptmann erster Classe sein würde. Des Rectors Familie hatte sich sehr schnell vermehrt, und seine Frau kränkelte fortwährend. Der Regierungsassessor war mit einer Dame von Adel verheirathet, deren Vermögen noch nicht flüssig, mußte großen Aufwand machen, um auf schnelle Beförderung rechnen zu dürfen, und erklärte, sich vorläufig und wahrscheinlich noch für längere Zeit hinaus keine neue Last auflegen zu können. Mein jüngerer Bruder endlich befand sich auf einem Lehrerseminar; von ihm war nichts zu erwarten. Die Schwestern begleiteten diese Briefe mit Bemerkungen, die für die Betheiligten nicht schmeichelhaft waren; ich ersah daraus, wie man einander in dem Pfarrwittwenhause mehr und mehr erbittert hatte, und meine eigenen Erfahrungen waren so traurig, daß ich schon genug Milde zu üben glaubte, wenn ich sie verschwieg, um nicht noch mehr zu reizen. ‚So ist am wenigsten von den Kindern zu erwarten,‘ sagte meine Mutter, ‚für die wir am meisten gethan, für die wir gesorgt und gedarbt haben. Sie haben sein Herz für die Familie. Du, mein Sohn, wärst vielleicht nicht wie sie geworden; ich erkenne es daraus, daß Du Deinen Vater noch im Grabe ehrst, obgleich er Dich gegen Deine Brüder zurückgesetzt hat. Alle meine Bitten und Thränen halfen nichts; er blieb dabei, daß Du ein Handwerk lernen möchtest. Nun weiß ich, daß ich an Dir keine Stütze haben kann.‘ – ‚Und doch, Mutter!‘ rief ich, ebenso von Mitleid bewegt, als von dem Ehrgeiz gestachelt, meine ungebrochene Kraft zu beweisen – ‚doch kann vielleicht der arme Handwerker helfen. Was ich durch meine Arbeit verdiene, ist nicht viel, aber ich will es gern mit Euch theilen. Gebt mir einen kleinen Raum am Fenster, und ich schlage bei Euch meinen Tisch auf. Was ich erspart habe, reicht zur ersten Einrichtung aus, und wenn nichts mehr, so sollen wir wenigstens das Sattessen haben. Kein Wort weiter! Es bleibt dabei!‘ – Meine Mutter umarmte mich gerührt; meine Schwestern danken voll Freude; schon am nächsten Tage beschaffte ich das Nöthige für die neue Werkstätte.

Es war vielleicht recht unklug, daß ich mich in einem Dorfe niederließ, das für einen zweiten Schuhmacher kaum ein wirkliches Bedürfniß hatte, aber ich fühlte doch die stolzeste Befriedigung, durch meiner Hände Arbeit die Noth der armen Frauen erleichtern zu können, und ließ es an rastlosem Fleiß nicht fehlen. Bald fanden sich auch Kunden aus der Umgegend, die sonst ihren feineren Bedarf aus der Stadt entnommen hatten, und der Verdienst besserte sich. Aber er blieb noch immer schwach genug, und es kamen stille Tage, an denen ich den Muth sinken ließ und mit heimlichen Thränen das Brod aß, das mir mit Seufzen zugeschnitten war.

So war etwa ein halbes Jahr vergangen, als eines Tages ein Brief an mich anlangte, der den Poststempel dieser Stadt trug. Die Schrift war von ungeübter Hand, aber gut leserlich, und ich kannte sie aus den Wochenrechnungen, die ich in diesem Hause zu revidiren gehabt hatte. Die Meisterin schrieb mir, daß das Geschäft nach meinem Abzuge wieder schnell rückwärts gegangen sei: ein ungetreuer Geselle habe sie bei den Ledereinkäufen auf’s Schändlichste betrogen, ein Anderer von den Kunden Geld eincassirt, ohne es an sie abzuführen. Jetzt erst erkenne sie so recht, was sie an mir gehabt und verloren habe. Nun könne sie mir zwar nicht zumuthen, wieder als Geselle bei ihr einzutreten, aber sie biete mir das Haus zum Kauf an. Wegen des Kaufgeldes solle ich unbesorgt sein, das könne stehen bleiben, so lange es mir gefalle; sie sei ihrer Person sicher und sie wisse auch, daß ich das alte Geschäft bald zu Ehren bringen und genug verdienen werde, um sie nach einigen Jahren auch wegen des Capitals befriedigen zu können. Sie werde dann zwar kümmerlich, aber in ihrer Verlassenheit doch ohne große Sorgen leben, und daß sie das alte Haus in guten Händen wisse, sei ihr doch auch eine Beruhigung. Sie bat schließlich, die Frau Mutter und die Fräulein Schwestern zu grüßen und ihre Kühnheit zu entschuldigen, sie wisse aber nicht mehr aus noch ein, und ich sei der Einzige auf der Welt, zu dem sie noch Vertrauen habe.

Der Brief versetzte mich in die größte Aufregung. Ein Anderer hätte vielleicht ohne Besinnen zugegriffen, besonders in meiner jetzigen Lage, denn es war nicht zweifelhaft, daß ein Meister und Bürger in der großen Stadt für seine Angehörigen [545] mehr thun konnte, als ein armer Dorfschuster. Aber ich hatte so meine eigenen Bedenken und konnte mit denen nicht sogleich fertig werden. Die Frau Meisterin, die mir ihr Haus anbot, war eine junge hübsche Wittwe, an die ich im Stillen viel mehr hatte denken müssen, als ich’s selbst wahr haben wollte. Und sie konnte wohl auch bemerkt haben, daß ich ihr herzlieb zugethan sei. Wer wollte ferner dafür garantiren, daß ihr Herz nicht auch ein wenig betheiligt sei? Wenn ich’s wohl bedachte, es konnte gar nicht anders sein. Und nun das Haus fast wie ein Geschenk von ihr annehmen und sie aus dem alten Besitze ziehen lassen, der mit ihrer Familie so eng verwachsen war, und gar nichts zu merken, das ging mir ganz gegen den Strich. Und andererseits wieder – ich war noch jung und die ganze Welt stand mir offen; ich konnte allenfalls nach Amerika auswandern und dort mein Glück versuchen. Wenn ich mich aber jetzt band, war’s zu Ende mit allen Träumen.

Die Meinigen redeten zu; sie wußten ja nicht, um was es sich bei mir handelte, und ich scheute mich, es ihnen zu sagen. So ging ich denn an das Grab meines Vaters und trug ihm meine Sache vor. Es antwortete keine Stimme daraus; aber in mir wurde es doch merklich klar und hell, und ich meinte nun deutlich meinen Weg zu sehen. ‚Was Einer ist, das soll er ganz sein,‘ hatte mein Vater so oft gesagt; ‚aller Unfriede des Gemüths stammt aus unserer Halbheit, daß wir nicht mit dem Herzen bei unserm Thun sind, sondern als eine Last tragen, was uns doch das rechte Gleichgewicht im Leben geben könnte, wenn wir es würdigen lernten.‘ Daran mußte ich nun viel denken, und es kam mir so vor, als ob ich selbst von der Halbheit nicht los könne und deshalb meinen Frieden nicht finde. Ich rechnete noch immer auf Dies und Das, was doch außer meiner Macht lag, und war lässig in Dem, was ich zu bewältigen vermochte. Ein Handwerker war ich geworden und wollte ich nun auch sein; aber mein Herz war noch nicht bei dem Handwerke, und so blieb ich ein halber Mensch, den seine Last drückte.

Das mußte anders werden, ganz anders. Der alte Handwerksmeister über der Thür setzte sich mir in den Sinn, wie er so stattlich dastand und mit Stolz zu sagen schien: ‚Das bin ich!‘ Sein Haus war klein und eng; aber er hatte doch ein Haus, und es war gerade groß genug für seine Bedürfnisse, gerade groß genug für die Frau Meisterin, die seine einfache Wirthschaft führte, und für die Gesellen und Lehrlinge, die darin Arbeit fanden und zum Rechten angehalten wurden. Er kam zu Wohlstand und galt etwas bei Seinesgleichen; die Zunft wählte ihn zum Aeltermann und der Rath zum Kramervorsteher, und er saß zuletzt auf der Schöffenbank und sprach den Bürgern Recht, nicht nach seiner Gelehrsamkeit, sondern nach seinem Gewissen.

Ich sah auch, wie er hinausgetragen wurde in einem schwarzen Rittersarge mit reichlichem Beschlage; sechs Jungmeister trugen ihn, und sechs Altmeister gingen voran, mit schwarzen Florschärpen an den Hüten und Citronen in den Händen; der Herr Stadtrichter folgte mit der Wittwe in einer Kutsche und dann das ganze löbliche Gewerk, immer Zwei und Zwei in langer Reihe; und Die auf der Straße standen und zuschauten, flüsterten einander zu: ‚Er war ein braver Mann; Gott schenke der Stadt viele dergleichen! Und war doch nur ein schlichter Handwerker – ein Schuster.‘ Nun, wenn auch gar Vieles in der Welt anders geworden ist, sein Haus steht noch und das Handwerk ist geblieben. Warum sollte nicht auch in unserer Zeit der rechte Mann zu Beidem sich finden können? Zu dem rechten Manne gehört aber auch die rechte Frau, und die ist schon gefunden. Ja, so soll’s sein!‘

Ich schrieb meiner Frau Meisterin einen Brief zurück, und der gefiel ihr wohl. Was sie antwortete, war von einem Schreiber zierlich aufgesetzt und auf ein Papier mit zwei flammenden Herzen geschrieben; aber darunter hatte sie mit eigener Hand beigefügt: ‚Ich danke Gott demüthiglich, daß er mir diese Freude schickt, da ich schon verzagte; ich will ihn immer vor Augen haben, daß ich Ihnen Alles recht mache, lieber Gotthilf; wenn Sie mich aber nur halb so lieb haben, wie ich Sie, so wird es mit seinem Beistande schon gehen. Zu Sonntag bestelle ich das erste Aufgebot, und über drei Wochen kann die Hochzeit sein – einen Leibrock und schwarzen Hut hab’ ich noch von meinem Manne, daran fehlt es nicht. Kommen Sie bald! Ich kann’s nicht so schreiben, wie ich’s meine; aber sagen werd’ ich’s können. Ich lache jetzt immer wie närrisch. Wir haben auch noch so viel miteinander zu reden, weil das Leder neuerlich aufgeschlagen ist. Also kommen Sie bald.‘

Das ist der einzige Liebesbrief, lieber Herr, den ich je in meinem Leben erhalten habe; darum kann ich ihn nach so vielen Jahren auch noch auswendig. Es hat aber auch noch einen andern Grund, daß ich ihn mir so gut merkte. Ich mußte doch nun meiner Mutter und meinen Schwestern etwas von der Sache sagen, und ich fing es sehr ungeschickt an, indem ich ihnen den erhaltenen Brief zeigte. Sie fanden die zwei flammenden Herzen, die geschrobenen Redensarten des Schreibers und die Nachschrift der Frau Meisterin selbst so komisch, daß sie in lautes Lachen ausbrachen und durchaus nicht daran glauben wollten, daß mir die Partie ernst sein könne. Darüber wurde ich sehr aufgebracht und entriß ihnen das Blatt. Nun hielt meine Mutter sich verpflichtet, in würdigerem Tone abzumahnen.

‚Da hat Dir wieder Dein gutes Herz einen Streich gespielt, Gotthilf,‘ sagte sie, ‚und es ist sehr ehrenwerth, daß Du die Frau in Schutz nimmst; aber Du würdest es bald schwer bereuen, wenn Du wirklich eine so ungleiche Verbindung eingehen wolltest; Du bist zwar ein Schuhmacher von Profession, aber des Pfarrers Sohn bleibst Du deshalb doch, und die ersten fünfzehn Jahre, die Du in Deinem Vaterhause unter gebildeten Menschen zugebracht hast, kannst Du nicht mehr vergessen. Glaube mir, die Meisterin ist keine Frau für Dich.‘

Diese Vorstellungen konnten nicht mehr Eindruck auf mich machen; ich war schon zu fest in meinem Entschlusse; sie wurden aber auch abgeschwächt durch die Sticheleien meiner Schwestern, die mich am leichtesten durch Spott meinten heilen zu können. Zuletzt, am Abend vor meiner Abreise, gab es einen sehr heftigen Auftritt zwischen uns, und ich schied mit der Gewißheit, daß auch diese letzten Familienbande für immer zerrissen seien.

Mein Wille aber war fest, alle Halbheit abzuthun und nach freier Wahl das ganz zu werden, was mir nun einmal vorbestimmt war. Ich heirathete meine Frau Meisterin und habe meine Wahl nicht bereut. Das alte Haus überkam ich mit Allem, was darin, als Heirathsgut, und unser gemeinsamer Fleiß hat es erhalten und wieder schmuck hergestellt. Meine Mutter unterstützte ich, so lange sie lebte, und sie hinterließ mir zum Dank dafür dieses Bild meines Vaters und jene Familienbibel, in der wir an jedem Sonntag Morgen lesen. Meinen Schwestern habe ich Stiftsstellen gekauft – gesehen habe ich sie nicht wieder. Von meinen Brüdern hat sich Keiner um mich gekümmert, und sie waren auch für mich todt. Die anderen sind mir gleichgültig geworden in den vielen Jahren; aber gegen den ältesten habe ich allezeit etwas empfunden wie Haß und habe mir’s nicht abwehren können, wie ich auch ankämpfte. Und so wissen Sie nun, wie ich der Schuster Lange geworden bin, den Sie kennen, und weshalb ich die Anzeige von meines Bruders Tode so erzürnt zurückwies. Nie, nie kann ich es ihm vergessen, daß er seinen Bruder verleugnet hat – auch im Grabe nicht!

Das ist meine Lebensgeschichte.“ –

Der alte Herr hatte sich gegen den Schluß hin sehr aufgeregt, unter seinem Sammetkäppchen vor perlten die Schweißtropfen über die Stirn, und der Blick, mit dem er zu dem Bilde seines Vaters aufsah, hatte etwas Flammendes, Verzehrendes. Er war doch noch nicht zur Ruhe gekommen, der gute Meister; er hatte sein Schicksal noch nicht überwunden, wie er doch meinte, und ich hatte in diesem Augenblick das sichere Gefühl, daß ich an diese Wunde nicht rühren dürfe, jetzt gewiß nicht. Ich reichte ihm also nur die Hand und sagte ihm Dank mit so viel Herzlichkeit, als ich in wenigen einfachen Worten äußern konnte. Das war ganz nach seinem Sinn. Er stand auf und bat mich, noch zur alten Mama hinüberzukommen, die gewiß schon lange mit dem Kaffee auf uns warte.

So war’s auch. Und die großen Tassen mit den Goldrändern, die neben der Kanne standen, hatten mir jetzt noch eine besondere Bedeutung; es waren sicher noch dieselben, aus denen die Frau Meisterin mit dem jungen Gesellen an jenem traurigen Sonntage getrunken hatte, als Beiden der Abschied so schwer wurde.

[546] Die alte Mama hatte eine große Brille auf der Nase und ein Blatt in der Hand, dessen Inhalt sie studirte. „Ich habe einen Brief bekommen,“ sagte sie, nachdem sie mir freundlich zugenickt hatte, „und rathe einmal von wem, Gotthifchen? Von unserem Sohn.“

„So –! was will denn der wieder?“ fragte er barsch und die Freude glänzte doch dabei von seinem Gesicht.

„I – um Geld ist’s nicht, Gotthilfchen,“ antwortete sie lächelnd, „so viel hab’ ich wohl selbst herausgebracht. Er schreibt aber so schnell, daß immer die Buchstaben in einander gehen, und so wird mir das Lesen schwer. Ich sehe aber, daß er hierherkommen will.“

Meister Lange nahm ihr etwas hastig den Brief aus der Hand und trat damit an’s Fenster. „Wahrhaftig!“ sagte er nach einer Weile, „er will herkommen und beim hiesigen Gericht arbeiten, um sich zu einer Anstellung in der Provinz besser vorzubereiten. Als ob es für ihn so eilt! Hm – hm! dahinter steckt etwas.“

„Er muß ja am besten wissen, was für ihn taugt,“ meinte ich; der Alte aber schüttelte den Kopf, wendete das Blatt und las es von Neuem. „Und daß er deshalb an die Mutter schreibt –“ murmelte er halblaut. „Noch jedes Mal, wenn er an die Mutter geschrieben hat, gab’s hinterher irgend etwas Dummes zu vertuschen. So war’s schon auf dem Gymnasium und auf der Universität.“

„Nu, nu, Gotthilfchen,“ beruhigte sie, „wozu ist denn so eine alte Mutter gut, wenn der Vater ein Bischen strenge ist, oder wenigstens strenge thut. Und es kann ja auch einmal anders sein. Was wird es jetzt wohl noch zu vertuschen geben? Er will herkommen, und es ist ja doch möglich, daß er sich nach uns bangt und daß ihm da zuerst die Mutter einfällt – es ist ja doch möglich, Gotthilfchen.“

„Dann wär’s ja auch an einem Besuch genug,“ knurrte der Meister, „aber hier in Arbeit treten und dann in die Provinz – wozu hat er das nöthig?“

„Was können Sie aber dagegen haben?“ fragte ich.

