Die Gartenlaube (1875)/Heft 36

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 36.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.


Hund und Katz’.
Eine Geschichte aus dem bairischen Oberlande.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Die Tafel im Saale war bereits vollständig hergerichtet. Julei, die Näherin, die sich eben im Hause auf der Wochenstöhr befand, hatte dieselbe gerade noch einmal überblickt und die letzten kleinen Unordnungen in den Falten des Tischtuches und der Stellung der Gedecke beseitigt. Eben wollte sie sich entfernen, als in der Thür die Wirthin erschien mit der Schürze das vom Kochfeuer geröthete Angesicht trocknend und mit Wohlgefallen die getroffenen Anordnungen überblickend. „Du hast halt eine geschickte Hand, Julei,“ sagte sie dann, „wie wär’s, weil Du doch einmal da bist, wenn Du beim Aufwarten an der Tafel mithelfen thätst? Meine Weiberleut’ stellen sich zu Allem so dumm an und haben lauter Daumen anstatt Finger; ich wollt’ Dich gern gut zahlen dafür.“

Das Mädchen wandte sich so hastig um, als ob sie erschrocken wäre, auch ihr bleiches Aussehen stimmte zu der Vermuthung. „Aufwarten? Bei der Tafel?“ fragte sie mit sichtlicher Befangenheit. „Nein, Wirthin, das kann ich nicht – ich will gern überall mithelfen, in der Küch’ oder in der Schenk’ oder wo es sonst ist – nur nicht aufwarten. Ich könnt’ auch nicht,“ setzte sie etwas langsamer wie zur Entschuldigung hinzu, „ich hab’ ja nichts bei mir als mein Werktaggewandel.“

„Das hat nichts auf sich,“ erwiderte die Wirthin, „Du kannst was von meiner Tochter nehmen, wenn sie auch ein wenig größer und dicker ist. Das schadet nichts – was leer steht, weint nicht.“

„Ich kann doch nicht, Wirthin,“ sagte Julei, „ich bring’s nicht zuweg’. Ihr müßt das nit verlangen von mir.“

„Aber warum denn nicht?“ rief die beharrliche Frau entgegen. „Ich geb’ Dir einen ganzen Gulden; den kannst wohl mitnehmen und noch wohler brauchen, bild’ ich mir ein.“

„Ich bin freilich arm,“ war Julei’s feste, wenn auch etwas schüchtern wiederholte Antwort, „den Gulden könnt’ ich freilich gut brauchen, aber ich kann doch nicht … ich bring’s nicht zuwegen.“

„So laß es bleiben!“ schloß die Wirthin und rannte ärgerlich aus dem Saale. „Hab’ ich’s doch immer gehört,“ brummte sie dabei halblaut, aber immerhin verständlich genug vor sich hin. „Hab’ ich’s doch all’ mein Lebtag gehört, Niemand ist hoffährtiger, als wer’s am wenigsten Ursache hat – so die eigentlichen Bettelleut’.“

Die heftig zugeworfene Thür schlug krachend in’s Schloß. Das Mädchen schaute sich nicht danach um; sie stand unbeweglich und sah vor sich nieder, die Hände über dem Schooße zusammengefaltet; sie mochte sich allein glauben, und dennoch war der Vorfall nicht ohne Zeugen gewesen.

Der Hochzeitlader war in der Thür der Tanzstube gestanden und hatte zugehört. Julei ward es nicht gewahr, daß er näher kam, bis er ihr zutraulich die Hand auf die Schulter legte. „Meine liebe Nahterin,“ sagte er, „mir scheint, Du brauchst Dir Deinen Bündel Grumen (Gram) auch nicht erst zusammenzubinden, kannst ihn gleich über die Achsel hängen.“

Sie wandte sich gegen ihn; wie erstaunt trat er einen Schritt zurück; nicht so sehr deswegen, weil ihr ein paar klare Thränen auf den Wangen hingen, sondern weil ihre Erscheinung überhaupt, insbesondere Form und Ausdruck ihres Gesichts, ihn überraschten. Sie sah den Alten an, und als sie das Wohlwollen gewahrte, das aus dem ehrlichen faltenreichen Angesichte ihr entgegen kam, spielte ein schwaches Lächeln um ihren Mund. „Es ist so arg nit,“ sagte sie, „ich bin nur so ein dummes Ding, dem es manchmal schwer auf’s Herz fallt, daß ich gar Niemand hab’, dem ich’s sagen kann, wenn ich was auf dem Herzen hab’, und daß ich Alles so in mir allein verweinen und verwinden muß.“

„Wo bist denn daheim, Mädel?“ fragte der Alte mit immer steigender Theilnahme. „Hab’ Dich ja noch niemals gesehen.“

„Nirgends.“

„Aber Du mußt doch irgend Jemand haben, dem Du angehörst?“

„Niemand.“

Die Antworten des Mädchens klangen so natürlich und einfach, daß sie durch den Ernst ihres Inhalts eine größere Wirkung hervorbrachten, als die vollendetste Kunst. Dem Alten fing es in den Augen zu jucken an, und er ruhte nicht, bis Julei seine Freundlichkeit durch eine kurze Mittheilung ihrer Verhältnisse vergalt und von ihren Eltern, deren Schicksal, sowie von ihrem eigenen Leben zu erzählen begann: einem steten Wandern ohne Heimath, Ruhe und Ziel. „Es wird mir schon so aufgesetzt sein,“ setzte sie mit schwermüthigem Lächeln hinzu, „oder es liegt mir im Blute, meine Eltern sind ja auch ewig auf der Wanderschaft gewesen.“

„Und weißt Du denn gar nichts weiter von ihnen?“ fragte [598] der Hochzeitlader, den die kleine Erzählung noch immer begieriger gemacht hatte. „Wie sie daher gekommen sind und wo Deine Mutter eigentlich daheim gewesen ist? Wie hat sie denn geheißen?“

„Genau weiß ich’s nicht,“ erwiderte Julei, „wenn Ihr’s aber wissen wollt, kann ich’s Euch wohl zeigen; ich habe den Taufschein und den Trauschein meiner Mutter. Ich kann mir nur die Namen so hart merken; sie lauten so sonderbar. Meine Mutter ist weit weg zu Haus’ gewesen, da wo’s in’s Rußland hinein geht.“

„In Polen!“ rief der Alte, der sich vor Erregung kaum zu halten vermochte, denn mit einem Male lag eine Gegend seines Lebens vor ihm, die lange verwachsen und übergrast war in seiner Erinnerung, nun aber plötzlich vor ihm lag wie ein Land, von dem über Nacht der Schnee hinweg geschmolzen – ein vergessenes Stück Jugend, ein Nachklang von Saiten, die längst gerissen geschienen.

Er wußte nun auch, warum Julei’s Anblick ihn so sehr ergriffen hatte.

Ehe er weiter fragen konnte, wurde die Thür wieder aufgerissen, und die Wirthin, die ihren Aerger noch nicht überwunden hatte, rief grollend herein: „No, wird der Ratschmarkt noch lang’ dauern? Ist’s Dir vielleicht gefällig, daß Du herunter kommst? Es giebt noch Enten zu rupfen, oder bringst Du das vielleicht auch nicht zuwege?“

Lautlos folgte das Mädchen der Zürnenden; lautlos blieb der Hochzeitlader zurück, allein und doch in einer Gesellschaft, wie er sie seit Jahrzehnten nicht mehr um sich versammelt gesehen hatte. Er sah sich selber auf dem Heimwege aus der russischen Gefangenschaft, sah sich mit dem Transporte vieler Anderen fortgetrieben, obwohl Müdigkeit, Hunger und Krankheit ihm kaum einen Fuß zu heben gestatteten, und fühlte es, wie damals, als er in einer der endlosen Flächen des Landes mit verschwimmenden Augen unter ein paar Birken, die in einem Schopfe beisammen standen, gleich einem Sterbenden nieder sank. Niemand bemerkte es; Niemand vermißte ihn. Er wußte nicht, wie lange er in der Betäubung so gelegen haben mochte, aber er erinnerte sich noch wohl, wie er zum ersten Male wieder die Augen aufgeschlagen hatte: da war es schwarze Nacht um ihn, und auf ihn sahen ein Paar noch schwärzere Augen herab, die ihn mit ängstlicher Sorgfalt betrachteten – es war eine Bande von Luftspringern, Seiltänzern und Feueressern, die ihn im Vorüberziehen liegen gesehen und mitgenommen hatte. Eine von den Tänzerinnen, ein zartes, schlankes, fast zigeunerhaftes Geschöpf, hatte sich seiner erbarmt und darauf gedrungen, daß man ihn nicht hülflos dem Schicksale des Verschmachtens überließ – ihre Augen waren es, in welche die des Erwachenden empor starrten. Die Gesellschaft hatte eben in einem Walde Lager geschlagen, und beim erlöschenden Scheine des Wachtfeuers hörte der Gerettete den Bericht seiner Retterin, betrachtete er dieselbe in der rothen Gluthbeleuchtung wie einen Engel, den seine Glorie umgiebt. Aber die Glorie blieb auch beim Tageslichte an ihr haften, und wenn dem Vereinzelten auch nichts Anderes übrig blieb, als sich, um vorwärts zu kommen, an die Truppe anzuschließen, so wurde ihm doch diese Nothwendigkeit zum innigsten Vergnügen, denn sie gestattete ihm, in Katscha’s Nähe zu bleiben. Zum ersten Male hatte sich das Herz in ihm geregt: ein Funke war aufgeblitzt, der in ihm, wie es seinem ruhigen Wesen entsprach, nicht zu einem wilden leidenschaftlichen Feuer aufloderte, aber mit stiller nachdenklicher Gluth weiter glomm. Er blieb auch dann noch bei der Gesellschaft, als man in bewohntere Orte gekommen war, wo es ihm möglich gewesen wäre, seinen eigenen Weg einzuschlagen und nach der Heimath zurückzukehren, aber es zog ihn Nichts dahin zurück, wo ihn Niemand erwartete und er wahrscheinlich schon längst als ein Vermißter zu den Todten geschrieben war. Dagegen hielt es ihn bei Katscha unwiderstehlich zurück, um so fester, als ihre Güte und Freundlichkeit ihn hoffen ließen, daß sein Bleiben auch ihr angenehm und erwünscht sei. Für die Truppe war es dies jedenfalls, denn seine bald entdeckten musikalischen Fähigkeiten waren für dieselbe eine höchst willkommene Verstärkung ihrer Kunst- und Erwerbskräfte. So war er mit ihr herum gezogen, jeden Tag sich fest vornehmend, Katscha seine Neigung zu erklären, und jeden Tag es unterlassend, weil unerklärliche Scheu und unbezwingliche Schüchternheit ihn davon abhielten.

Ein unseliger Morgen machte dem unseligen Hoffen und Schwanken ein rasches Ende: Katscha war mit einem Mitgliede der Gesellschaft verschwunden, ohne Sang und Klang, ohne Gruß und Kuß, ohne Abschied, ohne Erwartung und Hoffnung des Wiedersehens. Es war dem unbefangenen Liebenden wohl manchmal das Blatt geschossen, wenn er Katscha unvermuthet mit dem Burschen zusammen stehen oder mit ihm flüsternde Worte tauschen sah, aber in der Unschuld seines Gemüthes hatte er darin kein Arg gefunden, und wie sie seinen Augen als der Inbegriff aller weiblichen Schönheit galt, verehrte sein Herz in ihr den reinen Engel, der an dem lieblichen Köpfchen nur Flügel besaß und keinen irdischen Körper. Nun war der Bann gebrochen, der ihn in der Fremde gehalten hatte; nun gewann das Heimathsgefühl Gewalt über ihn und zog ihn nach Hause, wo man ihn aufnahm, beinahe wie einen Verschollenen, der aus dem Grabe wieder aufsteht und kaum noch irgendwo ein Plätzchen für sich findet. Er kam in der That, wenn auch nicht aus, doch von einem Grabe, denn mit dem Schmerze um die verlorene Liebe hatte er auf dem weiten Heimwege seine Jugend begraben und dann nach und nach den Schutt eines einsamen Lebens wie einen Hügel darauf geschüttet. Jetzt war das Grab wieder geöffnet, und seine Geister waren zurückgekommen; es war kaum ein Zweifel mehr möglich, daß er in Julei die Tochter Katscha’s wiedergefunden.

Feierliches Geläute scheuchte ihn aus seinen Gedanken empor; es war das erste Glockenzeichen zum Beginne des Hochamtes, nach welchem die Trauung stattfinden sollte.

Die Brautleute selbst und ihre nächsten Angehörigen waren indessen schon seit geraumer Zeit zu ebener Erde in einem Nebenzimmer versammelt, das zur Wohnung des Wirthes gehörte, von ihm aber so hochgeschätzten reichen Gästen überlassen worden war. Auf dem Tische standen ein großer Büschel aus gemachten Blumen, eine mächtige Torte, mit dem gleichen Schmucke besteckt, und einige Flaschen süßen Rothweins mit halbgefüllten Gläsern daneben. Es sah Alles recht festlich und hochzeitlich aus, aber der Gesellschaft selbst war das nicht nachzurühmen. Die Brautführer und die Kranzjungfern hatten das Gemach verlassen, um die Familie nicht in dem zu stören, was sie sich etwa noch zu sagen haben mochten, aber Niemand fühlte ein Verlangen, von dieser Aufmerksamkeit Gebrauch zu machen. Der Grubenmüller hielt ein Glas in der Hand, ohne zu trinken, und schaukelte sich gedankenlos auf dem Stuhle; die Braut zog verschütteten Wein auf der Tischplatte mit dem Finger in allerlei Zeichen und Züge auseinander, die sie dann hastig wieder verwischte; Zachariesel stand am Fenster und sah nach dem Thurme der Pfarrkirche hinüber, als wollte er auf der Uhr die Secunden nachzählen, bis er den ersten Ring der Kette am Finger trug, die ihn fesseln sollte – ein langes Leben hindurch. Die einzige Person, die ein einigermaßen hochzeitliches Ansehen hatte, war die Mutter des Bräutigams, ein ältliches, von ihren Lebensjahren eingeschrumpftes Weibchen, das nickend nach seinem Sohne hinübersah und vor Freude über dessen stattliches Aussehen zu keiner anderen Empfindung kommen konnte.

Die Ursache der allgemeinen Verstimmung stand übrigens groß und breit auf dem Tische.

In leidlicher Gemüthsverfassung waren Alle angekommen. Mechtild hatte zwar etwas trübe Augen, als wäre vor nicht langer Zeit ein Regenschauer daran vorübergezogen, aber als Zachariesel ihr entgegen trat, reichte sie ihm doch mit einem wohlgefälligen Lächeln die Hand; daß sie geweint hatte, fiel Niemand auf; ist es doch ein alter Spruch, daß eine weinende Braut eine lachende Frau bedeute. Die Männer begrüßten sich mit freundlichem Handschlage – da fuhr plötzlich der Geist der Zwietracht in die Gemüther und zwar sonderbarer Weise in der Gestalt des Liebesgottes. Der Wirth kam heran und brachte die Nachricht, daß die Botenfrau schon Tags vorher ein sorgfältig verpacktes Kistchen mit einem Hochzeitsgeschenke aus der Stadt gebracht habe. „So? Aus der Stadt?“ sagte Zachariesel mit sauersüßer Miene, während Mechtild das Blut in’s Gesicht schoß, der Müller aber, als wenn es ihn gar nichts anginge, gleichzeitig vor sich hinpfiff.

Die geöffnete Schachtel bestätigte vollauf die allgemeinen Vermuthungen; der galante Geometer in München hatte es nicht unterlassen können, durch die That zu zeigen, daß er des Tages

[599] nicht vergaß, der, wenn auch allen Anderen ein Fest, seine Hoffnungen für immer vernichtete. Das Geschenk bestand in einem etwas vergrößerten Abguß des Amor, dem auf dem Diessener Jahrmarkte ein so betrübtes Ende zu Theil geworden; der Absender mochte auch jetzt ein ähnliches Loos gefürchtet haben, denn die Figur war diesmal nicht aus zerbrechlichem Gyps, sondern aus gebrannter Erde geformt, die sich wohl besser eignete, einen eifersüchtigen Anprall zu ertragen. Gleichwohl hing es an einem Haare, daß auch ihr dasselbe zerschmetternde Schicksal zu Theil wurde. Für Zachariesel’s Gemüth, vollgeladen mit allerlei Brennstoff der Ungeduld, des Aergers und unklarer Unzufriedenheit mit sich selber, war der Anblick der verhaßten Figur wie der Funke in’s Pulverfaß. Er sprang auf, und wäre der Grubenmüller nicht ebenso behend dazwischen gesprungen, so wäre die gebrannte Erde trotz ihrer Festigkeit in Trümmern an die ungebrannte Erde geflogen. Alle Schleußen zurückgehaltener Kränkung gingen in ihm auf. Er habe es mit Widerstreben überwunden und hinuntergeschluckt, rief er, daß Mechel – in seinem Unwillen fand er keinen anderen Namen – ohne sein Wissen sind Wollen in die Stadt gegangen und mit dem Kanarienvogel, dem Schmierer, auf dem Faschingstanz herumgefludert (geflattert) sei; wenn aber das Gethu’ und das Gespengel jetzt auch noch kein Ende nehme, so sei er Manns genug, das nicht zu leiden und gründlich nachzuholen, was er im Erlinger Hohlwege versäumt habe. Vergebens wiederholte Mechel alle schon oft vorgebrachten Entschuldigungen; vergebens mahnte der Müller zur Ruhe; wenn die Trauung vorüber sei, hätten sie noch Zeit genug, das Alles mit einander auszufechten. Erst dem Zureden seiner Mutter gelang es, ihn durch Schmeicheln allmählich wieder zu beruhigen und ihm begreiflich zu machen, wie er ja nun an dem Ziele stehe, nach welchem er sich so lange mit Leidenschaft gesehnt; wie es nun unmittelbar vor Thorschluß doch keinen Ausweg mehr gebe, und wie es ihm als einem gesetzten Burschen schlecht anstehe, sich von der Eifersucht so hinreißen zu lassen und den Leuten Anlaß zu neuem Reden und neuem Gespött zu geben.

