Die Gartenlaube (1876)/Heft 37

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 37.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Es fand wieder eine jener großen Jagdfestlichkeiten statt, welche gewöhnlich die ganze Umgegend in Wilicza zu versammeln pflegte; auch diesmal waren die ergangenen Einladungen sämmtlich angenommen worden und die Gesellschaft, die ausschließlich aus dem polnischen Adel der Nachbarschaft bestand, zahlreicher als je. Der Fürstin war es sehr lieb, daß die Rücksicht auf ihren Sohn darin keine Aenderung verlangte. Sie hätte ihm natürlich das Opfer gebracht, die Einladungen nach seinen Wünschen zu regeln, aber davon war gar nicht die Rede. Waldemar schien es durchaus selbstverständlich zu finden, daß der Umgangskreis seiner Mutter auch der seinige sei, und bei dem äußerst geringen Antheile, den er überhaupt an den geselligen Beziehungen nahm, konnte ihm das auch ziemlich gleichgültig sein. Er selbst verkehrte bis jetzt noch mit Niemand in der Umgegend und vermied auch die Bekanntschaften, welche die Fürstin einigermaßen fürchtete, die höheren Beamten aus L. und die Officiere der dortigen Garnison, obwohl er die meisten von ihnen bereits am dritten Orte kennen gelernt hatte. Man hatte sich in diesen Kreisen denn auch darein gefunden, den jungen Nordeck als gänzlich zu den Baratowski gehörig zu betrachten, und nahm an, daß er vollständig in der Gewalt der Mutter sei, die ihm kein fremdes Element auch nur nahe kommen lasse.

Der Aufbruch der Jagdgesellschaft erfolgte diesmal ungewöhnlich spät. Ein dichter Nebel, der wie festgemauert stand und kaum einige Schritte weit zu sehen gestattete, hatte am Morgen gedroht, die ganze Jagd in Frage zu stellen. Erst in den Vormittagsstunden lichtete es sich soweit, daß das Programm des Tages zur Ausführung gebracht werden konnte, mit der alleinigen Abänderung, daß das Frühstück im Schlosse statt im Walde eingenommen wurde.

Ein Theil der Gäste war schon im Aufbruche begriffen. Die Herren und die jüngeren Damen, welche an der Jagd Theil nahmen, verabschiedeten sich von der Fürstin, die mit Leo in der Mitte des großen Saales stand. Wer die Verhältnisse nicht kannte, mußte unbedingt den jungen Fürsten für den eigentlichen Gebieter von Wilicza halten, denn er und seine Mutter bildeten den Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft, nahmen alle Artigkeiten, alles Interesse derselben in Anspruch und machten die Honneurs in einer Weise, die an Vornehmheit und Eleganz nichts zu wünschen übrig ließ, während Waldemar einsam und fast übersehen am Fenster stand, im Gespräche mit dem Doctor Fabian, der natürlich im Schlosse zurückblieb und nur an dem Frühstücke Theil genommen hatte.

Die Haltung des jungen Schloßherrn fiel Keinem auf, da er stets freiwillig diese untergeordnete Rolle wählte. Er schien sich consequent als Gast seiner Mutter zu betrachten, der mit der Repräsentation des Hauses gar nichts zu thun habe, und wies Alles, was damit zusammenhing, als lästig und unbequem von sich. Man hatte sich daher allmählich gewöhnt, dem, der so gar keine besonderen Rücksichten beanspruchte, auch keine zu gewähren. Man grüßte ihn stets sehr verbindlich beim Kommen und Gehen, hörte aufmerksam zu, wenn er sich einmal herbeiließ, an der Unterhaltung Theil zu nehmen, und bequemte sich sogar zu dem Opfer, in seiner Gegenwart deutsch zu sprechen, trotz der allgemeinen Abneigung gegen diese Sprache – er war und blieb doch nun einmal dem Namen nach der Herr dieser Güter, und man wußte, was seine Passivität als solche werth war. Die vergebliche Mühe, die eigensinnige Zurückhaltung zu durchbrechen, in der er sich gefiel, gab sich schon lange Niemand mehr, und im Großen und Ganzen nahm die Gesellschaft nicht mehr Notiz von ihm, als er von ihr.

„Nur nicht wieder so wild reiten, Leo!“ ermahnte die Fürstin, während sie mit einer Umarmung von ihrem jüngsten Sohne Abschied nahm. „Du und Wanda, Ihr wetteifert dabei immer in allen nur möglichen Wagnissen. Ich bitte diesmal ernstlich um Vorsicht.“ Sie wandte sich zu ihrem Aeltesten, der jetzt auch herantrat, und reichte ihm mit kühler Freundlichkeit die Hand. „Leb’ wohl, Waldemar! Du bist ja wohl heute recht eigentlich in Deinem Elemente?“

„Durchaus nicht!“ war die ziemlich unmuthige Antwort. „Solche große Staats- und Convenienzjagden, wo der ganze Wald voll von Treibern und Jägern ist und das Wild zum mühelosen Schusse vor den Lauf getrieben wird, sind durchaus nicht nach meinem Geschmacke.“

„Waldemar ist nur froh, wenn er mit seiner geliebten Büchse allein ist,“ sagte Leo lachend. „Ich habe Dich entschieden in Verdacht, daß Du mich geflissentlich durch das ärgste Gestrüpp und den tiefsten Moor geschleppt und mich dem Hunger und Durst preisgegeben hast, nur um mich möglichst bald los zu werden. Ich bin doch auch gerade kein Weichling in solchen Dingen, aber ich hatte schon nach den ersten drei Tagen genug von den Strapazen, die Du ‚Vergnügen‘ nennst.“

„Ich sagte es Dir ja vorher, daß unsere Neigungen darin auseinander gehen,“ meinte Waldemar gleichgültig, während sie gemeinschaftlich den Saal verließen und die Treppe hinabstiegen.

Ein Theil der Gesellschaft war bereits unten auf dem [612] großen Rasenplatze vor dem Schlosse versammelt, auch Graf Morynski mit seiner Tochter befand sich dort. Die Herren bewunderten einstimmig das schöne Reitpferd Nordeck’s, das dieser erst kürzlich hatte nachkommen lassen und das vorgestern eingetroffen war; sie gestanden es dem jungen Gutsherrn zu, daß er in dieser Beziehung wenigstens sehr viel Geschmack zeige.

„Ein herrliches Thier!“ sagte der Graf, indem er den schlanken Hals des Rappen klopfte, der sich die Liebkosung geduldig gefallen ließ. „Waldemar, ist dies wirklich der wilde Normann, den Sie in C. ritten? Pawlick stand jedesmal Todesangst aus, wenn er den Zügel halten mußte, denn das Thier war eine Gefahr für Jeden, der in seine Nähe kam – es ist ganz eigenthümlich sanft geworden.“

Waldemar, der mit seinem Bruder soeben aus dem Portal getreten war, näherte sich der Gruppe.

„Normann war damals noch sehr jung,“ erwiderte er. „Es war das erste Jahr, wo er überhaupt den Sattel trug. Seitdem hat er sich an Ruhe gewöhnen müssen, wie ich selbst mir das wilde Reiten abgewöhnt habe. Was übrigens die Sanftmuth des Thieres betrifft, so fragen Sie Leo danach! Er hat sie gestern kennen gelernt, als er dem Versuch machte, das Pferd zu besteigen.“

„Ein Satan von einem Pferde!“ rief Leo ärgerlich. „Ich glaube, Du hast es eigens darauf abgerichtet, sich wie unsinnig zu geberden, wenn ein Anderer als Du den Fuß in den Bügel setzt. Aber ich zwinge es doch noch.“

„Laß das lieber bleiben! Normann gehorcht nur mir und keinem Andern. Du bändigst ihn nicht – ich dächte, das hättest Du doch gestern gesehen.“

Eine dunkle Gluth schoß in das Antlitz des jungen Fürsten; er hatte einen Blick Wanda’s aufgefangen, der gebieterisch von ihm forderte, er solle der Behauptung widersprechen, daß er das Pferd seines Bruders nicht habe bändigen können. Das geschah nun zwar nicht, aber der Blick stachelte doch und verschuldete jedenfalls die Heftigkeit Leo’s, in welcher er antwortete:

„Wenn es Dir Vergnügen macht, Deine Pferde so zu dressiren, daß sie einen anderen Reiter überhaupt gar nicht in dem Sattel gelangen lassen, so ist das Deine Sache. Solche Kunststücke habe ich meinen Vaillant allerdings nicht gelehrt,“ er wies nach dem schönen Goldfuchs hinüber, den sein Reitknecht am Zügel hielt. „Im Uebrigen aber würdest Du mit ihm so wenig fertig werden, wie ich mit Deinem Normann. Du hast freilich bisher noch nie die Probe machen wollen. Willst Du es heute versuchen?“

„Nein,“ versetzte Waldemar gelassen. „Dein Pferd ist bisweilen sehr ungehorsam. Du gestattest ihm allerlei Unarten und einen Eigenwillen, den ich nicht dulden würde. Ich käme in die Nothwendigkeit, es mißhandeln zu müssen, und das möchte ich Deinem Lieblinge denn doch nicht anthun. Ich weiß, wie sehr er Dir an’s Herz gewachsen ist.“

„Nun, das käme doch auf einen Versuch an, Herr Nordeck,“ mischte sich Wanda ein; sie hatte gleich nach der ersten Begegnung das vertrauliche „Cousin Waldemar“ ein für alle Mal fallen lassen. „Ich glaube zwar, Sie reiten beinahe so gut wie Leo.“

Waldemar verzog keine Miene bei dem Angriff. Er blieb vollkommen ruhig.

„Sie sind sehr gütig, Gräfin Morynska, mir doch wenigstens einige Fertigkeit im Reiten zuzugestehen,“ erwiderte er.

„O, das sollte keine Beleidigung für Sie sein,“ erklärte Wanda in einem Tone, der noch verletzender war, als vorhin ihr „beinahe“. „Ich bin überzeugt, daß die Deutschen ganz gute Reiter sind, aber mit unseren Herren können sie es darin doch nicht aufnehmen.“

Nordeck wandte sich, ohne irgend etwas darauf zu erwidern, an seinen Bruder. „Willst Du mir Deinen Vaillant für heute überlassen, Leo? Auf jede Gefahr hin?“

„Auf jede!“ rief Leo mit blitzenden Augen.

„Gehen Sie nicht darauf ein, Waldemar!“ fiel Graf Morynski ein, dem die Sache unangenehm zu sein schien. „Sie haben ganz recht gesehen – das Pferd ist ungehorsam und ganz unberechenbar in seinen Launen; überdies hat Leo es an allerlei Tollkühnheiten und Wagestücke gewöhnt, denen ein fremder Reiter, und wäre es der beste, nicht gewachsen ist. Sie setzen sich fraglos dem Abwerfen aus.“

„Nun, probiren könnte es Herr Nordeck doch wenigstens,“ warf Wanda hin, „vorausgesetzt, daß er sich in die Gefahr begeben will.“

„Seien Sie ohne Sorge!“ sagte Waldemar zu dem Grafen, der seiner Tochter einen unwilligen Blick zusandte. „Ich werde das Pferd reiten, Sie sehen ja, wie dringend Gräfin Morynska wünscht, mich – abgeworfen zu sehen. Komm’, Leo!“

„Wanda, ich bitte Dich,“ flüsterte Morynski seiner Tochter zu. „Das wird ja jetzt eine förmliche Feindschaft zwischen Dir und Waldemar. Du reizest ihn aber auch bei jeder Gelegenheit.“

Die junge Gräfin schlug heftig mit der Reitgerte gegen die Falten ihres Sammetkleides. „Da irrst Du, Papa. Reizen! Dieser Nordeck läßt sich überhaupt nicht reizen, am wenigstens durch mich.“

„Nun, weshalb versuchst Du es denn immer wieder von Neuen?“

Wanda blieb die Antwort schuldig, aber der Vater hatte Recht – sie konnte keine Gelegenheit vorübergehen lassen, den zu reizen, der einst bei jeden unbesonnenen Worte in leidenschaftlicher Empfindlichkeit aufloderte und der ihr jetzt mit dieser unverwüstlichen Gelassenheit gegenüberstand.

Die übrigen Herren waren inzwischen auch aufmerksam geworden. Sie kannten Nordeck bereits als tüchtigen, wenn auch besonnenen Reiter, aber es galt ihnen als ausgemacht, daß er es darin mit dem Fürsten Baratowski nicht aufnehmen könne, und weniger rücksichtsvoll, als Graf Morynski gönnten sie dem „Fremden“ die voraussichtliche Niederlage von Herzen. Die beiden Brüder standen bereits bei dem Goldfuchs. Das schlanke, feurige Thier schlug ungeduldig mit seinen Hufen die Erde und machte mit seiner Unruhe dem Reitknechte viel zu schaffen. Leo nahm dem Letzteren die Zügel aus der Hand und hielt das Pferd selbst, während sein Bruder aufstieg; die tiefste innerste Genugthuung leuchtete dabei aus seinen Augen; er kannte seinen Vaillant. Jetzt ließ er ihn los und trat zurück.

Der Goldfuchs spürte in der That kaum die fremde Hand am Zügel, als er seinen ganzen Eigensinn zu zeigen begann. Er bäumte, schlug und machte die heftigsten Versuche, den Reiter abzuschütteln, aber dieser saß wie festgewachsen und setzte dem leidenschaftlichen Ungestüm des Pferdes einen ruhigen, aber so energischen Widerstand entgegen, daß es sich endlich in sein Schicksal ergab und ihn duldete.