„Er soll hoch hinaus,“ fuhr er heftig auf, „über alle seine Onkels hinweg, und auch über den geheimen Regierungsrath! Das ist er seinem Vater schuldig. – Sie wissen ja, weshalb!“ setzte er tiefer hinzu. Die alte Mama seufzte.

Freilich wußte ich, weshalb. Aber ich machte da doch wieder eine sehr merkwürdige Erfahrung. Derselbe Mann, der mit so tiefem Kummer seine ganze Familie verloren hatte, weil er durch die Umstände auf eine tiefere Gesellschaftsstufe gestellt wurde, und der dann, eines Philosophen würdig, seine Ehre darein setzte, zu beweisen, daß Menschenwerth allein nach sich selbst zu messen sei, derselbe Mann entfremdete den einzigen Sohn seiner Familie, um ihn äußerlich möglichst hoch gestellt zu sehen und so über diejenigen zu triumphiren, die er doch nicht achtete, verleugnete den Grundgedanken seines Lebens im eigenen Kinde. Und das Alles, ohne sich dieser Inconsequenz auch nur im Entferntesten bewußt zu werden. Es scheint nun einmal in der Menschennatur das Bedürfniß zu liegen, von dem eigenen Gesetz abzuspringen und ein fremdes zu adoptiren. Daher der stete Wechsel der Erziehungsmethode von Generation zu Generation, daher auch das fortwährende Heben und Senken in den sich immer erneuernden Bestandtheilen der Gesellschaft – schließlich allerdings die einzige Garantie gegen Verknöcherung und Versumpfung. –

Bald darauf stellte sich mir der Assessor Lange vor. Er hatte sich wirklich an dieses Gericht zu seiner praktischen Ausbildung schicken lassen und sprach die Absicht aus, hier zu bleiben, bis er in eine Richterstelle einrücken könne.

„Was sagt denn Ihr Vater dazu?“ fragte ich, so gut ich es auch wußte.

„Ach, mein Himmel,“ antwortete er lächelnd, „der möchte mich am liebsten gleich zum Ministerialrath machen; aber mein Ehrgeiz ist schwer zu spornen. Ich habe mich da oben lange genug umgetrieben, um zu wissen, daß ich überall gegen diejenigen zu kurz kommen werde, die gute Connexionen mitbringen. Warum also mich außer Athem setzen, um doch am Ziele die Leute mir vorangehen zu sehen, die gemächlich in ihrer Väter Carossen fahren. Kennen Sie das Chamisso’sche Gedicht von dem Pechvogel? ‚Doch mein Vater war ein Schneider, und das ist genug gesagt.‘ Ich möchte es an mir nicht probiren.“

„Ihr Vater ist sehr wohlhabend,“ meinte ich, „und Geld hat überall einen guten Klang.“

„Er ist freilich recht wohlhabend für einen Handwerker,“ entgegnete er, „und wenn er mich nicht deshalb enterbt, weil ich durchaus nicht Carrière machen will, so werde ich einmal als Richter nicht ängstlich auf eine Gehaltsverbesserung zu warten nöthig haben und wirklich unabhängig in der Welt dastehen. Ist das nicht alles Dankes werth? Vorläufig wünsche ich aber meinen guten Eltern Methusalem’s Alter, und da ich nachgerade doch auch in die Jahre komme, in denen man nicht mehr gern aus seines Vaters Tasche lebt und seinen eigenen Weg gehen will, so glaube ich ganz vernünftig zu handeln, wenn ich eine Anstellung suche. Wohin der Ehrgeiz ohne bequeme Grundlage einen gescheidten Menschen führen kann, das habe ich an meinem Onkel Regierungsrath gesehen –“

„Sie haben ihn kennen gelernt?“ fiel ich ein.

„Sprechen Sie meinem Vater nicht davon,“ bat er, „er hatte mir’s auf’s Allerstrengste verboten, das Haus seines Bruders zu betreten. Aber ich bin unfolgsam gewesen – aus gewissen Gründen, die nicht hieher gehören. Mein Onkel war so schlimm nicht, als ihn sich mein Vater in seinem ganz gerechten Zorn malt. Er hat an ihm unbrüderlich gehandelt, das ist gewißlich wahr, aber entschuldigen läßt er sich wohl, wenigstens von unserem Standpunkte aus. Mein Onkel war brennend ehrgeizig; er hatte, als mein Vater ihm begegnete, so eben in eine adelige Familie hineingeheirathet, die ihn nur sehr ungern und nach heftigem Widerstreben aufgenommen hatte; er verwaltete damals ein Polizeiamt. Und nun kam ihm ein armer, abgerissener Schuhmachergeselle in den Weg, der in seinem Ränzel verbotene französische Schriften einschleppte und sich seinen Bruder nannte. Vielleicht hätten wir an seiner Stelle liebevoller gehandelt – vielleicht auch nicht. Mein Vater hat dafür natürlich kein Einsehen, und ich als sein Sohn muß mich hüten, ihm zu widersprechen, aber Sie haben ja so viel Einfluß auf ihn, wie ich von der Mutter weiß; könnten Sie nicht gelegentlich ein versöhnliches Wörtchen einfließen lassen?

Ich versprach es gern, erfreut, beim Sohne so viel Billigkeit zu finden.

„Wenn mein Vater gewußt hätte, welches Leben sein ehrgeiziger Bruder führte, er hätte darin vielleicht eine Ausgleichung gesehen,“ fuhr er fort. „Seine erste Ehe war sehr unglücklich. Seine Frau, durch ihre Verwandten fortwährend zurückgesetzt, scheint die bürgerliche Heirath bereut zu haben. Onkel Erhard stürzte sich in Schulden, um ein ansehnliches Haus zu machen; er ließ sich zu den unwürdigsten Diensten brauchen, um schnell zu avanciren. Es nützte ihm wenig. Die Kinder wurden von der Mutter ganz nach aristokratischen Grundsätzen erzogen, die sie selbst so unliebenswürdig in diesem ungleichen Verhältniß machten, und dem eigenen Vater möglichst entfremdet. Es konnte ein Glück für ihn scheinen, daß sie unerwartet früh verstarb. Das geschah vor etwas mehr als zwanzig Jahren, und mein Onkel, der längst Geheimer Regierungsrath geworden war und im Ministerium arbeitete, hätte sich nun wohl häuslich einschränken, ein Arrangement mit seinen Gläubigern treffen und etwas vom Leben genießen können. Aber nun begegnete ihm, der bisher so vorsichtig jeden Schritt berechnet hatte, ein ganz eigener Unfall. Er verliebte sich mit einer Leidenschaftlichkeit, die sich nur aus dem unbewußten Drange des Gemüths, für die sich so lange selbst aufgelegten Entbehrungen eine Entschädigung zu finden, erklären läßt, in die Gouvernante seiner Töchter, ein blutarmes und nicht einmal durch Schönheit ausgezeichnetes Mädchen, das Kind eines Subalternbeamten in der Provinz, die Enkelin eines Handwerkers. Seine Neigung wurde erwidert, das Verlöbniß aber geheimgehalten, bis den Verwandten der ersten Frau zugleich mit demselben auch der Hochzeitstag bekannt gemacht werden konnte. Sie waren empört über dieses, wie es ihnen schien, hinterlistige Verfahren, noch mehr darüber, daß mein Onkel alle ihrem Stande schuldigen Rücksichten bei seiner Wahl verletzt hätte, entblödeten sich nicht, das Verhältniß als ein unsittliches und unwürdiges überall zu verschreien, und ruhten nicht eher, bis die Kinder der ersten Frau, denen inzwischen ein beträchtliches Vermögen zugefallen war, der Stiefmutter entzogen und in eine von ihnen beabsichtigte Pension gebracht wurden. Nicht genug daran, sie hetzten auch so lange

[547]

König Lear verstößt seine Tochter Cordelia. Originalzeichnung von August von Heckel.

[548] in der Gesellschaft und bei den hohen Vorgesetzten des Onkels, bis er sich wegen der eingegangenen Verbindung von allen aristokratischen Kreisen ausgeschlossen und in Ungnade gefallen sah. Eine Zeit lang entschädigte ihn die Zärtlichkeit und aufopfernde Treue der jungen Frau für alle diese Unbill, aber er war leider nicht der Philosoph, sich auch für die Dauer mit Gelassenheit in sein Schicksal finden zu können. Der Ehrgeiz ließ ihn nicht ruhen, und alle die Zurücksetzungen, die er erfahren mußte, verbitterten ihn nicht nur gegen diejenigen, die ihn kränkten und verfolgten, sondern bald auch gegen die ganz unschuldige Ursache dieser Angriffe. Er gab sich nun selbst einen ganz unverzeihlichen Fehler schuld und hielt sein ganzes Leben für verfehlt, weil er immer gegen seine bessere Natur nachgiebig gewesen war. Dazu kam, daß seine Gläubiger jetzt rücksichtslos andrängten und ihn nöthigten, seine Wirthschaft gänzlich zu zerstören, um nur nicht in ein Gehaltsabzugsverfahren willigen zu dürfen, das den letzten Rest von Ansehen vernichtet haben würde. Alle haushälterische Sparsamkeit der armen Frau konnte der mehr und mehr einreißenden Unordnung nicht steuern, und ihre inständigste Bitte, sich den Verhältnissen anzupassen, blieb unbeachtet; ja, ihre Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit, die er kleinbürgerliche Beschränktheit nannte, waren gerade die Eigenschaften, die ihm zu fortwährendem Tadel Anlaß gaben. Von fünf Kindern dieser Ehe erhielten sich nur zwei, ein Mädchen und ein Knabe, am Leben, von dem Vater, der noch immer durch seine Kinder erster Ehe den verlorenen Anschluß an die vornehme Verwandtschaft wiederzugewinnen hoffte, wenig geliebt und auf die Erziehung durch die Mutter angewiesen, von den Stiefgeschwistern gemieden oder als Eindringlinge in die Familie gehaßt. Sie können sich vorstellen, daß jetzt, nach des Onkels Tode, jede Verbindung aufgehört hat. Jene haben sich beeilt, der Erbschaft nach ihrem Vater zu entsagen, obgleich ihre glänzende Lage es ihnen ohne große Beschwerde erlaubt hätte, ihm durch Tilgung seiner Verbindlichkeiten ein reines Andenken zu bewahren. Meine Tante hat den ganzen Nachlaß den Gläubigern hinterlassen und sich auf eine kleine Wittwenpension beschränken müssen, die sie selbst kaum zu ernähren im Stande ist. Die beiden Kinder, jetzt siebzehn und fünfzehn Jahre alt, stehen ganz hülflos da.“

„Sie sind gut unterrichtet,“ konnte ich mich nicht enthalten zu äußern. „Sicher haben Sie die so bemitleidenswerthe Familie nach Kräften unterstützt; um so mehr wundert es mich aber, daß Sie nicht länger dort –“

„Was konnte ich für sie thun?“ fiel er mir lebhaft in’s Wort. „Ich war ja selbst von der Unterstützung meines Vaters abhängig, und bei seiner bekannten feindseligen Stimmung mußte ich fürchten, Alles zu verderben, wenn ich brieflich eine Aufklärung versuchte. Aber ich gestehe, daß meine Uebersiedelung hierher mit diesen Dingen Zusammenhang hat und daß ich nicht zum Wenigsten deshalb ein festes amtliches Einkommen erstrebe, um der vortrefflichen Frau und ihren Kindern nach Wunsch und Bedürfniß Beistand leisten zu können.“

„Das Mädchen ist siebzehn Jahre alt?“ fragte ich möglichst leichthin.

(Schluß folgt.)




Eine Wanderung durch die Friedhöfe Weimars.
Von Dr. Moritz Müller.


„Liebreiches, ehrenvolles Andenken ist Alles,
was wir den Todten zu geben vermögen.“
Goethe.

Wie vier reizende Parks die nächste und nähere Umgebung der Stadt Weimar ausmachen – Kunstgärten, die ihre eigenthümliche, zum Theil classische Geschichte haben: wir meinen den Park der Residenz selbst, dann die von Tiefurt, Ettersburg und Belvedere –, so stellen sich uns im eigentlichen Weichbilde der Stadt zwei andere, in ihrer Art nicht minder bemerkenswerthe Gärten dar, welche einem ernsten Zwecke dienen – die beiden Friedhöfe Weimars.

Merkwürdig vor vielen des deutschen Reiches, verdienen diese beiden Gottesäcker unsere volle Beachtung, und eine kurze Wanderung durch dieselben lohnt wohl die darauf verwendete Zeit. Zum älteren lenken wir der Natur der Sache nach zuerst unsere Schritte. Er befindet sich im nördlichen Bezirke der Stadt selbst, in der St. Jakobsvorstadt, und auf ihm die St. Jakobskirche (Hof- und Garnisonkirche).

Betritt man von der Jakobsstraße aus den beregten Platz, so wird der Blick unwillkürlich von einer sogleich rechts oberhalb der Umfassungsmauer eingegrabenen, in Goldlettern prangenden Inschrift gefesselt; sie lautet:

Schiller’s erste Begraebnisstaette.

Welche Erinnerungen, die sich an diese wenigen Worte, an diese kleine Stelle knüpfen! Hier also ist der Ort, dem die irdische Hülle eines der bevorzugtesten Geister aller Jahrhunderte, des Lieblings der deutschen Nation in der Nacht vom elften zum zwölften Mai 1805 übergeben wurde, nachdem zwei Tage vorher seine Seele der untergehenden Sonne, welcher seine letzten Blicke zugewendet gewesen, nachgeeilt war. – Es ist ein in seiner Art einziges Drama, das sich an jene Begräbnißnacht anschließt, ein Drama, das zu seiner Zeit weit und breit von sich reden machte und manche Stimme der Entrüstung hervorrief. Schiller, der Gefeierte, so einfach, gleich dem geringsten Tagelöhner bei Nacht und Nebel, ohne Sang und Klang hinausgetragen – das fand man unverzeihlich, entwürdigend. Man setzte das in der gegebenen Weise dem großen Todten bereitete Schicksal in Parallele mit dem des Goethe’schen Werther, des Selbstmörders: „Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.“ Freilich wußte man auswärts nicht, daß die ominöse Nachtstunde in Weimar die für die Beerdigung ausgezeichneter Personen übliche, ja, eine ehrende war und daß gewöhnlich Tags darauf in der Kirche für sie ein feierlicher Gedächtnißgottesdienst, „Collecte“ genannt (für Schiller einer der feierlichsten), gehalten wurde. Ferner und vor Allem schien nicht bekannt, daß die Wittwe des Dichters im Einverständnisse mit sämmtlichen Verwandten ein stilles Begräbniß ausdrücklich gewünscht hatte. Auch an der Eile, womit dieses vollzogen worden, nahm man Anstoß, ohne den Zustand der Leiche, der solche gebot, in Rechnung zu bringen. In Hinsicht auf das Hinaustragen des Todten wäre wohl das Richtigere gewesen, wenn die Männer aus höheren Ständen mit den Bürgern abgewechselt hätten. Gehört Schiller ja Allen an. Nein, nicht daß man ihn so gepränglos, so schleunig der Erde übergab, nicht daß Handwerker, wie dies in Weimar auch bei Hochgestellten Sitte war, ihn tragen sollten – das Alles nicht konnte und kann Vernünftige so überaus empören, wohl aber mußte als höchst auffällig, ja ungerechtfertigt erscheinen, daß man volle einundzwanzig Jahre hingehen ließ, ehe man sich wieder um den Zustand der Schiller’schen Ueberreste in dem feuchten „Cassengewölbe“ (Eigenthum der Landschaftscasse, daher der Name) bekümmerte, jenem Orte an dem Schiller beigesetzt worden war, und der überhaupt zur Todtenwohnung für solche im Range hervorstechende Abgeschiedene diente, die kein eigenes Erbbegräbnis besaßen. Dem Bürgermeister der Stadt, Hofrath Karl Schwabe, bleibt das Verdienst, in dem Cassengewölbe, worin er die mühevollsten Nachforschungen anstellte, im Jahre 1826, wo eine sogenannte „Aufräumung“ jenes Gewölbes bevorstand, das heißt wo die Sargtrümmer, Todtengebeine etc. zusammengelesen und irgendwo auf dem Gottesacker eingegraben werden sollten, beim Suchen nach Schiller’s Gebeinen wenigstens seinen Schädel unter dreiundzwanzig anderen entdeckt zu haben.[1] Am Sonntagsmorgen des 17. September 1826 wurde dieser unter einer entsprechenden Feierlichkeit in dem Postamente der Dannecker’schen Büste des Dichters auf der großherzoglichen Bibliothek zur Aufbewahrung niedergelegt.