„Mutterl,“ sagte er endlich, „ich thu’ Alles, was Du willst. Mit Dir kann ich nicht streiten. Du hast mir ja auch Alles gethan, was ich gewollt hab’, hast sogar eingewilligt, daß das Heimathl verkauft worden ist, und willst noch in Deinen alten Tagen eine neue Haut anzieh’n und mit mir übersiedeln an einen fremden Ort. Dafür sollst Du’s aber auch gut haben bei mir,“ setzte er hinzu, indem er ihre beiden Hände faßte und streichelte, „ich will Dich auf den Händen tragen und Alles thun, was ich Dir nur an den Augen abseh’n kann. Und immer mußt Du bei uns sein. Hast Du neulich, wie wir die Grubenmühl’ besichtigt haben, das kleine Kämmerl’ neben der Wohnstuben geseh’n, das heimliche mit der Holzverschalung, wo man so schön auf den Mühlschuß hinaussieht und auf die Buchen darum herum? Das richten wir Dir ein, wie Du’s daheim gehabt hast; das soll Dein Logis sein, Mutterl …“

„Du mußt nichts versprechen, was wir nicht halten können,“ unterbrach ihn Mechtild und faßte die ihr gebotene Friedenshand mit sehr kühler Bewegung; „denkst Du denn gar nicht daran, daß ich auch einen Platz haben muß? Wo willst Du denn mich hinthun in meiner Mühl’?“

„Dich?“ fragte Zachariesel staunend. „Ich mein’, wir werden miteinander hausen und beieinander logiren. Du wirst so wenig ein eigenes Zimmer brauchen, wie ich.“

„Nein, nein, das geht nicht,“ erwiderte sie spitz. „Ich muß mein eigenes Zimmer haben. Das bin ich so gewohnt von Jugend auf. Das Kämmerl’ neben der Wohnstube ist mein gewesen, so lang’ ich die Tochter im Hause gewesen bin; ich seh’ nicht ein, warum ich als Frau vom Haus mich daraus vertreiben lassen soll. Die Mutter kann in den obern Stock zieh’n; in der obern Kammer ist die Aussicht noch viel schöner.“

Zachariesel wechselte die Farbe. „Ah, das wird doch nit Dein Ernst sein, Mechtild, daß Du meine Mutter unter’s Dach hinauf logiren willst, daß das alte Frau’l mit sein’ müden Füß’ so hoch steigen soll…“

„Na, seid so gut und fangt noch einmal einen Disputat an!“ rief der Müller ärgerlich dazwischen. „Das ging’ mir justament noch ab.“

„Ich kann ja nichts dafür,“ sagte Mechtild weinerlich, „er fängt immer wieder an, wo er mich mit etwas tratzen (necken) kann.“

„Still jetzt, alle Zwei!“ rief der Müller wieder. „Keins redet mir mehr ein Wort! Ich will’s haben, und da beißt die Maus keinen Faden ab.“

Auch das alte Mütterlein ließ es nicht an begütigenden Worten fehlen; ihrem Zureden und Schmeicheln gelang es auch, den Sohn zu beruhigen, der keineswegs gesonnen schien, sich dem Machtgebot des Müllers so unbedingt zu fügen. „Meinetwegen,“ sagte er dann, „ich will noch einmal nachgeben; sind wir erst einmal beisammen, dann wird Jedes schon den Platz finden, wo es hingehört.“ Die Mutter wisperte ihm freundlich dafür zu, ihr war es ja gleich, welchen Winkel man ihr anwies. Sie lebte glücklich, wenn sie nur wußte, daß im übrigen Theile des Hauses ihr Sohn lebte und es ebenfalls war.

Das zweite Glockenzeichen machte den Abbruch des Gespräches nothwendig; es war Zeit, sich zum feierlichen Kirchgange im Zuge aufzustellen, und die Musik, welche mit einem fröhlichen Marsche vorausschreiten sollte, begann bereits, vor der Thür ihre Instrumente zu prüfen. Auch die Brautjungfern mit der ganzen Hochzeitsgesellschaft traten ein; ihnen entgegen stürmte der Bräutigam; er wolle gleich wieder zurückkommen und vor dem feierlichen Augenblicke nur noch einen Athemzug frischer Luft schlürfen.

Er schien dessen auch wirklich zu bedürfen; ganz gegen seine sonst so ruhige Weise glühten ihm Wangen und Stirn, und als er an der Küche vorüber in den Hofraum trat, in dem sich auch der kleine, noch winterhaft öde Hausgarten befand, wehte ihm die frische Luft wie eine wirkliche Kühlung und Erquickung entgegen, daß er tiefaufathmend einen Augenblick stille stand und nicht gleich bemerkte, daß er nicht allein war; das plötzlich beginnende Geplätscher des Röhrenbrunnens, der bis dahin verstopft gewesen sein mußte, lenkte seine Blicke dahin; an dem Troge, mit dem Wässern von Gemüse beschäftigt, stand eine schlanke Mädchengestalt, die ihm unbekannt und doch nicht fremd dünkte.

Er eilte hinzu; seine Tritte veranlaßten das Mädchen, sich umzuwenden, und Beide standen sich mit einem Halblaute unterdrückter Ueberraschung gegenüber, der bei Julei mehr ein Ausdruck des Schreckens, bei Zachariesel der einer unverhofften Freude war, die ihn im Augenblicke vergessen ließ, wo er sich befand, wohin er gehen sollte, und was der Rosmarinzweig an seiner Brust bedeutete.

„Du bist es, Julei?“ rief er, „ja, wie kommst denn Du daher? Bist es denn wirklich?“

„Was ist dabei Merkwürdiges?“ erwiderte sie gesenkten Blickes und in anscheinender Ruhe, aber das Geschirr in ihrer Hand erklirrte leise von der zitternden Bewegung derselben. „Ich bin halt auf der Stöhr da als Näherin.“

„Aber das ist eine unverhoffte Freud’,“ rief Zachariesel, und sein Antlitz strafte die Worte nicht Lügen. „Ich komm’ kaum zu mir selber; ich hab’ seitdem so oft an Dich gedacht und mich selber ausgescholten, daß ich Dich gar nit gefragt hab’, wo Du Dich denn aufhältst; ich hätt’ Dich so gern wieder gesehen und hab’ nit gewußt, wo ich Dich suchen soll.“

„Zu was wär’s auch gut gewesen?“ entgegnete das Mädchen mit unsicherer Stimme, „ich bin bald da, bald dort, und Du, mein’ ich, hast wohl auch den Kopf voll anderer Gedanken.“

„Aber jetzt mußt Du mir’s sagen, Julei,“ rief er, wärmer werdend, „jetzt such’ ich Dich gewiß oft heim, oder noch besser. Du mußt zu mir kommen in die Grubenmühl.“

„Ich glaub’, die Hochzeit hat Dir den Kopf verdreht,“ sagte sie, „Du weißt nit, was Du redst. Du hast nichts bei mir und ich nichts bei Dir zu suchen; die neue Müllerin kriegt Näherinnen genug, und ich hab’ so viel zu thun, daß ich eine neue Stöhr in der Grubenmühl’ nit annehmen kann.“

„Das ist recht schad’,“ entgegnete er und faßte sie fester in’s Auge, denn in seinem Innern stieg eine bisher unbekannte Ahnung, wie schwach beginnendes Tagesgrauen auf. „Du hast doch selber gesagt, daß die Grubenmühl’ so schön ist, und daß es Dir nirgends so gut gefallt, als wenn Du in eine Mühl’ kommst.“

Sie sah schweigend zu Boden. „Das ist früher gewesen,“ sagte sie dann kurz, nahm ihr Geschirr und wollte sich an ihm [600] vorbeidrängen, dem Hause zu. „Zeit und Weil’ sind ungleich, und die Leut’ sind es auch.“

„So bleib’ doch nur!“ rief er herzlich, „jetzt seh’ ich’s erst, wie Du blaß bist …“

„Blaß bin ich immer; das kommt von der sitzenden Lebensweis’.“

„Aber Du hast ja verweinte Augen! Was fehlt Dir denn?“ fuhr er fort und erfaßte ihre Hand. „Ich laß Dich nit fort, Julei. Du mußt mir sagen, was Dir fehlt; ich muß wissen, ob ich Dir nit helfen kann.“

„Nein,“ sagte sie, eifrig bemüht, ihre Hand frei zu machen. „Du kannst mir nit helfen. Laß mich geh’n, Zachariesel!“

„Das muß ich sagen, das ist eine saubere Aufführung für einen Hochzeiter!“ rief plötzlich der Grubenmüller, der mit Mechtild und einem Theile der Hochzeitgäste hinter ihnen stand. Zachariesel’s langes Ausbleiben hatte sie veranlaßt, den Vermißten aufzusuchen; war doch schon das dritte Glockenzeichen gegeben und ein Ministrant mit springendem Chorrocke gelaufen gekommen, der vom Pfarrer die Anfrage brachte, wo denn die Hochzeitleute blieben. „Wir sitzen in der Stube und warten und warten und schauen uns fast blind, und der saubere Bräutigam steht im Garten und spengelt (thut schön) mit einer Anderen, als wenn gar keine Braut auf der Welt wär’!“

Bei dem ersten Laute hatte Julei ihr Geschirr weggeworfen und war laut aufschluchzend durch das hintere Gartenthürchen entschwunden. Niemand achtete darauf, nur der alte Hochzeitlader folgte ihr, eilend aber nicht minder unbeachtet. Er wußte nun, warum das Mädchen es nicht zuwege gebracht, an der Hochzeittafel aufzuwarten.

Als wäre ein Blitz herniedergefahren und hätte sie sammt und sonders zu Bildsäulen umgeschmolzen, so regungslos standen die Parteien einen Augenblick sich gegenüber, Zachariesel auf der einen Seite allein, verwirrt und unentschlossen, betroffen von dem Ungewitter, das sich plötzlich über ihm entlud, auf der andern Seite eine kaum übersehbare Schaar ergrimmter, entrüsteter, schadenfroher und das Lachen nur noch mühsam unterdrückender Menschen. Aus der Thür und den Fenstern der Küche glotzten die Köpfe neugieriger Mägde; den Hintergrund bildeten die verwitterten und verschmitzten Mienen der spottlustigen Musikanten.

„Wie ist’s? Kriegt man eine Antwort oder nicht?“ rief der Müller wieder, Mechtild aber, die jetzt erst wieder zu Athem kam, unterbrach und überschrie ihn. „Was braucht’s da noch fragen und antworten?“ sagte sie. „Ich für meinen Theil habe genug gesehen und gehört; ich will nichts wissen von einem Menschen, der eine Viertelstunde vor der Copulation noch mit einer Nahterin, mit einer hergelaufenen Person beisammensteht und ihr die Hände drückt. Ich kann mir denken, was das zu bedeuten hat.“

Ein Wink ihres Vaters unterbrach den Redestrom; der Alte gedachte des bedungenen Reugeldes, und wenn es zum Bruche kommen sollte, mußte doch immer Zachariesel es sein, der das entscheidende Wort sprach und also die zweitausend Gulden zahlen mußte. Die Vorsicht war indessen überflüssig; wohl war der Hochzeiter eine Weile verblüfft da gestanden, und gleich den Bewohnern eines aufgestörten Bienenstocks schwärmten und summten ihm die Gedanken um den Kopf, wie er dem beschämenden Auftritte ein Ende machen und einen Ausweg aus dem Irrsale finden könne, das ihn von allen Seiten umgab. Mechtild’s letzte Reden aber hatten den Bann, der auf ihm lag, wie mit einem Rucke, gebrochen; wie ein Vorhang, der ihm die Aussicht versperrt hatte, riß es vor ihm entzwei, und ein klar einfallender Sonnenstrahl erhellte die Bahn des Entschlusses, der ihm allein übrig blieb.

Die Schimpfworte, welche Julei zu Theil geworden, hatten die Schleußen seines Grimmes gezogen und gaben der Strömung freien Lauf.

„Was das zu bedeuten hat?“ rief er, indem er sich durch die braunen Ringelhaare fuhr und so beherzt vortrat, daß der Müller erschrocken vor ihm zurück wich. „Das soll bedeuten, daß mir gerade noch im letzten Augenblicke die Augen aufgegangen sind. Das will bedeuten, daß ich nichts wissen will von einer Frau, der mein ehrlicher Name zu schlecht ist, von einer Frau, die brave ehrliche Menschen deswegen, weil sie arm sind, verunehrt und schimpft, von einer Frau, die mein liebes altes Mutterl unterm Dach einlogiren will – daß es mir im letzten Augenblicke wie ein Stein vom Herzen gefallen ist, daß ich selber nicht gewußt hab’ was ich will, daß Du mich niemals wirklich gern gehabt hast, so wenig als ich Dich, und daß ich unserm Herrgott dank’, daß ich zu der Einsicht gekommen bin, eh’ es zu spät gewesen ist. Und wenn es zehntausend Gulden wären anstatt zwei, und wenn ich in der nächsten Minute in Taglohn gehen müßt’, ich zahl’ das Reugeld, aber zum Altar geh’ ich nicht mit Dir; jetzt auf einmal weiß ich, wie’s in mir inwendig ausschaut und zu wem ich gehör’.“

„Das verlangt Niemand von Dir zu wissen,“ rief Mechtild mit vor Zorn fast tonloser Stimme, „hast nicht Ursache, anderen Leuten den Strohsack vor die Thür zu werfen, es hätte doch Niemand nach Dir verlangt. Jetzt kann man freilich Alles auf einmal verstehen. ‚Laß mich gehen, Zachariesel!‘ wie die Person das gesagt hat! Wie süß! Und auf Du und Du ist sie mit ihm! Also deswegen ist es so hart gewesen, den Namen Zachariesel abzulegen. Da hast Du Deinen Hochzeitsstrauß! Nimm ihn und gieb ihn Deiner Landfahrerin! Viel Glück, Zachariesel, zu der Scheerschleifer-Hochzeit!“

Sie riß die Blumen vom Mieder und zertrat sie; der Müller aber rief mit einer Stimme, als wäre er Nachtwächter und müsse Feuer schreien: „Einspannen, Wirth! Die Leut’ alle sind Zeugen, daß er zurückgegangen und von seinem Wort umgestanden ist, nicht meine Tochter, so sehr sie dazu Ursach’ gehabt hätte. Einspannen! Keinen Augenblick bleib’ ich länger in dem Haus’!“ Der Wirth trat ihm in den Weg und wollte an die bestellte Mahlzeit erinnern; die Musikanten umringten ihn und mahnten an den Lohn für die Tanzmusik, die nun in die Brüche gegangen. Er aber brach sich mit Gewalt Bahn, indem er sie mit den Ellenbogen bei Seite drängte und rief: „Das ginge mir justament noch ab! Haltet Euch an den sauberen Hochzeiter! Der hat Alles zu Wasser gemacht; der muß für Alles herhalten. Da beißt die Maus keinen Faden ab.“

Die Anweisung war nicht gut zu verwirklichen, denn auch Zachariesel hatte einen günstigen Moment benutzt, sich durch das Hinterthürchen aus dem Staube zu machen, durch das Julei verschwunden war. Ob er es that, um die Entflohene aufzusuchen, oder nur um sich selbst aus dem Gedränge zu befreien, wer war im Stande, es aufzuklären?

(Schluß folgt.)




Zwei deutsche Jubelfeste in Weimar.
Von Robert Keil.
1. Das Karl-August-Fest am 3. September 1875.