Damit war aber auch die Fügsamkeit zu Ende, denn als Waldemar das Thier jetzt antreiben wollte, weigerte es sich entschieden zu gehorchen und war nicht vom Flecke zu bringen. Es erschöpfte sich in allerlei Tücken und Launen. Alle Geschicklichkeit, alle Energie brachte es auch nicht einen Schritt vorwärts. Dabei gerieth es aber in eine immer größere Aufregung und nahm zuletzt eine entschieden drohende Haltung an. Bisher war Waldemar noch ziemlich ruhig geblieben, jetzt aber begann sich seine Stirn dunkel zu röthen; seine Geduld war zu Ende. Er hob die Reitpeitsche, und ein schonungslos geführter Hieb sauste auf das widerspänstige Roß nieder.

Doch diese ungewohnte Strenge brachte das eigenwillige und verwöhnte Thier zum Aeußersten. Es machte einen Satz, daß die umstehenden Herren rechts und links auseinanderstoben, und schoß dann wie ein Pfeil über den Rasenplatz hin, in die große Allee hinein, die nach dem Schlosse führte. Dort artete der Ritt in einen wilden Kampf zwischen Roß und Reiter aus; das erstere geberdete sich wie unsinnig. Es tobte förmlich und setzte augenscheinlich Alles daran, denn Reiter aus dem Sattel zu schleudern. Wenn Waldemar trotzdem seinen Platz behauptete, so konnte es nur mit äußerster Lebensgefahr geschehen.

„Leo, mache der Sache ein Ende!“ sagte Morynski unruhig zu seinem Neffen. „Vaillant wird sich beruhigen, wenn Du dazwischen trittst. Bestimme Deinen Bruder, abzusteigen, oder wir haben ein Unglück.“

Leo stand mit übereinandergeschlagenen Armen da und sah dem Kampfe zu, machte aber keine Miene einzuschreiten. „Ich habe Waldemar die Gefahr nicht verhehlt, die das Pferd einem Fremden bringt,“ erwiderte er kalt. „Wenn er es absichtlich wüthend macht, so mag er auch die Folgen tragen! Er weiß es ja, daß Vaillant keine Strenge verträgt.“

In diesem Augenblicke kam Waldemar zurück; er war des Zügels Herr geblieben und zwang das Pferd sogar eine bestimmte Richtung einzuhalten, denn er jagte in einem weiten [613] Bogen um den Rasenplatz, von einer Fügsamkeit war aber noch lange nicht die Rede. Der Goldfuchs sträubte sich immer wieder von Neuem gegen die Hand, die ihn mit so eisernem Griffe regierte, und suchte mit seinen blitzschnellen, unberechenbaren Bewegungen den Reiter zum Sturze zu bringen, doch Nordeck’s Aussehen zeigte, daß das alte Ungestüm wieder in ihm wach geworden war. Flammendroth im ganzen Gesichte, mit sprühenden Augen und zusammengebissenen Zähnen gebrauchte er Peitsche und Sporn in einer so erbarmungslosen Weise, daß Leo außer sich gerieth. Der Gefahr seines Bruders hatte er ruhig zugesehen, diese Mißhandlung seines Lieblings ertrug er nicht.

„Waldemar, hör’ auf!“ rief er zornig hinüber. „Du ruinirst mir ja das Pferd. Wir haben es jetzt Alle gesehen, daß Vaillant Dich trägt. Laß’ ihn endlich in Ruhe!“

„Erst werde ich ihm Gehorsam beibringen.“ In Waldemar’s Stimme klang die wildeste Gereiztheit; er kannte jetzt keine Rücksicht mehr, und Leo’s Einspruch hatte keine andere Wirkung, als daß das Pferd bei der zweiten Tour um den Rasenplatz noch schonungsloser behandelt wurde, als vorhin. Als es zum dritten Mal mit seinem Reiter die Runde machte, hatte es sich ihm endlich gefügt. Es widerstrebte nicht mehr, hielt die vorgeschriebene Gangart inne und stand auf einen einzigen Druck des Zügels am Schlosse still, freilich in einem Zustande, als müsse es jeden Augenblick zusammenbrechen.

Nordeck stieg ab. Die Herren umringten ihn, und es fehlte nicht an Complimenten für seine Reitkunst, wenn auch unleugbar eine Verstimmung auf der ganzen Gesellschaft lag. Leo allein sprach kein Wort; er streichelte stumm das zitternde schweißtriefende Roß, an dessen glänzend braunem Fell sich Blutspuren zeigten. So furchtbar hatten ihm die Sporen Waldemar’s zugesetzt.

„Das war ja eine Kraftprobe ohne Gleichen,“ sagte Graf Morynski; man hörte den Worten das Gezwungene an. „Vaillant wird den Ritt sobald nicht wieder vergessen.“

Waldemar war seiner Erregung bereits wieder Herr geworden, nur die Röthe auf seiner Stirn und die hoch-angeschwollene blaue Ader an den Schläfen gaben noch Zeugniß von seiner inneren Erhitzung, als er erwiderte:

„Ich mußte das Lob der Gräfin Morynska, daß ich beinahe so gut reite als mein Bruder, doch einigermaßen zu verdienen suchen.“

Wanda stand neben Leo mit einem Ausdruck, als habe sie selbst eine Niederlage erlitten, die sie nun auf Tod und Leben rächen müsse; so drohend flammte es aus ihren dunklen Augen.

„Ich bedauere, daß mein unvorsichtiges Wort dem armen Vaillant diese Mißhandlungen zugezogen hat,“ entgegnete sie mit fliegendem Athem. „An eine solche Behandlung ist das edle Thier allerdings nicht gewöhnt.“

„Und ich nicht an einen solchen Widerstand,“ versetzte Waldemar scharf. „Es ist nicht meine Schuld, daß Vaillant sich nur den Sporen und der Peitsche fügen wollte – fügen mußte er sich nun einmal.“

Leo machte dem Gespräch ein Ende, indem er sehr laut und demonstrativ seinem Reitknecht befahl, den Goldfuchs, der „dem Zusammenbrechen nahe sei“, in den Stall zu führen und alle mögliche Sorgfalt für ihn zu tragen, dann aber rasch ein anderes Pferd zu satteln und zur Stelle zu bringen. Graf Morynski, der einen Ausbruch fürchtete, trat zu seinem Neffen und zog ihn bei Seite.

„Beherrsche Dich, Leo!“ sagte er leise und eindringlich. „Zeige den Gästen nicht diese finstere Stirn! Willst Du etwa Streit mit Deinem Bruder suchen?“

„Und wenn ich es thäte!“ stieß der junge Fürst halblaut hervor. „Hat er mich nicht vor der ganzen Jagdgesellschaft preisgegeben mit seiner tactlosen Erzählung von dem Normann? Hat er mir meinen Vaillant nicht fast zu Tode geritten? Und das Alles um einer elenden Prahlerei willen!“

„Prahlerei? Besinne Dich! Du warst es, der ihm die Probe antrug. Er weigerte sich ja anfangs, darauf einzugehen.“

„Er hat mir und uns Allen zeigen wollen, daß er Meister ist, wo es sich am die bloße rohe Kraftäußerung handelt. Als ob ihm Jemand das schon bestritten hätte! Das ist ja überhaupt das Einzige, was er kann. Aber ich sage es Dir, Onkel, wenn er mich noch einmal in dieser Weise herausfordert, so ist es zu Ende mit meiner Geduld, und wäre er zehnmal der Herr von Wilicza.“

„Keine Unvorsichtigkeit!“ warnte der Graf. „Du und Wanda, Ihr seid es leider gewohnt, Eurem persönlichen Empfinden alles Andere unterzuordnen. Ich kann von ihr nie die mindeste Rücksicht erlangen, sobald es sich um diesen Waldemar handelt.“

„Wanda darf doch wenigstens ihre Abneigung offen zeigen,“ grollte Leo. „Ich dagegen – da steht er bei seinem Normann, als wären sie beide die Ruhe und Gelassenheit selber, aber man soll es nur einmal versuchen, ihnen nahe zu kommen!“

Das verlangte Pferd wurde nun gebracht, und in dem nun erfolgenden allgemeinen Aufbruch verlor sich der Mißton einigermaßen. Es war aber doch ein Glück, daß der heutige Jagdtag die Brüder von einander fern hielt und ihnen jedes längere Beisammensein unmöglich machte, sonst wäre es bei der fortdauernden Gereiztheit Leo’s doch wohl noch zu einem Ausbruch gekommen. Als man erst einmal das Jagdrevier erreicht hatte, trat, für einige Stunden wenigstens, alles Andere vor der Lust des Jagens in den Hintergrund.

Waldemar hatte Unrecht, wenn er die „großen Staats- und Convenienzjagden“ so entschieden verabscheute; sie boten doch immerhin ein prächtiges, glänzendes Bild, zumal hier in Wilicza, wo man dergleichen sehr großartig und echt fürstlich in Scene zu setzen verstand. Die sämmtlichen Förstereien waren aufgeboten, um mit ihrem Personal in vollster Gala Staat zu machen. Die ganzen Waldungen waren lebendig geworden; es schwärmte förmlich darin von Forstleuten und Treibern, das Imposanteste aber war unstreitig der heransprengende Jagdzug selbst. Die Herren, meist prachtvolle Gestalten im eleganten Jagdcostüm, auf ihren schlanken feurigen Pferden, die Damen in Amazonentracht an der Seite ihrer Cavaliere, die Dienerschaft hinter ihnen, und dazu das Schmettern der Hörner, das Gekläff der Hunde – es war eine Scene von Feuer und Leben, und bald verkündeten auch das vorüberfliehende Wild und die Schüsse, die ringsum das Echo des Waldes weckten, daß die Jagd ihren Anfang genommen habe.

Das Wetter ließ jetzt, wo der Nebel gefallen war, nichts mehr zu wünschen übrig; es war ein kühler, etwas verschleierter, aber im Ganzen doch schöner Novembertag. Der Wildstand des Forstreviers von Wilicza galt für unvergleichlich; die Anordnungen waren vorzüglich getroffen, die Jagdbeute äußerst ergiebig. Da verstand es sich wohl von selbst, daß man sich bemühte, die unfreiwillige Verspätung von heute Morgen wieder einzubringen. Der kurze Nachmittag des Spätherbstes neigte sich schon seinem Ende zu, aber man dachte nicht daran, die Jagd vor der beginnenden Dämmerung abzubrechen.

Einige tausend Schritte von der Försterei entfernt, die für heute als Rendez-vous diente, lag eine Waldwiese, einsam und wie verloren mitten im Dickicht. Das dichte Unterholz und die mächtigen Bäume machten den Platz unsichtbar für Jeden, der ihn nicht bereits kannte oder ihn durch Zufall entdeckte; jetzt freilich, wo die Umgebung sich schon herbstlich zu lichten begann, konnte man den Zugang eher finden. Inmitten des Wiesengrundes ruhte eines jener stillen, kleinen Gewässer, wie sie der Wald oft in seinem Schooße birgt, ein See oder Teich. Im Sommer mochte er mit seinem wehenden Schilfgrase, seinen träumerischen Wasserlilien dem Orte wohl einen eigenen poetischen Reiz leihen, jetzt aber lag er dunkel und schmucklos da, bedeckt von welken Blättern und umgeben von braunem Rasen, herbstlich öde, wie die ganze Umgebung ringsum.

Unter einem der Bäume, die ihre Aeste weithin über die Wiese streckten, stand Gräfin Morynska, ganz allein und ohne jede Begleitung. Ihre Zurückgezogenheit mußte wohl eine freiwillige sein. Verloren konnte sie die Jagd nicht haben, denn man hörte den Lärm derselben, wenn auch in einiger Entfernung, doch deutlich genug, auch lag ja die Försterei nahe, wo die junge Dame jedenfalls ihr Pferd zurückgelassen hatte, denn sie war zu Fuß. Sie schien absichtlich die Einsamkeit gesucht zu haben und auch festhalten zu wollen; an den Stamm des Baumes gelehnt, blickte sie unverwandt in das Gewässer und sah doch offenbar nichts von ihm oder von der Umgebung. Ihre Gedanken waren ganz wo anders. Die schönen Augen Wanda’s konnten sehr finster blicken – das sah man jetzt, wo sie augenscheinlich mit irgend [614] einer grollenden Empfindung kämpfte, aber die tiefe Falte auf der weißen Stirn, die trotzig aufgeworfenen Lippen zeigten, daß diese Empfindung sich nicht so leicht niederkämpfen ließ, sondern ihren Platz behauptete. Die Jagd mit ihrem Lärme entfernte sich mehr und mehr. Sie schien sich nach der Richtung des Flusses hinzuziehen und diesen Theil des Reviers völlig frei zu lassen, all’ die wirren Töne verklangen in immer weiterer Ferne, nur die Schüsse hallten noch dumpf herüber; jetzt trat auch darin eine Pause ein, und es wurde still, todtenstill im Walde.

Eine ganze Weile mochte Wanda so regungslos gestanden haben, als ein Schritt und ein Rauschen in ihrer unmittelbaren Nähe sie aufschreckte. Unwillig richtete sie sich empor und wollte eben der Störung weiter nachforschen, als die Gebüsche sich theilten und Waldemar Nordeck daraus hervortrat.