Wir setzen unsere Wanderung auf dem alten planirten Friedhofe weiter fort. An das Gotteshaus herantretend, erinnert sich gewiß Jeder, der früher schon einmal diese Stelle besuchte, an ein dort jetzt verschwundenes, noch immer aber vorhandenes [549] Denkmal besonderen, altertümlichen Charakters: das Lucas Cranach’sche. Zum Schutz gegen Beschädigung wurde es im Jahre 1859 in die Haupt-, und Stadtkirche, nahe dem berühmten Altarbilde des Meisters, versetzt. Wir folgen ihm dahin und verweilen dankbar segnenden Blickes an dem Grabmal Anna Amalia’s, der Begründerin der großen Zeit Weimar’s, und an demjenigen Herder’s, welches letztgenannte den Wahlspruch des Verklärten: „Licht, Liebe, Leben“ als Inschrift trägt.

Zum alten Friedhofe zurückkehrend, werden wir an den dort bestatteten, im Jahre 1819 verstorbenen Minister Karl August’s, Christian Gottlob von Voigt gemahnt, den ausgezeichneten Staatsmann und Gelehrten, der zugleich für die weimarischen wissenschaftlichen und Kunstanstalten viel gethan hat, wie er denn auch die ersten Geister zu seinen engsten Freunden zählte. Welche Hochachtung vor Allen Goethe ihm zollte, geht aus dem von Otto Jahn herausgegebenen Briefwechsel desselben mit Voigt hervor. – An der südlichen Kirchwand tritt uns das Grabmonument von Johann Karl August Musäus, dem lieben Dichter der klassischen Volksmärchen der Deutschen, entgegen. Jean Paul nennt ihn einen „echten Humoristen“, und er eben durfte ihn so nennen. Mit Wieland und Herder innig befreundet, von seiner Fürstin Anna Amalia hochgeschätzt, erfreute er, der gutmüthige, wohlwollende und immer heitere Mensch, sich der Liebe Aller, die ihn kannten. „Er hatte keinen Feind,“ durfte ihm Herder in seiner Gedächtnißrede auf ihn nachrühmen. Er starb 1787.

Der alte Friedhof nahm noch andere Kunstjünger aus Weimar’s ruhmvollen Tagen auf; so Mieding, den Theaterdecorateur und Maschinisten, den Goethe in seinem Gedichte „Auf Mieding’s Tod“, seiner besten einem, verherrlicht hat; so den Schauspieler Malcolmi, den „Unvergeßlichen“, wie Goethe ihn nennt; so Christiane Neumann, verehelichte Becker, die viel zu früh verblühete, welcher der Dichter die Elegie „Euphrosyne“ widmete, und von der Wieland urtheilte: „wenn sie nur noch einige Jahre so fortschreitet, so wird Deutschland nur eine Schauspielerin haben,“ und Iffland sagte: „sie kann Alles; denn nie wird sie in den künstlichen Rausch von Empfindsamkeit, das verderbliche Uebel unserer jungen Schauspielerinnen, verfallen.“

Auf demselben Friedhofe wurde gebettet Goethe’s Frau, Christiane, geb. Vulpius (starb 1816). Bekanntermaßen ward eine Bittschrift für ihren Bruder, die sie auf dem Wege nach Oberweimar Goethe überreichte, der nächste Eheprocurator. Nie sprach sie von ihm, ohne ehrfurchtsvoll ihm seinen Titel „der Herr Geheimbde-Rath“ zu geben. Ihren Verlust empfand Goethe sehr schmerzlich.

Wir haben nicht weit zu Friedrich Justin Bertuch, Gründer des weltberühmten Industrie-Comptoirs und des Geographischen Institutes, Herausgeber des allgemein beliebten Bilderbuches für Kinder. Auf Karl August’s Veranlassung trat er an Goethe seinen Garten am fürstlichen Park ab, wofür ihn jener durch das Grundstück am Schwansee entschädigte, das Bertuch so schön cultivirte. Er war einige Zeit Karl August’s Secretär, dabei, wo es galt, erfindungsreicher Festordner. Sein Grab hat er sich im weiten Garten seines stattlichen Hauses, umschattet von selbstgepflanzten Bäumen, mitten unter den Büsten der vier weimarischen Dichter, gewählt. Der Name des Trefflichen (starb als Fünfundsiebenziger 1822) fügt sich eng in die Kette der Männer, die das kleine Weimar groß gemacht haben. Als Gelehrter hat er uns vorzugsweise die spanische Literatur nahe gebracht; so durch seine Uebersetzung des Don Quixote.

Im Jahre 1818 wurde der neue Friedhof angelegt. Der ältere Theil desselben bietet zugleich die wichtigeren Erinnerungen und Anhaltspunkte. Vom Eingange (durch das Portal des Leichenhauses) aus erstreckt sich eine mit Linden eingefaßte, sanft aufsteigende Allee, durchschnitten von einem Quergange, bis zur Höhe. Nach allen Seiten hin theils majestätische Laub- und Nadelholzbäume, theils wohlgruppirtes höheres oder niederes Gesträuch, unter dessen Rasenflächen und Blumeneinfassungen die Gräber offener oder versteckter hervorschauen. Die Fürstengruft begrenzt den Blick. Dahinter die sogenannte griechische Capelle, im Jahre 1862 in morgenländischem Stile erbaut. Um sie und weiter hinauf ein neues Leichenfeld. In sich schließt diese dicht an die Fürstengruft stoßende und unterirdisch mit ihr verbundene Capelle, deren Kuppeln weithin strahlen, das neben dem ihres Gemahls ruhende Irdische der Großherzogin Maria Paulowna, Großfürstin von Rußland (starb 1858), der erhabenen Gönnerin und Pflegerin der Kunst und Wissenschaft, die jahrelang noch die weimarische Glanzzeit gesehen und zu ihrer Förderung und Verbreitung so Manches beigetragen hat. Zur Einzugs- und Vermählungsfeier der hohen Frau in Weimar dichtete Schiller bekanntlich seine herrliche „Huldigung der Künste“. Der so begrenzte Blick wird aber festgehalten von jenem massiven Gebäude, dem denkwürdigen Todtentempel, in dessen dem Tageslichte verschlossenen Hallen ein ewiges Schweigen herrscht, und die doch so laut und beredt erzählen von vordem hochgestellten Menschen, die, als sie noch dem vollen Leben angehörten, durch die irdische Gewalt, die in ihre Hände gelegt war, und durch ihr ausgebreitetes Wirken über die gewöhnliche Menge weit hervorragten.

Aber auch von Herrschern im Reiche des Geistes wissen sie zu berichten, deren wunderbare Macht einen bestimmenden Einfluß auf die Bildung und Gesittung der Welt ausübte und auf Jahrhunderte hinaus behaupten wird. Unter jenen fürstlichen Häuptern befinden sich gefeierte Namen, vor allen der eines Karl August (starb 14. Juni 1828), dessen Bedeutung zu schildern wir viel zu spät kommen würden. Aus seinem von zwei Gebrüdern Straube, die der Fürst hatte ausbilden lassen, kunstvoll gefertigten Zinnsarge treten uns die Worte entgegen: Tapfer und weise, gerecht und milde. Ihm zur Seite ruht seine Gemahlin Luise (starb 1830), der Schutzgeist von Stadt und Land in schwerer Zeit (1806), und sein Sohn Karl Friedrich (starb 1853), einer der gütigsten und edelherzigsten Fürsten Weimars.

Um in die Gruft zu gelangen, betritt man, nachdem von der Allee aus eine breite Freitreppe erstiegen ist, durch die Eingangspforte des Gebäudes zunächst die „Capelle“, welche zur Abhaltung von Leichengottesdiensten dient, und in deren Mitte die Oeffnung zum Hinablassen der Särge sich zeigt; von da zur Linken führt eine Treppe in das Gewölbe selbst hinab. Diese Todtenstätte ist nun auch das Heiligthum, welchem aus Karl August’s Anordnung die Ueberbleibsel seiner zwei Dichter, Schiller und Goethe, übergeben worden sind, „einstweilen“ nur, wie er dies zunächst in Bezug auf Schiller’s „Relicten“ in einem Handbillet an Goethe vom 24. September 1827 hervorhob, auch an die Landesdirection verfügte, bis ein für Beide später auf der Anhöhe des neuen Friedhofs zu errichtendes gemeinsames Grabmonument, wie es der Bürgermeister Schwabe dem Großherzoge vorgeschlagen hatte, hergerichtet sein würde. Die Ausführung des schönen Gedankens, den auch Goethe günstig aufnahm und zu dessen Verwirklichung er schon einleitende Schritte gethan hatte, scheiterte, man weiß nicht recht an welcher Klippe. Für Schiller’s Gebeine, die von Goethe aufgefunden, unter Beihülfe von Fachmännern zusammengesetzt und dem Schädel angefügt worden waren, ward, um sie der fürstlichen Gruft einzuverleiben, ein angemessener Sarkophag gefertigt und derselbe am 16. December 1827 in feierlicher Morgenstille von der großherzoglichen Bibliothek aus nach dem Friedhofe gebracht. Fünf Jahre darauf folgte Goethe seinem Freunde in dieselben Räume nach. Dort in dem Todtengewölbe der fürstlichen Personen, links vom Eintritt in dasselbe, ruhen denn die Beiden neben einander, jeder in einem auf steinernen Postamenten stehenden Zinnsarge mit einem Futteral von gebeiztem Eichenholze; an den Seitenwänden der Särge liest man die in Metall gegossenen Namen der Dichter; ganz in deren Nähe schläft eine im Jahr 1858 in noch nicht vollendetem achtem Lebensjahre verstorbene Tochter des jetzt regierenden Großherzogs.

Vom Plateau und den Stufen der Fürstengruft aus halten wir Ueberschau über die Gräber einer Anzahl anderer Schläfer, viele unserer vollen Beachtung werth. Auf der rechten Seite vom Eingange zum Friedhofe her, dicht beim Eintritt in die andere Abtheilung desselben, stoßen wir auf das von Schardt’sche Familienbegräbniß; in ihm befindet sich neben zwei anderen der Sarg der Frau Charlotte von Stein, gebornen von Schardt (starb 1827), Goethe’s berühmter Freundin, die, obwohl mehrere Jahre älter als er, ihn länger als irgend eine der Frauen, die seinem Herzen theuer waren, zu fesseln wußte. Zu bedauern ist [550] immer, daß sie ihre Briefe an Goethe, die sie sich von ihm hatte zurückgeben lassen, vernichtet hat. Das Grab Stephan Schütze’s (starb 1839), des gemüthlichen Dichters „für Liebe und Freundschaft“, der an Goethe’s Cirkeln regen Antheil nahm, auch die der Johanna Schopenhauer fleißig besuchte, ziert eine einfache Lyra. An derselben Mauer finden wir das Grab Johann Friedrich Röhr’s (starb 1848), den Karl August aus Ostrau bei Zeitz nach Weimar berufen, des unerschrockenen Kämpfers für evangelische Wahrheit und Freiheit dessen Reformationspredigt 1838 gegen die Jesuiten Weltruf erlangte. Er hielt Karl August, dessen Gemahlin Luise und Goethe die Gedächtnißreden, Muster in ihrer Art. Gleichfalls an der westlichen Wand hebt sich hervor das Hauptreliefbild Johann Nepomuk Hummel’s (starb 1837), letzten Schülers von Mozart. Wie er das Glück hatte, in Wien von dem frischen Hauche der großen Musikperiode dieser Stadt angeweht zu werden, so sollte er, als der letzte weimarische Capellmeister bei Goethe’s Lebzeiten, den er durch sein herrliches Spiel oft erfreute, wenigstens die ablaufende Zeit unserer classischen Literaturepoche in unmittelbarster Nähe noch schauen. In gar mancher seiner Compositionen wird er fortleben; unerreicht ist er noch heute als Improvisator auf dem Clavier.

Unter dem deutschen Baum, der Linde, schlummert Johannes Daniel Falk (starb 1826), der mit Goethe mannigfach verkehrte, auch ein Buch über ihn schrieb, als Satiriker viel genannt, im Leben aber der harmloseste Mensch, ein warmer Kinderfreund. Seine in bedrängten Zeiten gestiftete Anstalt für arme verwaiste, zugleich sittlich verwahrloste Kinder („Gesellschaft der Freunde in der Noth“) wirkt in Weimar noch heute segensreich fort.

Nächstdem fällt uns das Grab des Geheimen Hofraths Franz Kirms in die Augen, des im Vereine mit Goethe nach der Verwaltungsseite hin rastlos thätigen Vorstehers des Theaters. Obgleich auf einem Auge blind, sah er für Drei. Zu erwähnen ist überdies, auch als ein für das Theater rüstig Mitwirkender – Goethe, sein Schwager, bezeichnet ihn als „immer thätigen Theaterdichter“ – Christian August Vulpius (gestorben 1827), der bekannte Verfasser des Rinaldo Rinaldini und anderer Unterhaltungsschriften. Als Bibliothekar nahm er sich des Interesses der Anstalt treulich an. Er war ein kleines hageres Männchen, hochblond, etwas gerötheten Gesichts, gesprächig und dienstfertig. Sein Amtsnachfolger Friedrich Wilhelm Riemer zählte zu den strenggläubigsten Goethe-Anbetern; er ließ sich sogar zu der Behauptung fortreißen: alles Gute, was Schiller gehabt, habe er seinem Freunde Goethe listig abgeschwatzt oder gestohlen. Riemer’s griechisches Lexikon, so viele Mängel es auch hat, ist noch immer besser als seine Goethe ängstlich nachgedrechselten kalten Verse. Ein in der Nähe der Fürstengruft sichtbares Erbbegräbniß enthält den Sarg eines Mannes, der sich nicht blos als Staatsbeamter bemerklich machte, sondern auch für die Erscheinungen in der Literatur ein seltenes Verständniß besaß. Mit Goethe war er viel zusammen. Sein Stil ahmt fast zu absichtlich den vornehm-ceremoniösen, geglätteten Goethe’s aus seinen späteren Jahren nach. Es ist der Kanzler und Geheimrath Friedrich von Müller. Auch Goethe’s Hausarzt, Staatsrath Dr. Vogel, hat ein gutes Buch über ihn geschrieben („Goethe in amtlichen Verhältnissen“), das in dem betreffenden Literaturzweige eine vorzügliche Stelle einnimmt. Der Kunstkenner und Freund Goethe’s, Meyer, und auch der einstmalige Redacteur des Stuttgarter Kunstblattes, Dr. von Schorn, ruhen hier.