Groß und herrlich ist aus Krieg und Sieg das deutsche Reich zu neuem Glanze erstanden; als großer, einheitlicher Bundesstaat, als gewaltiges Kaiserreich hat das deutsche Volk den ihm so lange verkümmerten hervorragenden Platz unter den civilisirten Nationen wieder eingenommen. Aber vergessen wir nicht, daß vor allem die zahlreichen einzelnen Culturstätten es waren, welche die durch alle Gaue, alle Stände verbreitete hohe Bildung des deutschen Volkes und mit ihr die Pflege des deutschen Nationalgeistes ermöglicht haben! Vergessen wir nicht, daß unter all diesen Culturstätten dem kleinen Weimar für alle Zeit der erste und höchste Dank gebührt! Als Wiege der deutschen Kunst – wie einst der Oper, so nachher der Poesie – überhaupt der höheren deutschen Cultur wurde Weimar im Verein mit Jena und dessen hoher wissenschaftlicher Bedeutung aus dem geographischen zugleich der geistige Mittelpunkt Deutschlands. Jena und Weimar wurden, um mich der Worte Schlosser’s zu bedienen, die eigentliche Metropole Deutschlands und erhielten die Bedeutung für unsere Nation, welche London und Paris für die englische

[601]

Karl August und Goethe in der Sturmperiode.
Nach Originalbildern aus der großherzoglichen Bibliothek zu Weimar, für die Gartenlaube entworfen und auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

[602] und französische haben; sie hatten einen Ruf, wie ihn keine andere deutsche Stadt hat erlangen können. Und Weimar blieb nicht nur lange Zeit hindurch in diesem Sinne der Einheitspunkt, welchen der nationale Geist des deutschen Volkes gewonnen hatte, es war Weimar zugleich – und wieder im Bunde mit Jena – die Stätte, auf welcher die deutsche politische Presse, das nationale politische Leben und Streben, die politische Freiheit ihren Anfang und Ausgang nahm.

Daß das kleine Weimar zum Heile des gesammten Vaterlandes dies geworden, ist das Verdienst seines Herzogs Karl August. Ganz Deutschland, ja die ganze gebildete Welt hat es freudig in jenen unvergeßlichen September-Tagen des Jahres 1857 anerkannt, als in Weimar nicht nur den Heroen der deutschen Dichtkunst Denkmäler gesetzt, sondern auch auf dem Fürstenplatze zum Denkmale des „alten Herrn“ der Grundstein gelegt wurde. Es war der 3. September 1857, der hundertjährige Geburtstag des Herzogs. Achtzehn Jahre sind seitdem verflossen, wie vor hundert Jahren die achtzehn Jahre von Karl August’s Geburt bis zu seinem Regierungsantritt am 3. September 1775. Am bevorstehenden 3. September begeht Weimar, begeht Deutschland die Säcularfeier vom Regierungsantritte des Herzogs. Zwar werden im Festzuge leider manche jener hochverdienten Männer fehlen, welche einst vor achtzehn Jahren den Grundstein umstanden; der biedere, greise Commissionsrath, Hofbuchhändler Hoffmann, der, als ein Zeuge der schönsten Tage des Herzogs auch in weiteren Kreisen bekannt, im Morgenzuge nach der Fürstengruft den ältesten Bürgern der Stadt voranschritt, der Redner auf dem Friedhofe, Oberpfarrer Dittenberger, der Festredner bei der Grundsteinlegung, Superintendent Stier, wie der dortige Redner Minister von Watzdorff – sie alle sind inzwischen schlafen gegangen. Aber die jüngere Generation verehrt mit gleicher Begeisterung den genialen deutschen Fürsten, und wenn von dem ehernen Reiterstandbilde des Herzogs, welches der Bildhauer Professor Donndorf in Dresden, Weimars Sohn, mit vollendeter Meisterhand geschaffen, die Hülle fällt, wenn der Herzog, in Kraft und Würde neuerstanden, die Wenigen, die ihn noch persönlich gekannt, wie die zahlreichen ihn verehrenden Epigonen in unvergänglichem, strahlendem Glanze begrüßt, wird der Jubel weit über Weimars Marken hinaus durch alle deutschen Gaue erschallen.

Feiern wir den festlichen Tag durch einen Rückblick auf die Jugend des Herzogs, auf die Entwickelung seines Geistes und Charakters, auf die Zeit vor hundert Jahren!

Als Herzog Ernst August von Sachsen-Weimar, der wunderliche, strenge Autokrat, im Jahre 1748 starb, schien die Sächsisch-Ernestinische Linie, welche einst in der Reformationszeit so hervorragende charakter- und kraftvolle Männer geliefert, dem Erlöschen nahe. Sein Thronerbe war sein einziger Sohn Ernst August Constantin, ein kränklicher Jüngling. Am 16. März 1756 vermählte er sich mit der siebenzehnjährigen Braunschweiger Prinzessin Anna Amalie, der Nichte Friedrich’s des Großen. Am 3. September 1757 schenkte sie dem Erbprinzen Karl August das Leben. Der Tag, an dessen Morgen der Prinz das Licht der Welt erblickte, sollte für die Stadt Weimar in den damaligen kriegerischen Wirren ein ernster Tag werden: am Nachmittage rückten von Arnstadt her Reichstruppen ein und besetzten die Stadt. Aber auch freundliche Zeichen fehlten nicht und wurden von den Bürgern als gute Vorbedeutung genommen; sah man doch während des Taufactes am 4. September bei heiterem Himmel und Sonnenscheine einen hellen Regenbogen über dem Schlosse, der Wilhelmsburg, stehen. Doch schon im Frühling des folgenden Jahres, am 28. Mai 1758, noch ehe die Herzogin von ihrem zweiten Sohne, Constantin, entbunden war, starb nach kurzer Regierung, durch Güte und Wohlwollen beliebt, der kaum einundzwanzigjährige Herzog, und der jungen, erst neunzehnjährigen Wittwe fiel die schwere Aufgabe zu, neben der Vormundschaft über ihre Kinder zugleich die Regentschaft des Landes in der stürmischen Zeit des siebenjährigen Krieges zu übernehmen. In bewundernswerther Weise löste sie diese Doppelaufgabe und bereitete zugleich in dem kleinen, bis dahin wenig beachteten Weimar mit deutschem Sinn der deutschen Kunst eine Stätte, welche bald darauf von ihrem großen Sohne im Vereine mit der genialen Kraft seines Busenfreundes zum Mittelpunkte deutscher Kunst und Literatur erhoben werden sollte.

Während der ersten Kinderjahre des Prinzen war Demoiselle Kotzebue, ein geist- und gemüthvolles Fräulein, seine Erzieherin; im fünften Lebensjahre desselben wurde Graf Johann Eustach von Görtz (der nachmalige preußische Minister) zu seinem Erzieher bestellt. Es war diese Wahl vielleicht kein glücklicher Griff Amaliens, denn Graf Görtz war ein mit aristokratischem Stolze erfüllter, pedantischer Mann, aber die ausgezeichneten Anlagen, mit denen die Natur den jungen Fürstensohn ausgestattet, der ihm von frühester Kindheit an eigene lebhafte und kräftige Wille schützten ihn gegen üble Folgen jener Erziehungsmethode; mit seinem Widerwillen gegen pedantische Regeln und Etiquettenzwang mag er seinen pedantischen Lehrern Noth genug gemacht haben. Bei dem Confirmationsexamen, welches am 27. März 1771 sein Instructor, der Oberconsistorialrath Seidler, bei offenen Thüren und „in Gegenwart ansehnlicher Versammlung“ mit ihm hielt, bewährte er die eigenthümliche Schnelligkeit, mit welcher er Ideen ergriff und in das Innerste jedes Gegenstandes eindrang. Sein gutes Herz aber bewährte er in demselben Jahre bei Gelegenheit der Hungersnoth und der Seuchen, welche damals ganz Thüringen verheerten; er bat den Geheimen Rath von Fritsch, die Erlaubniß der Mutter für ihn zu erwirken, daß er vierhundert Thaler aus seiner Schatulle dazu verwenden dürfe, sie unter die Weimarischen und Eisenacher Armen zu vertheilen. „Ich würde,“ schrieb der vierzehnjährige Prinz, „mein Geld nie besser anwenden können; die Fürsten sind zwar nur insoweit glücklich, als sie Gutes thun können.“

So hatte Friedrich der Große, sein Großoheim, gewiß nur vollkommen Recht, als er in eben diesem Jahre 1771, von dem vierzehnjährigen Prinzen zum ersten Mal begrüßt, voll Bewunderung zu den Umstehenden äußerte: „einen so vielversprechenden Prinzen, wie diesen, hab’ ich noch nie gesehen.“ So war es auch Wahrheit, nicht Schmeichelei, als im folgenden Jahre Wieland, damals Professor der Philosophie und kurmainzischer Regierungsrath in Erfurt, der Verfasser des „goldenen Spiegels“, nach wiederholten Besuchen des Weimarischen Hofes, an die Herzogin Amalie über deren Sohn Karl August schrieb: „Es ist dieser hohe Grad von gesunder Vernunft, diese natürliche Richtigkeit des Verstandes, die Begierde, sich zu unterrichten, diese Liebe zur Wahrheit, dieser Widerwille gegen die Schmeichelei, die der Prinz ohne alle Frage im höchsten Maße besitzt. Das sind lauter vortreffliche Anlagen. Man mache aus ihm einen aufgeklärten Fürsten, und ich stehe für sein Herz ein.“ Von der Herzogin Amalie, auch auf Karl August’s Bitte, zum Instructor ihrer beiden Söhne nach Weimar berufen, trat Wieland im September 1772 in seinen neuen Wirkungskreis als Erzieher neben Graf Görtz ein, und noch in demselben Jahre konnte er seinem Freunde Jacobi voll Zuversicht schreiben: „Ich habe das Vergnügen gehabt, in der Hoffnung bestätigt zu werden, welche ich mir von unserem jungen Fürsten mache. Wenn der Himmel ihn und ein paar gute Freunde, die er hat, leben läßt, so sollen Sie in sechs Jahren von Dato einen kleinen Hof sehen, der verdienen soll, daß man von den Enden der Welt komme, ihn zu sehen.“ Wie schön sollte diese Prophezeihung sich erfüllen!

Inzwischen nahm, während Graf von Görtz und Wieland gemeinsam als seine Erzieher fungierten, der junge Prinz, mit seinem durchdringenden Verstande, seinem Ehrgeiz, seinem festen, fast unbeugsamen Charakter, mehr und mehr eine selbstbewusste Stellung ein. Er beanspruchte die äußere Ehrenstellung des Herzogs, welche gegen den Gebrauch anderer Höfe ihm, dem minderjährigen, zur Regierungsnachfolge gelangten Fürsten, bisher vorenthalten worden war, und indem der intriguante, kluge von Görtz, der milde, nachgiebige Wieland diesen Wunsch unterstützten, die Mutter und Regentin aber diesen Ansprüchen der „aufgehenden Sonne“ entgegen war, trat damals zwischen Sohn und Mutter eine Verstimmung so tiefgehender Art ein, daß letztere schon mit dem Gedanken der Niederlegung der Regentschaft sich trug, als ihr Minister, Geheimer Rath von Fritsch, vermittelnd eintrat und der Prinz „eine Art kleinen Hof“, wie auch die Einführung in das Geheime Conseil erlangte. Ebenso charakteristisch für den jungen Fürsten ist seine Haltung nach dem Brande, welcher in der Nacht vom 5. bis 6. Mai 1774 die Wilhelmsburg in Schutt und Asche legte. Er wählte das [603] Landschaftshaus, später Fürstenhaus genannt, zur Wohnung; die Mutter widersprach, er aber blieb fest bei seinem Entschlusse, und Mutter und Regierung mußten sich fügen.

Doch Ehrgeiz und Eigenwille waren es nicht allein, die ihn erfüllten. Ihn drängte es, wie die lästigen Fesseln der Hofetiquette, so überhaupt in Leben und Kunst die Fesseln engherzigen, pedantischen Zwanges, die veralteten Formen zu brechen, neue Bahnen zu öffnen, tüchtiges Neues an die Stelle des Alten zu setzen. So empfing er wie seine Mutter mit freundlichem Wohlwollen den Pädagogen Basedow, welcher im Jahre 1774 Weimar besuchte und „durch Ahnung von der Wohlfahrt, die durch Karl August’s Gewissenhaftigkeit und Geschäftigkeit werde fortgesetzt und vermehrt werden, herzlich erfreut wurde“. So begrüßte er mit voller Sympathie den genialen Sturm und Drang, welcher vom Rheine her, das junge, feurige Dichtergenie Goethe’s an der Spitze, eine neue Zeit ankündigte, und noch vor seiner Volljährigkeit wurde ihm Gelegenheit, den rasch berühmt gewordenen jungen Doctor Goethe persönlich kennen zu lernen. Vom Herbste 1774 bis zum Sommer 1775 führte der Prinz jene Reise nach Frankreich aus, welche für ihn so äußerst bildend werden sollte und ihn überdies mit seiner nachherigen Gemahlin, der Prinzessin Louise von Hessen-Darmstadt bekannt machte, deren „männlicher, guter, wahrer und entschiedener Charakter“ ihn gewann. Auf dieser Reise war es, wo er in Frankfurt unter Vermittlung von Knebel’s die erste persönliche Zusammenkunft mit dem Verfasser des „Götz“, des „Werther“, des „Clavigo“ hatte, und trotz des übermüthigen Angriffs, welchen Goethe erst kurz vorher in seiner Farce „Götter, Helden und Wieland“ auf den verehrten Erzieher des jungen Fürsten schonungslos derb ausgeführt hatte, war vom ersten Augenblick an Karl August von Goethe, Goethe von Karl August gewonnen. Zwei universelle geniale Naturen hatten sich erkannt, sich gefunden, gefunden für immer.

Die letztwillige Verfügung des verstorbenen Vaters Ernst August Constantin hatte auf das vollendete achtzehnte Lebensjahr des Erbprinzen den Zeitpunkt festgesetzt, wo für ihn bei dem kaiserlichen Hofe die Volljährigkeitserklärung erbeten werden sollte, welche Karl August nöthig hatte, um selbst die Regierung seines Landes führen zu können. Dieser Zeitpunkt nahte mit dem 3. September 1775 heran; vom Kaiser wurde die Mündigkeit des Erbprinzen ertheilt; am 3. September erfolgte sein Regierungsantritt, und wenige Wochen später, am 3. October, seine Vermählung mit Louise. Bei der Durchreise des neuvermählten Paares durch Frankfurt und dem Wiedersehen Goethe’s wiederholte der junge Fürst die Einladung desselben nach Weimar, und gegen den Wunsch und Rath seines Vaters folgte Goethe der Einladung. Am 17. October hielten Karl August und Louise ihren festlichen Einzug in Weimar, und schon am 7. November traf daselbst Goethe ein. Von diesem Tage datirt das innige, treue Freundschaftsverhältniß, welches zwischen Dichter und Fürst über fünfzig Jahre bis zum letzten Athemzuge des Herzogs fortbestand, – ein Freundschaftsverhältniß so wahrer, herzlicher Natur, daß noch nach vierunddreißig Jahren der Herzog seinem Freunde als Dank für dessen Glückwunsch zu seinem Geburtstage, 3. September 1809, erwiderte: „wenn Du thätig, froh und wohl bist, so lange ich noch mit Dir gute Tage erleben kann, so wird mir mein Dasein höchst schätzbar bleiben;“ – ein Freundschaftsverhältniß selbst über den Tod hinaus, denn Karl August ordnete letztwillig an, daß Goethe dereinst in der Fürstengruft neben ihm ruhen sollte. Von jenem Tage datirt aber auch der Einfluß, welchen der geniale Dichter nicht nur während der köstlichen, lustigen Tage der „Genieperiode“, – in denen er so oft Tisch und Schlafzimmer, die Borkenhütte im Parke, mitunter selbst die Streu, und alle Studien, Abenteuer und Reisen mit dem Freunde theilte, – sondern während des ganzen Lebens des Herzogs auf diesen übte, indem er ihn einestheils körperlich zu stärken, anderntheils zur Anschauung der Natur hinzuleiten, ihn in seiner Neigung zu wissenschaftlichen Forschungen, in der Erkenntniß und Bethätigung alles Tüchtigen und Wahren zu befestigen suchte.