Auch er stutzte bei dem Anblicke der Gräfin – die unerwartete Begegnung schien ihm ebenso unangenehm zu sein wie ihr, aber ein Zurücktreten war nicht mehr möglich; dazu standen sie sich zu nahe gegenüber. Waldemar grüßte leicht und sagte:

„Ich wußte nicht, daß Sie die Jagd bereits verlassen hatten. Gräfin Morynska ist doch sonst als unermüdliche Jägerin bekannt – und sie fehlt bei dem Schlusse des heutigen Tages?“

„Die Frage möchte ich Ihnen zurückgeben,“ versetzte Wanda. „Sie, gerade Sie fehlen bei dem letzten Treiben?“

Er zuckte die Achseln. „Ich habe vollständig genug daran. Mir stört der Lärm und das Durcheinander eines solchen Tages die ganze rechte Jagdlust. Mir fehlt die Mühe, die Aufregung der Jagd und vor Allem die Waldesstille und Waldeseinsamkeit.“

Das war es nun gerade, was Wanda vorhin vermißt, was sie hier gesucht hatte, sie wollte das aber natürlich um keinen Preis zugeben, sondern fragte nur:

„Sie kommen von der Försterei?“

„Nein! Ich habe nur meinen Normann dorthin vorausgesendet. Die Jagd geht nach dem Flusse zu, sie muß aber bald zu Ende sein und kommt jedenfalls auf dem Rückwege hier vorüber. Das Rendez-vous ist ja in unmittelbarer Nähe.“

„Und was thun wir inzwischen?“ fragte Wanda ungeduldig.

„Wir warten,“ entgegnete Waldemar lakonisch, indem er seine Flinte abnahm und den Hahn in Ruhe setzte.

Die Falte auf der Stirn der jungen Gräfin vertiefte sich. „Wir warten.“ Das klang so selbstverständlich, als setze er auch ihr Bleiben voraus. Sie hatte große Lust, sofort nach der Försterei zurückzukehren, aber nein! Es war seine Sache, den Platz zu räumen, auf dem er sie so ohne Weiteres in ihrer Einsamkeit gestört hatte. Sie beschloß zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, ein längeres Zusammensein mit diesem Nordeck aushalten zu müssen.

Er machte indessen gar keine Anstalten zum Gehen; er hatte seine Flinte an einen Baum gelehnt und stand nun mit verschränkten Armen, die Umgebung betrachtend. Die Sonne hatte es heute nicht ein einziges Mal vermocht, den Wolkenschleier zu durchdringen, nur jetzt im Niedergehen färbte sie ihn mit hellerem Lichte. Am westlichen Horizont flammte ein gelber Schein, der fahl und ungewiß durch die Bäume schimmerte, und auf der Wiese begannen die Nebel aufzusteigen, die ersten Vorboten des herannahenden Abends. Der Wald sah schon recht herbstlich aus mit seinen halbentlaubten Bäumen und den dürren Blättern, die den Boden bedeckten. Da war auch nicht ein Hauch mehr von jenem frischen Lebensodem, der ihn im Frühling und Sommer durchweht, von jener mächtigen Lebenskraft, die dann in allen Adern und Pulsen der Natur zu pochen scheint – überall nur schwindendes Dasein, langsames, aber unaufhaltsames Vergehen.

Die Augen der jungen Gräfin hafteten wie in düsterem Nachsinnen auf dem Gesicht ihres Gefährten, als wolle und müsse sie dort irgend etwas enträthseln. Er schien die Beobachtung zu spüren, obgleich er abgewandt stand, denn er wendete sich plötzlich nach ihr um und sagte gleichgültig, wie man eine allgemeine Bemerkung hinwirft:

„Es ist doch etwas Trostloses um solch eine abendliche Herbstlandschaft.“

„Und doch hat sie ihre eigene schwermüthige Poesie,“ meinte Wanda. „Finden Sie das nicht auch?“

„Ich?“ fragte er herb. „Ich habe mit der Poesie von jeher wenig zu thun gehabt – das wissen Sie ja, Gräfin Morynska.“

„Ja, das weiß ich,“ versetzte sie in dem gleichen Tone. „Aber es giebt doch Augenblicke, wo sie sich unwillkürlich Jedem aufdrängt.“

„Romantischen Naturen vielleicht, unsereiner muß schon zusehen, wie er ohne diese Romantik und Poesie mit dem Leben fertig wird. Ausgehalten muß es ja doch einmal werden, so oder so.“

„Wie gelassen Sie das sagen! Das blos geduldige Aushalten war doch sonst gerade Ihre Sache am wenigsten. Ich finde, Sie haben sich in diesem Punkte merkwürdig verändert.“

„Nun, man bleibt doch nicht sein Lebenlang ein leidenschaftlicher ungestümer Knabe. Oder trauen Sie es mir nicht zu, daß ich über Knabenthorheiten hinauskommen kann?“

Wanda biß sich auf die Lippen; er hatte es ihr gezeigt, daß er darüber hinauskommen konnte.

„Ich zweifle nicht daran,“ erwiderte sie kalt. „Ich traue Ihnen sogar noch manches Andere zu, was Sie freilich nicht zu zeigen für gut finden.“

Waldemar wurde aufmerksam. Sein Blick streifte einen Moment lang scharf und prüfend die junge Dame, dann aber entgegnete er ruhig:

„Dann setzen Sie sich in Widerspruch mit ganz Wilicza. Man ist hier wohl so ziemlich einig darüber, daß ich eine gänzlich ungefährliche Persönlichkeit bin.“

„Weil Sie durchaus dafür gelten wollen. Ich glaube nicht daran.“

„Sie sind sehr gütig, mir ganz unverdientermaßen eine Bedeutung beizulegen,“ sagte Waldemar mit unverhehlter Ironie. „Aber es ist doch grausam von Ihnen, mir das einzige Verdienst nehmen zu wollen, das ich in den Augen meiner Mutter und meines Bruders überhaupt besitze – harmlos und unbedeutend zu sein.“

„Wenn meine Tante den Ton hören könnte, mit welchem Sie das sagen, so würde sie ihre Ansicht wohl ändern,“ erklärte Wanda, gereizt durch seinen Spott. „Für jetzt stehe ich mit der meinigen allerdings noch allein.“

„Und so wird es auch bleiben,“ ergänzte Nordeck. „Man läßt in mir den unermüdlichen Jäger, nach der heutigen Probe vielleicht auch den geschickten Reiter gelten, weiter nichts.“

„Jagen Sie denn wirklich, Herr Nordeck, wenn Sie so den ganzen Tag lang mit Flinte und Jagdtasche umherstreifen?“ fragte die junge Gräfin, ihn scharf fixirend.

„Und was sollte ich Ihrer Meinung nach denn sonst thun?“

„Ich weiß es nicht, aber ich vermuthe, daß Sie Ihr Wilicza inspiciren, sehr gründlich inspiciren. Es giebt nun wohl keine Försterei, kein Dorf, keinen noch so abgelegenen Hof in Ihrem Gebiete, wo Sie nicht bereits gewesen sind. Sogar den Pachtgütern haben Sie Besuche abgestattet, und Sie werden sich wohl überall dort ebenso schnell orientiren, wie in den Salons Ihrer Mutter, wo Sie auch nur sehr selten erscheinen und eine sehr gleichgültige Rolle spielen. Aber es entgeht Ihnen kein Wort, kein Blick, überhaupt Nichts, was geschieht. Sie scheinen unserer Gesellschaft gar keine Beachtung zu schenken, und doch giebt es nicht einen Einzigen darunter, der nicht bereits vor Ihnen die Musterung hätte passiren müssen und Ihrer Beurtheilung anheimgefallen wäre.“

Sie hatte ihm das Alles Schlag auf Schlag mit einer Sicherheit und Bestimmtheit entgegengeworfen, die darauf berechnet war, ihn in Verwirrung zu bringen, und für den Augenblick fehlte ihm auch wirklich jede Antwort. Er stand mit tiefverfinstertem Gesicht, mit fest zusammengepreßten Lippen da und rang augenscheinlich mit seinem Aerger. Aber so leicht war diesem Nordeck nicht beizukommen. Als er wieder aufsah, stand die Wolke zwar noch drohend auf seiner Stirn, aber aus seiner Stimme klang nur der schärfste Sarkasmus.

„Sie beschämen mich wirklich, gnädige Gräfin! Sie zeigen mir soeben, daß ich vom ersten Tage meines Hierseins an der Gegenstand Ihrer eingehendsten und ausschließlichsten Beobachtung gewesen bin – das ist in der That mehr, als ich verdiene.“

Wanda fuhr auf. Ein Blick sprühenden Zornes traf den Verwegenen, der es wagte, den Pfeil mit solcher Sicherheit auf sie zurückzuschleudern.

(Fortsetzung folgt.)
[615]
Ein Muster-Bonvivant.

Karl Mittell als „Veilchenfresser“.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Man kann von gastirenden Sängern und Schauspielern oft genug die Klage hören, daß das Theaterpublicum der Stadt Leipzig ein übermäßig sprödes und zurückhaltendes sei, daß es sich selbst angesichts der trefflichsten Leistungen nur langsam erwärme und daß es zur kühl beobachtenden und nüchtern abwägenden Kritik in einer Weise hinneige, die zuletzt auf den Künstler selbst und seine Darstellung einen lähmenden Einfluß ausüben müsse. Wie gesagt, die Klage ist nicht neu, aber sie bringt den Leipziger Theaterbesucher nicht aus der Fassung. Denn, sagt er sich, keine Seele auf Gottes weiter Erde ist schwerer zu befriedigen, als eben die idealgeschwellte ehrgeizerfüllte unserer heutigen Bühnenkünstler; von Jenen, welche [616] ihren Wirkungskreis auf die die Welt bedeutenden Bretter verlegen zu müssen glaubten, tragen zuletzt doch nicht Alle das Gottesgnadenthum auch wirklich auf der Stirn, und gar Manchem von jenem seltsamen Völklein scheinen in Haltung und Geberde auf der Lippe beständig die triumphirenden Worte zu schweben: „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her,“ der es durchaus nicht nöthig hätte.

Und auf der anderen Seite wieder nimmt – jener oft gehörten Klage lorbeerbegieriger Sänger zum Trotz – kaum in einer zweiten deutschen Stadt das Theater und Alles, was damit zusammenhängt, so sehr das allgemeine Interesse gefangen, wie eben in Leipzig, und nirgendwo hält man dieses Thema zu jeder Tag- und Nachtzeit, an jedem Orte, in jeder Gesellschaft für so discutirbar, wie eben dort. Mit peinlichster Sorgfalt beobachtet man alle Vorgänge, die sich auf das Theater beziehen, controlirt, recensirt, corrigirt, und fast jeder Director, der seinen Sitz zu Leipzig am Schwanenteiche aufgeschlagen hat und der dem vielköpfigen, vieläugigen und – gestehen wir es offen – ebenso mundfertigen Publicum gegenüber durchaus nicht immer auf Rosen gebettet ist, weiß davon zu erzählen.

Kurz, die viel gescholtene Kühle des Leipziger Theaterpublicums oder, da an der Pleiße Jedermann Theaterpublicum ist, kürzer gesagt: des Leipzigers ist nur eine scheinbare – er erhitzt sich im Gegentheil oft sehr leicht und rasch bis zur äußersten Leidenschaftlichkeit, und dann gnade Gott dem Director oder dem Künstler, der nicht mit einem reinlichen Gewissen vor ihm steht! Der Begriff eines solchen ist natürlich dehnbar.

Die Theatergeschichte der letzten Jahre erscheint für Leipzig um so reicher an Aufregungen, je mehr man in Betracht zieht, wie still und gelassen – wenigstens nach außen – das Bühnenleben anderswo seinen Verlauf nimmt. Die letzte „Affaire“ wickelte sich unter der allgemeinsten Theilnahme von Groß und Klein, Alt und Jung ab, als jüngst der alle sechs Jahre vorgeschriebene Wechsel in der Theaterdirection vor sich ging und damit zugleich die Thätigkeit mehrerer der beliebtesten und tüchtigsten Kräfte an der Leipziger Bühne ihren Abschluß fand. Den scheidenden Künstlern wurden die letzten acht Tage lang unter donnernden Beifallsrufen solche Massen von Kränzen und Bouquets geworfen, daß zuletzt in keiner Gärtnerei der kleinste Lorbeerzweig mehr aufzutreiben war und die Fluren Leipzigs auf Stunden im Umkreise fast geplündert schienen.

Die „Gartenlaube“ hat von jenen trefflichen Künstlern, welche nun nicht mehr dem Leipziger Verbande angehören, in früherer Zeit Frau Peschka-Leutner, die unübertroffene Coloratursängerin, und Eugen Gura, den meisterhaften Wagnersänger, ihren Lesern in Bild und Wort bereits geschildert. Heute reiht sie ihnen als Dritten den angezeichneten Bonvivantdarsteller Karl Mittell an, der nach neunjähriger Thätigkeit an der Leipziger Bühne dieser nun gleichfalls Lebewohl gesagt hat und dem diese Zeilen als freundliche Begleiter bei seinem ferneren künstlerischen Wirken dienen mögen. Auch er hat in zahllosen Kränzen, Sträußen und Hervorrufen reich erfahren dürfen, einer wie warmen Beliebtheit er sich in Leipzig erfreute, und als ein echter Künstler mit vollströmender Empfindung wird er sich gewiß nie anders als mit aufrichtiger Dankbarkeit seines blumen- und ehrenreichen Abschiedes von Leipzig erinnern.