In nicht allzuweiter Entfernung ist um ihren Lehrer Goethe her eine Anzahl von dramatischen Kunstjüngern gebettet, einst der Stolz und die Zierde der Weimarer Bühne; unter ihnen der vorzüglichste von Allen: Pius Alexander Wolff. Etwas mehr abwärts liegt Ludwig Oels begraben, der schöne Mann mit dem Apollohaupte, wie ihn uns sein Medaillonbrustbild auf seiner Grabtafel noch zeigt, seines vorgedachten Collegen, dem er ergreifende Worte in’s Grab nachrief, würdiger Genoß. Ebenso August Durand, Friedrich Lortzing, der treffliche Komiker und Charakterdarsteller; so ferner Graff und Haide, jener der erste deutsche Wallenstein, dieser der erste Teil, und die beiden Sangesmeister Stromeier und Moltke, einstige Inhaber schönster Stimmen, wie sie Gott nicht alle Tage in die Menschenbrust und -Kehle legt. Neben seiner Gattin schläft hier auch Karl Eberwein, Componist der Holtei’schen „Lenore“ und Dirigent der Goethe’schen Hauscapelle, dem Goethe bezeugt: „er dirigirte meisterhaft“. Der Genast’sche Begräbnißplatz befaßt die Hüllen Anton Genast’s, Goethe’s bewährten Regisseurs, seines Sohnes Eduard, der, noch unter Goethe Anfänger, ein so tüchtiger Künstler wurde, und dessen „Tagebuch eines alten Schauspielers“ Unterhaltendes und mehrfach Belehrendes enthält, und der Gattin desselben, Christine, geb. Böhler, dieser feinsinnigen Schauspielerin, welcher auch Goethe seine Achtung nicht versagen konnte.

Nur wenige Schritte von der Fürstengruft befindet sich das Grab Johann Peter Eckermann’s (starb 1854). Sein fürstlicher Zögling, der Großherzog Karl Alexander, hat ihm, „dem Freunde Goethe’s“, in Dankbarkeit einen Grabobelisk setzen lassen. Die Bedeutung Eckermann’s, den sein Wissensdurst vom armen Hirtenknaben aus Winsen im Hannoverschen zum Gelehrten emporhob und der in seinem fünfundzwanzigsten Jahre noch das Gymnasium in Hannover besuchte, besteht weniger in dem, was er selbst geschaffen, als in dem Verdienste, das er sich durch die Herausgabe der in mehrere europäische Sprachen, auch in’s Türkische übersetzten „Gespräche mit Goethe“ erwarb. – Auf der Höhe, im Bereich der griechischen Capelle, leuchtet uns entgegen der Stein eines der Auserwählten der Kunst, eines gewaltigen Dichters auf der Leinwand, dessen Hand Pinsel und Palette noch immer zu früh entsanken: Bonaventura Genelli’s (starb 1868). Hoch hielt Karl August seinen berühmten Orgelmeister Gottlob Töpfer, den genialen Verbesserer des Orgelbaues. Seine zahlreichen Schüler und Freunde haben ihm ein geschmackvolles Denkmal gestiftet. Auf eben dem Friedhofe, für dessen freundliche Anlage er gleich von vornherein gesorgt und auf dem er ein Leichenhaus, das erste in Deutschland, hatte bauen lassen, ruht der Mann, dem wir in der Schiller’schen Begräbnißangelegenheit, worin er so entschlossen vorging, bereits begegneten: der um seine Vaterstadt wohlverdiente Bürgermeister Karl Leberecht Schwabe. Hier fanden auch ihr Grab der vormalige Bibliothekar Theodor Kräuter, und der Ordner und Aufseher der Goethe’schen Sammlungen, Johann Christian Schuchardt.

Im Vorbeigehen fällt unser Blick noch auf ein schlichtes Grab mit der Bezeichnung: „Hier ruht in Gott Georg Gottfried Rudolph, geboren den 5. August 1778 zu Unterweißbach, starb den 24. April 1840 zu Weimar.“ Es war dieser Rudolph Schiller’s treuer, letzter Diener, der seinen geliebten Herrn noch mit in den Sarg eingelegt hat.

So viele andere ehrenwerthe Namen auch noch die Stätte nennt, aus der wir unsere Wanderung zurückgelegt und kurze Umschau gehalten haben, so glaubten wir doch vorzugsweise auf diejenigen Persönlichkeiten unser Augenmerk richten zu müssen, welche in nächster und näherer Beziehung zu der großen Zeit Weimars standen. Weihen doch sie vor Allen die Friedhöfe dieser Stadt zu den anziehenden Wallfahrtsorten, die sie sind.




Von einem Vielgenannten.

„Da sitzt mein lieber Freund Lasker. Ich kann wirklich mit Falstaff sagen: ‚Der Junge hat mir einen Trank eingegeben, daß ich ihn so liebe; es kann nicht anders sein, er hat mir einen Trank eingegeben.‘ Mit wahrer Vaterfreude habe ich gesehen, daß er mich bald überragte, und jedes Mal, wenn er muthig sich hineinwagt und von allen Seiten angegriffen wird, fühle ich in mir den Aufruf, ihm beizustehen, was ich aber seinen Fractionsgenossen überlassen muß. Brächte ich ihn heraus, würde ich mir vorkommen wie der alte Talbot, der seinen wackern Jungen, den John, aus der Schlacht bringt und ihm zuruft:

‚Als Du vom Helm des Dauphin Feuer geschlagen,
Da ward mein Vaterherz emporgetragen
In stolzer Siegesbegier.‘“

Ein eigenthümlicher Zufall war es, der dem großen Volksmann [551] Ziegler an der Jubelfeier seines siebzigjährigen Geburtstages diese anerkennenden Worte in den Mund legte, wenige Tage vor jener denkwürdigen Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses, in welcher Eduard Lasker mit der wuchtigen Waffe seiner Rede wie ein Blitz herniederfuhr in die corrumpirte Atmosphäre des preußischen Handelsministeriums. Der Reichstagsabgeordnete für Breslau, der lange vor Bildung der nationalliberalen Partei, schon im Anfange des Krieges gegen Oesterreich, im Namen jener parlamentarischen Demokratie von 1848, um deren willen er Freiheit und Amt hatte opfern müssen, in Schlesiens Hauptstadt das nationale Banner entfaltet hatte, der aber nichtsdestoweniger den Grundsätzen des Rechts und der Freiheit, welche den Inhalt seines langen Lebens bildeten, treu geblieben war, der ehemalige Oberbürgermeister von Brandenburg, durch dessen stets geistvoll zündende Reden noch immer etwas wie das Pathos der Märzrevolution klingt, war jedenfalls in erster Linie berechtigt, die Verdienste und den sittlichen Werth des Mannes zu würdigen, der unter den Gründern und Führern der nationalliberalen Partei die erste, wenn auch leider nicht immer maßgebende Stelle einnimmt. Der Schreiber dieser Zeilen steht auf dem Standpunkte, daß er noch heute die Bildung der nationalliberalen Fraction, die im Herbste des Jahres 1866 erfolgte, nicht als ein nationales Glück betrachtet, weil die Trennung der bewährtesten Männer, welche bisher Schulter an Schulter für die Einheit Deutschlands, zugleich aber für die Aufrichtung des Rechtsstaates und die Durchdringung desselben mit den Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit gekämpft hatten, in zwei verschiedene Heerlager in der großen Masse der Nation die falsche Meinung hervorrufen mußte, als ob Freiheit und Einheit Deutschlands Gegensätze und nicht vielmehr sich gegenseitig ergänzende Bedingungen der Macht und Größe des Vaterlandes seien. In diesem Sinne möchten wir behaupten, daß trotz mancher Meinungsverschiedenheit, wie sie im politischen Leben selbst unter den am nächsten stehenden Freunden kaum zu vermeiden sind, Eduard Lasker auch heute noch an dem Programm und an den Grundsätzen festhält, auf welche hin er im März 1865 vom Berliner vierten Wahlkreise in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt worden ist, und die ihn zum Anschlusse an die Fraction der deutschen Fortschrittspartei bewogen.

Lasker’s Stellung innerhalb der nationalliberalen Partei, wie überhaupt innerhalb des parlamentarischen Lebens des letzten Jahrzehnts, wird durch einen kurzen Rückblick auf seinen Entwickelungsgang erklärlich, der zugleich den Schlüssel für seine eigenthümliche Begabung und seinen durchaus harmonischen Charakter liefert. Am 14. October 1829 wurde Eduard Lasker in der kleinen Stadt Jarorin an der polnischen Grenze geboren und wuchs unter patriarchalischen Verhältnissen heran, wie sie Bernstein in „Mendel Gibbor“ und „Vögele der Maggid“ so meisterhaft geschildert hat. Sein Vater war ein Kaufmann, der seiner Redlichkeit und seines pflichttreuen Charakters wegen in der kleinen jüdischen Gemeinde, der er angehörte, eines großen Ansehens sich erfreut haben muß, denn noch heute steht seine patriarchalische Einfachheit und Humanität in gutem Andenken. Die ziemlich zahlreiche Familie scheint überdies wohlhabend gewesen zu sein, da die Eltern sich in den Stand gesetzt sahen, ihren Kindern eine verhältnißmäßig gute Erziehung zu Theil werden zu lassen. Den Kindern wurde ein Hauslehrer gehalten, wahrscheinlich ein Rabbinatscandidat, der ihnen zunächst die Kenntnisse des Hebräischen und insbesondere der gelehrten Bücher der Juden beizubringen hatte. Bei diesem Unterrichte soll der kleine Eduard schon als Kind eine erfreuliche Auffassungsgabe, scharfen Verstand und seltenes Gedächtniß entwickelt haben; schon als achtjähriger Knabe widmete er, wie erzählt wird, seinen Eltern eine hebräische Uebertragung des Schiller’schen Gedichtes „Die Theilung der Erde“. Im dreizehnten Jahre, bekanntlich dem Alter der Einsegnung für jüdische Knaben, war er in den biblischen Schriften schon vollständig bewandert; auch dem Studium des Talmud gab sich der lernbegierige Knabe mit unermüdlichem Eifer hin und legte dadurch frühzeitig den Grund zu einer scharfen, stets treffenden und durchdachten Ausdrucksweise. Der frühzeitige Verlust der Mutter, einer schlichten, aber durch Lebensklugheit ausgezeichneten Frau, war die Veranlassung, daß Eduard mit seinem älteren Bruder nach Breslau übersiedeln mußte, um dort das Gymnasium zu besuchen. Mit demselben Eifer, den Eduard bisher auf das Hebräische und des Studium des Talmud verwandt hatte, suchte er sich jetzt die Kenntniß der lateinischen und griechischen Sprache anzueignen und in den Geist der griechischen und römischen Classiker einzudringen. Er war bereits vierzehn Jahre alt, als er in die Quarta des Gymnasiums aufgenommen wurde, und da seinem ungestümen Wissensdrange es nicht nur leicht wurde, die vorhandenen Lücken in seinem Wissen schnell auszufüllen, sondern auch ungewöhnlich schnell die langsamen Classenstufen zu überspringen, so zog er es vor, das Gymnasialstudium aufzugeben und sich selbstständig auf das Abiturientenexamen vorzubereiten. Es verbindet sich, wie man hier deutlich sieht, in Lasker’s Entwickelung jene Sicherheit, welche das autodidaktische Studium verleiht, mit der Gründlichkeit, die allein durch eine regelrechte Ausbildung gewonnen werden kann. Der Arbeitslust und der Charakterfestigkeit des strebenden Jünglings gelang es, seine Vorbereitung in wenigen Jahren so weit zu fördern, daß er bereits Ostern 1847, also im Alter von siebzehnundeinhalb Jahren, die Abiturientenprüfung bestehen und die Universität beziehen konnte. Er hatte die Absicht, Medicin zu studiren, da sein Vater widerstrebte, aufgegeben und widmete sich anfangs dem Studium der Mathematik.

Seine erste Studienzeit fiel in das Erwachen des politischen Lebens in Deutschland, und Lasker scheint den Ereignissen des Jahres 1848, welche bekanntlich in Breslau zu einer besonders großen Erregung der Gemüther führten, das eifrigste Interesse gewidmet zu haben. Sehr wahrscheinlich erscheint es mir, wenn auch sichere Nachrichten darüber mir nicht vorliegen, daß Lasker sich auch am regen burschenschaftlichen Leben, welches zu jener Zeit in der Viadrina sich entwickelte, lebhaft betheiligt hat. Das politische Interesse scheint den jugendlichen Studenten so sehr gefangen genommen zu haben, daß er in Wien, wohin er sich gerade in den blutigen Octobertagen begab, um unter Leitung des Professors Endlicher sein Studium fortzusetzen, in die berühmte akademische Legion sich aufnehmen ließ, welche unter Messenhauser und Robert Blum die Hauptstadt Oesterreichs gegen die Schaaren Windischgrätz’s und die Kroatenhorden Jellachich’s zu vertheidigen versuchte. Diese revolutionäre Sturm- und Drangperiode scheint bei dem besonnenen Jünglinge indessen sehr bald vorübergegangen zu sein. Seine Beschäftigung mit dem politischen Leben der Nation, mit den öffentlichen Angelegenheiten; die Entwickelung der Ereignisse mögen wohl den in der rastlosen Gedankenarbeit früh gereiften Jüngling zu dem Entschlusse geführt haben, sich dem Studium der Jurisprudenz zu widmen. Im Jahre 1850 absolvirte er sein Auscultatorexamen; im Jahre 1852 bestand er die zweite Staatsprüfung. In diese Zeit fällt der Tod seines innig geliebten Vaters, und vielleicht, um sich über den schmerzlichen Verlust hinwegzuhelfen, wohl auch, um Erholung von seiner angestrengten Berufsthätigkeit und den sonstigen Arbeiten, denen er oblag, zu finden, begab er sich auf längere Zeit nach England. Hier, im Mutterlande des Constitutionalismus, wo die parlamentarische Regierung nicht nur dem Scheine nach, sondern in Wahrheit besteht, wo die Grundsätze des Rechts und der Volksfreiheit in Fleisch und Blut der Nation und zugleich der leitenden Staatsmänner übergegangen sind, hier verweilte Lasker drei Jahre, die er zum eifrigsten Studium der Verfassung, der Verwaltung und der gesellschaftlichen Verhältnisse des englischen Volkes mit dem besten Erfolge benutzte.

Nach seiner Rückkehr im Jahre 1856 trat er auf’s Neue in den preußischen Staatsdienst ein und arbeitete seit 1858 als Assessor am Berliner Stadtgericht mit dem angestrengtesten Fleiße, mit der größten Ausdauer, obgleich ihm, dem Juden, weder Beförderung noch sonst lohnende Aussichten sich eröffneten. Damals war es, wo ich persönlich Gelegenheit hatte, die Bekanntschaft des jungen, unscheinbaren Assessors zu machen, der als Commissar in einem Concurse eine der schwierigsten und verwickeltsten Rechnungssachen zu bearbeiten hatte. Schon damals fiel mir die Leichtigkeit und Gewandtheit, die von seltener Geisteskraft getragene Sicherheit auf, die Lasker bei allen seinen Amtshandlungen an den Tag legte. Seine Arbeitskraft war geradezu unverwüstlich und wurde auch von seinen Collegen weidlich ausgenutzt. Ihm wurden mit Vorliebe die umfangreichsten und complicirtesten Sachen übertragen.

[552] Das lebhaftere Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten, welches mit dem Eintritt der Regentschaft wieder erwachte, hat auch offenbar den jungen Assessor Lasker ebenso wie seinen damaligen Collegen, den leider früh verstorbenen Eduard Fischel, veranlaßt, den politischen Vorgängen und namentlich der parlamentarischen Entwickelung besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, und er mag wohl schon damals in publicistischen Arbeiten seine Ansichten ausgesprochen haben. Oeffentlich wurde sein Name zum ersten Male genannt, als er Mitarbeiter an den von Dr. Oppenheim herausgegebenen „Jahrbüchern für Politik und Literatur“ wurde. In dem ersten uns bekannten Aufsatze, der aus Lasker’s Feder stammt (aus dem Jahre 1861), „Polizeigewalt und Rechtsschutz in Preußen“ tritt Lasker bereits mit umfassenden Kenntnissen des öffentlichen Rechts in Preußen und zugleich der politischen Verhältnisse und der Stellung der Parteien zu einander hervor.