Die Empfänglichkeit des Herzogs hierfür zeigte sich schon in seiner äußern Erscheinung. Während gemäß der zwangvollen französischen Hofetiquette, in welcher er erzogen war, bisher ein starr gestickter Rock und eine ebensolche Weste, seidene Strümpfe mit abgestumpften Schuhen und großen silbernen Schnallen, ein großer Federhut auf dem hohen, wohl gekräuselten Toupet, und ein Degen mit vielen Bandschleifen sein Costüm gebildet hatte, nahm er nun das Werthercostüm seines Freundes: den blauen Frack mit gelben Metallknöpfen, Lederhosen und Stulpenstiefeln an. Unglaublich groß aber sind, um mit Wieland’s Worten zu reden, die Verdienste, welche Goethe um den Herzog in dessen erster Regierungszeit gehabt, die Selbstverleugnung und Aufopferung, mit welcher er sich ihm gewidmet und Edles und Großes, das in dem fürstlichen Jüngling noch schlummerte, hervorgerufen und zur Entwickelung gebracht hat. Ihn, den Dichterfreund, welcher zunächst nur als Gast am Weimarischen Hofe weilte, dort festzuhalten, ihm auch in seinem Ministerrathe den Platz an seiner Seite zu geben, war der Wunsch Karl August’s, und weder der Neid und die Kabalen, welche die Ernennung des Frankfurter Rechtsanwalts zum Mitgliede des Geheimen Conseils zu verhindern suchten, noch auch die Bedenken des Geheimen Raths von Fritsch konnten ihn von der Verwirklichung dieses Herzenswunsches abhalten. Wohl nicht mit Unrecht bezweifelte der erfahrene, strenge von Fritsch für jene Zeit die Tauglichkeit des jungen Rechtsanwalts und Dichters „einem dergleichen beträchtlichen Posten“, ja er ging soweit, geradezu zu sagen: „das Collegium müsse durch die Placirung des Dr. Goethe in selbigem in den Augen des Publici gar sehr heruntergesetzt werden“; er machte ferner auf „die Rechte anderer langgedienter Diener“ aufmerksam und bat sogar um seine eigene Dienstentlassung, da er „in einem Collegio, dessen Mitglied Dr. Goethe anjetzt werden solle, länger nicht sitzen könne“. Aber alles dies konnte den willensstarken Fürsten, welcher sich seinem Freunde mit aller Wärme und Begeisterung angeschlossen, von der energischen Ausführung seines Planes nicht abhalten. Von Beaulieu-Marconnay hat in seinem trefflichen Buche „Anna Amalia, Karl August und der Minister von Fritsch“ (1874) den denkwürdigen Brief des Herzogs an von Fritsch, in welchem der Erste seinen festen Entschluß erklärte, vollständig wieder gegeben. Ich kann daraus hier nur wenige Stellen einschalten.

„Wäre“ schrieb im Mai 1776 der noch nicht neunzehnjährige Fürst an seinen Minister, „wäre der Dr. Goethe ein Mann eines zweideutigen Charakters, würde ein jeder Ihren Entschluß billigen, Goethe aber ist rechtschaffen, von einem außerordentlich guten und fühlbaren Herzen; nicht allein ich, sondern einsichtsvolle Männer wünschen mir Glück, diesen Mann zu besitzen. Sein Kopf und Genie ist bekannt etc. Einen Mann von Genie nicht an dem Orte gebrauchen, wo er seine außerordentlichen Talente gebrauchen kann, heißt denselben mißbrauchen etc. Die Welt urtheilt nach Vorurtheilen, ich aber, und jeder der seine Pflicht thun will, arbeitet nicht um Ruhm zu erlangen, sondern um sich vor Gott und seinem eigenen Gewissen rechtfertigen zu können und suchet auch ohne den Beifall der Welt zu handeln etc. Wie sehr muß es mich befremden, daß Sie, statt sich ein Vergnügen daraus zu machen, einen jungen, fähigen Mann, wie mehrbenannter Dr. Goethe ist, durch Ihre, in einem zweiundzwanzigjährigen treuen Dienst erlangte Erfahrung zu bilden, lieber meinen Dienst verlassen, und auf eine, sowohl für den Dr. Goethe, als, ich kann es nicht leugnen, für mich beleidigende Art; denn es ist als wäre es Ihnen schimpflich, mit demselben in einem Collegio zu sitzen, welchen ich doch, wie es Ihnen bekannt, als meinen Freund ansehe, und welcher nie Gelegenheit gegeben hat, daß man denselben verachte, sondern aller rechtschaffenen Leute Liebe verdient. – Hier haben Sie mit aller möglichen Aufrichtigkeit, was ich über Ihren Entschluß denke. Sie sind Herr und Meister, zu thun, was Sie wollen; ich hielte es für eine Ungerechtigkeit, es sei wer es wollte, in so wichtigen Vorfallenheiten seines Lebens einzuschränken; aber wie sehr wünsche ich, Sie bedächten Sich anders.“

Diesmal intervenirte die Herzogin Amalie bei dem Minister; er blieb, und Karl August berief seinen Freund Goethe – „wegen seiner uns genugsam bekannten Eigenschaften, seines wahren Attachements zu uns und unsern daher fließenden Zutrauens und Gewißheit“ am 11. Juni 1776 als Geheimen Legationsrath in sein „Geheimes Consilium“.

(Schluss folgt.)

[604]

Zum Sedan-Feste.

Tag des Sieges ohne Gleichen,
Tag des höchsten Jubels voll!
Steigt empor, ihr Flammenzeichen,
Eines Volkes Opferzoll!
Baum der Freiheit, Baum der Einheit,
Breite schützend dein Geäst,
Wahre des Triumphes Reinheit,
Weihe uns das Sedan-Fest!

Nicht zu frevlen Waffentänzen
Haben wir den Brand entfacht;
Nicht um eitlen Ruhmes Glänzen
Schlugen wir die Riesenschlacht:
Heil’ger Zorn hat uns die Klingen
Rächend in die Hand gepreßt,
Half die Götterthat vollbringen –
Heilig ist das Sedan-Fest.

Sturz des corsischen Cäsaren,
Sturz der welschen Raubbegier,
Sieg des deutschen Kaiseraaren
Mit des Reiches Kronenzier,
Sieg des deutschen Einheitsdranges,
Der sich nimmer fesseln läßt,
Sturz der Zwietracht, fremden Zwanges: –
Das ist unser Sedan-Fest.

Wohl nicht frei von Wolkenschatten
Grüßt uns dieses Tages Blau;
Hier und dort auf Deutschlands Matten
Liegt’s wie Frost und gift’ger Thau.
Armer Thoren blöde Blicke
Schielen scheu nach Süd und West –
Doch wir brechen neue Tücke
Einst an neuem Sedan-Fest.

Denn es kommt der Tag der Tage,
Wo der Geist des Lichtes siegt,
Wo verstummt die letzte Klage
Und der letzte Feind erliegt.
Baum der Freiheit, Baum der Einheit,
Golden glänzt dann dein Geäst,
Und in ungetrübter Reinheit
Feiern wir das Sedan-Fest.

Ernst Scherenberg.


Der Automat-Mensch.

In dem Sanct Antonius-Spitale zu Paris befindet sich ein Mann, der für gewöhnlich Krankenwärterdienste leistet, aber allmonatlich einige Tage lang von so außerordentlichen Zufällen heimgesucht wird, daß in den an seltsamen Vorkommnissen wahrlich nicht armen Annalen der Medicin ein sonderbarerer Fall kaum verzeichnet sein dürfte. Die Krankheit leitet sich von einem Schusse her, welchen der Patient in dem mörderischen Kampfe bei Bazeilles, am Tage von Sedan, empfing. Die Kugel war durch das linke Schläfenbein gedrungen und auf die dort angerichteten Zerstörungen in der Hirnmasse erfolgte, wie gewöhnlich, eine Lähmung der Gliedmaßen auf der andern Seite des Körpers, also der rechten Hand und des rechten Fußes. Nach zwei Jahren einer sorgfältigen ärztlichen Behandlung ist diese halbseitige Lähmung beinahe vollständig gewichen; der Mann kann die meisten im Hospitale vorkommenden Arbeiten verrichten und entledigt sich seiner Pflichten in einer fröhlichen Gemüthsstimmung und mit der vollendetsten Gewissenhaftigkeit. Allein für ein bis zwei Tage im Monat geht eine geheimnißvolle Veränderung in diesem Körper vor sich, geheimnißvoll schon deshalb, weil sie ein gewöhnlicher Beobachter übersehen könnte. Der Mann steht auf, kleidet sich an, geht umher, nimmt seine gewöhnlichen Beschäftigungen auf, rollt seine Cigarette, raucht, ißt und trinkt.

Indessen bald fällt es auf, daß er bei seinem beständigen Umherlaufen unaufhörlich gegen Menschen und Dinge, die sich auf seinem Wege befinden, anläuft und erst nachdem der Zusammenstoß erfolgt ist, seitlich ausweicht. Man überzeugt sich, daß er mit weit geöffneten Augen nichts von den Dingen, die ihn umgeben wahrnimmt. Man ruft ihn an, er hört nichts; man bohrt ihm die Nadel in den Arm, er fühlt nichts; man versetzt ihm hinterrücks elektrische Schläge, er zuckt nicht. Bei genauerer Beobachtung fand man, daß der Zustand dieses Mannes demjenigen der sogenannten Nachtwandler gleicht, nur daß der Schlaf ein unendlich tieferer ist, da er durch kein Mittel aus demselben zu erwecken ist. Der einzige wachgebliebene Sinn, durch den er noch mit der Außenwelt verkehrt, ist das Tastgefühl der Hände und der Oberhaut überhaupt, während Gesichts-, Gehörs-, Geruchs- und Geschmackssinn schlummern.

Dafür klammert sich das ganze Innenleben dieses Menschen an den Tastsinn, und auf jede von demselben angeregte Empfindung spinnt sich automatenhaft eine Reihenfolge unter sich verknüpfter Thätigkeiten ab. Steckt man ihm ein Stück Cigarettenpapier in die eine Hand, so faßt er mechanisch mit der andern in die Westentasche, nimmt Tabak heraus, rollt eine Cigarette und setzt sie mit Hülfe eines Streichhölzchens in Brand. Bläst man ihm dasselbe aus, so setzt er wohl ein neues in Brand, macht aber niemals von einem ihm brennend unter die Nase gehaltenen Gebrauch, wenn man ihm auch fast den Schnurrbart anzündet, denn er sieht das dargebotene Hölzchen nicht. Seine Cameraden haben ihm statt des Tabaks Charpie unter die Hände gespielt; er hat damit seine Cigarette gefüllt und sie, ohne eine Miene zu verziehen, aufgeraucht. Ebenso verschlingt er, wenn man einen Löffel in seine Hand legt, Alles, was man ihm vorsetzt, seine Lieblingsspeisen ebenso wie Stückchen der abscheulich bittern Aloe oder der widerlichen Asa fötida.

Um zu ermitteln, ob bei diesem sogenannten Automatmenschen der Tastsinn auch ältere, nicht durch tägliche Wiederholung in Uebung erhaltene Muskel- und Nerventhätigkeiten anrege, begründete der Hospitalarzt Dr. Mesnet einen Versuch auf den Umstand, daß der Patient vor dem Kriege vielfach als Concertsänger in öffentlichen Localen aufgetreten war. Man legte ein Paar Handschuhe in seine Hände, die er sich sofort beeilte, anzuziehen. Nachdem dies geschehen, begann er mit den Händen umherzusuchen, das hingelegte Notenheft zu entfalten, sich zu verbeugen und dann gerade zu richten, wie Jemand, der vor einer Versammlung singen will. Ob er wirklich gesungen habe, ist in dem Berichte des Dr. Mesnet nicht klar ausgedrückt; für gewöhnlich pflegt er in diesem besonderen Zustande nur die Kinnladen zu bewegen, oder leise vor sich hinzumurmeln. Alles in Allem genommen, ergiebt sich also, daß dieser Mensch während seines Zufalles mit der Außenwelt nur durch den Tastsinn verkehrt, und daß die Kette durch Uebung verbundener Thätigkeiten, welche von demselben angeregt worden ist, einzig und allein nur durch Gewalt oder durch einen neuen Eindruck auf den Tastsinn unterbrochen werden kann. Wie weit diese Thätigkeiten mit einem gewissen traumartigen Bewußtsein etwa verbunden sein mögen, weiß man nicht, denn nach dem Anfalle bleibt keine Erinnerung an das während desselben mit ihm Vorgegangene in dem Automatmenschen, indessen mögen traumartige Gedanken in ihm aufsteigen, denn eine ihm in die Hand gedrückte Feder hat ihn eines Tages veranlaßt, Tinte und Papier zu suchen und einen ziemlich zusammenhängenden Brief über seine gewöhnlichen Verhältnisse zu schreiben. Das würde sich etwa den bewußtlos und ohne Erinnerung geführten Gesprächen der Schlafwandler vergleichen. Gewisse starke Erregungen brachten ihn auch zu plötzlichen Ausrufen. So warf er sich, als man einst ein ungeladenes Gewehr in seinen Arm gelegt hatte, plötzlich zu Boden, streckte den Kopf vor und rief, indem er mit den Händen die Patronen suchte: „Heinrich, da sind sie, ihrer zwanzig wenigstens, aber wir Zwei wollen mit ihnen schon fertig werden.“

Wir werden sehen, daß diese Beobachtungen, so seltsam sie [605] sind, die Physiologen und Psychologen unserer Zeit mehr angezogen als in Verwunderung gesetzt haben, da sie eine Reihe von Schlüssen, welche man längst gezogen hat, einfach bestätigen; allein ein Umstand mußte auch sie in das höchste Erstaunen versetzen. Es ist derjenige, daß der Automatmensch als solcher ein moralisch ganz verschiedener Mensch von demjenigen seiner gesunden Tage ist, daß er also in Wirklichkeit zwei Leben lebt. Sonst die Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit in Person erscheint er während seiner Zufälle wie ausgewechselt. Sobald er gegen irgend eine Person anstößt, ist sein erster Griff auf deren Uhr und Börse gerichtet, die er sodann in seine Tasche steckt. Ohne Gegenwehr läßt er sich die angeeigneten Gegenstände darauf wieder abnehmen, weil er von dem Geplündertwerden noch viel weniger etwas bemerkt, als von dem Selbstplündern. Er beträgt sich, mit einem Worte, wie eine von den höchsten Graden des Diebswahnsinns heimgesuchte Person, während er in gesunden Tagen der rechtlichste Mensch von der Welt ist.

So nachdenklich aber auch für den Moralphilosophen die Thatsache sein mag, daß Jemandem mit seinem Empfindungsvermögen und Bewußtsein auch das Gewissen schwinden kann, ein ungleich tieferes Interesse, als an seinen moralischen, knüpft sich an den physischen Zustand des Automatmenschen, sodaß sich die Blicke der berühmtesten Physiologen Europas auf diese phänomenale Erscheinung gerichtet haben. Der Anknüpfungspunkt dieses Interesses ist die Erfahrung, daß man mit Hülfe einiger wenig schmerzenden Schnitte Thiere alsbald in einen Zustand versetzen kann, der mit demjenigen des Automatmenschen die größte Aehnlichkeit darbietet. Ich will nur einen der vielen Versuche erwähnen, welche der Prof. F. Goltz in Straßburg vor fünf oder sechs Jahren an Fröschen angestellt hat. Mittelst einiger sehr schnell und ohne die geringste Gefahr für das Leben des Thieres heilender Schnitte wußte dieser Forscher die Verbindung zwischen dem Vordergehirn der Frösche und den übrigen Centralorganen des Nervensystems aufzuheben, um dadurch Versuchsthiere herzustellen, die, wenn sie regelmäßig gefüttert werden, sich viele Monate, ja selbst Jahre lang des besten Wohlseins erfreuen, obwohl sie nichts sind, als lebendige Maschinen, Automatthiere, wie der am Gehirn verletzte Sergeant des Antoniusspitals. Für derartig behandelte Thiere scheint die Außenwelt gar nicht zu existiren; sie hocken unbeweglich auf derselben Stelle, bis man sie anstößt; sie verschlingen nur, was man ihnen in den Mund steckt, würden aber wie Tauben, die man ihres Vordergehirns beraubt hat, auf einem Berge von Lebensmitteln verhungern. Dagegen ist auch bei ihnen das Hautgefühl das einzige Bindemittel mit der Außenwelt. Wenn der Versuchsfrosch ein Männchen ist und man streicht seinen Rücken sanft mit dem Finger, so quakt er mit dem Ausdrucke der größten Behaglichkeit und wiederholt dieses maschinenmäßige Quaken so oft, wie die Berührung wiederholt wird. Noch mehr, wenn man auf einen Fuß eines solchen Thieres einen Tropfen ätzender Flüssigkeit bringt, so benutzt es den andern Fuß, die Reizursache zu entfernen, ja, es weiß sich auf einer hin- und hergeneigten Kante mit der Geschicklichkeit eines Seiltänzers im Gleichgewicht zu erhalten, ohne daß es irgend ein Bewußtsein von dem Geschehenden haben kann. Man wird an das angebliche Balanciren der Nachtwandler erinnert.