Denn nicht allein den eleganten Bonvivantdarsteller, der sich mit feiner, sicherer, weltmännischer Tournüre auf dem Parquet zu bewegen und seine Gestalten mit aristokratischer Vornehmheit zu beleben und zu durchgeistigen weiß, schätzte man an ihm, sondern man ergötzte sich ebenso sehr an dem frischen, kecken Humor, der ihm eigen ist und der, aus warmem, vollem Gemüthe kommend, um so unwiderstehlicher hinreißt, je trockener und zufälliger er sich giebt. Es ist nicht Jedermann vergönnt zu erheitern und zu rühren zu gleicher Zeit. Nur der echte Humorist versteht unter Thränen lächeln zu machen, weil er nicht allein mit dem Verstande, sondern ebenso sehr mit dem Herzen schafft, und gerade diese Gabe ist es, die den Leistungen Mittell’s einen so eigenthümlichen Reiz verleiht und sie des Erfolges immer sicher sein läßt.

So erinnere ich mich noch lebhaft jenes ausgezeichneten Gastspieles, das Mittell vor etwa zehn Jahren zum ersten Male nach München führte, wo er am damaligen Actien-Volkstheater, dem jetzigen königlichen Theater am Gärtnerplatz, in seinen ersten Rollen vor ausverkauftem Hause Tag für Tag rauschende Triumphe feierte, die er meistens mit Frau Agnes Wallner theilte, einer Salondame, wie sich Mittell freilich keine bessere wünschen konnte und mit welcher er dieses Gastspiel gemeinsam unternommen hatte. Das Auftreten dieses angezeichneten Künstlerpaares dürfte für das damalige Volkstheater wohl den Höhepunkt seiner Blüthe und seines Glanzes bedeutet haben.

Was Herman Schmid neulich von dem Münchener Charakterdarsteller Ernst Possart schrieb: daß, was ein Haken werden will, sich schon bei Zeiten krümme, gilt auch von Karl Mittell. Als der Sohn des gleichnamigen, erst vor einem Jahre verstorbenen Hofburgschauspielers zu Wien am 26. October 1828 geboren, wurde er allerdings erst, nachdem er bereits das Seminar der heiligen Piaristen mit dem fünfzehnten Jahre absolvirt hatte, von seinem Vater definitiv für die Bühnenlaufbahn bestimmt, aber schon als Knabe vom siebenten bis zehnten Jahre spielte er im Hofburgtheater die sogenannten Kinderrollen in „Tell“, „Medea“, „Nibelungenhort“ etc. Mittell’s Vater fühlte, daß die Jugendeindrücke für ein ganzes Leben entscheidend werden können, und hielt deshalb seinen Sohn an, täglich das Hofburgtheater zu besuchen, welches damals im Zenith seines Ruhmes stand, da die großen Namen, welche heute noch im Publicum leben, damals fast noch in der Blüthe ihres künstlerischen Wirkens waren, wie z. B. Sophie Schröder, Caroline Müller, Louise Neumann, Frau Haizinger, Frau Rettich und andererseits Korn, Anschütz, Löwe, Lucas, Fichtner, La Roche, heute der einzige noch aus jener großen Zeit.

In diese Periode fiel auch sein Unterricht für die Bühne, welcher theils durch seinen Vater selbst, theils durch den auch als Declamationsmeister bekannten Dichter Dr. Vogl geleitet wurde. Schon jetzt zeigte sich der günstige Einfluß, den sein Vater durch den täglichen Besuch des Burgtheaters hatte erzielen wollen; es sprach sich Mittell’s unverkennbares Talent für die naiv-jugendlichen Rollen aus, für Partien, deren Grundcharakter in einem reichen Fond von Gemüth und drolligem Humor lag und die man kurz als Fichtner’sche Rollen bezeichnen könnte. Diese Richtung, die auch heute noch vorzugsweise Mittell charakterisirt, wurde noch gehoben und geläutert, als Fichtner selbst mit ihm zur Zeit seines ersten Engagements am Theater an der Wien, unter Director Carl, die bereits gelernten großen Rollen durchnahm und studirte, wie z. B. Ferdinand („Cabale“), Mortimer, Don Carlos, Max Piccolomini, Ferdinand („Er muß auf’s Land“), Bolz („Journalisten“) etc. Viele von diesen zeigen sich heute noch als wahre Perlen in Mittell’s Repertoire.

Eine Empfehlung des Regisseur Kürdler brachte ihn an das Königstädter Theater zu Berlin, wo sich namentlich die Künstler Moritz Rott und Dessoir, angezogen durch sein Talent, des jungen Eleven freundlich annahmen und seine ausschließliche Beschäftigung in ernsten, sogenannten tragischen Rollen veranlaßten. Dies blieb auch so, als Mittell nach mehrjähriger Abwesenheit wieder nach Wien zurückkehrte und dort nach Aufhebung der Censur den Schiller in den ersten „Karlsschülern“, den Joseph in Mosenthal’s „Deborah“ etc. spielte. Von unleugbarem Einfluß auf die günstige Weiterentwickelung seines Talentes war dabei die bekannte tragische Schauspielerin Amalie Weißbach, mit der sich Mittell in erster Ehe verheirathete und die ihm später auch in sein neues Engagement zu Riga folgte.

Und doch sollte es erst das Wallnertheater in Berlin sein, welches ihn endlich, hauptsächlich im Verein mit der schon genannten ausgezeichneten Repräsentantin französischer Salondamen, der Frau Agnes Wallner, zur Entwickelung seiner eigentlichsten Begabung und zum wahren Gebiet seines großen Talentes, zum sogenannten Bonvivant- und Conversationsliebhaberfach, führte. Es kamen in rascher Folge: „Cameliendame“, „Schuld einer Frau“, „Feenhände“, „Moderner Barbar“, „Attaché“ – lauter Rollen, in denen Mittell noch heute mit Meisterschaft das Feld behauptet. In diese Zeit fallen auch seine ersten Gastspiele, die ihn theils im Verein mit Frau Wallner, theils allein an die bedeutendsten Bühnen Deutschlands führten und stets von glänzendsten Erfolgen begleitet waren.

Dem nun folgenden Engagement am Dresdner Hoftheater entsagte er nur, weil ihn ein brillanter Antrag Witte’s an das neue Stadttheater in Leipzig rief. Auch hier gewann er durch Talent und Liebenswürdigkeit von Tag zu Tag mehr die Gunst des Publicums, das er zuletzt als „Veilchenfresser“ in Moser’s [617] gleichnamigem Lustspiel entzückte, in welcher Rolle ihn unser heutiges Bild darstellt.

Manchen Leser mag es interessiren zu hören, daß die Uniform, in welcher hier Mittell als blumenspendender Officier wiedergegeben ist, echt ist, ein Geschenk von militärischen Freunden, die dem Künstler damit ihre Anerkennung für die chevalereske Darstellung des Husarenlieutenants zu erkennen gaben. Auch Mittell mag daran seine Freude haben. Erfreulicher aber ist uns jedenfalls die Echtheit seines Talentes, und diese wird ihm auch für die Zukunft ruhm- und ehrenreiche Tage verbürgen.
M. G.




Unter den Montenegrinern und Muselmännern.


Es war an einem schwülen Abende während der letzten Tage des Monats Mai im heurigen blutigen Jahre. Ich saß in Gesellschaft meines Freundes, Dr. K., in dem Jägerwirthshause eines kleinen steierischen Marktfleckens, und wir kannegießerten natürlich über die Eventualitäten, die aus dem drohenden türkisch-serbisch-montenegrinischen Kriege erwachsen dürften. Die gegenüberliegende Post öffnete ihre Thür zum letzten Male, eine nur den Eingeweihten verständliche Andeutung, daß jetzt die Neuigkeiten abzuholen seien, die der Abendzug gebracht, und bald war ich im Besitze eines Briefes, den ich mit steigender Verwunderung las, um schließlich über die sonderlichen Sprünge des Zufalls in ein helles Gelächter auszubrechen.

Ein renommirtes Bankhaus in T. richtete an mich die Anfrage, ob ich gesonnen sei, eine Besichtigung der Wälder Montenegros vorzunehmen und die Ausbringungsverhältnisse an Ort und Stelle zu studiren. War der Antrag mir als Forstmann schon interessant und willkommen, so war er es doppelt bei der jetzigen Zeit und den dortigen wildkriegerischen Zuständen. Ohne mir die Schwierigkeiten und etwaigen Gefahren einer solchen Reise zu verhehlen, namentlich bei meinem schon vorgerückten Alter, acceptirte ich postwendend, packte meine Kleidungsstücke in einen neuen, recht fest construirten Koffer, nahm für alle Fälle einen Paß, und der 4. Juni, ein glühender Pfingstsonntag, fand mich schon auf der Reise nach Triest.

Meine Erlebnisse in Triest sowie meine Weiterreise über Pola, Zara und Ragusa nach Cattaro gedenke ich vielleicht später einmal zu erzählen.

Den nächsten Tag nach meiner Ankunft in Cattaro hatte ein Herr, dem ich durch einen Brief empfohlen worden war, die Freundlichkeit, meine Weiterreise nach Montenegro zu vermitteln. Der slavischen Sprache völlig unkundig, nur mittelmäßig im Italienischen bewandert, waren mir solche Hülfen unentbehrlich. Herr J. engagirte für mich einen Führer sammt Pferd, sowie eine Montenegrinerin, die meinen achtundzwanzig Kilo schweren Koffer bis Cettinje tragen sollte.

Die Zeit der Abreise war auf drei Uhr Morgens festgesetzt, damit wir vor Ausbruch der großen Sonnenhitze den Hauptaufstieg hinter uns hätten, aber pünktlich erschien nur die Montenegrinerin. Diese hob den Koffer, fand ihn wohl etwas schwer, befestigte ihn aber mit Traggurten auf ihrem Rücken und verlangte als Trägerlohn für den schrecklichen Weg nach Cettinje, den ich bald beschreiben werde und zu dessen Zurücklegung ich sieben und eine halbe Stunde brauchte, nur – einen Gulden. Die Trägerin ging einstweilen voraus, und um halb fünf Uhr erschien auch der Führer, der glücklicher Weise italienisch sprach.

An der Riva stieg ich zu Pferd, und nach einem kurzen Trabe am Meeresufer ging es steil bergan. In Zeitschriften und Feuilletous war oft die Rede von einer Fahrstraße, die zwischen Cattaro und Cettinje gebaut werden solle und schon im Bau begriffen sei, ich aber glaube, daß diese schwerlich in’s Leben treten wird. Auf österreichischer Seite hat man bis zur Grenze der Czernagora einen Reitesteg angelegt, welcher, kaum so breit, daß zwei beladene Packpferde aneinander vorbeikommen in kurzen Zickzackserpentinen derart steil in die Höhe führt, daß man innerhalb drei Stunden über tausendsechshundert Meter hinaufklettert. Dieser Steg führt an so schwindelerregenden Abhängen vorbei, daß bei mir wenigstens das großartige Panorama über die ganze Bocca und das offene Meer nicht recht zum Genusse kam. Welches Interesse hätte Oesterreich, diesen Reitweg mit enormen Kosten in einen Fahrweg umzuwandeln? Auf montenegrinischer Seite hat man allerdings mit der Anlage einer Fahrstraße begonnen, aber nur dort, wo das Terrain hierzu am günstigsten, das heißt am wenigsten schwierig erschien, z. B. auf dem Plateau oberhalb Njegusch, im Bergthale von Njegusch selbst und in der Kesselebene von Cettinje. Es wird ungefähr ein Sechstel des ganzen Weges fertig sein und dies, wie gesagt, an den leichtesten Punkten. Seit der Insurrection der Herzegowina ist jede Wegearbeit eingestellt.

Das Pferd, welches ich ritt, gehörte zwar zu den stärkeren des dortigen Gebirgsschlages, war aber leider etwas zu alt. Dieser Uebelstand machte sich unter einem Reiter, der, wie ich, über hundert Kilo wiegt, bald bemerkbar. Bis zur halben Höhe ging es gut, dann suchte aber der Gaul, wenn ich ihn nicht fest im Zügel hielt, die lästige Bürde dadurch abzustreifen, daß er meine Beine so nahe wie möglich an die in den Weg vorspringenden Felsen anzudrücken sich bestrebte, und als diese Versuche mißlangen, blieb er zuweilen ganz stehen, und konnte nur durch feste Hiebe wieder in Gang gebracht werden.

Dieses fortwährenden Streites müde, zumal bei so schmalem Wege, zog ich es vor, abzusteigen und etwa eine Stunde lang zu Fuß bergan zu klimmen, während welcher Zeit sich das Pferd wirklich so erholte, daß ich ohne fernere Anstände nach Njegusch hineinreiten konnte, welches wir um halb neun Uhr erreichten und wo Rast gemacht wurde.

Noch ehe man das Plateau von Njegusch erreicht, hört das österreichische Gebiet auf. Die Grenze ist durch keinerlei Zeichen markirt, macht sich aber dadurch bemerkbar, daß der Reitweg plötzlich abbricht und man durch die zerklüfteten Felsen einen Ziegenpfad so lange hinaufreitet, bis man die Hochfläche und auf dieser die Anfänge der montenegrinischen Straße erreicht. Das ziemlich große Dorf Njegusch liegt in einem Gebirgskessel. Hier sah ich zum ersten Male einige bebaute Felder; bis dahin war mir noch kein einziges Stückchen Ackerland vorgekommen. Wir ritten zum Wirthshause, banden das Pferd an einen Baum, wo ihm etwas Heu vorgeworfen wurde, und ließen uns nieder, nicht in einem Wirthshauszimmer – bewahre! ein solches existirt nicht – sondern unter einem vor dem Hause angebrachten Vordache. Die Wirthin brachte Wein, Schafkäse, Brod, und von ihrem eigenen Bette ein ziemlich schmutziges Kopfpolster, das sie für mich auf die noch schmutzigere Holzbank legte.