Als energischer Vertheidiger des Rechtsstaats bekämpft er mit sittlichem Ernste und eindringlicher Logik die willkürlichen Eingriffe der Bureaukratie in die Rechtspflege, wie sie durch das Gesetz vom 11. Mai 1842, „dieses Grundgesetz des Polizeistaats“, dessen leitender Gedanke darin besteht, daß Beschwerden über polizeiliche Verfügungen jeder Art lediglich vor die vorgesetzte Dienstbehörde gehören, sanctionirt worden sind. Man wird schon damals den ernsten Mann des Fortschritts nicht verkannt haben, den treuen und eifrigen Freund des Vaterlandes, wenn er sagt: „England ist ein mächtiges Land geworden, nicht wegen seiner insularen Lage, nicht wegen seiner Handelsverbindungen, nicht trotz seiner Rechtsherrschaft, sondern durch diese. Die Rechtsherrschaft hat ihm die wahre Freiheit gegeben, denn ohne Sicherheit neben ungestrafter Willkür giebt es keine wahre Freiheit. Die Freiheit hat jedem Bürger Englands jenes hohe Selbstbewußtsein gebracht, um welches der einsichtige Bürger des Continents ihn mehr beneidet, als um den Reichthum und die vielen anderen Vorzüge seiner Nation. Das Selbstbewußtsein aber ist die Quelle seiner Thatkraft und seines Wohlstandes, seiner lebendigen Theilnahme am Staatsleben, seiner Opferwilligkeit, Mäßigung, der Kraft des Staats und der innern unerschütterlichen Ordnung.“

Der spätere Parteiführer, der mit Zähigkeit an seinen Grundsätzen festhält, immer im Hinblick auf das Wohl des Vaterlandes seine Ideen verwirklicht sehen will, kennzeichnet sich aber in folgenden Schlußworten der Aufsehen erregenden Abhandlung: „Deutschland braucht England nicht zu beneiden, es kann ihm nachstreben; es braucht nur desselben Wegs zu wandeln, und es wird zu demselben Ziele gelangen. Friedrich der Zweite hatte kaum die äußere Macht Preußens consolidirt, und er begriff diesen Theil seiner Aufgabe. Auf seine Anregung wendete sich der Staat der Rechtspflege zu, und die preußischen Gesetzgeber fingen an, unter der Rechtsherrschaft die Kraftentfaltung zu suchen. Diesem bewußten Streben sind die Gesetzbücher entsprungen. Dieser Geist beherrschte trotz mannigfacher Schwankungen die Geschichte Preußens bis zu der unglücklichen Periode der zwanziger Jahre, ihm verdankt Deutschland seine Regeneration. Daran muß das heutige Preußen anknüpfen, und das übrige Deutschland wird ihm folgen. Auch das gehört zu den Aufgaben Preußens in Deutschland.“

Man wird zugeben, daß in den scharfen und festumschriebenen Anschauungen dieser Abhandlung die Grundlagen des auf Volksfreiheit gegründeten Rechtsstaats in jener prägnanten Weise niedergelegt sind, wie sie bisher nur mit gleicher Schärfe und nur noch mit viel größerem Pathos der Vater der preußischen Demokratie, der verewigte Waldeck, offenbart hatte. Diese und ähnliche Aufsätze über Verfassungsrecht lenkten die öffentliche Aufmerksamkeit immer mehr auf den jungen unbesoldeten Assessor, der sich bald darauf in den Berliner Verein der Presse, in den großen Berliner Handwerkerverein aufnehmen ließ, wo er noch gegenwärtig in der wohlthätigsten Weise wirkt, und in Bezirksvereinen öffentliche Vorträge hält. Während seine staatsrechtlichen Abhandlungen, seine öffentlichen Vorträge die politische Begabung Lasker’s in immer höherem Grade hervortreten ließen, war doch der seltne Umfang seines Wissens, seine Charakterfestigkeit und Sittenreinheit nur seinen nächsten Freunden bekannt, sowie die seltne Uneigennützigkeit, die ihn jeden Erwerb verschmähen ließ, der nicht auf die ehrenwerthesten Quellen zurückgeführt werden konnte.

Aber nicht blos die staatsrechtlichen Studien und die öffentlichen Angelegenheiten erfüllten Lasker’s Herz und Sinn, wenn er ihnen auch sein ernstestes, hauptsächliches Streben zuwendete; auch mit Geschichtsstudien beschäftigte er sich, und die Geisteswerke der berühmten Dichter der deutschen Nation gewährten ihm eine reichliche Quelle der reinsten Genüsse, wie denn seine Mußestunden nicht selten dem Anhören großartiger Tondichtungen gewidmet sind. Noch während Lasker gewissermaßen mit den theoretischen Vorarbeiten auf seine epochemachende Laufbahn als Parlamentarier beschäftigt war, während er die undankbare Arbeit eines unbesoldeten preußischen Assessors mit unermüdlichem Fleiße und nie versiechendem Frohsinn abwickelte, wobei er durch juristische Gutachten, durch publicistische Arbeiten die ihm vom Staat versagten Mittel für seinen Unterhalt zu erwerben suchte, war es seine auch heute noch beibehaltene Gewohnheit, in den Bergen der Schweiz durch rüstige Fußwanderungen jene Erholung zu suchen, welche Körper und Geist stets frisch zu erhalten vermag und die Grundlage seiner unerschütterlichen Gesundheit geworden ist. Mit der wachsenden Anerkennung verlor indeß Lasker keineswegs seine liebenswürdige Bescheidenheit, welche ihm die Freundschaft der besten Männer verschaffen sollte, und weder Aussicht auf Beförderung noch auf Vermehrung seines Einkommens waren im Stande, ihn von der Erfüllung der Aufgaben abzuhalten, die er sich vorgezeichnet hatte, oder ihn von den einmal angenommenen einfachen Gewohnheiten des Lebens abweichen zu lassen. Jahrelang wohnte Lasker im dritten Stockwerk bei denselben schlichten Wirthsleuten und ist mit diesen, die den stillen arbeitsamen Miethsmann, der besonders die Kinder sehr lieb hatte und dies jederzeit in Ernst und Freude bewährte, sehr liebgewonnen hatten, weiter gezogen, als die Umstände sie nöthigten, eine andere Wohnung zu miethen. So war der Mann beschaffen, der wie wenige vor ihm und nach ihm eine Zierde der preußischen und später der deutschen Volksvertretung werden sollte. Bekanntlich hatte sich in jenen Jahren, in welche Lasker’s erstes publicistisches Auftreten fiel, zwischen der preußischen Regierung und dem Abgeordnetenhause aus Anlaß der von der Regierung eigenmächtig durchgeführten Armeereorganisation ein Conflict entwickelt, welcher durch die verfassungswidrige Behandlung des Budgetrechts nach der Uebernahme des Ministeriums durch Herrn von Bismarck-Schönhausen eine ungewöhnliche Schärfe erhielt.

Lasker’s publicistische Arbeiten in den „deutschen Jahrbüchern“ behandelten vorzugsweise die Fragen des Budgetrechts und der preußischen Verwaltung und zeugten von so überraschenden staatsrechtlichen Kenntnissen, von so gründlicher Gelehrsamkeit, daß die damals den Ausschlag gebende Fraction der Fortschrittspartei den Wunsch hegen mußte, eine so hervorragende noch jugendliche Kraft für die parlamentarische Thätigkeit zu gewinnen, welche selbst der schlagfertigen Dialektik des nicht immer zuverlässigen Gneist auf staatsrechtlichem Gebiete gewachsen war. Es war indeß selbst in der Conflictszeit, wo der Einfluß der Fortschrittspartei auf die einzelnen Wahlkörper sehr weitreichend war, immerhin ungemein schwierig, Lasker einen Sitz in der Volksvertretung zu verschaffen. So freisinnig die Wählerschaften in Preußen sich auch geberdeten, so bewährten sie doch größtentheils den alten Ausspruch Lessing’s: „Es ist nicht Jeder frei, der seiner Ketten spottet.“ Es wäre geradezu unmöglich gewesen, in einem ländlichen Kreise Lasker durchzubringen, und so mußte schon der Versuch gemacht werden, in Berlin selbst dem jüdischen Assessor zu einem Mandat zu verhelfen. Wiederholt mißlang indeß dieser Versuch, da selbst die gebildete Wählerschaft des ersten Wahlbezirks der Hauptstadt der Intelligenz sich nicht auf die Höhe der Aufklärung emporschwingen konnte, den „Juden“ Lasker zum Abgeordneten zu wählen. Erst im März 1865, als Professor Temme aus Zürich sein Mandat für den vierten Wahlbezirk niederlegte, gelang es ihm, einen Sitz in der Volksvertretung zu erhalten.

Sein erstes Auftreten im preußischen Abgeordnetenhause, am 27. März 1865, fiel in eine späte Nachmittagsstunde und seine vor einem ermüdeten Hause gehaltene Jungfernrede, der wir selbst beiwohnten, machte fast eine komische Wirkung, die durchaus nicht den Erwartungen entsprach, mit denen man dem [553] Eintritte des bereits berühmten Publicisten entgegengesehen hatte. Aber allmählich eroberte sich der kleine unscheinbare Mann mit dem durchaus nicht dialectfreien, aber kräftigen und durchdringend deutlichen Organe durch seine Arbeitskraft, durch sein Staunen erregendes Wissen und den sittlichen Ernst, den er den parlamentarischen Arbeiten entgegentrug, die Anerkennung, ja die Liebe seiner Parteigenossen und schließlich auch die Achtung seiner Gegner. Wir haben selbst aus Waldeck’s Munde die wärmsten Zeugnisse für die große Begabung, für die seltene Tüchtigkeit des neuen Fortschrittsmannes vernommen. In dem letzten Jahre des Conflict’s konnte indeß Lasker’s eigenthümliche, hervorragende Begabung neben Waldeck, Overbeck, Twesten, Forckenbeck, Virchow sich nicht mehr in dem hohen Grade geltend machen, wie es unzweifelhaft der Fall gewesen wäre, wenn er seit Bildung der deutschen Fortschrittspartei derselben angehört hätte. Gleichwohl trat er bei verschiedenen Gelegenheiten bereits damals hervor und entwickelte eine immer größere Redegewandtheit, die sich fern von allem Phrasenschwalle hielt und stets mit logischer Schärfe in den Kern der Sache einzudringen suchte. Erst mit der Begründung der nationalliberalen Partei, an welcher Lasker sicherlich in der vollen Ueberzeugung, seinem Vaterlande auf diese Weise am besten nützen zu können, einen großen Antheil nahm, begann der ruhmvollste Theil seiner politischen Laufbahn. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn wir constatiren, daß seit der Beilegung des großen Conflicts im Jahre 1866 kaum ein Gesetz für die preußische Monarchie, den norddeutschen Bund und das deutsche Reich zu Stande gekommen ist, das nicht in hervorragender Weise den Stempel des Lasker’schen Geistes trägt. Erst bei der Berathung der Verfassung des norddeutschen Bundes setzte sich Lasker in einen scharfen Gegensatz zur Fraction der Fortschrittspartei, indem er zunächst die Verfassung unter allen Umständen hergestellt wissen wollte, wenn dieselbe auch nicht seinen eigenen Ansprüchen auf Centralisation der Reichsgewalt und Reichsgesetzgebung entsprach und noch weniger in Bezug auf die constitutionellen Garantien und die Rechte der Reichsbürger. Er gab sich der Hoffnung hin, daß, wenn erst die Verfassung in’s Leben getreten sein würde, es der deutschen Nation nicht schwer fallen könne, das ihr gebührende Maß von Freiheitsrechten zu erlangen, und daß innerhalb der beschlossenen Formen eine Entwicklung der Verfassung keinen Schwierigkeiten begegnen würde. Es ist bekannt, daß diese Haltung den Vertreter des ersten Berliner Wahlbezirks im constituirenden Reichstage um das Vertrauen seiner Berliner Wähler brachte, die in ihrer großen Majorität noch heute mit den Gesichtspunkten einverstanden sind, welche Waldeck und seine fortschrittlichen Freunde veranlaßt haben, gegen den norddeutschen Verfassungsentwurf zu stimmen.

Auf der Höhe seiner parlamentarischen Laufbahn angelangt, tief eingreifend und mitentscheidend bei der Gesetzgebung für sein Volk, einflußreich im Rathe der Nation, blieb Lasker noch immer der unbesoldete Gerichtsassessor, bis endlich im Jahre 1870, nach endlicher Beseitigung eines unfähigen Justizministers, ihm eine Rechtsanwaltstelle am Berliner Stadtgericht zu Theil geworden ist, die er indeß bis zu diesem Augenblick niemals zu einer Quelle des Erwerbes gemacht hat. Erst nach dem Tode Twesten’s trat er in das Pfandbriefamt der Berliner Stadtgemeinde ein, dessen definitive Uebertragung mit einem einigermaßen nennenswerthen Gehalte auch erst in diesem Jahre erfolgt ist. Lasker’s Bedürfnißlosigkeit, die durchaus fern ist von ascetischer Enthaltsamkeit, setzte ihn in den Stand, seine äußere und innere Unabhängigkeit mit der größten Gewissenhaftigkeit aufrechtzuerhalten und den mannigfaltigsten Verlockungen, die sowohl seitens der Staatsverwaltung als auch von einflußreichen Privatmännern an ihn herangetreten sind, zu widerstehen.

Es wäre ihm vielleicht nicht minder leicht geworden, als Herrn von Bennigsen, ein einflußreiches Staatsamt zu erlangen, oder als Herrn Miquél, ein mehr als fürstliches Einkommen sich zu verschaffen, aber gerade die Integrität seines Charakters, die ihn vor solchen Versuchungen beschützte, stellt ihn hoch in den Augen der Nation. Nur ein Mann von Lasker’s Charakter war im Stande, jene Eiterbeule der Corruption aufzustechen, welche in Folge des Gründungsschwindels und des Milliardensegens auch in unserem Vaterlande zu wuchern begann und bereits die Spitzen des Beamtenthums angefressen hatte. Wenn die Ergebnisse der auf königlichen Specialbefehl angeordneten Untersuchung über die preußische Eisenbahnverwaltung erst veröffentlicht sein werden, dann erst werden die Verdienste, die Lasker sich um die Sittlichkeit und den öffentlichen Verkehr erworben hat, noch leuchtender hervortreten.

Aber Lasker’s Auftreten gegen den Gründungsschwindel im preußischen Abgeordnetenhause und im deutschen Reichstage ist, wenn auch sein hervorstechendstes Verdienst, das die Blicke von fast ganz Europa auf den kleinen jüdischen Abgeordneten lenkte, doch keineswegs der Gesammtinhalt oder auch nur der Gipfel seiner parlamentarischen Thätigkeit. Wie er im constituirenden Reichstage mit unablässigem Bemühen für die freisinnige Gestaltung der Bundesverfassung gewirkt hatte, so kämpfte er in den späteren Reichstagen des norddeutschen Bundes und deutschen Reichstages mit unerschrockenem Muthe für den freiheitlichen Ausbau der Reichsverfassung. Seine Anstrengungen um die Herbeiführung eines einheitlichen Rechts für das deutsche Reich, sein Einfluß auf eine rationelle Entwickelung der Gewerbegesetzgebung sind anerkannt, aber auch aus seiner offenen und ehrlichen Ueberzeugung machte er niemals ein Hehl, welche die Einheit Deutschlands auf die Freiheit gegründet wissen, welche den Rechtsstaat überall verwirklicht wissen wollte. Unvergessen ist seine consequente Haltung in der Diätenfrage, durch deren endliche Lösung eine gesunde Entwickelung der Reichsverfassung bedingt ist, seine auf endliche Herstellung eines der Controle der Volksvertretung unterworfenen Militär-Etats gerichteten Bestrebungen, die nicht sowohl die Schwächung der deutschen Wehrkraft, als vielmehr die Schonung der durch die unselige Pauschquantumswirthschaft geschädigten wirthschaftlichen Kräfte der Nation bezweckten. Noch in Aller Erinnerung steht die scharfe Logik, die unwiderlegliche Kraft der Beredsamkeit, mit welcher er in der letzten Reichstagssession den Grundsatz der Gleichberechtigung zwischen Militär- und Civilbeamten bei der Berathung über das Gesetz wegen der Wohnungsgeldzuschüsse vertrat. Diesem Grundsatze der gleichen Rechte und gleichen Pflichten verhalf der jederzeit unermüdliche und vorbereitete parlamentarische Streiter auch im preußischen Abgeordnetenhause bei Berathung der Kreisordnung in nicht unwichtigen Punkten zum Siege. Wenn Lasker’s redliche Bemühungen um das Zustandekommen einer freisinnigen Gesetzgebung, für den freiheitlichen Ausbau der Reichsverfassung nicht immer den gewünschten Erfolg haben, so trägt wesentlich der Umstand die Schuld, daß die zahlreiche nationalliberale Fraction, deren begabtester und zugleich redlichster Führer er ist, nur zum geringsten Theile aus Männern besteht, welche die große Aufgabe eines preußischen und deutschen Volksvertreters mit derselben sittlichen Kraft erfaßt haben, wie Eduard Lasker.