Nach dem Vorgange des großen französischen Philosophen Descartes, der im siebenzehnten Jahrhunderte zuerst den jetzt jedem Schulknaben geläufigen Satz begründete, daß das Gehirn das Denkorgan des Menschen ist, nennt man jene ohne Bewußtsein und Wollen eintretenden zweckmäßigen Bewegungen des thierischen Körpers Rückstrahlungs- oder Reflexbewegungen. Derartige unwillkürliche Bewegungen beobachtet man nun in größter Auswahl auch am menschlichen Körper. Wir brauchen nicht an die Fälle zu erinnern, bei denen durch Krankheiten die Verbindungen zwischen Gehirn und Rückenmark zerstört worden waren, sodaß die betreffenden Personen des Gefühls in ihren Füßen vollkommen beraubt sind, gleichwohl aber mit denselben unbewußt die heftigsten Bewegungen ausführen, wenn man sie an der Fußsohle kitzelt, denn schon der gesunde Menschenkörper bietet entsprechende Erscheiungen in Masse. „Wenn unser bester Freund,“ sagte Descartes, „von dem wir gewiß wissen, daß er uns niemals mit der Faust in’s Auge schlagen wird, so thut, als wollte er es thun, werden wir trotz der größten Anstrengungen nicht im Stande sein, im Augenblicke des Schlages die Augen offen zu behalten, der Mechanismus des Körpers ist also sogar stärker als der Wille. Es zeigt sich, daß wir ebenso wenig die durch einen Reiz auf die Schleimhäute hervorgebrachte Nöthigung zum Husten, Aufstoßen, Niesen etc. willkürlich unterdrücken können, kaum daß wir im Stande sind, dem doch ausschließlich von innen kommenden Bedürfnisse zu lachen oder laut aufzuschreien zeitweise zu widerstehen. Gänzlich dem Bereiche unseres Bewußtseins und Willens entzogen sind die Bewegungen des Athmens, des Herzschlages, der Verdauungsorgane etc., die mit maschinenartiger Regelmäßigkeit vor sich gehen – ein Räderwerk, das sich nur gegenseitig zu bedingen scheint, aber ganz unabhängig von demjenigen ist, was wir Denken, Bewußtsein, Seele nennen. Der Urheber der neueren Philosophie schloß darum mit der Consequenz, die seinem System eigen ist, weiter: Die Thiere sind also nichts, als sehr wohlgebaute Maschinen.

Die frömmsten Leute der Zeit haben diesen Ausspruch des Meisters, ohne an die bedenklichen Folgeschlüsse zu denken, angenommen. Der große Leibnitz war einer seiner vertrauensseligsten Verfechter und der mehr als strenggläubige Jesuitenpater Malebranche sein begeisterter Prophet. Auch der große englische Zoologe Huxley, einer der hervorragendsten Naturforscher unserer Zeit, hat sich, anknüpfend an den Pariser Automatmenschen, auf der vorjährigen Naturforscher-Versammlung in Belfort ziemlich unzweideutig zu Gunsten dieser rein mechanischen Auffassung des Lebens erklärt. Wir brauchen unsern Lesern nicht zu sagen, daß diese Auffassung heute von einer großen Anzahl von Naturforschern bis zu den letzten Folgeschlüssen vertheidigt wird, das heißt bis zu dem Schlusse, daß der Mensch, auch in dieser Beziehung, nichts vor den Thieren voraus hat.

Der Erste welcher diesen Schluß in unerschrockener Weise gezogen und offen verkündet hat, war der vielgeschmähete französische Arzt und Philosoph La Mettrie, welchen Friedrich der Große an seinen Hof zog und so hoch achtete, daß er ihm nach seinem frühen Tode eine selbstverfaßte Gedächtnißrede in der Akademie, deren Mitglied er gewesen, widmete. Dieser geistreiche Arzt hatte aus seinen Beobachtungen am und im Krankenbette die feste Ueberzeugung gewonnen, daß die Aufstellung des Descartes auch auf den Menschen Anwendung finde, und legte diese Ansicht in einem kleinen lebendig geschrieben Buche „L’homme machine“ (der Mensch eine Maschine) nieder. Er machte die Ansicht des Descartes und Leibnitz, daß der thierische Körper einer Uhr mit unendlichen Rädern und Federn zu vergleichen sei, welche durch die Speisung immer neu aufgezogen und im Gange erhalten werde, zu seiner eigenen und meinte, daß sich in dieser Beziehung der menschliche Körper zu dem thierischen nicht anders verhalte, wie eine astronomische Normaluhr zu einer Schwarzwälder, oder wie ein Automat von Vaucanson zu den beweglichen Figuren einer Drehorgel. Obwohl er dabei nichts gethan, als die geheimen Ueberzeugungen älterer Philosophen auszusprechen und diejenigen einer großen Majorität in der Nachwelt vorweg zu nehmen, heftete sich der Haß der theils von seinem Spott gereizten, theils in ihrer Rechtgläubigkeit gestörten Zeitgenossen an seinen Namen, und man hat nichts gespart, um das Andenken dieses ersten Propheten der neueren Materialistenschule zu verunglimpfen. Selbst die französischen Encyclopädisten, welche nur mit andern Worten dasselbe predigten, stimmten in das allgemeine Verdammungsurtheil ein. Sein Tod, der in Folge reichlichen Genusses von einer wahrscheinlich verdorbenen Trüffelpastete an der Tafel des französischen Gesandten in Berlin erfolgte, gab einen willkommenen Anlaß, den lebenslustigen, aber in seinem Wandel vorwurfsfreien Mann als ein Nonplusultra von Schwelgerei, Sittenlosigkeit, Irreligiosität und Schlechtigkeit hinzustellen. Das Aufsehen, welches der Pariser Automatmensch in den Gelehrtenkreisen unserer Zeit hervorgerufen, scheint nicht ohne Einfluß geblieben zu sein auf das Andenken des Freundes Friedrichs des Großen, der zuerst den Menschen für einen Automaten erklärt hat, denn nicht nur die bezügliche kleine Schrift ist in den letzten Jahren in neuen Ausgaben und Uebersetzungen erschienen, auch das Charakterbild La Mettrie’s ist durch französische und deutsche Gelehrte von den entstellenden Flecken gereinigt worden. Im Schooße der Berliner Akademie hat dem arggeschmäheten Philosophen kürzlich Dubois-Reymond eine sympathische Gedächtnißrede gewidmet.

[606] Im Uebrigen hat der Umstand, daß man sich jetzt allerseits des in Vergessenheit und Verachtung gesunkenen La Mettrie erinnert, noch seine tieferen Gründe. Eine Reihe neuerer Forschungen hat gezeigt, daß sich der Automatismus des thierischen Körpers weiter verfolgen läßt, als man geglaubt hat. Vor Allem ist hier der seit dem Jahre 1870 in Gemeinschaft mit dem Privatdocenten Dr. G. Fritsch begonnenen Gehirnuntersuchungen des Prof. Ed. Hitzig aus Berlin (jetzt in Zürich) zu gedenken, um so mehr, als ein englischer Anatom alsbald Anstalten machte, die glänzenden Entdeckungen des deutschen Gelehrten an Kindesstatt anzunehmen. Hitzig entdeckte nämlich, daß, entgegen der früher allgemein herrschenden Ansicht, von scharf umschriebenen Stellen des freigelegten Vordergehirns der Säugethiere aus durch einen schwachen elektrischen Strom die verschiedenen Muskelgruppen des Körpers nach Belieben in Bewegung gesetzt werden könnten, gerade als ob dies aus eigenem Antriebe des Thieres geschähe. Einen kleinen Affen, eine Makakoart, welchen Hitzig im vergangenen Jahre (1874) von Director Bodinus zu diesen Versuchen erhalten hatte, konnte er auf diesem Wege zwangsweise eine Reihe von Bewegungen ausführen lassen, die von willkürlichen Bewegungen kaum zu unterscheiden waren. Nach dem Wunsche der Zeugen dieser Versuche griff der Affe mit der rechten oder linken Hand, sperrte das Maul auf und streckte die Zunge heraus. Dabei ist die Lage der Mittelpunkte für die verschiedenen Körperbewegungen bei derselben Thierart eine so übereinstimmende, daß Hitzig schon von außen am Schädel die Stelle des Gehirns andeuten kann, von welcher z. B. der linke Vorderfuß seine Bewegungsabtriebe empfängt. Bei verwandten Thierarten ist die Vertheilung eine ähnliche, und die Beobachtung zahlreicher Verwundeten mit Kopfschüssen, welche Hitzig und andere Forscher während des letzten Krieges angestellt haben, lassen keinen Zweifel darüber, daß die Vertheilung dieser Bewegungsmittelpunkte beim menschlichen Gehirne im Ganzen eine ähnliche ist wie bei den Affen.

Das sind für Diejenigen, welche von der Gebundenheit der Seele an körperliche Organe nichts wissen wollen, sehr ärgerliche Forschungsergebnisse, und wir können recht wohl die Quelle der äußerst heftigen Bewegung begreifen, welche sich seit Jahr und Tag gegen die Zulässigkeit der sogenannten Vivisectionen, das heißt der Zergliederungen lebender Thierkörper erhoben hat. Den deutschen Professor Schiff in Florenz soll man kürzlich auf der Straße mit Schimpfreden wegen seines jährlichen Hundeverbrauche, ja mit Steinwürfen verfolgt haben, und in England ist man daran, den Schutz der Parlamente und Regierungen gegen die Vivisectionen anzurufen. Man will sie unter polizeiliche Oberaufsicht stellen, als ob von Männern der Wissenschaft solche unütze Quälereien zu fürchten seien, wie wir sie täglich auf der Straße sehen müssen. Es wäre in der That besser, wenn jene, gewiß zum Theil wohlmeinenden, aber unklaren Leute, sich zunächst des Schicksals unserer treuen Schutzbefohlenen, der vielgeplagten Zug- und Schlachtthiere, annehmen wollten, statt sich mit verdächtiger Fürsorge und übel angebrachter Sentimentalität um jene Minderheit von Thieren zu kümmern, die in den physiologischen Laboratorien verbluten und deren Empfindlichkeit für Schmerzen oftmals, z. B. bei den Fröschen, eine ziemlich geringe sein mag.

Was endlich das Verhältniß des Seelischen zu dem thierischen Automatismus anbetrifft, so geben die Anhänger dieser Anschauung natürlich zu, daß das Seelische, welches bei den niederer Thieren nur wie eine Begleiterscheinung der Lebensvorgänge auftrat, sich in den höchsten zu einer gewissen Selbstständigkeit emporgerungen habe. Allein obwohl diese Absonderung eine so vollständige ist, daß, wie wir wissen, das Denkorgan tief erkranken kann, ohne den übrigen Körper erheblich in Mitleidenschaft zu ziehen, obwohl Vernunft und Selbstbewußtsein dem Leben und Wohlbefinden ziemlich entbehrlich scheinen, ist das Geistige doch in gesunden Verhältnissen mit dem Automatismus des Körpers so eng verstrickt, daß man nicht umhin kann, auch einen Automatismus des Denkens zu erkennen. Die scharfsinnigsten Selbstbeobachtungen und Grübeleien philosophisch angelegter Köpfe haben es nicht zu entscheiden vermocht, ob von einer vollendeten Willensfreiheit des Menschen zu reden sei, und die tiefsten Denker haben diese Frage verneint. Ohne Zweifel erhält der Körper beständig von dem Centralorgane, in welchem sich die Anregungen der Außenwelt vereinigen, seine Verhaltungsmaßregeln, aber nicht weniger oft wird es offenbar, daß der Körper der befehlende und der Geist der gehorchende Theil ist. Dieses Ineinanderwirken wird am lehrreichsten, wenn wir sehen, wie sich geistig Erworbenes zuletzt vollkommen dem körperlichen Automatismus einverleibt. „Unser Thier“, wie der geistvolle Xavier de Maistre den menschlichen Körper zu nennen pflegte, lernt nicht ohne saure Mühe laufen, reden, schreiben, Handarbeiten machen, Clavierspielen etc. Aber wenn die Muskeln einmal eingeübt sind, dann mag der Geist, der seine Schuldigkeit gethan hat, gehen, und „unser Thier“ spaziert bei völligster Gedankenabwesenheit umher, tanzt und spielt Clavier zum Entzücken, ja es soll eingeübte Automaten geben, die gleich den entsprechenden Maschinen von Kempelen und Vaucanson ganze Abende plaudern und dicke Bücher schreiben können, ohne den geringsten Gedanken dabei zu haben. Auch der Brief, den der Pariser Automatmensch ohne Bewußtsein geschrieben haben soll, gehört dahin. Hier geht der Automatismus des Körpers in den des Geistes über, und dieser Uebergang ist der nachdenklichste Punkt der ganzen Frage. Gleichwohl muß ich mich hier dem geneigten Leser empfehlen und ihm überlassen, die weiteren Schlüsse nach seinem Bedürfnisse zu ziehen.

Carus Sterne.



Aus Capitain Boyton’s Leben.

Der kühne Amerikaner, der, getragen von seinem Kautschuk-Costüm, die Meerenge zwischen England und Frankreich durchschwamm, ist neuerdings in Deutschland zum Helden des Tages geworden, nachdem sich das Gerücht bewahrheitete, daß er, von einem unternehmenden Restaurateur in der Nachbarschaft von Berlin um einen enormen Preis gewonnen, sich und seinen Apparat auf dem von der deutschen Reichshauptstadt eine halbe Stunde entfernten „Weißen See“ produciren wird. Wir glauben daher nicht irre zu gehen, wenn wir annehmen, daß einige nähere Angaben aus dem Leben des Capitain Boyton, wie dieser selbst sie dem Berichterstatter eines englischen Blattes gemacht, unsern Lesern nicht uninteressant sein werden. Ist das Leben des waghalsigen Yankee bisher doch ein wahrer Roman voller Abenteuer und Abwechselungen gewesen, obschon er die Jahre der Männlichkeit kaum erreicht hat – als Schatzgräber, als Perlenfischer, als Diamantensucher, als Trapper und Händler in den Prairien des fernen Westens, als Freischärler in Mexico und Frankreich, in allen diesen verschiedenen Fächern hat sich Capitain Boyton bereits versucht. –

„Schon in meiner frühesten Kindheit,“ beginnt er seine Erzählung, „fühlte ich mich unglücklich und im höchsten Grade unbehaglich, wenn ich mich nicht alle Tage baden konnte. Als ich acht Jahre alt war, verbrachte ich den größten Theil meiner Zeit damit, daß ich vom Wasser abgeschliffene Steine aus dem Strome fischte, wie man dieselben bei uns zum Ausbessern des Straßenpflasters gebraucht. Für je hundert solcher Steine erhielten wir dreißig Cents. Ich war das Haupt dieser jugendlichen Taucherbande und krabbelte manchen Tag so oft auf dem Grunde des Flußbettes umher, daß ich dort mehr zu Hause war als in meiner elterlichen Wohnung.

Mein erstes Lebensrettungswerk versuchte ich 1859, als elfjähriger Knabe. Eines Nachmittags ging die ganze Schule, die ich besuchte, zum Baden hinaus. Der Strom war ziemlich niedrig, und manche von uns konnten ein gut Stück in das Wasser hinein waten. Plötzlich aber gerieth einer meiner Cameraden in eine tiefe Stelle. Ich stand noch am Ufer, als das Geschrei erscholl, einer von uns sei ertrunken. Sofort sprang ich in’s Wasser, denn jählings kam’s wie eine wahre Leidenschaft über mich, den Jungen zu retten. Ich tauchte unter, allein ich konnte ihn nicht sehen und kam unverrichteter Sache wieder an [607] die Oberfläche; da bemerkte ich etwas weiter stromab ein Paar Arme, die sich gelegentlich aus dem Wasser emporreckten. Rasch war ich wieder unten, und diesmal stieß ich auf den Unglücklichen. Leicht zog ich ihn heraus; doch jetzt verließen mich meine Kräfte. Zum Glück sahen es einige Fischer am Ufer; sie kamen schnell heran gerudert und brachten uns Beide wieder an’s Land. Und es gelang, den Todtgeglaubten wieder in’s Leben zurückzurufen. Welches Fest war es für uns Alle! Für mich wurde von den Umstehenden eine Hand voll kleiner Silbermünzen gesammelt, und damit tractirte ich Abends dann die ganze Schule.

Etwa zehn Monate darauf rettete ich einen andern Knaben, auch einen meiner Mitschüler.

Als ich das Institut verließ und in Westmoreland im Staate Pennsylvanien zur Schule ging, setzte ich fort, was ich drüben getrieben hatte. Immer bin ich ein wilder Bursche gewesen, der sich mit Lesen und Lernen den Kopf nicht beschweren mochte. Waren wir nicht in der Classe, so tummelte ich mich sicherlich im Wasser umher. Wie ein Kork, so schwamm ich im Flusse auf und nieder, und den Boden jedes Baches und jedes Gewässers kannte ich so genau wie das Gesicht meines Vaters. Auch jetzt noch zählte das Herausfischen von runden Pflastersteinen zu meinen Haupt- und Lieblingsgeschäften.

Im Jahre 1863 hatte ich die Schule hinter mir und zog mit meinem Vater nach dem Westen, um dort mit den Indianern Handel zu treiben. In der Regel begaben wir uns von New-York direct an die Grenze des Indianergebiets und schickten von da aus die gekauften Waaren auf der Eisenbahn nach Hause.