Es herrschte reges buntes Leben in Njegusch. Tags vorher war eine Partie Flüchtlinge aus der Herzegowina dort angekommen, Männer, Weiber und Kinder, deren Elend, Trübsal und Entbehrung aus den abgehärmten Gesichtern und den malerischen Lumpen heraussah. Ein Wojwode (Rangstufe, die unserem Titel: General entsprechen soll), der in Begleitung von einem Serdar (Oberst) von Cettinje gekommen, schien beschäftigt, die Flüchtlinge unterzubringen und überhaupt eine Art Controlversammlung in der dortigen Gegend abzuhalten. Es kamen und gingen Montenegriner ab und zu. Die Ankommenden küßten den Rockärmel des Wojwoden; er verzeichnete etwas auf einem Bogen Papier, hielt eine kurze Ansprache, und die Leute entfernten sich, wie sie gekommen, um anderen Platz zu machen. Mit einigen dem Anscheine nach einflußreicheren Kriegern zog er sich zuweilen in einen dunklen Raum des Wirthshauses zurück – ich weiß nicht, war es eine Tenne oder ein Kuhstall? – und schien dort geheime Instructionen zu ertheilen.

Ueber die malerische Tracht, die Bewaffnung und Gestalt der Montenegriner ist sattsam geschrieben worden. Wohl sah ich Viele, die sechs Fuß und darüber maßen, aber auch Viele nicht größer als fünf und ein halb Fuß. Aber Alle waren schlank mit breiten Schultern, hatten eine stolze, selbstbewußte, würdevolle Haltung, und aus jeder Bewegung sprach eine Elasticität und concentrirte Kraft, die nur Staunen erregen konnte. Man muß, wie ich später Gelegenheit hatte, diese an den Füßen mit Opanken bekleideten Gestalten über Felsen und Klippen mit der Genauigkeit [618] einer Gemse und der Geschmeidigkeit eines Tigers hinwegsetzen gesehen haben, um zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß unsere besten Bergsteiger in Steiermark und Tirol dagegen nur Bleisoldaten sind. Die Anwesenheit eines Fremden schien die Neugierde oder das Mißtrauen der Männer nicht im Geringsten zu erregen; Niemand fragte nach der Richtung und dem Zweck der Reise. Mit einem Gruße war ich gekommen; mit einem Gruße ritt ich nach einstündiger Rast unbelästigt weiter.

Gleich hinter Njegusch hat die gute Straße schon wieder ein Ende, und abermals ging der Ritt bergaufwärts durch wildes Karstgebirge von grauschwarzem Kalksteine, nur dürftig bewachsen mit verkrüppeltem niedrigen Laubholze, das, stets von den zahlreichen Ziegenheerden verbissen, nie einen Höhenwuchs gewinnen kann. Ein Weg war eigentlich nicht vorhanden. Vielleicht hatte man einst die größten Felsblöcke weggewälzt, um einen bequemeren Uebergang zu gewinnen, kleinere waren aber noch viel zu viel übrig geblieben. Nur die Glätte der Felsen, welche durch den Hufbeschlag der Pferde und Maulthiere während Jahrhunderten abgeschliffen waren, ließ erkennen, daß hier ein Handelsweg factisch existirte, auf welchem häufig die größten Lasten expedirt werden, wenn auch nicht die vielen bepackten Saumthiere, die uns begegneten, dasselbe bewiesen hätten. In ganz Montenegro hat bis jetzt noch nicht das Rad eines einzigen Wagens geknarrt.

Nach ungefähr anderthalb Stunden hatten wir endlich den Gebirgsrücken erreicht, dann ging es jäh abwärts zur Thalebene von Cettinje. Selbstverständlich konnte von einem Sitzenbleiben auf dem Pferde hierbei nicht die Rede sein, sondern man mußte mühsam hinabsteigen über treppenförmige Klippen und Felsstücke, bis nach halbstündigem erschöpfendem Marsche in der Mittagssonne die Ebene von Cettinje und mit ihr ein neues Stück Fahrstraße erreicht war.

Der Hufbeschlag der Pferde ist für diese Gebirgstouren äußerst praktisch. Er besteht aus einer dem Hufe angepaßten ovalen Scheibe von drei Millimeter Dicke, welche in der Mitte ein ovales Loch hat und mit einem Eisenrand zum Schutze des Hufs versehen ist.

Der Gebirgskessel, in welchem Cettinje liegt, ist ungefähr zwei Kilometer lang und fünfhundert Meter breit. Das Städtchen liegt aber nicht in der Mitte, sondern ziemlich am nordöstlichen Ende desselben und besteht aus einigen fünfzig einstöckigen ziegelgedeckten Steinhäusern mit vier bis sechs Fenstern, nebst vier größeren Gebäuden. Letztere sind: das Schloß des Fürsten, einem größeren behäbigen Landwohnsitze ähnlich, mit Garten und anschließender Gartenmauer, das Spital, der Gasthof und das Mädchenpensionat, wo die Töchter der Helden aus den schwarzen Bergen unter einer russischen Vorsteherin in diversen Sprachen und Wissenschaften unterrichtet werden, von denen ihre Väter keine Ahnung haben.

Es war an einem Sonntag, als ich gegen halb ein Uhr das Städtchen erreichte und schon von ferne eine große Masse Männer auf dem Wiesenplan versammelt sah, theils stehend, theils sitzend und liegend hinter den in Pyramiden zusammengestellten Gewehren. Es mochten etwa drei- bis vierhundert Montenegriner sein, alle in stattlicher beliebiger Sonntagstracht, denn von einer gleichmäßigen Uniformirung ist natürlich keine Rede. Sie hatten eben eine Waffenübung beendet behufs Einübung mit den jüngst vertheilten Hinterladern. Cettinje hat nur zwei Straßen. Die eine läuft gerade aus und schließt mit dem gegenüberliegenden Gasthofe ab; die andere, kürzere führt von dieser in rechtem Winkel zum Schlosse des Fürsten. Die Straßen sind breit, reinlich und mit Laternen versehen. Ich ritt zum Gasthofe, begehrte ein Zimmer und war überrascht, ein solches zu bekommen, ausgestattet mit allem Comfort großer Städte. Mittlerweile hatte auch meine Montenegrinerin, die wir unterwegs eingeholt und die dann immer wacker mit uns Schritt gehalten, den schweren Koffer in die Stube gebracht und verließ mich dankerfüllt, da ich ihr außer dem vereinbarten Gulden Trägerlohn noch einen zweiten gegeben. Da mich der Kellner benachrichtigt, daß gleich table d’hôte gespeist werden solle, machte ich rasch Toilette und ging in’s Speisezimmer hinunter. Es saßen dort eine Menge Herren um einen enormen Speisetisch, der mit Couverts überladen war, unter anderen ein Minister des Fürsten, in allen Sprachen sehr unterrichtet, aber Nicht-Montenegriner, ein Herzog von Genua, dessen Aufenthaltsmotiv mir unbekannt blieb, ein französischer Capitän, der die Artillerie Montenegros organisiren sollte und irgendwo in einem Hafen angekaufte Kanonen versteckt hielt, russische Agenten, Aerzte und Pharmaceuten, Zeitungsreporter und Andere mehr. Das Gespräch wurde meistens in serbischer und französischer Sprache geführt. Nach Tische schickte ich ein Telegramm in die Heimath, für welches ich nur einen Gulden bezahlte, gab dann meine Empfehlungsbriefe ab, jedoch ohne die Herren zu Hause zu treffen, und ging in das dem Speisezimmer gegenüber befindliche Café des Gasthofes. Dort war Alles so besetzt, daß ich nur hinter dem Schenktisch ein Plätzchen erobern konnte, von wo aus ich bei einer Flasche Grazer Bier im anständigen Preise von fünfzig Kreuzern meine Umgebung musterte. Da trat ein reichgekleideter Montenegriner an mich heran und fragte auf französisch, ob ich nicht der Herr C. sei. Als ich dies bejahte, stellte er sich als M., Adjutant des Fürsten, vor, für den ich einen Empfehlungsbrief abgegeben.

Nachdem wir über meine forstliche Mission, über Krieg und andere Dinge der Tagesordnung geplaudert, lud er mich zu einem Spaziergange durch Cettinje ein, wie ich denke, hauptsächlich in der Absicht, um meine fremde Erscheinung den zahlreich in den Straßen versammelten Montenegrinern als persona grata darzustellen. Unterwegs begegneten wir einem anderen vornehm aussehenden jungen Manne, einen Vetter des Fürsten aus dem Heldengeschlecht der Njegusch-Petrovic, der ebenfalls französisch sprach und uns einlud, die Zelte zu besuchen, in welchen die in der Herzegowina verwundeten Söhne der schwarzen Berge unter dem russischen rothen Kreuze geheilt wurden.

Ich sah in zwei Feldlazarethen und schließlich im großen Spital selbst ungefähr vierzig mehr oder minder schwer verwundete Männer unter der sorgfältigsten Pflege. Aerzte, Apotheker und Wärterinnen, Alle sind Russen, und mit russischem Gelde wird der ganze Apparat unterhalten. Unter den Verwundeten befand sich auch ein junger Bursche von höchstens fünfzehn Jahren.

„Der ist doch noch zu jung für das rauhe Kriegshandwerk,“ meinte ich.

„Lassen Sie das gut sein!“ entgegnete mein Begleiter, „der hat schon drei Türkenköpfe abgeschnitten.“

Wir standen am Fußende des Bettes, und der Bursche mochte ahnen, da er sicher kein Französisch verstand, daß von seinen Heldenthaten die Rede war, denn sein Mund verzog sich zu einem breiten Lachen, wodurch zwei Reihen scharfer weißer Zähne sichtbar wurden, und seine Augen leuchteten grünlich wie die eines Wolfes.

Nachdem ich mich von meinen Begleitern verabschiedet, ging ich in’s Cafe zurück, wo ich die Bekanntschaft des deutschredenden Musikdirectors der Czernogora, eines Böhmen, machte. Drei Jahres hindurch hat dieser Herr halbwüchsige Hirtenbuben, wie er sie aus den Bergen eingefangen, zu Musikanten herangebildet, so daß außer den Nationalmelodien auch größere Stücke aus italienischen Opern ausgeführt werden konnten; da erklärten die jungen Leute ihre Lernzeit für beendet und forderten für ihre ferneren Leistungen Bezahlung. Sintemal aber die Landescasse, bei einer jährlichen Einnahme von etwa 45,000 Gulden, Alles in Allem, nicht in der Lage war, diese außerordentliche Ausgabe zu bestreiten, mußte man leider auf diesen Luxus verzichten. Das Musikcorps wurde bis auf bessere Zeiten aufgelöst und tritt nur bei außergewöhnlichen Fällen in Thätigkeit.

Durch Mittheilung des Musikdirectors erfuhr ich denn auch, daß ich mich inmitten der Gesellschaft der berühmtesten Helden Montenegros befand, deren Namen er auch nannte, – ich habe sie vergessen. Diese Herren spielten musterhaft Billard, auch Schach und Karten, oder saßen ernsthaft, ihre lange türkische Pfeife rauchend, beim schäumenden Bier. Handschar und Pistolen legten aber auch die Billardspieler nicht ab, obwohl sie dadurch beim Stoßen oft genirt wurden.

Als größten Helden zeigte man mir den Wojwoden Marko M., einen schon grauhaarigen, nicht gar so gefährlich aussehenden Mann, der bereits sechszig Türkenköpfe abgeschnitten hat. Wahrscheinlich ist jetzt das Hundert voll, da er, wie ich aus den Zeitungen ersah, eine siegreiche Abtheilung im Süden Montenegros commandirt. Seitdem diese Herren russisches Gold [619] in den Taschen haben, wird das Café nicht leer. Dieses, sowie das ganze Hôtel besteht erst seit einigen Monaten in seiner jetzigen vollkommeneren Einrichtung, nämlich seitdem so viele Russen und sonstige Fremde in Cettinje verkehren; früher soll Alles äußerst primitiv gewesen sein. Auch ein türkischer Oberstlieutenant in voller Uniform befand sich unter den Gästen. Derselbe war einer Commission zugetheilt worden, um Pferde zu kaufen, wußte aber seine Collegen zu täuschen und desertirte mit dem Betrage von hundertfünfzig Napoleonsd’or. So hat der Schuft selbst erzählt.

Am andern Tage suchte und fand ich durch freundliche Vermittelung einen Führer, der etwas italienisch sprach, und brach nach Rjeka auf, um von dort aus in die Waldungen der Czernagora weiter einzudringen. Der Weg nach Rjeka ist womöglich noch schlechter als der von Njegusch nach Cettinje. Die ersten drei Viertel Stunden geht es auf rauhem Felspfade steil aufwärts, um dann in weiteren drei Stunden gegen dreizehnhundert Meter hinunterzusteigen. Da mein Pferd auch wieder zu schwach war für den schweren Reiter, so mußte ich bei brennender Sonnenhitze, welche mit wolkenbruchartigem Gewitterregen abwechselte, den ganzen Abstieg zu Fuß machen.