Wir haben schon hervorgehoben, daß die ungetheilte Anerkennung aller vaterlands- und freiheitliebenden Männer dem selbstlosen, eingreifenden Wirken Lasker’s in den Parlamenten zu Theil geworden ist; wir fügen hinzu, daß in den letzten Wochen Lasker seitens der Universität Leipzig auch eine äußere Auszeichnung erhalten hat, indem ihn die dortige juristische Facultät wegen seiner Verdienste um die deutsche Rechtseinheit zum Ehrendoctor creirte, eine Auszeichnung, mit der zu gleicher Zeit der verdienstvolle Präsident des Reichskanzleramts Delbrück beglückt geworden ist. Noch sind leider trotz aller Fortschritte unserer gerühmten Civilisation und Aufklärung die Vorurtheile im gesellschaftlichen und staatlichen Leben Deutschlands nicht so weit beseitigt, daß Aussicht vorhanden wäre, eine so reich und allseitig gebildete Kraft für ein höheres Staatsamt zu gewinnen, wo sie zur vollen Entfaltung ihrer segensreichen Thätigkeit die meiste Gelegenheit haben würde. Freuen wir uns indeß, daß ein so rastloser, muthiger Arbeiter für constitutionelles Recht und Freiheit dem deutschen Vaterlande in Eduard Lasker erwachsen ist, der sich nicht scheut, unter Umständen selbst dem gefürchteten Kanzler des deutschen Reichs entgegenzutreten und selbst ihm gegenüber die Bedeutung der Volksrechte mit Nachdruck zu betonen, welche leider nicht immer von allen Volksvertretern in gleicher Weise hochgehalten werden.

Indem wir in vorstehenden Zeilen eine Würdigung des Politikers und Staatsmannes versuchten, haben wir zugleich angedeutet, daß sein parlamentarischer Ruhm durchaus abhängig gewesen ist von seiner geistigen und humanen Entwicklung. Späteren Zeitgenossen oder vielleicht erst den Nachkommen wird [554] es vorbehalten sein, tiefer in dieselbe einzudringen, als die Mitlebenden es vermögen, welche nicht unzart den Schleier von Privatverhältnissen lüften dürfen, wenn sie auch dem Manne zur höchsten Ehre gereichen sollten.

Lasker’s hohe geistige Begabung sprudelt aus dem reichen, unerschöpflichen Quell eines für alles Schöne, Hohe und Edle im Menschenleben empfänglichen Gemüths. Wenige Menschen dürfen sich rühmen wie er, die innige, uneigennützige Freundschaft der wackersten Männer gewonnen zu haben, wie denn die ergreifenden Worte, die Lasker am Grabe seines allzu früh verstorbenen Freundes Twesten gesprochen hat, sehr deutlich bekunden, wie theuer er selbst dem dahingeschiedenen Patrioten gewesen ist. Nur die Freuden der Familie sind ihm versagt geblieben.

Lasker steht gegenwärtig im dreiundvierzigsten Lebensjahre; er hat eine kleine, unscheinbare Figur; aber aus den feinen, intelligenten Gesichtszügen, die von einem dunkeln, bereits grau melirten Barte umrahmt sind, spricht ein energischer Geist, ein scharfer Verstand. Er vermag weder in seinem Antlitze, noch in seiner Redeweise, welche allerdings durch die fortwährende Uebung sein Organ völlig abgeschliffen hat, den Abkömmling der auserwählten Nation zu verleugnen. Durch seine mäßige Lebensweise, durch seine Fußwanderungen in der freien Natur hat er seinen an sich schwächlichen Körper in einer Weise gestählt, daß derselbe den Anstrengungen eines der rastlosesten Geistesarbeit gewidmeten Lebens gewachsen ist. Möge dasselbe dem deutschen Vaterlande noch lange erhalten bleiben!
Siegfried.




Ein Geschenk für den Fürsten Bismarck.


Mit der letzten Ueberlandpost kam hier in London ein ebenso merkwürdiges, wie prächtiges Geschenk an, welches in den nächsten Wochen dem Fürsten Bismarck überreicht werden soll.

Bismarck’s Schreibzeug.
Deutsches Geschenk aus Australien.

Der Ueberbringer und zugleich Schenker desselben ist Herr K –, ein in Melbourne wohlbekannter Mann, der in den Colonien die letzten einundzwanzig Jahre seines Lebens zugebracht und daselbst viel Gutes gethan hat. Viele seiner Bekannten – namentlich auch die Mannschaft des deutschen Kriegsschiffes „die Nymphe“ – werden sich noch lange seiner Gastfreundschaft und Herzlichkeit erinnern, die er Jedem zu Theil werden ließ, der sein Haus betrat. Schreiber dieses hat selbst verschiedentlich Gelegenheit gehabt, ihm für seine freundliche Aufnahme zu danken.

Längere Zeit vor der Abreise des Herrn K – faßte die deutsche Einwohnerschaft der Goldstadt Sandhurst in Victoria den Plan, ein Geschenk und eine Adresse an den Fürsten Bismarck zu senden, um ihm dadurch zu beweisen, daß und wie man seiner auch an den fernsten Enden der Welt gedenke. Dieser Plan wurde namentlich durch die Dazwischenkunft und gewohnte Freigebigkeit des Obenbezeichneten zur Ausführung gebracht. – Das Geschenk besteht aus einem Schreibzeug, welches vollständig in Australien und nur aus australischem Material angefertigt ist. Das Piedestal desselben, aus dem sogenannten Blackwood hergestellt, ist mit einer ciselirten Silberplatte belegt, deren Metall in einer der australischen Minen gefunden wurde. An jeder Seite befindet sich ein Tintenfaß, bestehend aus je einem Emu-Ei (Kasuar-Ei), welches von einem ciselirten, durchbrochenen Silbermantel bedeckt wird. Es macht sich dies besonders gut, da sich das weiße Silber von den dunkelgrünen Emu-Eiern prächtig abhebt. Der Deckel eines jeden Tintenfasses trägt je einen Emu, der in silbernen Farrenkräutern seinen Wohnort aufgeschlagen hat. Zwischen diesen liegen eine Anzahl Goldquarzstücke der reichsten Art, die den dortigen reichen Minen entnommen sind und das edle Metall in dicken Adern enthalten. Zur Linken befindet sich eine keine Winde, mit einem Eimer daran, welche die Art und Weise, wie man das Quarz heraufholt, darstellen soll. Vor dieser kleinen Felspartie sehen wir einige Schwarze, die eben im Begriff sind, den Spieß auf einige Känguruhs zu schleudern. Die Wahl gerade dieser beiden Thiere als Schmuckstücke hat insofern besondere Bedeutung, als Beide, Emu und Känguruh, die zwei Thiergattungen repräsentiren, welche die ersten Ansiedler dort als einheimische vorfanden. Diese Schmucktheile sind von massivem Silber hergestellt und die Gestalten der Eingebornen höchst getreu der Natur nachgearbeitet. Ueber dem Ganzen erhebt sich ein stolzer Farrenbaum, dessen Stamm aus solidem Silber getrieben ist, während die Zweige aus australischen Pfund-Sterling-Stücken geschlagen wurden. Das Ganze bietet einen prächtigen Anblick dar, und ich glaube sagen zu dürfen, daß Fürst Bismarck unter seinen vielen kostbaren Geschenken ein ähnliches Prachtwerk schwerlich finden dürfte. Ein in Australien fabricirter lederner Behälter schließt das Schreibzeug ein. –

Die Adresse, auf Pergament von einem deutschen Künstler ausgeführt und mit acht medaillonförmigen kleinen Gemälden verziert, die den allmählichen Fortschritt der Colonien darstellen, ist von einer Anzahl der einflußreichsten Deutschen in Sandhurst unterschrieben. Sie hat Buchform mit einem Einband, welcher von der Detmold’schen Buchbinderei in Melbourne dazu geliefert worden ist.

Schließlich bitte ich die Geber hier noch um Verzeihung, falls sie diesen Artikel jemals zu Gesicht bekommen, daß ich ihr Geschenk, ohne dazu ermächtigt zu sein, den Lesern der Gartenlaube schilderte. Ich konnte es aber nicht über mich gewinnen, eine als Kunst- und Werthstück so beachtenswerthe Gabe in diesem Blatte unerwähnt zu lassen.

     London, im Juli 1873.
C. Woltmann.



[555]

„Wie ein Leichnam sollt Ihr werden!“


„Wie ein Leichnam sollt Ihr werden,“
Tönt Loyola’s Zauberspruch,
Und so hüllen sie Europa
Wieder in ein Leichentuch!

5
Keine That im Reich der Geister

Weckt lebend’gen Wiederhall;
Nur die Heil’gen reden dreister –
Zeichen, Wunder überall!

Welke Königslilien schmücken

10
Eine Bastardrepublik,

Die zu Gnadenbildern pilgert,
Um’s Gewand den Büßerstrick,
In der Hand die frommen Kerzen,
In den Augen Himmelslust,

15
Auf der Brust geweihte Herzen –

Nichts Geweihtes in der Brust.

Frankreichs große Todte regen
Zürnend sich im Heiligthum;
Wie im Dom der Invaliden

20
Schläft des Volkes Macht und Ruhm;

Die der Geister Schlacht geschlagen,
Sehn erzürnt den nächt’gen Trug;
Die des Adlers Blitz getragen,
Schauern vor dem Eulenflug.

25
Königliche Paladine

Kämpfen bei Trompetenschall;
Dort, wo Roland’s Horn ertönte
Einst im Thal von Ronceval,
Wo im Schlachtenungewitter

30
Karl’s des Großen Stern erblich,

Drängen jetzt die irren Ritter
Um die kleinen Karle sich.

Du zerfleischtes Land der Stolzen,
Spanien, du Marmorbraut,

35
Die mit thränenlosen Augen

Auf ihr wachsend Elend schaut:
Nur der Purpur und die Stola
Retten dich zum letzten Mal;
Dich begraben die Loyola

40
Wieder im Escurial.


Einer nur von sieben Hügeln
Bleibt dem priesterlichen Rom;
Doch noch wölbt die alte Kuppel
Stolz sich über Petri Dom.

45
In der Völker bang Gewissen

Schleicht von Neuem alter Wahn;
Denn von Sonnenfinsternissen
Dunkelt’s um den Vatican. –

„Wie ein Leichnam sollt Ihr werden,“

50
Tönt Loyola’s Zauberspruch.

Deutsches Reich, du neugebor’nes,
Trotzest diesem Bann und Fluch.
In der Heimath eines Hutten
Zünden Eure Strahlen nicht,

55
Und mir leuchten dunkeln Kutten

Unverzagt in’s Angesicht.

Licht des Geistes, schimm’re freudig
Von des Reiches Zinnen her!
Geist der Freiheit, brause mächtig

60
Durch die Lande segensschwer!

Der Verwesung laß die Leichen!
Die Lebend’gen athmen frei,
Daß dies Reich vor allen Reichen
Fels und Hort der Menschheit sei!

Rudolf Gottschall.




Der Vampyr-Schrecken im neunzehnten Jahrhundert.
I.

Dem Jahre 1872 blieb es vorbehalten, den Beweis von der ungeschwächten Fortdauer der ohne Frage furchtbarsten Wahnvorstellung, welche jemals die überreizte Phantasie eines kranken Gehirnes ausgesponnen hat, bis vor ein preußisches Obertribunal zu bringen. Denn furchtbar muß der Vampyrglaube nicht blos wegen seines selbst starke Nerven erschütternden Inhalts genannt werden, sondern noch mehr wegen der Lebensgefahr, in welche er, einer ansteckenden Seuche gleich, die von ihm Befallenen stürzt. Ich bitte im Voraus diejenigen meiner freundlichen Leser, die leicht von bösen Träumen heimgesucht werden, den nachfolgenden Bericht, welchen ich aus den zuverlässigsten Quellen schöpfen konnte, lieber Vormittags oder bei hellem Tage, als Abends oder Nachts zu lesen, da ich mich außer Stande sehe, das Gräßliche des Gegenstandes zu mildern, obwohl ich mich natürlich bestreben werde, es nicht durch Uebertreibungen zu verschlimmern.

Am 5. Februar 1870 war zu Kantrzyno (Kreis Neustadt in Westpreußen) der Antheilsbesitzer und Kirchenvorsteher Franz von Poblocki im Alter von dreiundsechszig Jahren an der Auszehrung verstorben und auf dem Friedhofe des jenseits der Provinzialgrenze belegenen Dorfes Roslasin (Kreis Lauenburg in Pommern) am 9. Februar beerdigt worden. Wenige Tage darauf erkrankte sein ältester, achtundzwanzig Jahre alter Sohn Anton und starb am 18. desselben Monats, nach Aussage des erst kurz vor dem Tode herbeigerufenen Arztes an der sogenannten galoppirenden Schwindsucht. Da fast gleichzeitig die Gattin des Erstgenannten und eine jüngere Tochter desselben erkrankten, ein zweiter Sohn und ein Schwager (von Wittke) sich sehr unwohl fühlten und alle Genannten über unbeschreibliche Angst und Beklemmung klagten, so kam man auf den „in hiesiger Gegend weitverbreiteten Aberglauben“ – ich gebrauche die Worte des freundlichen Auskunftgebers, dem ich die meisten Einzelnheiten verdanke –, daß der verstorbene Vater ein sogenannter Vampyr sei, und daß sie Alle sterben müßten, wenn nicht schleunigste Hülfe geschafft werde. Ein Vampyr ist der Ueberlieferung nach ein Leichnam, welcher im Grabe fortlebt, des Nachts aus demselben emporsteigt, um lebenden Menschen, zunächst seiner eigenen Blutsverwandtschaft, den kostbaren Lebenssaft auszusaugen, um sich damit zu ernähren und in gutem Zustande zu erhalten, statt, gleich anderen Leichen, zu verwesen. Die Angegriffenen, die sich zuweilen im Traume an der Gurgel gepackt und gewürgt fühlen, aber sich des furchtbaren Besuchers, der auf ihrer Brust liegt, nicht erwehren können, siechen schnell dahin und müssen nach ihrem Tode (gleichsam durch den Biß des Vampyrs mit einer unter den Todten grassirenden Lebensseuche angesteckt) ebenfalls Vampyre werden, und so weiter ohne Ende, bis man durch Gewaltmittel dem Schrecken der Gegend ein Ende macht. Die abergläubischen Mittel gegen den Vampyrismus lassen sich in drei Classen theilen: Vorbeugungsmittel gegen Leute, die Anlage haben, Vampyre zu werden, Ermordung der Vampyre und Heilmittel für die bereits angesteckten.

Nach den Anschauungen, die sich im Bereiche dieses Aberglaubens, der, wie wir später sehen werden, eigentlich in griechisch-katholischen Ländern zu Hause, jüngeren Ursprungs aber in Polen und Westpreußen ist, ausgebildet haben, bringt der Mensch die Anlage zum Vampyrwerden mit der sogenannten Glückshaube, die sonst fast in allen Zeiten und bei allen Völkern, wie schon der Name sagt, als ein glückbringendes Zeichen betrachtet wurde, auf die Welt. Solche Vampyrs-Candidaten sollen ferner stets ein wenig rechthaberisch und geizig sein. Die Hauptkennzeichen ergeben sich am Leichname. Das Gesicht bleibt roth, das Blut flüssig; die Todtenstarre und der Verwesungsgeruch bleiben aus, gerade wie bei einem Scheintodten, als welcher der Vampyr ja auch im Volke betrachtet wird. Wie weit diese Kennzeichen an der frischen Leiche des Gutsbesitzers Poblocki beobachtet worden sind, habe ich nicht ermitteln können, jedenfalls hatte man unterlassen, die wirksamen Vorkehrungen bei der Beerdigung zu treffen, welche so einem unruhigen Todten das Wiederkommen verleiden oder erschweren. Dieselben bestehen theils in Beschäftigungsspielen (Beutelchen mit Mohnkörnern zum Zählen oder ein Fischnetz zum Auftröseln), theils in Mitteln, das Aufstehen, Saugen oder Bewegen der Kinnladen zu erschweren (ein paar Ziegelsteine über die Füße, Sand auf Augen und Mund, einen Stein unter’s Kinn oder in den Mund), theils endlich in religiösen Vorkehrungen, wohin der Gebrauch, den verdächtigen Todten kleine Espenholzkreuze in die Hände zu drücken, gehören möchte. Die sicherste, aber, wie man sagt, für den Todten qualvollste Maßregel besteht darin, daß man ihn verkehrt, Mund und Gesicht nach unten, in den Sarg legt. Sind diese Mittel unterlassen worden und hat sich der Todte durch sein dem Leben Anderer nachstellendes Benehmen als Vampyr entpuppt, so giebt es, von den schwächeren zu den stärkeren Mitteln aussteigend, verschiedene Wege, ihn unschädlich zu machen, die alle auf Ermordung des nur scheinbar todten Vampyrs hinausgehen. Sie bestehen darin, daß man der ausgegrabenen Leiche, die sich dann durch blühendes Aussehen auszeichnet, einen zugespitzten Holzpfahl durch Brust und

[556] Herz treibt, den Kopf mit einem Grabscheite vom Rumpfe trennt, ihn aber nicht daselbst liegen läßt, weil er sonst wieder anwachsen würde, sondern ihn zwischen die Beine der Leiche, den Mund zu unterst, legt, oder endlich, wenn Alles nicht hilft, ihn zu Asche verbrennt. Bei dieser Operation vernimmt man, wie die düstere Sage weiter meldet, ein schweres Stöhnen, mitunter auch ein wildes Gelächter aus dem Munde des Vampyrs, und das Lebenden abgesogene Blut fließt in reichlicher Menge aus der Wunde.