Ich meine, der Indianer ist das verfehlteste Geschöpf, das je auf zwei Beinen gewandelt hat. Diese Chippewas in Minnesota stahlen Alles und Jedes, was ihnen unter die Hände kam. Ohne geladene Revolver bewegten wir uns deshalb niemals unter diesem Diebsgesindel. Wahrhaftig, der Indianer ist zu nichts gut und nütze, als für Barnum und für Romanschreiber. Jedenfalls hat er seine Rolle ausgespielt. Er arbeitet weder, noch jagt er jetzt mehr oder gräbt er Gold; er lottert blos umher und trinkt, und dann ist er schlimmer als eine Bestie. Irgendjemand hat gesagt, sein Verderben sei gewesen, daß ihn Columbus entdeckte, und ich fürchte, der Ausspruch ist nicht ohne Grund.

Kurze Zeit darnach trennte ich mich von meinem Vater und trat bei unserer Flotte ein. Das Kriegsfieber hatte damals alle Welt ergriffen und steckte natürlich auch mich an. Der Kampf mit den südstaatlichen Rebellen brach aus, und kein Mensch konnte die Kerle mehr hassen als ich. Mein Platz war auf dem Postboote ‚Hydranga‘. Capitain Watson, das den Jamesstrom auf und nieder fuhr. Wir hatten nur drei Kanonen, mußten aber fortwährend durch einen Hagelsturm hindurch, – die Hagelstücke waren Flintenkugeln. Die Scharfschützen der Conföderirten postirten sich hart an das Ufer, an dem wir vorbei mußten, so nahe an uns wie sie konnten, und ließen mit ihrem Feuer nicht nach, bis wir ihnen aus dem Gesichte waren.

Nach dem Frieden wandelte mich die Lust an, mich irgendwo ruhig niederzulassen und ein Geschäft anzufangen. Ich etablirte mich denn in Cape May an der Küste von Jersey. Mein Vater hatte mir ein Stück Geld gegeben, und so gründete ich ein Geschäft in chinesischen und japanesischen Artikeln. Allein es währte nicht lange, so erwachte die alte Wasser- und Schwimmpassion in mir auf’s Neue. Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, das mich plötzlich packte. Es zog mich hin und her, dahin und dorthin, als bewegte jeden Zoll meines Leibes eine unsichtbare Hand. Wir befanden uns gerade in voller Sommersaison, und Schaaren von Seebadegästen belebten den Ort. Gelegentlich meiner Promenaden am Strande rettete ich hintereinander drei Kindern das Leben.

Der Sommer in Cape May dauert indeß höchstens zwei Monate, und so war dieses Wasservergnügen leider bald vorüber. Mit beginnendem Winter machte ich mich auf die Reise gen Westen auf, und dort nahm ich das erste Geld aus meinem Handel ein. Es waren neunhundert Dollars, die ich aber sofort wieder verausgabte, mir einen submarinen Taucheranzug anzuschaffen – Glocke und vollständigen Apparat.

Mein erstes Taucherabenteuer bestand ich 1865 in der Delawarebai, unweit von New-York. Ein altes englisches Schiff ‚der Husar‘ sollte dort gesunken sein. Ich ging an’s Geschäft, allein ich konnte nichts entdecken, was sich der Mühe einer Hebung verlohnt hätte; nur ein paar werthlose Kleinigkeiten habe ich mir als Andenken an diese meine erste Taucherpartie aufgehoben.

Eines Tages kam ein altes verschrumpftes Männchen zu mir, das von meiner Taucherei gehört haben mochte, und frug mich, ob ich an Spiritualismus glaube. ‚Nicht sehr,‘ gab ich ihm zur Antwort. Dann sagte es, ich solle mit ihm gehen, und es wolle mir durch die Vermittelung des Spiritualismus zeigen, wo ich ein Schiff voller Schätze finden könne. Aus Neugier folgte ich seiner Aufforderung, sah mir seinen Hokuspokus mit an und erklärte schließlich, für fünfzig Dollars täglich wollte ich’s mit der andern Welt versuchen und hinabtauchen, wo seine Geister das Schiff gesunken glaubten. Fünfzig Dollars waren ihm indeß zu viel; nur fünfundzwanzig wollte der alte Spiritualist daran wenden. Endlich kamen wir dahin überein, daß mir außerdem ein bestimmter Antheil von den in der Tiefe verborgenen Schätzen gewährt werden sollte.

Andern Morgens brachen wir Beide nach der Delawarebai auf, der Alte mit einer Schiffsladung halb vermoderter Seekarten. Um zwei Uhr Nachmittags waren wir an Ort und Stelle und sondirten auf eine Tiefe von ungefähr achtzig Fuß. Jetzt legte ich meine Rüstung an und sprang über Bord. Der Grund des Wassers war blauer Schlamm, fast so glatt wie eine Diele. Nachdem ich rundum Alles abgesucht hatte, gab ich das Signal, um wieder an’s Tageslicht emporgehoben zu werden. Der alte Geisterseher war zum Tode erschrocken, als ich ihm meldete: ‚Nichts unten!‘ Wir lichteten den Anker und segelten etwas weiter hinab. Diesmal stieß ich auf festen, harten Sandboden, der aber so nackt und kahl war wie das Innere meiner Hand. Damit endeten die Unternehmungen unseres ersten Tages.

Um zehn Uhr am andern Morgen ließ ich mich abermals in die Tiefe hinab, allein aus der Richtung der Strömung über dem Meeresgrunde ging deutlich hervor, daß da unten kein Wrack liegen oder gelegen haben konnte. Als ich das sagte, machte der Greis aber ein so klägliches Gesicht, daß ich mich entschloß, noch einen Versuch anzustellen. Und wirklich! Als ich einige hundert Schritte davon entfernt wieder in die See hinabtauchte, fühlte ich einen Gegenstand unter meinen Füßen, der mich in höchste Aufregung versetzte. ‚Bei Gott!‘ dachte ich, ‚das ist das Schiff.‘ Mir war zu Muthe, als gehörte mir plötzlich die ganze Schöpfung. Schon wollte ich mich hinaufziehen lassen und einen bessern Vertrag mit dem Manne machen, mindestens fünfzig Dollars pro Tag verlangen, da sah ich mich etwas näher um – allen Ernstes, das war der Rumpf des alten Schatzschiffes, ganz wie der Spiritualist es beschrieben hatte. Kaum war ich vor Aufregung im Stande, zum Emporheben zu signalisiren.

„Ich hab’s, ich hab’s,“ rief ich aus, so wie ich meinen Kopf aus dem Wasser streckte. Der Alte sprang vor Freude gleich einem Tollen im Boote in die Höhe und versprach aller Welt fabelhafte Geschenke. Mit Brecheisen und Schaufel fuhr ich von Neuem in die Tiefe hinab.

Aber, wie ich auch um das Wrack herum grub und hieb, es lag so fest im Grunde, daß sich nichts daran rührte. Nach unendlicher Anstrengung aber bewegte sich das Ungethüm doch ein klein wenig – eilig wandte ich mich zur Seite, um von dem Wrack nicht gefaßt und erschlagen zu werden, wie aber nun der Schnabel aus dem Sande zum Vorscheine kam, da gewahrte ich, daß das Ganze nichts war, als einige leere Planken; von Schätzen keine Spur! Etwas langsamer, als ich in die Tiefe hinunter gestiegen, tauchte ich wieder an die Oberfläche empor. Der alte Mann schloß sich verzweiflungsvoll in die Kajüte ein und weinte wie ein Kind. Ich aber habe seitdem nichts mehr von ihm gehört.

Etwas später tauchte ich im Golfe von Mexico. Bei Catoche stieß ich auf die erste Korallenbank. Unweit der Stelle sollte der Schooner ‚Foam‘ untergegangen sein. Der erste Steuermann und drei Matrosen waren gerettet worden, der Capitain mit seiner Tochter und drei Mann aber um das Leben gekommen. Ich ruderte in der Gegend umher, um zu sehen, ob das Fahrzeug nicht gehoben werden könnte. Nach acht Tagen, an einem schönen Sonntagsmorgen, hatten wir das gesunkene Schiff erreicht. Es lag sechszig Fuß unter Wasser auf einem silberweißen Sandgrunde. An dem gebrochen herabhängenden [608] Vordermaste kletterte ich zum Wracke hinan. Zuerst schaute ich mich nach den Leichen um, denn so lange mir ein todter Körper im Wege ist, mag ich nicht gern hantiren. Ich tappte mich denn im Dunkeln nach den beiden kleinen Staatskajüten hin; in der einen war nichts zu erspähen; die Thür der andern war verschlossen. Mir einer Axt sprengte ich sie auf – da stürzt mir ein Gegenstand auf den Kopf. Sofort fühlte ich, daß es der Körper eines Weibes war. Die Arme! Sie mußte sehr schön gewesen sein, und als ich sie in meinen Armen hielt, ihr bleiches Antlitz an meine Schulter gedrückt, war mir’s, als schlummere sie nur. Ich band sie fest an die Leine, so sorgfältig wie mir das nur möglich war, und ließ sie langsam hinaufziehen. Ihr Haar wallte um ihren Kopf wie ein goldener Schleier, und die Fische umspielten sie, als könnten sie sich nicht von ihr trennen.

Uebrigens war es die einzige Leiche, die ich fand. Von der gesunkenen Ladung dagegen konnte ich einen ziemlichen Theil herauf befördern. –

Eine meiner angenehmsten Expeditionen boten mir die Silberbänke der Antillen dar, das reizendste Plätzchen, das mir jemals vor Augen kam, wo die weiße Koralle zu wunderlichen Bäumen erwächst. Während ich dort die Tiefe durchsuchte, dünkte mich’s, als wanderte ich durch einen von Rauchfrost glitzernden und funkelnden Wald. Hier und da schleiften lange Gewinde von grünen und carmoisinrothen Seepflanzen über den Boden. So weit ich sehen konnte, schwammen ringsum in dem klaren Wasser buntfarbige Blätter, während Haufen heller Muschelschalen den Grund bedeckten, sodaß das Ganze einer Niederlage zertrümmerter Regenbogen glich. Lange konnte ich nichts thun, als das entzückende Bild bewundern, das vor meinen Blicken lag. Als ich endlich zu arbeiten anfing, gerieth ich bald an die Ueberbleibsel eines Schiffes, eines englischen, wie ich glaube, welches ganz eingesponnen war von Korallengeäst. Da machte ich kein schlechtes Geschäft; ich brachte eine hübsche Quantität werthvoller Korallen empor und verkaufte meine Ausbeute in New-York.

Damals hatte ich auch ein seltsames Abenteuer mit einem Haifische, doch war’s nicht mehr auf den lieblichen Silberbänken der Antillen, vielmehr auf schwarzem Felsboden, der das Wasser ganz dunkel erscheinen ließ. Da fühlt man sich immer äußerst unbehaglich; weiß man doch nie, welch’ Ungeheuer in der Finsterniß lauern mag. Zuerst besuchte mich ein Stachelfisch, der mit seinen spitzen Kielen meinen Taucherhelm streifte. Hierauf bemerkte ich über mir einen tiefen Schatten, und als ich aufblickte, sah ich, daß ein mächtiger Hai in meiner Nähe trieb. Eiskalt überlief mich’s. Sowie ich aufschaute, stieß das Thier pfeilschnell nach mir hernieder. Fast eine Stunde lang schwamm er um mich herum, bis ich’s nicht mehr aushalten konnte. So lange man unter Wasser zu bleiben vermag, hat man von dem Fische nicht viel zu fürchten. Darum streckte ich mich auf den Boden aus und beobachtete aus der Tiefe heraus seine Bewegungen. Er war gewiß zwanzig Fuß lang, ein furchtbarer Gesell. Offenbar gefiel ihm nicht, daß ich so ruhig dalag. Drei- oder viermal noch kreiste er über mir herum, dann machte er sich davon, um im Dickicht der Meerkräuter seinen Angriffsplan zu schmieden. Daß er seinen Raub nicht aufgab, das wußte ich. Aber es dauerte eine ziemlich lange Zeit, ehe er wieder erschien. Endlich aber war er da, allein, wie vorher, zu weit ab vom Bereiche meiner Arme. Sowie er sich schließlich jedoch näherte, griff ich nach meinem Messer und schlitzte ihm glücklich den Bauch auf. Das behagte ihm nicht; schleunig machte er Kehrt, irgendwo im Verborgenen seine Seele auszuhauchen. Nun aber ist es eigenthümlich, daß alle anderen Haifische der Blutspur ihrer Genossen zu folgen pflegen. Langsam richtete ich mich auf, und da sah ich, wie dem verwundeten Scheusale vier andere große Haifische nachschwammen. Für das Erste war ich vor ihnen sicher.“ –

Soweit die eigene Erzählung des Capitain Boyton, die wir in der knappen Ausdrucksweise wiederzugeben strebten, die den Mann der That charakterisirt. Nach einem Experimente in der Perlenfischerei, wobei er fast Alles einbüßte, was er bisher an Vermögen gewonnen hatte, seinen Taucherapparat eingeschlossen, nahm Boyton in einem Anfalle von Verzweiflung Dienste in der mexicanischen Armee, desertirte jedoch bald wieder und durchschiffte den Matamoros mitten in der Nacht auf einem halblecken Boote, das ihn jeden Augenblick mit dem Untergange bedrohte. Auf den Boden der Vereinigten Staaten zurückgekehrt, begann er zum zweiten Male ein kaufmännisches Geschäft. Erst jetzt gab er den Seinigen in der Heimath Nachricht; als Antwort ward ihm die Kunde, daß mittlerweile sein Vater gestorben war. Der Schmerz über den Tod des von ihm heiß geliebten Mannes jagte ihn von Neuem rastlos durch die Welt. Er durchwanderte einen großen Theil Nordamerikas, kam schließlich nach New-York, blieb daselbst, bis seine Taschen wieder einigermaßen gefüllt waren, kaufte sich einen neuen Taucheranzug und reiste damit nach Europa, zunächst nach Havre, wo er während des letzten deutsch-französischen Krieges eintraf und sich nach mancherlei Schwierigkeiten den gegen uns plänkelnden Franctireurs einreihen ließ. Nach Beendigung des Kampfes ging er nach Amerika zurück. Allein den Ruhelosen litt es nicht in der Heimath; wiederum stach er in See, diesmal in der Absicht, sich den Diamantfeldern in Afrika zuzuwenden. In der Capstadt ward er indeß vom Fieber befallen, und so verzichtete er auf seine Diamantenprojecte und probirte es nun als Seemann, bis er, nach den Vereinigten Staaten heimgekommen, 1873 in Atlantic City eine Führerstelle bei dem sogenannten „Life Service“ erhielt. Diesen Posten bekleidete er bis zu seiner gegenwärtigen berühmten Tour nach Europa und rettete im verflossenen Jahre allein mehr denn vierzig Menschen vom Tode in den Meeresfluthen.

Gewiß, ein Leben so abenteuer- und sensationsreich, wie die lebhafteste Dichterphantasie die Fabel eines Romans nur zu ersinnen und auszuschmücken vermöchte, und das Merkwürdigste der Wundergeschichte ist, daß der Held aller dieser Thaten und Fahrten in Amerika, Europa und Afrika das Jünglingsalter noch nicht überschritten, sein siebenundzwanzigstes Lebensjahr erst vollendet hat.




Deutsche Erfolge auf amerikanischem Boden.


Nr. 1. Die deutsch-amerikanische Presse.


Sie ist ihnen von jeher ein gastlicher Boden gewesen – die amerikanische Erde den ausgewanderten Söhnen Deutschlands. Und wohl wissend, was sie thaten, haben diese von jeher zu dem großen Völkerbanne, der im Laufe der Jahrzehnte den Weg über das Weltmeer gefunden, ein stattlichstes und erfolgreichstes Aufgebot gestellt. Im Laufe der Jahrzehnte – im Laufe der Jahrhunderte! Denn nicht genug, daß die Spuren deutschen Weltfahrerdranges in die ersten Anfänge der colonisirenden Besitzergreifung durch die Angehörigen nordeuropäischer Stämme (Briten, Schweden und Holländer) zurückreichen – selbst aus der großen spanischen Conquistadoren-Ouverture, ja sogar aus der halben Mythe frühester Normannenentdeckungen tönen uns verlorene germanische Klänge entgegen. Und ist ein bezeichnenderer Zufall zu denken, als die Thatsache, daß derselbe Boden, auf dem sich in eben diesem Augenblicke die Palast- und Hallenbauten erheben, in denen die Union zu ihrer bevorstehenden hundertjährigen Feier alle Nationen der Erde als Gäste zu versammeln gedenkt – daß dieser vorzugsweise amerikanische Boden die Erinnerungen und Zeugenmale ebenso früher deutscher wie angelsächsischer Besiedelung trägt? Noch heute erzählt das Rauschen des den Philadelphier Fairmount-Park durchströmenden Wissahickon von Johannes Kelpius (Kelpe), der, zu der Schwärmersecte der „Erweckten“ gehörend, dort von 1694 bis 1708 erst einsiedlerisch ein halbes Höhlenbewohnerleben führte, dann Schüler um sich sammelte, denen er seine mystischen Lehren hinterließ.