Schon ehe man Rjeka erreicht, ändert sich der Charakter der Landschaft. Anfangs nur sterile Felspartien, dann hier und da urbares Land mit Mais und Kartoffeln bebaut, noch tiefer Weinberge, und nahe der Thalsohle, an sanfteren Hängen, in Mulden und kleinen Thälern, allüberall wo sich nur Humus bilden konnte, eine reiche Vegetation von Weinreben, Maulbeerbäumen, Feigenbäumen mit reifen bräunlichen Früchten, zahme Kastanie, Oelbäume, üppig wachsende Tabakfelder, Alles durchleuchtet von den rothen Blüthen der Granatbäume. In Rjeka begann das Reise-Elend, was Kost und Nachtquartiere betraf; in Cettinje hatte ich das letzte Bett gesehen. Und von dort hatte ich noch drei Tagereisen zu machen bis zum Quellengebiete der Muraca, durchschnittlich täglich zehn Stunden, dabei nur zwei kleinere Ortschaften berührend, nämlich Danilograd und Rovce. Ich übergehe die Nächte auf dieser Reise mit ihren Plagegeistern jeder Art, die aber der todmüde Körper kaum verspürte; ich mag nicht erzählen von der schlechten Kost, aus Ziegenfleisch, Ziegenkäse und frischgebackenem kleberigem Maisbrode bestehend, bei deren Erinnerung ich noch heute einen Brechreiz empfinde, noch von dem stets warmen, aber zum Glück kräftigen Rothweine, den wir in einem Ziegenschlauche, dessen Haare nach innen gekehrt waren, am Sattel mit uns führten; auch mag ich nicht den Leser ermüden mit stets wiederholten Klagen über die halsbrecherischen Wege.

Die Berge der Czernagora, die ich bisher gesehen, waren alle kahl und nur mit kurzem Gestrüpp bedeckt, im Nordosten des Landes aber, von der Muraca und ihren Seitenflüssen durchsetzt und zerklüftet, zieht sich ein gewaltiger Gebirgsstock hin, das Rovcigebirge mit dem zweitausend Meter hohen Dormitor als größte Erhebung. Diese wilden Alpenzüge, gleichfalls aus dunkelgrauem Kalkfelsen gebildet, tragen auf einer Fläche von circa neunzigtausend Hectares, dem fünften Theile des Fürstenthums, einen eigentlichen wahren Urwald von Fichten und Edeltannen, im Gemisch aller Altersclassen, aber durchschnittlich zweihundert Jahre alt. Bis jetzt ihres entlegenen Standortes wegen von der Axt verschont, sollten in nächster Zukunft diese Riesenstämme von fünfzig bis siebenzig Meter Höhe und fünfzig bis hundertfünfzig Centimeter Stammdurchmesser der Speculation zum Opfer fallen. Aber dem conservativen Forstmanne zur Beruhigung sei’s gesagt, ihre Stunde hat noch nicht geschlagen. Die mühseligen Transportverhältnisse verursachen einen Kostenaufwand, der mit den jetzigen Holzpreisen nicht im Verhältnisse steht.

In Rjeka, wohin ich nach wöchentlicher Abwesenheit zurückkehrte, hatte ich meinen Koffer gelassen, weil ich von dort, der Wasserstraße folgend, die das Holz im Falle einer Schlägerung zu nehmen hätte, über Albanien das adriatische Meer gewinnen wollte. Diese Wasserstraße genau kennen zu lernen, war für das projectirte Geschäft von großer Wichtigkeit. Die Stimmung in Montenegro war indessen immer kriegerischer geworden; allenthalben sind Hinterlader nebst Munition ausgetheilt, und allgemein wird der 27. Juni als Tag des Losschlagens bezeichnet. Dieser Zustände wegen konnte ich nur mit Mühe ein Boot mit der Besatzung von fünf Montenegrinern auftreiben, die mich für den hohen Preis von vierzig Gulden nach Scutari bringen sollten.

Ehe ich von der Czernagora auf Nimmerwiedersehen Abschied nehme, will ich noch einige Worte über Charakter und Sitten dieses halbcivilisirten Bergvolkes hinzufügen. Die Montenegriner sind ein „Volk in Waffen“ in der strengsten Bedeutung des Wortes. Vom Knaben an, sobald er mannbar geworden, bis zum Greise ist die rothe Schärpe, die den Leib umgürtet, mit Pistolen und Handschar geziert, die oft das werthvollste, häufig das einzige Vermögen ihres Besitzers repräsentiren. Die Pistolen, meistens mit eingelegter Arbeit versehen, haben durchweg Steinschlösser und sehr großes Kaliber. Ich halte sie mehr für Paradestücke, auch sind sie in neuerer Zeit häufig durch die praktischeren Revolver verdrängt worden. Der Handschar, durch Generationen vererbt, ist das Heiligthum des Besitzers. Dieser weiß genau aufzuzählen, wie viel Türkenköpfe seine Ahnen und er damit abgeschnitten. Sein Haß gegen diesen fünfhundertjährigen Erbfeind ist grenzenlos.

Das Benehmen und die Sprachweise des Montenegriners sind ernst und würdevoll; sein Ehrgefühl ist in so hohem Grade ausgebildet, daß ein Stockschlag auf der Stelle mit dem Tode gerächt wird, ohne daß das Gesetz den Mörder bestraft. Gemeiner Diebstahl wird gesetzlich mit Verbannung aus dem Lande oder nach Amnestie des Verbrechers im Wiederholungsfalle mit dem Tode gebüßt. Bei Ehebruch steht dem beleidigten Gatten das Recht zu, beide Theile zu tödten. Jedes intimere Verhältniß zwischen beiden Geschlechtern muß mit der Ehe abschließen; tritt der Mann zurück, so wird er von den Verwandten des Mädchens rettungslos getödtet; ein Zurücktritt des Mädchens ist nicht denkbar.

Der Montenegriner ist zu stolz zur gewöhnlichen Arbeit; alle Arbeiten im Hause, sowie auf dem Felde werden durch die Frauen verrichtet; selbst die Professionisten im Lande sind meistens Dalmatiner. Der Mann stählt seine Körperkraft durch förmlich homerische Spiele und übt sich in den Waffen. Sein ganzes Sinnen und Trachten geht dahin, ein Held zu werden, um in den Volksliedern fortzuleben. Lesen und Schreiben hält er zu diesem Berufe nicht für unumgänglich nothwendig, obgleich jetzt in den meisten Dörfern Schulen errichtet sind. Handel mit Ziegen und Schafen, mit Wein, Tabak, Oel und Gerber-Sumach sind die Haupterwerbsquellen. Die Frauen sind von mittlerer Größe, kräftig, aber nicht besonders schön, doch alle haben einen freundlichen angenehmen Gesichtsausdruck und prachtvolle Zähne. Die gewöhnliche Kleidung derselben ist: dunkles Kopftuch nach italienischer Manier getragen; weißwollenes, schwarz eingefaßtes und verziertes Ueberkleid ohne Aermel, vorne offenstehend; schneeweißes langes Hemd, hoch am Halse zugezogen und die Arme bedeckend; von der Taille abwärts schwarzwollene lange Schürze. Die Füße stecken entweder in Opanken oder in ausgeschnittenen schwarzen Schuhen mit weißen Strümpfen. Die ganze Tracht in ihrer Einfachheit ohne schreiende Farben macht einen keuschen und gewinnenden Eindruck.

(Schluß folgt.)




Bayreuther Festtagebuch.
Nr. 3. Vom 18.–23. August.
18. August.     

Ich hole heute das Versäumte nach und bringe Etwas aber die vierte Vorstellung – „Götterdämmerung“ zu Papier. Ich sage „Etwas“, denn ich besitze nicht das „Mordgenie“ so vieler meiner Herren Collegen, von heute auf morgen fix und fertig mit meiner Weisheit vor das Publicum treten zu können. Da wir nun bekanntlich an dieser Stelle nicht polemisiren, so muß ich – auf dem Bayreuther Standpunkte – erklären, daß die Steigerung der dramatischen Wirkung in der „Götterdämmerung“ ihren höchsten Gipfel erreichte und dabei doch, dank den vielfachen Reminiscenzen der musikalischen Motive, dem Publicum und mir selber leichter verständlich wurde, als wir Alle glaubten.

[620] Ich habe das Textbuch vor mir liegen und begreife, daß Wagner zu diesem Texte nicht anders componiren konnte, und ohne im Stande zu sein, aus dem Gedichte auch nur drei Tacte nachzusummen, klingt nur doch der furchtbar düstere Nornengesang aus den gedruckten Worten heraus. Ebenso die Scene zwischen Alberich und Hagen, die nichts geringeres darstellt, als den Traum während eines sogenannten Alpdrückens. Werden unsere Nerven solchergestalt gefesselt, so leistet der Tonmaler in dem Rheintöchtergesang zu Anfang des dritten Actes so anmuthig Liebliches, daß man plätschernde Wellen in Musik und Gesang verwandelt glaubt, und wenn Männer von Autorität, wie Professor Schelle aus Wien und eine Menge Andere, die mit Wagner artistisch nicht auf Du und Du stehen, in der letzten Rede der Brunhilde am Schlusse des Dramas mit das Größte erblicken, „was im musikalisch-dramatischen Aufbau je geleistet ist“, so darf ich armer Feuilletonist, wenn auch fast invalide geworden durch die Anstrengung des Hörens und Sehens, ebenfalls sagen: Ja, es war großartig in seiner Art. Es war eine Erscheinung in der Kunstgeschichte. Ich thue dies um so lieber, als man auf die „Gartenlaube“ in Bayreuth sehr böse zu sprechen war, in Folge ich weiß nicht welcher Notiz dieses Blattes.[1] Die Parteien verlangen ja, daß man blind in ihr Horn stößt.

Item, mit der „Götterdämmerung“ hat Wagner bei den Fachmusikern gewaltige Steine in’s Brett gewonnen, und die Broschüren werden schon gewetzt, die dafür geschwungen werden sollen, wie „Nothung das neidliche Schwert“. Was mich betrifft, so habe ich mich von aller propagandistischen Beeinflussung fern gehalten und denjenigen meiner Freunde, welche, wie ein Spottvogel bemerkte, am Schlusse des Bühnenfestspiels von Wagner heilig gesprochen werden sollen, rundweg erklärt, die „Gartenlaube“ sei keine Arena und ich kein Gladiator. Ich habe hier nur harmlose Fest-Plaudereien bringen wollen und sie daher auf andere Kampfplätze vertröstet. Die kunstgeschichtliche Bedeutung der Bayreuther Tage wird ja nicht mehr bestritten.

Es war mir heute vergönnt, einen Blick in das vertiefte Orchester zu thun, das sich zum Theil bis unter das Podium der Bühne erstreckt. Da stand Capellmeister Richter und dirigirte in bloßen Hemdsärmeln; der berühmte Violinist Wilhelmj ebenso, und alle Orchestermitglieder hatten es sich in gleicher Weise möglichst bequem gemacht. Ein drolliger Anblick, die Künstler so arbeiten zu sehen! Vom Erhabenen zum Komischen nur ein Schritt. Aber was thut es? Man seufzt und stöhnt über die Strapazen und hält aus.

19. August.     

Heute erwachte ich etwas – übernächtig.

Er hat sich ganz gut aus der Klemme gezogen, in welche ihn seine geflügelten Worte bei Gelegenheit des Hervorrufes am Schlusse der „Götterdämmerung“ gebracht hatten.

Ich rede hier von dem Festbankette, das zu Ehren des Meisters in den Räumen der großen Restauration auf dem Theaterplatze gehalten wurde und wo das Essen wieder so mittelmäßig war, wie man es für fünf Mark das Couvert ohne Wein verlangen kann.

Wohl an tausend Theilnehmer hatten sich eingefunden und das Arrangement war insofern vorzüglich, als Wagner mitten unter der Gesellschaft Platz genommen hatte und mit seinem Sitze keinerlei Ostentation getrieben wurde. Der Meister war in der heitersten Stimmung, und die Frau Meisterin (Frau Cosima) hatte ihre Sonntagsliebenswürdigkeit für Alle. Es dauerte denn auch nicht lange, so ergriff Wagner das Wort, um seine vorgestrigen Worte zu schützen, von „Journalisten und Recensenten“ mißverstanden zu werden, indem er erklärte, er habe eine neue Kunst gemeint, die sich von fremden Einflüssen emancipirt hätte und specifisch deutsch bleibe. Damit löste sich die Dissonanz denn wieder in ein harmonisches Wohlgefallen auf, denn die anfängliche Stimmung bei dem Festbankette war eine ziemlich verlegene. Als später Wagner nochmals das Wort ergriff und ein Hoch auf Franz Liszt ausbrachte, dem er, wie er mit gerührter Stimme betonte, Alles verdanke, brauste der Jubel rückhaltslos. Es redeten auch Duncker aus Berlin, dieser mit Vorbehalt, da die Zukunft erst entscheiden müsse, und nach ihm Graf Appony in magyarisch schwungvoller Begeisterung. Auch Liszt sprach einige wenige Worte, die mit einer Umarmung Wagner’s endeten.

Jetzt entsteht eine allgemeine Bewegung in den Sälen. Ein silberner Lorbeerkranz ist von Frau Lucca aus Italien angekommen. Die Baronin von Schleinitz setzt ihn dem Meister auf’s Haupt und führt diesen durch den Saal. Hier zeigte Wagner, wie liebenswürdig er sein kann, wenn er will. Er scherzte über die ihm widerfahrene Ehre und setzte den Kranz zeitweilig seiner Begleiterin auf’s Haupt, welche bekanntlich in der Wagner-Partei das ist, was Jeanne d’Arc zu Karl’s des Siebenten Zeit war: die Bannerträgerin des Zukunftsdramas.