Für die Erkranken, die bereits den Besuch des Vampyrs empfangen hatten, giebt es endlich einige wenige Mittel, sich zu retten: sie müssen Erde vom Grabe des Vampyrs essen oder besser sich mit dem Blute desselben salben, oder am besten das letztere mit Branntwein oder mit Mehl zu Brod gebacken genießen. Nach der Ansicht der fanatischen Anhänger dieses Aberglaubens schützen aber auch diese Mittel nur vor dem jähen Tode, und der einmal Angesteckte bleibt dem Geheimbunde der lebendigen Todten dennoch verfallen.

Nachdem der älteste Sohn des Hauses, Anton von Poblocki, seinem Vater so schnell gefolgt war, und mehrere seiner Geschwister sowie die Mutter erkrankt waren, bildete sich die vielleicht schon früher gehabte Vermuthung, daß der Vater in den Vampyrstand getreten sei, zu einer fixen Idee aus, man versammelte an den Betten der Erkranken einen Familienrath, in welchem einstimmig beschlossen wurde, das drohende Unheil durch die wirksamsten der eben erörterten Mittel zu bekämpfen. Die Ausführung wurde dem zweitältesten Sohne Joseph, der durch die beiden Sterbefälle so schnell zum Oberhaupte der Familie geworden war, übertragen. Da sein verstorbener Bruder nunmehr der Theorie dieses Aberglaubens zufolge ebenfalls aus einem Opfer des Vampyrs ein Bundesgenosse geworden war, wurde damit begonnen, ihm in der beschriebenen Art das Haupt vor die Füße zu legen. An dem Leichname des Vaters sollte die nämliche Operation in der Nacht vor dem Begräbnisse des im Stillen enthaupteten Sohnes vorgenommen werden. Joseph von Poblocki traf am Tage vor der Beerdigung, die aus den 22. Februar festgesetzt war, in Begleitung zweier beherzter, mit Radhacke und Spaten bewaffneter Arbeitsleute aus Kantrzyno in Roslasin ein und setzte sich mit dem Todtengräber des Ortes in Verbindung, demselben ein gut Stück Geld anbietend, wenn er das Grab für seinen Bruder so nahe an das des Vaters machen wolle, daß man in der Nacht ohne sonderliche Mühe die Erdscheidewand durchbrechen könne, um den Sarg des vermeintlichen Vampyrs zu öffnen.

Der Todtengräber sagte seine Mitwirkung zu diesem auf Rettung einer ganzen Familie gerichteten Unternehmen zu, und man stärke sich im Dorfkruge durch Bier und Spirituosen zu dem schaurigen Vorhaben. Inzwischen kamen dem Todtengräber doch einige Bedenken gegen den heimlichen Charakter des nächtlichen Werkes; er entdeckte dem Ortspfarrer Block die ganze Angelegenheit, wahrscheinlich erst, um von ihm zu erfahren, ob etwas Unrechtes an der Sache sei. Der würdige Geistliche beschränkte sich nicht darauf, ihm jede Betheiligung an der beabsichtigten Friedhofs-Entweihung zu untersagen und ihm aufzutragen, das Grab für den Sohn in angemessener Entfernung von dem des Vaters aufzuwerfen, sondern er ließ auch die Fremden vor der Ausführung ihres straffälligen Vorhabens warnen und den Arbeitern das Betreten des Friedhofes untersagen. Außerdem beauftragte er seinen Organisten und den Dorfnachtwächter, den Friedhof während der Nacht zu beobachten, um die in Aussicht genommene Grabschändung zu abergläubischen Zwecken zu verhüten. Der Organist wachte bis ein Uhr Nachts, ohne etwas Auffälliges zu bemerken; der Nachtwächter hat dann auch später – aus welchen Gründen, ist nicht erörtert worden – nichts wahrgenommen. Dagegen erwachte der Besitzer des nahe beim Friedhof gelegenen Dorfkruges und vernahm ein dumpfes Gepolter, welches von dem Aufschlagen der hartgefrorenen Erdschollen auf den Sarg hervorgebracht wurde, den man eben im Begriff war, wieder mit Erde zu bedecken. Er rief den auf dem Friedhofe beschäftigten Leuten zu, was sie da machten, erhielt aber keine Antwort und jagte sie endlich durch seine Annäherung in die Flucht. Auf diese Weise wurde die Arbeit unterbrochen und der Sarg erschien am andern Morgen nur zur Hälfte von Erde bedeckt.

Der Pfarrer Block, dem am andern Morgen sogleich Anzeige von dem trotz seiner Vorsichtsmaßregeln ausgeführten Werke des Aberglaubens gemacht wurde, begab sich früh an Ort und Stelle, und ließ den Sarg vollends bloßlegen und öffnen. Der Anblick war der zu erwartende. Der Kopf der Leiche lag am Fußende des Sarges, mit dem Gesichte nach unten gekehrt. Das letztere zeigte einen ruhigen Ausdruck, etwas geröthete Wangen und aufgeworfene Lippen, wie sie der Verstorbene bei Lebzeiten nicht besessen haben soll. Auch zeigte sich kein auffälliger Verwesungsgeruch, der indessen bei einer seit vierzehn Tagen beerdigten Leiche in der kalten Jahreszeit auch kaum zu erwarten gewesen wäre. Blut war im Sarge nicht wahrzunehmen; die Trennungsfläche am Rumpfe erschien natürlich blutroth. Der Pfarrer ließ den Sarg schließen und das Grab zuwerfen, nahm die bei der Flucht zurückgelassene Radhacke, welche sogleich von dem Todtengräber als das Eigenthum eines der Arbeiter erkannt wurde, mit denen er am Tage vorher verkehrt, als Beweismittel an sich, und erhob, nachdem er bei der Beerdigungsfeierlichkeit des Anton von Poblocki Gelegenheit genommen, den Leidtragenden wie den herbeigeeilten Dorfbewohnern das Sinnlose des Vampyr-Aberglaubens darzustellen, gegen Joseph von Poblocki und seine beiden Hülfsarbeiter bei der Staatsanwaltschaft Anklage wegen Entweihung eines Grabes zu abergläubischen Zwecken. Der hiermit eingeleitete Vampyr-Proceß hat länger als zwei Jahre bis zu seiner endgültigen Entscheidung gespielt und verdient wegen der darin hervorgetretenen Meinungsverschiedenheiten der Juristen über eine anscheinend einfache Gesetzesübertretung eine eingehendere Betrachtung.

Das Kreisgericht zu Lauenburg hielt die Rechtswidrigkeit der Handlung für zweifellos und verurtheilte im October 1870 den Gutsbesitzer Joseph von Poblocki und den Arbeitsmann Johann Dzigcielski, welcher an beiden Leichen die von dem Aberglauben geforderte Operation der Köpfung vermittelst eines Spatens vorgenommen hatte, zu je vier Monaten Gefängniß; den andern Arbeiter, welcher nur in weniger wesentlichen Dingen Beistand geleistet, zu sechs Wochen Gefängniß. Die Verurtheilten appellirten gegen dieses Erkenntniß mit dem Hinweise darauf, daß sie sich im Zustande der Notwehr befunden und ohne jede bösliche Absicht Dasjenige begangen hätten, was man ihnen als Verbrechen auslege. Rettung des eigenen Lebens durch ein Mittel, welches keinem Mitlebenden Schaden verursache, welches aber auf öffentlichem Wege nicht zu erreichen gewesen, der Umstand, daß dieses Mittel das einzige sei, was helfen könne, gegen Todesgefahren, die kein Arzt abzuwenden im Stande wäre, seien die Motive der dadurch gewiß hinreichend entschuldigten Handlung. Das Appellationsgericht zu Cöslin schloß sich im Allgemeinen diesen Ausführungen an und sprach die Angeklagten demgemäß von aller Strafe frei, da der Nachweis einer schlechten Absicht, – des dolus, wie die Actensprache sich ausdrückt, – vollkommen mangele. Indessen wollte der Oberstaatsanwalt eine derartige Auffassung, welche die Straflosigkeit jeder durch den Aberglauben veranlagten Gesetzesübertretung, sofern daraus ein directer Schaden für Niemand erwächst, proclamiren würde, denn doch nicht gelten lassen und wies die Angelegenheit zu einer neuen Beweisaufnahme, insbesondere hinsichtlich der Dolus-Frage, vor das Kreisgericht zu Lauenburg zurück. Hier ergab sich nun allerdings bis zur Zweifellosigkeit, daß die Angeklagten, wie man zu sagen pflegt, im besten Glauben – im schlechtesten, wäre wohl richtiger – gehandelt, daß die gesammte Familie noch jetzt fest der Ueberzeugung sei, der verstorbene Vater sei ein Vampyr gewesen, daß man ohne Schwanken beschlossen habe, das einzige Schutzmittel, so schrecklich es auch sei, anzuwenden. Eine der Töchter, Antonie, die sich seitdem an einen Edelmann in Westpreußen verheiratet hat, erklärte freiwillig vor dem Kreisgericht in Neustadt, daß sie es gewesen, welche den Arbeitsmann Dzigcielski überredet habe, dem verstorbenen Bruder den Kopf abzuhacken. Alle Erkrankten der Familie hatten von dem hierbei gewonnenen Vampyrblute – oder von dem des Vaters, genau kann ich diesen Umstand nicht angeben, – genossen und Alle waren darnach gesund geworden, mit Ausnahme der Mutter des Hauptangeklagten, Josephine von Poblocki, die es nicht über sich gewinnen konnte, den schrecklichen Trank zu genießen, die aber auch dafür, wie ihr Sohn Joseph den Gerichten gegenüber behauptete, am 28. Februar 1870, also in demselben Monat, ihrem Gatten [557] und Sohne in’s Grab folgen mußte. Was half es, daß der Arzt ihre Krankheit als ein bei der vorhergegangenen Aufregung sehr erklärliches Nervenfieber bezeichnete: die Familienglieder waren überzeugt, die eigentliche Todesursache besser zu kennen. Ob man auch an dem Leichname der Mutter die mehrerwähnten Vorsichtsmaßregeln getroffen, ist mir nicht bekannt geworden; vielleicht schützte sie dagegen der Aberglaube selber, welcher in der Regel nur von männlichen Vampyren zu erzählen weiß.

Das Kreisgericht beharrte bei seiner Ansicht, daß, wenn auch das große Unglück, welches die Familie heimgesucht hatte, als Milderungsgrund anzusehen sei, man doch in dem Aberglauben, der gewiß das Unglück selbst beförderte, eine gänzliche Entschuldigung ihres Thuns nicht finden könne, und hielt deshalb an der Verurteilung fest. Natürlich appellirten die Verurtheilten von Neuem, und das Appellationsgericht von Cöslin wiederholte sein freisprechendes Erkenntniß, da der Mangel des dolus klar sei, der Hauptangekagte sich entschieden im Zustande einer relativen (!) Nothwehr befunden habe und, im Vampyr-Aberglauben befangen, gar nicht anders hätte handeln können, als er gehandelt habe. Der Oberstaatsanwalt wiederholte nochmals seine Nichtigkeitsbeschwerde, indem er, wie mich dünkt, sehr richtig ausführte, daß von einem gänzlichen Mangel des dolus um so weniger die Rede sein könne, als eine besondere Warnung des Geistlichen vorausgegangen war; der Angeklagte wußte also bei Vornahme seiner That ganz genau, daß er gegen die Staatsgesetze verstoße; er konnte sich also, selbst in seinem Wahne befangen, nicht verhehlen, daß er dem Strafgesetze mit einer gegen das erwartete Gut (die Rettung seiner Familie) freilich gering anzuschlagenden Strafe verfalle. Wenn außerdem das Strafgesetz den Nothstand als einen strafausschließenden Fall betrachte, so könne dieser Paragraph hier keine Anwendung finden, da der Gesetzgeber gewiß keinen durch Aberglauben erzeugten Nothstand im Sinne gehabt habe, den sich der Handelnde in seiner Geisteskrankheit erst selbst schafft, und dessen blinde, erträumte Gefahren er mit grauenhaften Zauberkünsten zu verscheuchen gedenkt. Wenn man erwägt, daß selbst derjenige, der durch Unkenntniß, Unvorsichtigkeit und Leichtsinn die Gesetze übertritt, gestraft wird, so sollte wohl Aberglaube nicht als gänzliche Entschuldigung dienen können, am wenigsten bei einer Familie, die die Mittel besaß, ihren Angehörigen einige Schulbildung anzueignen. Und wie stand es endlich mit der Straflosigkeit der beiden Arbeiter, die sich doch gewiß in keinem directen Nothstande befunden haben, wenn man nicht so weit gehen will, das ganze Dorf Kantrzyno durch das Umsichgreifen der Vampyrseuche für gefährdet zu halten?

Es liegt mir natürlich fern, den Urtheilsspruch des Ober-Tribunals der Provinz, welches sich dem freisprechenden Erkenntnisse des Appellationsgerichtes anschloß, hier kritisiren zu wollen; wir können den Beklagten in diesem Processe die endlich im Frühjahre vorigen Jahres erfolgte endgültige Freisprechung von ganzem Herzen um so lieber gönnen, da sie im Grunde nur sich selber geschadet haben, und den Todten die Operation nicht weh gethan haben wird. Eine andere Frage ist es freilich, ob dieser Urtheilsspruch nicht einen verhängnißvollen Präcedenzfall geschaffen, der den relativen Nothwehrstand der Anhänger dieses Glaubens rechtfertigt, und damit dem Aberglauben Vorschub leisten könne. Die Gerichte haben gleichsam eine Berechtigung dieses Aberglaubens noch für das neunzehnte Jahrhundert anerkannt. Da drängt sich die Frage auf: wie steht es mit dieser düstern Form des Aberglaubens, hat sie noch Wurzeln im Volke oder gar unter den Gebildeten? Wir können leider nicht mit Nein antworten. Denn vor wenigen Wochen (Juli 1873) kam vor dem Kreisgerichte zu Schwetz (Westpreußen) die Anklage einer neuen Grabschändung aus gleichen Motiven zur Verhandlung. Der Ziegler M. aus Neu-Klunkwitz hatte mit Hülfe zweier seiner Schwäger und einer dritten Person das Grab seiner verstorbenen Frau geöffnet und ihr den Kopf mit der Axt abgehauen, weil ihre Schwester ihr schnell im Tode gefolgt war. Auch hier war die Stärkung durch Schnaps vorausgegangen, und es hatte den Betheiligten geschienen, als ob sich bei dem erst versuchten Spatenhiebe, der so ungeschickt geführt wurde, daß der Spaten zerbrach, die Leiche erhebe. Das Gericht sprach die Angeklagten wiederum wegen des vermeintlichen Nothwehrstandes von der Leichenschändung frei, verurtheilte sie aber wegen Grabschändung zu acht Tagen Gefängniß. Eine andere Vampyr-Geschichte, gleichfalls aus der neuesten Zeit, die aber größere Dimensionen annahm und ebenfalls ganz ungebildete Leute betraf, werden wir im nächsten Aufsatze zu erwähnen haben.