Wir könnten noch zahlreiche Bilder und Erinnerungen aus alten und ältesten Tagen, aus ferner und fernster Vergangenheit hier heraufbeschwören, welche von frühen deutschen Niederlassungen jenseits des Oceans erzählen – allein genug davon! Ist es doch die Gegenwart, die unmittelbare Gegenwart, mit welcher [609] es diese Zeilen zu thun haben! Diese kurze Hindeutung möge genügen, um auch dem Leser im alten Vaterlande darzuthun, wie erbgesessen die deutsche Arbeit, der deutsche Kampf, der deutsche Erfolg auf amerikanischer Erde sind, auch ihm zu zeigen, durch welche Flucht der Jahre geheiligt das Anrecht ist, welches seine ausgewanderten Landsleute an die Sonne der neuen Welt haben, auch ihm den Beweis zu liefern, daß die Bedeutung, welche dieselben im Laufe des jüngsten Vierteljahrhunderts in allen Kreisen und Strömungen des amerikanischen Lebens erlangt haben, nichts als ein ihnen Gebührendes war, das sie nur auf’s Neue ergriffen haben, seit der Völkerfrühling von 1848 und 1849 auch dem germanischen Völkerzuge auf’s Neue nach dem Lande der Freiheit die Schwingen gelöst hat.

Der Arbeitspalast der „New-Yorker Staatszeitung“ in New-York.

Es ist so. „Nehmet Alles nur in Allem“ – und es ist ein stattliches und reichgesegnetes Erntefeld, welches sich dem Blicke darstellt, der dieses letzte Vierteljahrhundert der Deutschen in den Vereinigten Staaten überschaut. Auf zwei Millionen ist ihre Anzahl angewachsen, die leicht auf das Zweifache erhöht werden könnte, dürfte man die zweite deutsche, bereits im Lande geborene Geschlechtsfolge hinzurechnen. Es bleibe eine offene Frage, ob man dies darf. Auch ohne sie bejahend zu beantworten, das heißt nur das eingewanderte Deutschthum in’s Auge fassend, wie es heutigen Tages in den Hauptstaaten der Union und vor allen Dingen in ihren großen Städten, wie New-York, Cincinnati, Chicago, St. Louis, Philadelphia, Baltimore und selbst San Francisco und New-Orleans, dasteht, wird man der Bewunderung seiner Leistungen und Vollbringungen im Bereiche des Geistigen wie des Materiellen auf Schritt und Tritt die Zügel dürfen schießen lassen. Besaß doch selbst die höchste politische Körperschaft des Landes, der erhabenste Rath der Nation, der Bundes-Senat, während der letzten sechs Jahre in einem deutschgeborenen Manne die anerkannt erste Rednergröße des Tages und seit Charles Sumner’s Tode seine ebenso anerkannt erste staatsmännische Kraft überhaupt! Und wenn auch neben Karl Schurz mit seinen ausnahmsweisen Talenten bisher kein zweiter Deutsch-Amerikaner den Weg zu dieser Höhe (der höchsten, die dem Adoptivbürger überhaupt zugänglich ist!) gefunden hat, so hat es doch in keinem nur irgend von Deutschen bewohnten Theile der Union dem öffentlichen Leben der beiden letzten Jahrzehnte an hervorragenden deutschen Capacitäten in der Gestalt von Congreßrepräsentanten, Staatsgouverneuren, Richtern und sonstigen Würdenträgern gefehlt, die ihrer Nationalität dieselbe Achtung Seitens der im Lande geborenen Bevölkerung erzwangen, welche ihr im großen Bürgerkriege die Heersäulen deutscher Unionskämpfer, der Muth und die Geschicklichkeit deutscher Heerführer zu erzwingen wußten.

Den besten Gradmesser für den Umfang und die Entschiedenheit dieser Antheilnahme unserer eingewanderten Landsleute an dem öffentlichen Leben der neuen Heimath bietet die deutsche Presse derselben dar. Es ist eine mißliche Sache, zwischen ihr [610] und jener des alten Vaterlandes eine Parallele zu ziehen, wie nahe die Versuchung dazu auch immer liege. Eine mißliche und verfängliche Sache zugleich. Vor allen Dingen ist die deutsch-amerikanische Presse in Allem, was Politik und Gemeininteressen, sowie die Art ihrer Vertretung anbelangt, durchaus amerikanisch. Ihr Ton, ihre Haltung, ihre Kampfesweise und die Form, in welcher sie dem täglichen Lese- und Neuigkeitenbedürfniß des Publicums Rechnung trägt, sind ganz und gar durch das Muster ihrer mächtigen englischen Schwester beeinflußt und bedingt. Nur dadurch wurde es möglich, neben dieser – zugänglich und maßgebend, wie sie ja sehr bald auch für den Eingewanderten werden muß – eine wirkliche „deutsch“-amerikanische Presse zu der Entwickelung zu zeitigen, in der sie uns heutigen Tages mit ihren vierhundert verschiedenen Publicationen (darunter siebenzig tägliche Blätter!) entgegentritt. Andererseits ist sie, wie weit sie auch in Betreff literarischer Selbstproduction hinter der deutschen Presse der alten Welt zurücksteht, doch, Dank einer Gesetzgebung, welche ihr diese letztere zu rückhaltlosester Ausbeutung zur Verfügung stellt, von jeher in der Lage gewesen, ihre Leserkreise in einer nicht hoch genug anzuschlagenden Verbindung mit dem geistigen Leben Deutschlands zu erhalten. Und sie ist sich dieser Thatsache und ist sich der Verpflichtungen, welche sie in sich schließt, stets bewußt gewesen. Sie hat nie vergessen, daß neben allen das Wesen der reinen Tagespresse betreffenden Zugeständnissen an das amerikanische Leben und Treiben ihre zweite nicht minder wichtige Aufgabe darin besteht: inmitten der zwanzigsten Majorität einer andersredenden Bevölkerung Leib und Seele der Muttersprache zu pflegen, zu erhalten, zu vererben. Wie wohl sie aber an der Beherzigung dieser Erkenntniß gethan hat, dafür spricht das materielle Gedeihen, welches auf diesem Wege erblüht ist, am deutlichsten.

Es war die stolze Fluthwelle von deutscher Bildung, deutschem Talente und deutscher Begeisterung, welche die politischen Stürme von 1848 und 1849 an das Westgestade des atlantischen Meeres warfen, welcher die deutsch-amerikanische Presse, wie wir sie heute sehen, ihr Dasein verdankt. Und noch heute sind es Angehörige jener großen Freiheitsauswanderung, welche, wie Karl Heinzen, Hermann Raster, Rudolf Lexow, Oswald Ottendorfer, J. Rittig, Karl Dänzer, Gottfried Kellner, Fr. Hassaurek, C. L. Bernays, Wilhelm Rapp und Andere, ihre vornehmsten, wenn nicht ihre ausschließlichen Säulen bilden. Aus wie dürftigen Anfängen, aus wie kleinlichen Verhältnissen haben diese Männer und ihre Gefährten das, was damals als deutsche Journalistik in den Vereinigten Staaten bestand, zu seiner heutigen Bedeutung emporgehoben! Unter welchen Opfern und Kämpfen ist dieses Ziel erreicht worden, und wie manche treffliche Begabung, wie manches wackere Herz ist auf dem mühevollen Wege zu Grunde gegangen! Wie freudig erkannte aber auch zu gleicher Zeit, gleich Karl Schurz, Fr. Hecker, Fr. Münch, Franz Lieber, J. B. Stalle, F. Kapp, A. J. Schem, Caspar Butz und Anderen, jede deutsche Geistescapacität eine Art Ehrensache darin: auch ohne unmittelbare Berufszugehörigkeit im Anschlusse an diese aufblühende Presse zu wirken und selbstthätig zur Förderung und Lösung ihrer mannigfachen Aufgaben beizutragen! Und wie gute Früchte hat das Alles gebracht! Materielle Erfolge wahrhaft glänzender Art – es ward dies bereits gesagt – wurden auf diesem Wege erzielt. Fast in allen großen Städten des Landes gelang es, Zeitungsgeschäfte aufzubauen, welche in mehr als einer Beziehung den Vergleich mit den verwandten anglo-amerikanischen Etablissements, ja mit den meisten der hervorragenden Schwester-Unternehmungen Alt-Deutschlands zu bestehen vermögen. Und ein publicistischer Einfluß erwuchs, der, weit über die abgesonderten Einzelströmungen deutscher Leserkreise hinausgehend, schnell genug in den allgemeinen Strom der großen amerikanischen Oeffentlichkeit hineinreichte.

Das geschäftlich blühendste und zugleich auch, neben der „Illinois Staatszeitung“ in Chicago und dem „Anzeiger des Westens“ in St. Louis, in fachmännischen Kreisen selbst als maßgebendstes Organ der täglichen deutsch-amerikanischen Presse anerkannte Blatt ist die „New-Yorker Staatszeitung“. Sie steht als Geschäft im ganzen Lande nur dem vielbesprochenen „New-York-Herald“ nach, mit dessen Inseratenabtheilung ihre Anzeigespalten wetteifern, und hinter dessen Circulation sie mit ihrer täglichen Auflage von 56,000 Exemplaren nur sehr wenig, wenn überhaupt noch, zurückstehen dürfte. Mit dem „Herald“, dessen heutige Glorie sie in mancher Beziehung theilt, hat sie auch das Geburtsjahr, 1834, sowie die verhältnißmäßige Dürftigkeit, in der beide das Licht der Welt erblickten, gemeinsam. Für die deutsche Zeitung war es die Gestalt eines winzigen, unter der Redaction von Stephan Molitor stehenden Wochenblättchens, in der dies geschah. Erst acht Jahre danach wurde aus dem Wochenblättchen ein drei Mal per Woche erscheinendes Blatt, als welches es 1845 in den Besitz von Jakob Uhl überging, um sofort seine dritte und letzte Metamorphose, die in eine Tageszeitung, zu bestehen.

Nach Uhl’s Tode wurde die geschäftliche Leitung des schon damals an der Spitze der deutschen Presse New-Yorks stehenden Blattes mit ebenso ungewöhnlicher Umsicht wie gutem Erfolg von Frau Anna Uhl, jetziger Frau Ottendorfer, geführt, welche ihm auch im Jahre 1858 auf eigenem Grund und Boden und in unmittelbarer Nachbarschaft der großen englischen Zeitungen ein für jene Zeiten immerhin prächtiges Heim gab. Im darauffolgenden Jahre ging Herausgabe und Redaction des Blattes in die Hände von Oswald Ottendorfer über, welcher ihm während des Bürgerkrieges und der darauf folgenden Jahre eine starke demokratische Parteitendenz verlieh, diese jedoch 1871 gegen eine ausgesprochen unabhängige Haltung vertauschte und dadurch dem ohnehin zu einer publicistischen Macht erwachsenen Zeitungsunternehmen neue Quellen des öffentlichen Ansehens und Einflusses erschloß. Im Sommer 1873 fand eine erneute Uebersiedelung des Etablissements in den geschmackvollsten und im edelsten Material aufgeführten jener Zeitungspaläste statt, in denen sich in neuerer Zeit die große New-Yorker Presse festgesetzt hat, und denen das Zeitungswesen der ganzen übrigen Welt nichts Aehnliches an die Seite zu stellen hat.

Mit einer nach drei Seiten frei und weit hinausblickenden Totalfront von zweihundertvier Fuß erhebt sich der vierstöckige italienische Renaissance Bau zu einer Gesammthöhe von hundertsechs Fuß. Keller- und Erdgeschoß stellen ein massives Quader- und Monolithengefüge aus blaugrauem Massachusetts’schem Granit dar. Die anderen Stockwerke mit höchst wirksam vertheiltem Säulen-, Pilaster-, Balcon- und Balustradenwerk erheben sich in dem helleren Gestein, welches die Granitbrüche von Concord in New-Hampshire schon zu so manchem New-Yorker und Bostoner Prachtbau geliefert. Bronze-Standbilder Guttenberg’s und Franklin’s schmücken den Balcon, der sich über dem Säulenporticus des Haupteingangs bis zum dritten Stockwerke aufbaut. Die oberen Geschosse sind durch Pfeilerstellungen, welche die kräftigen Gesimse tragen, in gefälliger Weise gegliedert. Ein mächtiges Mansardendach mit thurmartigen Unterbrechungen krönt das Ganze. Der von ihm überbaute Raum bildet in einer Länge von hundertsechs, einer Breite von fünfundvierzig und einer Höhe von achtzehn Fuß den luftigsten und weitesten Setzersaal, den diese viel geplagten Myrmidonen der modernen Journalistik[WS 1] sich nur zu wünschen vermögen. Die Dampfmaschinen endlich und die beiden mächtigen Sechs-Cylinder-Pressen, auf denen die kolossale Auflage des Blattes in den Stunden zwischen zwei und fünf Uhr des Morgens gedruckt wird, sind in den weit unter die Straße sich erstreckenden Räumen des unteren Kellers aufgestellt.

Die Einweihung und Beziehung des neuen Baues wurde in wirksamster Weise durch eine gleichzeitige Vergrößerung des Blattes gefeiert, welche dasselbe seitdem in den Stand gesetzt hat, in allem das rein Journalistische Betreffenden, das heißt in seiner Tagesbesprechungen-, Leitartikel- und Neuigkeitenabtheilung, mit den großen englischen Zeitungen gleichen Schritt zu halten. Das ist zweifellos eine große Errungenschaft und als solche ausdrücklich zu betonen und anzuerkennen. Zu gleicher Zeit berechtigt der Entwickelungsgang, den das Blatt bislang genommen, in ihr auch eine Bürgschaft dafür zu erblicken, daß endlich den literarischen und ästhetischen Anforderungen, die nothwendiger Weise an ein Unternehmen von so weitreichendem Einflusse und solchen Mitteln gestellt werden müssen, gleichfalls in einem Grade Rechnung getragen werde, wie ihn das in „Erfolg verpflichtet“ übersetzte Noblesse oblige heischt. Und nicht nur der Entwickelungsgang des Blattes, verschiedene nach


Hierzu eine Extrabeilage der Papierwäsche-Fabrik von Mey & Edlich in Leipzig.

[611] dieser Seite hin bereits zu Tage getretene Neuerungen (wie beispielsweise die ebenso dankenswerthe, wie allgemein anerkannte Einführung einer Art täglicher Feuilletonrubrik durch J. Rittig) geben der Annahme Nahrung: daß für die fürstlich-reiche „New-Yorker Staatszeitung“ allen Ernstes die Zeit im Anzuge sei, da sich ihrer materiellen Blüthe auch jener ideale Flor hinzugesellt, der allein erst im Stande sein wird, den prachtvollen Monumentalbau von der New-Yorker Tryon Row zu einem wahren Denkmale deutschen Strebens, deutschen Geistes und deutschen Erfolges auf amerikanischem Boden zu machen. –

Udo Brachvogel.




Eine verbannte Königin.


Erinnerungsblatt von Walter Schwarz.


Im Mai dieses Jahres hat in Stille und Zurückgezogenheit, von der Welt schon halb vergessen eine Frau die Augen zugethan, die ich auf ihrer Lebenshöhe, in Glanz und Anmuth, eine Krone auf dem Haupte, gekannt. Ich meine die Königin Amalie von Griechenland, geborene Prinzessin von Oldenburg, eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen. Durch ihr Wesen ging ein Zug von Kraft und Größe, der ihr hell aus den Augen blitzte, um die stolzen Lippen spielte, ihrer Schönheit ein königliches Etwas hinzufügend. Sie war für den Thron geboren, vornehmlich für den Thron der Griechen.

Bei einem Besuche im Schlosse zu Athen sah ich auf König Otto’s Schreibtisch ein Aquarellbild stehen, das seine Gemahlin als Braut darstellte, im Reize der ersten Jugend, schlank, ätherisch und doch besonders in ihrer Eigenart – eine wahrhaft bezaubernde Erscheinung. Aber die griechische Sonne hatte die Farben dieser zarten Arbeit schon gedämpft, und fast erschien das Ganze wie ein Traumbild, das man noch einmal rasch erfassen möchte, ehe es ganz entschwindet. Im Schlosse zu Athen wohnt jetzt eine andere Herrscherfamilie; König Otto ist todt – wer weiß, wo das damals schon verblichene Bildchen hingekommen sein mag. Mich dünkt, Königin Amaliens Erinnerung könnte in weiteren Kreisen bald, ihm gleich, dem Schicksal des Erblassens und Vergessenwerdens verfallen; deshalb möchte ich ein Wort von ihr sagen, so lange die Farben noch haften und das Bild der königlichen Frau wenigstens im Herzen derer, die sie persönlich gekannt, noch in voller Frische lebt.