Mein Tischnachbar war ein von seinen Landsleuten im Gedränge getrennter französischer Journalist, M. Jules de Brayer. Die Höflichkeit gebot mir Reserve gegen den Franzosen, aber dieser legitimirte sich als ein warmer Verehrer Wagner’s und sprach unverhohlen seine Freude darüber aus, daß die Kunst auf deutschem Boden auch das Feindschaftsgewächs von 1870 entwurzeln werde. Es war das erste und letzte Mal, daß ich in Bayreuth von Politik sprach. Die alte Wahrheit! Auf neutralem Gebiete (hier auf dem der Kunst) verständigen sich die Menschen immer sehr leicht.

20. August.     

„Erholungstage“ heißt hier der Zeitraum, der zwischen jedem Cyclus der Vorstellungen liegt. Ich kann diese Bezeichnung nicht zutreffend finden, denn die Gespräche über das Gesehene und Gehörte gestalten sich in den Erholungstagen noch animirter. Aber es tritt ein Decorationswechsel in der Gesellschaft ein. Die Kaiser und Könige sind abgereist. Mit ihnen, ausgenommen die allerdings noch sehr zahlreichen Patronatsherrschaften, auch eine Menge Namen von Berühmtheit. Die zweite Serie brachte neue Menschen, neue Namen. Wir älteren Bewohner Bayreuths finden Muße, auch hier und da einen Blick nebenher und nebenhin zu werfen, wozu uns die Sturm- und Drangperiode des ersten Cyclus keine Zeit ließ.

Täuscht mich mein Ohr nicht? Die Kinder auf den Straßen pfeifen und singen Motive aus dem „Ring der Nibelungen“. Wahrscheinlich haben sie dieselben von der artistischen Einquartierung aufgeschnappt. Am Ende zwitschern die Sperlinge auf den Dächern noch das Waldvöglein-Motiv aus „Siegfried“. Ist es ja doch, als ob eine artistische Epidemie in der Stadt herrschte. Ein ehrsamer Schullehrer hatte im „Siegfried“ die stumme Rolle des Bären übernommen und mimte, in ein Bärenfell gesteckt, auf allen Vieren ganz vorzüglich. Die Turner arbeiten im „Rheingold“ als Nibelungen mit, und zwar brillant. Eine Schaar kleiner Kinder von vier bis sechs Jahre wirkt mit in „Götterdämmerung“ im Hochzeitszuge des Siegfried. Es ist dies ein von Fricke aus Dessau wunderbar poesievoll arrangirtes Bild. Die tänzelnde Kinderschaar säuselt ganz flüchtig, wie Blumen vom Winde getrieben, nur einmal über die Scene, aber der Eindruck ist berauschend schön. Ueberhaupt ist das schauspielerische und Regiewesen in den Vorstellungen das Höchste, was je geleistet worden ist. Eine Scene, wie die zwischen Alberich und Hagen (Hill aus Schwerin und Siehr aus Wiesbaden) kann man geradezu als akademisch-dramatisch bezeichnen. Niemann’s Siegmund in der „Walküre“ ist von imponirender Wirkung. Und die Chöre sind im Arrangement nie, auch nicht annähernd so großartig in Scene gesetzt worden, wie es hier der Fall war in „Götterdämmerung“.

Ich benutzte heute den Erholungstag, um Siehr, den eben genannten Bassisten, zu besuchen. Er wohnt in einem – Irrenhause, uns gegenüber ist das Zuchthaus, in welchem eine Anzahl Orchestermitglieder residiren – mit Kullmann unter einem Dache. Eine köstliche Ironie des Zufalls! Aber es wohnt sich in beiden Gebäude bequem und kühl; die Verwaltung derselben vermiethete Zimmer an Jedermann in Bayreuth.[WS 1] Auch Niemann hat Chambregarnie im Irrenhause genommen, und so kann ich denn die Thatsache nicht leugnen, daß mich mein Aufenthalt in Bayreuth ebenfalls, wenn auch nur auf ein paar Stunden, in’s Tollhaus geführt habe. –

22. August.     

Doch der Mensch soll nicht renommiren. Ich befand mich heute so abgespannt, daß ich das Theater versäumen mußte und beinahe in der Stimmung bin, einen Leitartikel zu schreiben. Auch wird es in unseren Kreisen öder. Die meisten Berichterstatter [621] der Zeitungen sind nach dem ersten Cyclus wieder abgereist. Der schöne Champagnerschaum der Spannung, der uns Alle umsprudelte, ist gefallen. Unsere Kehlen sind heiser; so oft und so viel haben wir uns ausgesprochen. Die Empfangsabende beim „Meister“ in der Gluthhitze gestalten sich auch nur zu einem Ein- und Ausgehen und geben nur Anlaß, die Riesennatur Richard Wagner’s zu bewundern, der ein neues Werk, „Parcival“, vollendet hat und in seiner Sphäre so munter und lebendig bleibt wie der Fisch im Wasser. Oft glaube ich, die Nervenstränge dieses Mannes bestehen aus Baßgeigensaiten, seine Adern aus metallenen Posaunenröhren und seine Herzkammern aus zwei Pauken. Und dabei äußerlich keine Spur von Ermüdung. Stets activ, ohne Ruhe und Rast. – Wenn nur die Hälfte von dem wahr ist, was man mir von seinen Proben erzählt hat, wie er die Sänger, Musiker, Arbeiter geschult und gedrillt hat, so könnte er den seligen Herrn Sisyphus ablösen; er brächte den Stein gewiß über den Berg.

23. August.     

Es ist vollbracht. Mit dem heutigen Abende ging der zweite Cyclus zu Ende. Die Aufführung der „Götterdämmerung“ war eine vollendete. Uns Allen kam diese seltsame Tonschöpfung heute merkwürdig verständlich vor. Das Wort „populär“ wage ich nicht zu gebrauchen, obschon es die Exaltados im Munde führen, allein, einmal entschlossen, keinen Vergleich mit der Oper anzustellen, sondern das Werk schauspielerisch-musikalisch aufzufassen, möchte ich beinahe die Behauptung aussprechen, „Götterdämmerung“ sei das am leichtesten zu fassende der vier Musikdramen.

Am Schlusse der Vorstellung brach ein Jubel aus, der – nach der Uhr gesehen – über zehn Minuten dauerte. Man wollte den Meister sehen, trotz seines Decrets, daß im Interesse der künstlerischen Einheit keine Demonstrationen stattfinden sollten. Also einfach eine Enthusiasmusrebellion, und die Damen waren die ärgsten Rebellen. Die Rebellion besaß zwar Tact genug, keinen Namen zu rufen, aber das Bravo und die Hochs wollten kein Ende nehmen.

Endlich öffnete sich die Gardine, und Richard Wagner erschien.

Athemlose Stille.

Der Meister bleibt in der Oeffnung der Gardine stehen, blickt nach rechts und links, macht ein Gesicht, das ganz deutlich zu sagen scheint: „Ich habe Euch ja erklärt, daß ich solche Demonstrationen verboten habe,“ und tritt mit einer stummen Verbeugung ab.


Es möge mir jetzt gestattet sein, aus dem Rahmen des „Tagebuches“ herauszutreten, um diesen Rahmen von Aufzeichnungen, Eindrücken und Arabesken durch ein übersichtlicheres Bild auszufüllen.

Den Mittelpunkt desselben bildet natürlich Richard Wagner selbst, obgleich er, verhindert, durch seine artistische Thätigkeit, welche ihn fast unausgesetzt in Anspruch nimmt, nicht so individuell scharf hervortritt, wie man wohl zu glauben versucht ist. Sein Aeußeres hat sich – man darf es sagen – zu seinem Vortheile verändert. Der verbissene, zusammengekniffene Mund ist weicher geworden; die stechenden Augen schillern mehr in Bonhomie hinein; der ganze, früher so scharfkantige habitus zeigt mehr Glätte als sonst, als hätte „Wahnfried“, wenn auch den „Frieden“ selbst noch nicht, so doch den Weg zum Frieden gefunden. Eines ist unbedingt an dem merkwürdigen Manne anzuerkennen, daß er nicht „Pose“ lebt, wozu die Huldigungen von Kaisern und Königen, Fürsten und künstlerischen Celebritäten doch so leicht verführen. Er hat sich im Umgange und in der Conversation die ungenirteste Natürlichkeit bewahrt, und diese ist durchaus nicht eine gesuchte.

Das Amt des „Repräsentirens“ hat Frau Cosima, die Tochter Liszt’s, übernommen. Diese Dame ist für den Meister eine wahre Perle; sie ist eine Arbeitskraft; sie erfüllt in der Gesellschaft für ihn alle Formen, zu deren Erfüllung ihr Mann nicht immer Zeit und Lust hat. Sie hat ein merkwürdiges Talent, ein echt französisches Talent, Jedermann irgend ein paar Worte zu sagen, über die man sich freut, und ein Dutzend Gespräche auf einmal zu leiten. Aber man sieht es ihr an, daß sie ihr eigentliches Element in den Kreisen der haute volée lieber erblickt, als in den Künstlerkreisen, und daß sie des Weihrauchs nicht entbehren kann. Man ist nicht ungalant, wenn man behauptet, sie sei auf ihren Mann noch mehr eitel als stolz. Es ist dies Frauenart. Die Damen lieben es, die Situation zu beherrschen, und wenn sie es können, ohne sich Blößen zu geben, so ist es verzeihlich.

Franz Liszt, untrennbar von den beiden Genannten, bildet gleichwohl einen Contrast zu seiner Tochter Frau Cosima. Auch ihm ist der „Hofsonnenschein“ Bedürfniß. Er ist ein musikalischer Tasso, der ohne platonische Leonoren nicht existiren kann. Aber Liszt hat sich in dieser Atmosphäre der Verwöhnung einen bezaubernd liebenswürdigen Charakter bewahrt, dessen Liebenswürdigkeit nie eine gesellschaftlich gezwungene ist. Sein ganzes Wesen ist in der That das eines Grandseigneur der Kunst.

Dies ist das Dreigestirn, welches man den Mittelpunkt der Gesellschaft zu Bayreuth nennen könnte, wenn nicht das ganze Leben und Treiben eine solche kunstrepublikanische Zwanglosigkeit zeigte, daß von einem directen Einfluß der drei Hauptpersonen im Kaleidoskop der Bayreuther Gesellschaft keine Rede sein konnte.

In „Villa Wahnfried“ findet allwöchentlich ein Empfangsabend statt, der selbstverständlich in der Bühnenfestspielzeit mehr von den Mäcenen als von den ausübenden Künstlern besucht wird. Frau Cosima vereinigte hier ihren weiblichen Generalstab, an der Spitze die Baronin von Schleinitz und die Verehrerin Liszt’s erster Classe, Baronin von Meyendorf aus Weimar. Um diese gruppiren sich dann Damen, wie die Comtesse Usedom, die Gemahlin des italienischen Ministers Minghetti, eine neapolitanische Schönheit, die französische Schriftstellerin Madame Catulle Mendès, eine Tochter Theophile Gautier’s etc. Eine gewisse exclusive Färbung läßt sich hier allerdings nicht wegleugnen.

Desto „aufgeknöpfter“ erscheint das Herrenpublicum. Die ungarischen Grafen Festetics und Appony, die Maler Meyerheim und Makart (dieser hat Wagner sein Gemälde „Das ägyptische Mädchen“ zum Geschenk gemacht, ein königliches Geschenk, denn für das Bild ist die Kleinigkeit von dreißigtausend Gulden geboten und ausgeschlagen worden), die Musikschriftsteller Richard Pohl, Schuré, der Leibarzt des Khedive von Aegypten, ein Dr. Sachs, der seinem Namen ein „Bey“ angehängt hat, der berühmte Chirurg und Anatom Esmarch, der bekannte Banquier Plato aus Berlin etc. bilden ein stehendes Corps an den Empfangsabenden.

Aber dennoch verschwindet deren sociale Bedeutung, weil der Hauptmagnet das Theater ist und bleibt. Doch darf eine Persönlichkeit aus dem Generalstab des Meisters nicht unerwähnt bleiben. Es in dies der Rentier Feustel aus Bayreuth selbst, die administrative Seele des ganzen Unternehmens. Ein stattlicher, ernsthafter Herr und durchaus frei von den Eigenthümlichkeiten sogenannter Theaterenthusiasten, wie denn Wagner wirklich das seltene Glück gehabt hat, daß sich fast durchweg Ausnahme-Naturen von Anfang an für sein Unternehmen erwärmten. Aber, wie gesagt, ein compacter gesellschaftlicher, tonangebender Mittelpunkt konnte sich in der artistischen Republik, die in der Festspielzeit von selbst entstand, nicht bilden, und es ist nicht ohne Interesse, zu constatiren, daß die meisten Stammgäste von „Villa Wahnfried“ von diesem Sammelplatz aus das Angermann’sche Bierlocal aufsuchten und sich sehr gemüthlich demokratisierten. War „Villa Wahnfried“ das „Capitolium“ des Senats, so blieb die Angermann’sche „Kneipe“, das „Forum“, wo die „Senatoren“ am häufigsten anzutreffen waren.