Was die Bildung der, wie es scheint, dem polnischen Adel entstammenden Familie der Poblocki’s anbetrifft, so dürfte sie, so weit dies in dem Processe hervortrat, diejenigen der Landbewohner (unter denen, wie erwähnt, in Polen und Westpreußen der Vampyr-Aberglaube ebenso verbreitet ist, wie in den außerdeutschen Ländern slavischen Stammes) nicht wesentlich überragen. Obwohl dem begüterten Stande angehörend, konnten die Angehörigen der Familie nur nothdürftig lesen, wohl kaum durchweg schreiben. Indessen wie wenig in Aberglaubensgegenständen auf formelle Bildung Werth zu legen ist, wie sehr zu entschuldigen bei wenig gebildeten, vom Unglück heimgesuchten Leuten der Vampyr-Glaube war, wird uns klar werden, wenn wir demselben Glauben in seinen letzten Consequenzen bei gelehrten Leuten unserer Zeit begegnen, ohne daß sie durch persönliches Unglück zu solchen Schlüssen getrieben wurden. Ich will nicht von Görres reden, der im dritten 1840 erschienenen Bande seiner christlichen Mystik den Vampyr-Aberglauben in seiner vollen Schrecklichkeit heraufbeschwört, sondern von dem gelehrten Professor einer schweizer Universität, Maximilian Perty, der mit seinen aufklärungsfeindlichen Schriften den Büchermarkt überschwemmt, durch das wissenschaftliche Mäntelchen, welches er seinen mittelalterlichen Deductionen umhängt, überall Anerkennung zu finden weiß und dadurch doppelten Schaden in den Geistern anrichtet. Im ersten Bande seines Werkes über die mystischen Erscheinungen der menschlichen Natur (Seite 384 der zweiten 1872 erschienenen Auflage) findet der Professor die natürliche Erklärung des Vampyrismus sehr einfach darin, daß die Seele des im Grabe ruhenden, nicht sterben könnenden Vampyrs jahrelang traumartig umherirre, die bekannten Häuser ihrer Familie aufsuche, dort Hunger und Durst des im Grabe zurückbleibenden inzwischen seelenlosen Leibes stille, indem sie den Verwandten das Blut aussauge, welches sich dabei in einen geistigen ätherischen Körper umsetze und erst wieder nach der Rückkehr zu dem begrabenen Körper dort zu wirklichem nährendem Blut werde!! Wenn man bedenkt, daß derartige Lehren von einem Doctor der Philosophie und Medicin, Professor an der Universität Bern, heutiges Tages öffentlich vorgetragen werden, so wäre es gewiß unrecht, die Poblocki’s wegen ihres Wahnes zu strafen, und doch, wo bleibt die Grenze? Ich denke, es wird nach dem Vorausgeschickten nicht unzeitig erscheinen, der historischen Entwickelung eines Aberglaubens nachzugehen, der in unserer Zeit so herrliche Blüthen treibt, um so mehr, als ich dabei etwas Anderes versprechen kann, als die ohne Sinn und Kritik zusammengeschriebenen Beispielsammlungen, wie sie Calmet, Görres, Perty und ähnliche Denker geleistet haben.

Einem Vampyr selber vergleichbar, der im Grabe der Jahrhunderte ruht, um bei passender Gelegenheit noch in unseren Tagen mit allen Schrecknissen seiner Natur hervorzusteigen, haben wir den Vampyr-Aberglauben in dem Vorhergehenden kennen gelernt. Er hat seine Wurzeln, wie die meisten Aberglaubensformen, in der Kindheitsperiode der Menschheit und breitet sich, wenn nicht über die ganze Erde, so doch wenigstens über die gesammte arische Völkerfamilie aus. In der ältesten Sanskritliteratur begegnet man bereits der Erwähnung feindseliger Dämonen, die nach Menschenblut lüstern sind und namentlich Frauen im Zustande des Schlafes oder der Trunkenheit übermannen. Sie führen die unser Ohr sehr anheimelnden Namen Pisâchas und Vantasias, obendrein sehr bezeichnend, wenn man dabei an’s „Pisacken“ der Lebendigen durch Phantasie- oder Traumgebilde denkt. Noch harmloser gestaltet sich diese Sage in ihrer Ursprungsform, wenn man in Manu’s Gesetzbuche liest, daß Spinnen, Wanzen, Flöhe und ähnliche blutdürstige Thiere als die sichtbaren Verkörperungen der blutdürstigen Pisâchas gelten. Wenn man in Indien die blutsaugenden Fledermäuse Südamerikas – die sogenannten Vampyre der Zoologie – gekannt hätte, würden diese wohl obenan in jener Reihe gestanden haben. Die Seele eines Menschen, der einem Priester Geld stiehlt, ist nach Manu verdammt, vor ihrer endlichen Erlösung tausendmal in den Körper dieser gehaßten Thiere einzugehen. [558] Wer weiß, ob diese mythologische Vorstellung nicht völlig zur Sache gehört und ob heftige nächtliche Insectenplagen nicht die häufigsten Ursachen schwerer Vampyrträume werden! Der Umstand, daß in Europa wenigstens die Heimath der Flöhe und Vampyre dieselbe ist, könnte einen Naturforscher stutzig machen.

Im classischen Alterthume verquickte sich der Vampyrglaube mit der mythischen Vorstellung, daß warmes Menschen- oder Thierblut die Lieblingsnahrung der Götter, Dämonen und Manen sei, weshalb man auch die Letzteren bei der Nekromantie mit dem Dampfe warmen Blutes anlocken zu können glaubte. Daneben treten aber auch Dämonen auf, die lebendigen Menschen das Blut aussaugen, sie dadurch langsam entkräften und dem Tode weihen; der Unterschied des Heidenthums vom Christenthume zeigt sich auch hier darin, daß diese Dämonen in reizender Gestalt dem Menschen nahen. Es sind insbesondere die Lamien, weniger die Strygen und Empusen, welche hierher gehören.

Philostratus in seiner Lebensbeschreibung des Apollonius von Tyana, die einige Kritiker für eine heidnische Concurrenzschrift der Evangelien gehalten haben, erzählt, daß dieser Heilige einst in Corinth seinen jungen und schönen Freund Menippus aus den Klauen einer Lamia, welche die Gestalt eines reizenden jungen Weibes angenommen hatte und sich nur den jungen Männern näherte, befreit habe. Aus diesen echtgriechischen Phantomen entwickelten sich später die sogenannten Incuben und Succuben, männliche und weibliche Dämonen höllischer Natur, die viele Analogie mit den Vampyren bieten, da sie bei ihren wiederholten nächtlichen Besuchen gleichfalls ihre Opfer entkräften und tödten. Ihre Dämonennatur unterscheidet sie von den echten Vampyren, die höchstens Teufelsbesessene sind.

Zum ersten Male tritt uns in der Literatur ein echter Vampyr in einem griechischen Märchenbuche aus dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung entgegen, in den „Wunderbaren Geschichten“ des Phlegon aus Tralles. Es ist hier, wo Altmeister Goethe den Stoff zu seiner „Braut von Corinth“ geschöpft hat. In welchem Grade dann gerade dieser düstere Gegenstand die dichtende Phantasie des Menschen angezogen hat, ergiebt sich aus den zahlreichen Meisterwerken der Poesie, die demselben Gegenstande gewidmet sind. Ich begnüge mich, an Byron’s „Vampyr“ und an Balzac’s ergreifende Erzählung „Der Succubus“ zu erinnern. Vampyr-Opern haben unter Anderen Marschner und Lindpaintner componirt; ja selbst in den Werken der Tanzkunst übt die schaurige Idee eines Verkehrs der Todten mit den Lebenden ihren dämonischen Zauber, wie z. B. die hier in Berlin beliebten Ballete Morgano und die Willi’s – denn diese todten Tänzerinnen sind offenbar die weiblichen Gegenstücke der männlichen Vampyre – beweisen.



Blätter und Blüthen.

König Lear. (Mit Illustration, S. 547.) Zu dieser königlichsten unter den Tragödien des Dichterkönigs Shakespeare besitzen wir eine ansehnliche Reihe von zeichnerischen Darstellungen, welche, die Kaulbach’schen an der Spitze, dieses Trauerspiel entzügelter Leidenschaft, in welchem Kinder aufstehen gegen Eltern, Eltern gegen Kinder, Gatten gegen Gatten und Geschwister gegen Geschwister, würdig illustriren. Heute machen wir das Publicum mit einer neuen Lear-Illustration bekannt, mit August von Heckel’s „Verstoßung der Cordelia“.

Das Bild stellt die berühmte, aber vielfach (namentlich von Goethe) angefochtene Eingangsscene der Tragödie dar: König Lear hat beschlossen, sein Reich unter seine drei Töchter, Goneril, Regan und Cordelia, zu theilen, und thront, umgeben von diesen und den Gatten der beiden erstgenannten, den Herzögen von Cornwall und Albanien, in seinem Prunkgemache aus steinernem Lehnsessel, um das Geschäft der Theilung vorzunehmen. Auch der Graf von Kent und des Königs steter Begleiter, der Narr, sind anwesend. Lear fordert seine Töchter auf, ihrer Kindesliebe in Worten Ausdruck zu leihen, damit er nach Maßgabe der kindlichen Zuneigung jeder Einzelnen das Reich unter sie theile. Mit hochtönenden Worten schütten nun Goneril und Regan nacheinander das reiche Füllhorn einer künstlich ausstaffirten Scheinliebe vor dem Vater aus. Aber Cordelia? Was hat sie zu sagen, um sich ein reicheres Dritttheil zu gewinnen als die wortgewandten Schwestern? Sie kann „ihr Herz nicht auf die Lippen heben“; denn wahre Liebe kennt keinen Prunk der Worte. Cordelia schweigt. Aber Lear, halb zornig, dringt in sie, zu reden. Da entspinnt sich zwischen ihr und dem Könige folgendes Zwiegespräch:

Cordelia.
Mein theurer Herr,
Ihr zeugtet, pflegtet, liebtet mich; und ich
Erwidr’ Euch diese Wohlthat, wie ich muß,
Gehorch’ Euch, lieb’ Euch und verehr’ Euch hoch.

5
Wozu den Schwestern Männer, wenn sie sagen,

Sie lieben Euch nur? Würd’ ich je vermählt,
So folgt dem Mann, der meinen Schwur empfing,
Halb meine Treu’, halb meine Lieb und Pflicht.
Gewiß, nie werd’ ich frei’n wie meine Schwestern,

10
Daß ich allein den Vater liebte.


Lear.
Und kommt Dir das von Herzen?

Cordelia.
Ja, mein Vater!

Lear.
So jung und so unzärtlich?

Cordelia.
So jung, mein Vater, und so wahr.

Lear.

15
Sei’s drum. Nimm Deine Wahrheit dann zur Mitgift

Denn bei der Sonne heil’gem Strahlenkreis,
Bei Hekate’s Verderben, und der Nacht,
Bei allen Kräften der Planetenbahn,
Durch die wir leben und dem Tod verfallen,

20
Sag’ ich mich los hier aller Vaterpflicht,

Aller Gemeinsamkeit und Blutsverwandtschaft,
Und wie ein Fremdling meiner Brust und mir
Sei Du von jetzt auf ewig. Der rohe Scythe,
Ja der die eignen Kinder macht zum Fraß,

25
Zu sätt’gen seine Gier, soll meinem Herzen,

So nah stehn, gleichen Trost und Mitleid finden,
Als Du, mein weiland Kind.

Kent.
O edler König!

– und diese Dazwischenkunft Kent’s, sie bezeichnet den Moment, den unser Bild darstellt, einen großen Moment in der glücklichsten künstlerischen Wiedergabe. In Heckel’s Bild ist Alles Harmonie, Alles Größe und Ebenmaß; was dasselbe aber als ein Erzeugniß echten, ursprünglichen Künstlergeistes kennzeichnet, das ist die Tiefe und Fülle der Charakteristik der dargestellten Gestalten und ihre wirkungsvolle Contrastirung und edelschöne Gruppirung. Da haben wir in seiner Ueberkraft der Leidenschaft den herrischen und excentrischen, leichtbeweglichen und ausfahrenden, aber im Grunde seiner Seele edlen und großherzigen König Lear, diesen Giganten in einer Zeit wilden Heidenthums, vor dem „der Unterthan zitterte, wenn sein Auge starrte“, und „an dem das Beste und gesündeste immer rasch“, an dem „jeder Zoll ein König“ war. Da haben wir das dämonische Schwesterpaar, Goneril und Regan, die erstgeborene mit dem massiven Haupte voll männlicher Selbstständigkeit und Thatkraft, voll Kälte und Unerschrockenheit, voll Sinnlichkeit und Grausamkeit, und neben ihr die jüngere, von minder festem Stoff geformte, deren böses Wesen, passiver, lässiger, beschränkter als das der andern, sich aus knechtischer Abhängigkeit und tückischer Verstecktheit zusammensetzt und deren nie ergründetes Herz der wahnsinnige Lear „anatomirt“ haben will. Da haben wir ferner als mächtig wirksamen Gegensatz zu diesen Beiden die sanfte, milde Cordelia, ganz unschuldvolle, sittsame Jungfräulichkeit, ein Bild schönster Weiblichkeit und weiblichster Schönheit. Und doch – mit welcher Feinheit und völlig im richtigen Verständnisse des Dichters hat es der Maler verbanden, ihr einen Zug zu geben, welcher, anscheinend ihrem Wesen widersprechend, auch in ihrer Erscheinung den Charakter ihrer Familie durchblicken läßt! „In die Milch ihrer sanften Gemüthsart ist ein Tropfen Galle aus ihres Vaters Hartnäckigkeit gemischt,“ sagte Gervinus. So auch bei Heckel’s Cordelia. Neben Sinnigkeit und Anmuth trägt ihre ganze Erscheinung das Gepräge eines festen, fast unbeugsamen Charakters.

Vollendet schön und in ihrer untergeordneten Bedeutung die Wirkung des Ganzen steigernd, sind auch die Nebengestalten des Bildes dargestellt. Zu je einer Seite der Hauptgruppe sehen wir links vom Beschauer den männlich entschlossenen, eben heftig ausfahrenden Kent, rechts den trefflichen Narren, einen sinnenden Philosophen in der Schellenkappe, im Hintergrunde des Bildes aber den guten Albanien und den bösen Cornwall, die schon erwähnten Gatten Goneril’s und Regan’s. Sind nicht alle diese Charakterköpfe aus ganzem Holze, dem besten Holze künstlerischer Vollkraft geschnitten?

So ist denn mit dieser neuen Shakespeare-Illustration abermals dargethan, daß der bildende Künstler seine schönsten Triumphe auch da zu feiern im Stande ist, wo er seinen Stift in den Dienst seines Bruders, des Dichters, giebt. Was Dieser, dem leiblichen Auge unsichtbar, Geistiges schafft, das soll Jener, gleich dem Mimen, dem anderen Dolmetscher des Dichters, in Formen und Farben hinübertragen in die sichtbare Welt her Körper und Sinne.
E. Z.

Aufruf. Wilhelm Beltz machte im Frühjahr 1869, damals zwanzig Jahre alt, als Matrose eine Reise nach Rio de Janeiro mit auf der oldenburgischen Brigg „Industrie“ und verließ mit noch drei oder vier seiner Mitmatrosen in Rio sein Schiff, wie es scheint, um von demselben zu entfliehen. Da Wilhelm Beltz einen Bruder in Buenos-Ayres hat, so lag die Vermuthung nahe, daß er letzteren Platz zu erreichen suchen würde; indessen ist das nicht geschehen. Da Beltz früher stets pünktlich geschrieben hatte, so ist sein Schweigen sehr beunruhigend. Seine Mutter, die Frau Doctor Beltz in Wiesbaden, tiefgebeugt und krank, hat nur den einen Wunsch noch, sobald als möglich sichere Kunde über ihren Sohn zu erhalten, die auch in Erbschaftssachen von Nutzen wäre.


  1. Alles Nähere über die ganze Angelegenheit findet man in der trefflichen Schrift von Dr. Julius Schwabe: „Schiller’s Beerdigung und die Aufsuchung und Beisetzung seiner Gebeine etc. Leipzig. Brockhaus. 1852.“