Sie war, als ich im Winter des Jahres 1853 auf 54 nach Athen kam, nicht mehr ganz jung, aber noch sehr schön. Auf den Hofbällen tanzte sie vom ersten Geigenstriche bis zum Schlusse des Abends, ohne einen Tanz zu überschlagen, und je öfter sie im Cotillon geholt wurde, vom kleinsten Lieutenant und vom jüngsten Mädchen, desto mehr Freude machte es ihr. Sie sah es auch nicht gern, wenn Andere still saßen. Es mußte sich volles Leben um sie herum bewegen. Ihre Toiletten waren die große Frage des Abends. Die Damen besonders flüsterten sich, schon ehe sie erschien, voll Spannung zu: „Welches Kleid wird die Königin heute tragen?“ In den damals noch sehr primitiven Zuständen der neugriechischen Gesellschaft stand Königin Amalie als einziger Stern am Firmamente, und man beschäftigte sich mit ihr viel eingehender, als mit den Damen anderer Höfe, wo es von Prinzessinnen wimmelt und eine Größe die andere vergessen macht. Sie trug sich sehr vornehm, aber immer einfach. Noch glaube ich sie vor mir zu sehen in silberdurchwirkter Robe, einen Aehrenkranz von Brillanten um die edle Stirn gelegt, oder ganz in Rosa – was ihr besonders gut stand – die Blumen im Haare mit blitzenden Steinen übersäet.

Ein Hofball in Athen bot damals ein fast märchenhaft buntes, malerisches Bild. Unter elegante Pariser Toiletten mischte sich der faltige Rock, das mit Tüchern fest umsteckte Antlitz der Hydriotin. Die Hofdamen der Königin trugen zum knapp anliegenden Sammetjäckchen das rothe Fez mit schwer herunter hängender, goldener Quaste. Die weiße Fustanella der Männer, der Yatagan mit blitzendem Griffe, das rothe Geschnür und Gefranse ihrer Gamaschen und Schürzen erschien neben bairischen Uniformen und dem nüchternen schwarzen Fracke. Vornehme Diplomaten und graubärtige Hirtengesichter aus Albaniens einsamen Bergen bewegten sich gleichberechtigt in jenem edel schönen Raume, dessen Wände weißer Marmor bedeckte. In den Vorzimmern liefen bequeme Divans an den Wänden entlang, und die Sage ging: alte Griechen zögen sich während des Tanzes dahin zurück, um sich ein Weilchen die Stiefel auszuziehen; denn, wenn auch hoffähig, waren diese Leute doch nicht alle an eine feste Fußbekleidung gewöhnt. Damit hatte es auch hier und da bei den Damen seine eigene Bewandniß. Zur Morgen-Audienz bei der Königin war auch das Schuhwerk genau vorgeschrieben, weil es sich schon ereignet hatte, daß Griechinnen, ob auch in Seide rauschend, doch, um es kühler zu haben, ohne Strümpfe gekommen waren.

Der Hofball pflegte bis drei, vier Uhr des Morgens zu dauern. Und dann war es etwas Eigenes, aus seinem Lichterglanze, seiner Gestaltenfülle hinauszutreten auf die breite, marmorne Freitreppe des Schlosses und die laue Nachtluft an der Stirn zu fühlen, die Sterne über sich funkeln zu sehen, von deren Größe und Klarheit ein nordisches Firmament uns keine Vorstellung giebt. Dunkel zeichneten sich die Palmen im Garten der Königin gegen den strahlenden Himmel ab; stolz stieg die Akropolis empor, und weithin schimmerte das Meer, ein Duftstreifen, vom Mondlichte überhaucht.

Das griechische Costüm pflegte Königin Amalie nur bei nationalen Festen, im Tedeum am Neujahrsmorgen, am Tage der Befreiung Griechenlands, in der Osternacht etc. zu tragen. Letztere besonders wird in Athen mit einer schönen Feier begangen. Vor der Hauptkirche in der Hermesstraße ist auf offenem Platze ein Altar aus Myrthen und grünen Zweigen errichtet. Erwartungsvoll umdrängt dort eine lautlose Menge die Geistlichkeit, die im großen Ornate erscheint. Alle Fenster der umliegenden Häuser sind geöffnet und dicht mit Zuschauern besetzt, von denen Jeder eine unangezündete Kerze in der Hand trägt. Kurz vor Mitternacht kommen König und Königin mit zahlreichem Gefolge, zu Fuß, die Straße herunter und nehmen vor dem Altare Platz, auf dem nur zwei Kerzen brennen. Bei ihrem Scheine liest der Priester das Evangelium vor. Unbeschreiblich feierlich ist es, wenn über dem tiefen Schweigen der zahllos hier Harrenden die einzelne Menschenstimme schwebt, in schlichten Worten ein ewiges Heil verkündend. Jetzt schlägt es Zwölf – und alle Glocken beginnen zu läuten. Im Nu sind auf der Straße und in den Häusern sämmtliche Kerzen angezündet. Ein Jubelruf „Christus ist auferstanden; Christus lebt“ bricht mit Freudenschüssen durch die Luft. Tausend und aber tausend flimmernde Lichter breiten Tageshelle über den eben noch dunkeln Platz. Man reicht sich die Hände; man küßt und umarmt sich, Einer dem Andern die Freudenbotschaft wiederholend. Und mitten in dem jauchzenden Gewühle stand die schöne Königin, im stoffenen Gewande, darüber pelzverbrämt den sammetnen Spencer, dessen lange geschlitzte Aermel bis zu den Knieen herabfielen, das rothe Fez auf dem glänzenden Haare – auch, ihm gleich gekleidet, ihrem Volke die Hand hinreichend zum Freudengruße, in lauer Frühlingsnacht, unter Griechenlands Sternenhimmel.

Mochte Ball, Fest, oder was sonst auch gewesen sein – zur bestimmten Mittagsstunde hielten die gesattelten Pferde unter dem Schloßportale und die Königin trat heraus, in schlichter, dunkler Amazone, den Hut voll wallender Federn, um in weiten, oft kühnen Ritten die Umgegend von Athen zu durchmessen. Eine bessere Reiterin als Königin Amalie hat es wohl selten gegeben. Ermüdung kannte sie nicht. Hitze und Wetter galten ihr gleich. Hoch zu Roß, die attische Ebene durchfliegend, hinauf in die Waldungen um Kesserjani, zu den pentelischen Marmorbrüchen, dann wieder an’s Meer, an die blaue Bucht des Phalereus, hinüberblickend nach Salamis’ Felsengestad, bei versunkenen Denkmälern rastend – so sah die Königin ihr Land, dessen Schönheit sie mit besonderer Wärme fühlte und verstand, das sie mit jener Inbrunst liebte, wie wir sie vielleicht nur einer selbsterkorenen Heimath entgegentragen. Sie kannte jeden Pfad in diesen Bergen, jeden Oelbaum, der an sonnenverbrannter Straße [612] Schatten spendet. Bäume zu pflanzen, Wege anzulegen, wüstes Land urbar zu machen, war ihre Lust, und sie hat darin viel für Griechenland geleistet. Es ebnet sich jetzt manche Straße, die sie angelegt hat; mancher Baum breitet seine Aeste zu segensreichem Schatten aus, den sie gesäet hat.

Ihre schönste Schöpfung auf diesem Felde war der Garten am königlichen Schloß. Da sproßte es in saftigem Grün; da rieselten Quellen; da wiegten und bogen sich schlanke Palmen im Morgenwinde, und der Besuchende athmete – was ihm sonst um Athen herum versagt war – eine Pflanzenatmosphäre voll Arom und Frische. Der Palmenwald, hieß es, sei entstanden, indem die Königin, Nachmittags ihre Datteln im Freien verspeisend, die Kerne von sich geworfen, die, auf fruchtbaren Boden fallend, rasch zu großen, schönen Bäumen herangewachsen. Mag hier und da wohl ein oder die andere Saat so aufgegangen sein, für das Ganze ist die Kunst doch wohl wahrscheinlich thätiger gewesen. Mächtig entwickelnd freilich wirkt die Sonne auf diesem Boden. Königin Amalie hatte nordische Obstsorten kommen lassen, um sie in Griechenland einzubürgern. Aber aus den Erdbeerpflanzen wurde hohes Gebüsch, dessen Früchte, groß wie Aepfel, sich als ungenießbar erwiesen. Nicht besser ging es mit anderen Versuchen, und man beschränkte sich endlich auf südliche Anpflanzungen. Nach Angabe der Königin angelegt, sorgsam gepflegt, ward aus diesem Garten ein Paradies, dem auch die weitere Umgebung einen Hintergrund lieh, wie er sich bedeutender vielleicht nicht zum zweiten Male auf Erden findet. Hier umrahmte, an schlanken Stämmen emporkletternd, Rankengewächs die Umrisse des Parthenons, wie sie sich goldbraun auf den krystallreinen Himmel zeichneten. Dort schien das weiße Marmorschloß sich gegen die aufsteigende Felsmasse des Lykabettos zu lehnen. Der blaue Meeresstreifen begrenzte die weit sich hinstreckende, rosig schimmernde Ebene, während jener breite Gang endlich sich nach den Säulen des Jupitertempels hin öffnete, die, gleich heldenhaft übrig gebliebenen Riesen, immer noch aufrecht stehen, die letzten Zeugen seiner längst versunkenen Herrlichkeit.

Die Gemächer der Königin blickten auf diesen Garten, diese Landschaft hinaus. Ob in seinen Anlagen wandelnd und schaffend, ob vom Fenster aus die Weite mit dem Blicke umfassend, immer hatte Königin Amalie dieses Schönheitsbild vor Augen, ihre Liebe für Griechenland an ihm zu nähren und zu befestigen. So beweglich sie im Lande selber war, so selten verließ sie dasselbe. Und geschah es ja einmal, um Verwandte zu besuchen, vaterländische Stätten wieder zu sehen, so litt es sie nicht lange draußen. Heimweh nach Hellas’ blauem Himmel zog sie immer bald wieder zurück. Was sie im Auslande sah und kennen lernte, interessirte sie nur insofern, als es für Griechenland zur Hebung seiner Cultur verwendbar war. Auch gestaltete sich ihre Rückkehr jedes Mal zu einem Feste, dem sie und ihr Volk entgegen jubelten. Und diese Königin mußte im Exil sterben! –

Das Schicksal hat zweierlei an ihr verfehlt: entweder es mußte ihr einen Erben in die Arme legen, sie dauernd auf einem Throne zu befestigen, für den sie Blut und Leben hingegeben hätte; oder – sie hätte selber der Herrscher sein müssen, ihn mit Manneskraft zu vertheidigen. Geist, Leben und Energie genug besaß sie dazu. Aber als Frau war ihr Wirken beschränkt, und wie sie auch – echt weiblich – für Griechenland gesorgt, es geliebt und gepflegt hatte, Dank sollte sie nicht dafür ernten. Nachdem sie ihre Jugend, ihre besten Jahre und Kräfte, all’ ihre Liebe dem Lande hingegeben, dessen glorreiche Auferweckung der Traum ihres Lebens gewesen war, hieß man sie gehen. Rohe Hände verwüsteten den Garten, der, ihr Lieblingskind, unter ihren Augen ausgewachsen war, und ein flüchtiges Schiff trug das heimathlose Herrscherpaar über’s Meer. Königin Amalie hat Griechenland nicht wieder gesehen.

Aber wie hart im Allgemeinen auch an ihr gehandelt worden, im Einzelnen hat auch sie Treue erfahren. Ihre Oberhofmeisterin, Baronin von Plüskow, geborene von Witzleben, schreckte, obgleich schon hochbetagt, im entscheidenden Moment nicht vor der äußersten Lebensgefahr zurück, um ihrer Herrin zu retten, was noch zu retten war. – Als die verbannte Königin, Hellas verlassend, bereits an Bord ihres Schiffes gegangen war, sprang im letzten Moment ihr griechisches Hoffräulein, den Verlobten, Eltern und Vaterland darangebend, in ein Boot, ihr nach und begleitete sie nach Deutschland. Griechische Damen und Dienerinnen haben sie umgeben bis an ihr Ende.

König Otto hat seine Verbannung nicht lange überlebt. Er brachte eine zerrüttete Gesundheit schon aus Griechenland mit, dessen Klima sich ihm nie günstig erwiesen hatte. Die Königin, aus festerem Stoffe gebildet, widerstand dem Ungemach länger. In der Oeffentlichkeit hörte man wenig mehr von ihr, seitdem sie in Bamberg und Brückenau ihren Wittwensitz aufgeschlagen. Ob sie schwer an dem Schicksale der Entthronten getragen, ob Glanz und Macht ihrer früheren Stellung sie mit Bitterkeit auf ein jetzt viel bescheidneres Dasein blicken ließen, oder ob sie, groß und ergeben, sich in eine Lebenswendung zu finden gewußt, die auch Andere mit ihr theilten – wir wissen es nicht. Das aber ist uns persönlich bekannt, daß sie Hellas’ blauen Himmel nicht verschmerzen konnte, daß tiefstes Heimweh nach dem „Lande der Griechen“ in ihr lebendig blieb. Und wenn es gestattet ist, in einem uns stark beherrschenden Seelenzustande den Grund auch zu körperlichem Kranken und Vergehen zu suchen, so läßt sich von dieser Königin wohl sagen, daß sie an Sehnsucht gestorben ist.


Blätter und Blüthen.

Anfrage an unsere Germanisten. Wir erhalten von Petersburg folgende Zuschrift: „Bei der neulichen Enthüllung des Hermann-Denkmals ist wieder von Neuem bei mir der schon so lange gehegte Wunsch wach geworden, zu erfahren, ob das Lied

‚Hermann, schla Lärm an! la piepen, la trummen!
De Keiser will kommen mit Hammer und Stangen,
Will Hermann uphangen.

Un Hermann schloug Lärm an, leit piepen, leit trummen,
De Fürsten sind kommen met all ehren Mannen,
Hewt Varus uphangen‘ –

schon aus der Zeit der Hermann-Schlacht stammt oder ob es aus späteren Jahrhunderten datirt.

Die ersten Zeilen haben sich noch bis zum heutigen Tage in meiner Heimath Briezenveen (Niederlande, Provinz Oberyssel) unter dem Volke und besonders unter den Kindern erhalten; Wenige aber wissen, daß ihre eigenen Vorfahren vielleicht mit dem in diesem Liede besungenen großen Germanen unter den tapferen Kämpfern im Teutoburger Walde gewesen sind. Alle meine Forschungen, mir über den Ursprung des Liedes einige Aufklärung zu schaffen, sind bis jetzt gänzlich fruchtlos geblieben; ich wende mich daher an die Redaction der Gartenlaube mit der freundlichen Bitte, wenn möglich, darüber einige Aufklärung geben zu wollen; viele meiner Landsleute, und gewiß noch mehr unserer germanischen Stammesgenossen, Leser Ihres geehrten Blattes, werden Ihnen dafür sehr dankbar sein.

Schreiber dieses hat dieselben Ansichten wie die Niederländer in Nr. 50 der Gartenlaube, Jahrgang 1874. Ich versichere Ihnen, daß der weit größte Theil der Niederländer (die Katholiken ausgenommen) das Zustandekommen der deutschen Einheit mit Freude begrüßt hat. In meinem Geburtsorte z. B. wurden die Siegesnachrichten der deutschen Waffen von 1870 mit Jubel vernommen.

Heil Denen, die das Ideal so vieler Deutschen verwirklicht haben! Ehre der deutschen Regierung, die so muthig den Kampf wider ihren größten Feind (Rom) aufgenommen hat und ohne Zweifel ruhmvoll aus Demselben hervorgehen wird!

Möge auch einmal der Wunsch so vieler Nichtdeutschen, namentlich die Verbrüderung aller germanischen Stämme, erfüllt werden!

Ein Germane.

Für Wanderlustige und Luftschnapper hat die Reiseliteratur wieder fleißig gearbeitet. Wer sich für seinen Ausflug in Mitteldeutschland mit dem Thüringer Walde begnügt, vergesse des Major Fils (des „Thüringer Waldläufers“) treffliche Höhenkarten, sowie seine Schriftchen über Henneberg und Bad Ilmenau nicht! Auch das jetzt durch zwei Eisenbahnen erschlossene Saalfeld hat seine Monographie erhalten. Auch Tirol und Kärnten führt Ed. Amthor und läßt durch Geh. Obermed.-Rath Kurtz die Einführung durch die Dolomitenguppen von Enneburg, Buchenstein etc. bis Ampezzo besorgen. Sogar für das hohe Tatra in den Centralkarpathen hat sich in Dr. E. A. Scherner in Breslau ein Führer gefunden. „In fünfzig Tagen durch Italien“ zeigt uns das jüngste der Meyer’schen Reisebücher von Gsell-Fels den Weg, und außerdem haben die meisten Reisehandbücher und Wegweiser von Bädeker und Meyer neue Bearbeitungen erfahren.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Jounalistik