Auffallend schwach war in der Gesellschaft die hohe Finanzwelt vertreten, obgleich sie sich an der Zeichnung von Patronatsscheinen betheiligt hatte. Vermuthlich ruhte sie in den Bädern von den Börsenstrapazen aus und hatte über ihre Karten zu Gunsten Anderer verfügt. In Summa könnte man, um das gesellschaftliche Bild zu kennzeichnen, dasselbe ganz passend eine „Molecularbewegung“ nennen. Menschen mit bekannten Köpfen tauchten auf und verschwanden, um wieder aufzutauchen. Die mangelhaften Localitäten verboten sogar, daß sich bestimmte Personen bei Tische regelmäßig zusammenfanden, wie es in Badeorten zu geschehen pflegt. Die Bayreuther Gesellschaft war das Bild der ewigen Unruhe: sie fieberte, wie die Klänge der „Zukunftsmusik“ selber.

Damit gelangen wir denn zu einem Schlußblicke auf das Kunstwerk.

Wenn ich wiederholt bekenne, daß ich an die Einbürgerung dieses Kunstwerks auf unseren Bühnen nicht glaube, oder, falls [622] sie doch zeitweilig versucht werden sollte, nur eine vorübergehende Modesache darin erblicken würde, so wird man mich nicht zu den Fanatikern zählen, die in Bayreuth bereits das Bethlehem der neuen Kunstreligion bejubeln. Das Werk imponirt und muß imponiren. Aber vom „Hosiannah!“ bis zum „Kreuzige!“ ist nur ein Schritt. Wie es in der Dichtung einen Sprung in die uralten Göttersagen zurück macht, so eilt es in seinen Anforderungen an die Darstellung in solche Zukunftsfernen, daß die alte culturgeschichtliche Erscheinung sich auch hier bewahrheiten wird – daß wie in der Politik, so auch in der Kunst die Revolutionen ihre Ideale nie verwirklichen. Es ergreift uns das unsichtbare vertiefte Orchester gewaltig, aber welcher Zeit bedarf es, die Sänger auf der Bühne mit dieser orchestralen Begleitung in den richtigen Rapport zu setzen! Der Sänger declamirt singend. Das Orchester geht seinen Weg nebenher, schließt sich dem Gesange zwar an, bleibt aber in einer größern Selbstständigkeit, als die Gewohnheit des Publicums es zuläßt. Man brauchte auf dem Festplatze nur die abgehärtetsten Wagner-Enthusiasten in der Erholungsstunde anzusehen; um zu begreifen, daß der Kampf des gesungenen Drama mit dem recitirenden noch weit, weit davon entfernt ist, – ein „nationaler“ zu sein. Das Wagner’sche Kunstwerk ist eine großartige Erscheinung, welche aus der Nation hervorgegangen ist wie ein Meteor. Ob sie aber in die Nation, diese national durchdringend, getragen wird, muß ich bezweifeln. Der Enthusiast sagt guten Glaubens: Ja. Der Culturhistoriker und – der Physiologe werden Nein sagen.

Ich persönlich und die meisten Wagnerianer können zwar die Behauptung nicht unterschreiben, daß Wagner „den Schwerpunkt in’s Orchester verlegt“. Aber wer mit der Theorie nicht vollständig vertraut ist, wird allerdings ein Recht zu dieser Behauptung haben, und in der That, die Instrumentation wird selbst von den Anhängern Wagner’s in ihren Schriften und Reden unwillkürlich am meisten betont. Von einzelnen kleinen Phantasiescherzen, wie der singende Drache, schweigt man lieber, oder sagt ganz ehrlich und gerade hinaus: Solche Kurz- und Spielwaaren-Buhmänner sind dem modernen Schönheitsgefühl nicht sympathisch. Wir „graueln“ uns bei ihrem Anblicke doch nicht, die wir uns kaum bei Delmonico’s fünf lebendigen Löwen im Circus „graueln“, und wir müssen in der That verstummen, wenn uns die Antiwagnerianer fragen: „Warum singen die Bäume, die Stühle und die Tischfüße nicht auch?“

Habe ich mich in meinen Tagebuchaufzeichnungen dem Zauber und den Eindrücken des Augenblicks willig überlassen, so darf ich in diesen Schlußworten dem deutschen Volke nicht die Zumuthung stellen, dieser großartigen Erscheinung bereits die nationale Bürgerkrone zu geben, denn wir stehen bis jetzt noch sehr vereinzelt da, und die Geschichte macht keine Riesensprünge. Es wird diese Erscheinung in Bayreuth ihr Gutes und Segensreiches in der Praxis haben. Sie wird dazu beitragen, die Trivialität aus der Oper immer mehr zu verbannen, ob sie aber Aussicht hat, das recitirende Drama zu verdrängen, das muß – ganz bescheiden ausgedrückt – abgewartet werden.

Und nun – Hand auf’s Herz! – hatten wir Alle in Bayreuth die nothwendige Sammlung, Muße und Stimmung, um wirklich zu prüfen? – Nein. Die ganze Erscheinung war eine zu exotische dazu. Wie sie mich und tausend Andere berauschte, machte sie Manche verbissen, und ich komme immer wieder darauf zurück: vor der Hand haben wir es mit einer kunstgeschichtlichen Erscheinung zu thun.

Eine solche sind auch die berühmten, alle zehn Jahre sich wiederholenden Oberammergauer Passionsspiele. In ähnlichem Sinne kann auch der „Ring der Nibelungen“ sich einbürgern und wird es, wenn ihm das nöthige Mäcenatenthum und die opferfreudigen mitwirkenden Kräfte, welche in Bayreuth sich eingefunden hatten, nicht fehlen.

In den Annalen der Kunstgeschichte werden die Tage von Bayreuth einen hervoragenden Platz finden. Der reale Erfolg für die Zukunft wird abzuwarten sein.
W. Marr.




Den Alamannen und Schwaben.
Abschied vom Bodensee.


Mit deinen dunkelgrünen Tannen an deiner stolzen Berge Fuß,
Du schönes Land der Alamannen: nimm meinen Dank und Scheidegruß!

Seit hier, in vorzeitgrauen Tagen, besiegt, der Römeradler sank,
Der Kaiserwall, vom Beil zerschlagen, der Schlacht-Cohorten Herzblut trank,

Seitdem, bald in der Speere Toben, bald in der Kunst, des Wissens Glanz,
Welch’ reiche Blüthen habt gewoben ihr Schwaben in den deutschen Kranz! –

Von hier aus stieg den Staufen-Kaisern ihr Stern bis nach Jerusalem,
Die dicht bekränzt mit Lorbeerreisern sich Harfe, Schwert und Diadem.

Von hier schritt Er, dem sich im Sange Ein Ebenbürt’ger nur gesellt,
Mit des Kothurnschritts Siegesgange von hier schritt Schiller durch die Welt.

Der Schwaben Geist mit muth’gem Segel, er sucht der Forschung letzten Rand:
Viel kühne Weisheit trugen Hegel und Schelling durch das deutsche Land.

Und sieh’, aus diesen Rebgeländen, so friedlich hold, entstammte sie,
Die standhaft starb, das Schwert in Händen, die Heldenschaar von Champigny.

Gedeihe fort, du Land der Schwaben, mit Wald und Seesfluth, Korn und Wein,
Mit deinen trotzgemuthen Knaben und blondgezöpften Mägdelein!

Und droht auf’s Neu’ der Feind dem Reiche, dann schlägt, im Vorstreit ruhmbewährt,
Dann schlägt die alten Schwabenstreiche – werth Meister Uhland’s – euer Schwert!

     Friedrichshafen, 22. August 1876.
Felix Dahn.     




Die steinerne Chronik an der Saale.


Kaum dürfte es eine zweite Stadt in Thüringen geben, die sich neben der Anmuth ihrer Lage in höherem Grade einer historischen Vergangenheit zu rühmen hätte, als die alte Kreis-, Münz- und Bergstadt Saalfeld im Herzogthume Sachsen-Meiningen. Umweht es uns doch inmitten ihrer Mauern wie beim Durchblättern eines alten Stammbuches, wenn verblaßte Schriftzüge die Erinnerung an längst heimgegangene Gestalten wecken, denn überall auf Straßen und Plätzen begegnen wir Zeugen vergangener Zeiten und Geschlechter, die eine gar seltsam ergreifende Sprache in das alltägliche Treiben der Gegenwart hinein reden.

Nicht immer trug Saalfeld den bescheidenen Charakter von heute; zu verschiedenen Malen hat es vielmehr Anlauf zur dauernden Kaiser- und Königsstadt, zur Pfalzgrafen- und Herzogsresidenz, zum Universitätssitz, selbst zu einer Bischofsmetropole genommen, aber zufolge unzureichender Bedingungen ist es stets wieder zu dem zurückgesunken, als was es heute erscheint: Saalfeld ist eine industrielle Provinzialstadt inmitten einer malerischen Umgebung.

Doch jene Zeiten, wo kaiserliche Hofhaltungen hier ihre strahlende Pracht entfalteten und die Stadt zur Metropole für Kunst und Wissenschaft machten, wo in Klöstern, Stiften und Abteien das Mönchthum blühte, oder wilder Kriegslärm in und vor den Mauern tobte, sie alle sind nicht vorübergegangen, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen, und wenn dereinst Dr. Luther beim Anblick der rings von Grün umgebenen Stadt mit ihren rothen Ziegeldächern in den bekannten, ebenso heitern wie treffenden Vergleich ausbrach: „da liegt Saalfeld wie ein gesottener Krebs in Petersilienbrühe,“ so können wir dagegen das Saalfeld von heute mit Fug und Recht einer lebenden Chronik vergleichen, in welcher die Weltgeschichte ihre Spuren mit manchen lesbaren Lettern verzeichnet hat.

[623]

Saalfeld und Umgebung.
Originalaufnahme von A. Schröder.

[624] Da mahnen uns die bis auf den heutigen Tag als „Pfahlhäuser“ bezeichneten Häuschen Alt-Saalfelds an jene alten Germanischen Volksstämme, denen Saalfeld seine Begründung verdankt und die, von dem damaligen Nahrungsreichthum der Gegend angezogen, sich ursprünglich hier, am rechten Saalufer angebaut hatten, bis öftere Ueberschwemmungen zur Uebersiedelung nach dem jenseitigen hochgelegenen Ufer nöthigten. Auch an die Ausübung des alten heidnischen Cultus werden wir erinnert, denn die blutigen Thier- und Menschenopfer wurden im Schatten eines Eichenhaines den Göttern dargebracht, bis der englische Missionär Lullus, ein Nachfolger des Bonifacius auf dem erzbischöflichen Stuhle zu Mainz, jene heiligen Bäume fällen ließ und den gesäuberten Platz „grüner (das ist: entsündigter) Hain“ nannte, welchen Namen – dem größten Theil der jetzigen Einwohnerschaft Saalfelds wohl kaum mehr verständlich – die am Fuße des Peterbergs so romantisch gelegenen Fischerhäuschen heute noch führen. Der Paterberg[WS 2] selbst aber gewährt einen der prächtigsten Aussichtspunkte der Stadt im Vereinsgarten, in welchem alljährlich während der guten Jahreszeit Tausende froher Menschen geselligen Vergnügens pflegen; wie wenige derselben mögen aber eine Ahnung davon haben, daß dies zugleich der Boden ist, von dem aus die ersten Strahlen des Christenthums die Glaubensnacht der heidnischen Saalthalbewohner erhellten, indem vormals hier eine Missionsanstalt stand, deren glaubensmuthige, opferfreudige Missionäre nicht ohne Mühsal und Gefahr das Kreuz Christi an der Stelle heiliger Eichen aufrichteten. Bald entstanden hier zahlreiche Klöster, Abteien und Stifte, und das Ordenswesen feierte eine ansehnliche Blüthezeit, bis der kühne Wittenberger Mönch ihr ein Ende bereitete.

Eine Sehenswürdigkeit Saalfelds ist auch seine Stadt- und Pfarrkirche – die alte Sanct Johanniskirche, der schönste rein gothische Bau des ganzen Landes. Der Fuß des großen Reformators hat sie im Jahre 1530 für alle Zeiten geweiht. Nicht minder beredte Zeugen von dem Siege des Lichts über die Finsterniß sind die theils zu Staats- und Privatzwecken umgewandelten, theils nur noch in Ueberresten vorhandenen Klöster und Capellen. Auch das freundliche Residenzschloß, in welchem der regierende Herzog des Landes bisweilen einen kurzen Sommeraufenthalt zu nehmen pflegt, ist auf dem Fundamente einer ehemals gefürsteten, dann aber im Bauernkriege zerstörten Benedictiner-Abtei erbaut, und einige im Schloßgarten ausgestellte alte Grabsteine der Aebte des Klosters erinnern heute noch an die vormalige Heiligkeit des Terrains. Jenen gefürchteten Bauern des Thüringerwaldes sammt ihren fanatischen Anführern fiel auch die als Wallfahrtsort einst hochberühmte Sanct Gehülfencapelle zum Opfer, deren dachlose, aber sonst wohlerhaltene Vorderwand mit einem Sanct Salvator-Kreuzigungsrelief heute noch auf der schönen steinernen Saalbrücke steht.

Als im Bauernkriege die klösterstürmenden Horden auch hier wütheten, verschonten sie ein am oberen Ende der Brüdergasse gelegenes Franziskaner- oder Barfüßerkloster, welches seit Aufhebung des Ordens Schulzwecken dient. In ihren Hallen fand 1578 die neue ernestinische Universität, welche in Jena der Pest gewichen war, eine Stätte. Da aber die damals nur zweihundert Studenten sich mit den achthundert Bergleuten Saalfelds nicht vertragen konnten, so kehrte die ganze Anstalt schon im folgenden Jahre nach Jena zurück. Die zum Kloster gehörige, sagenumsponnene Kirche, mit ihren achtzig Fuß hohen Mauern und spitzem Giebeldache alle übrigen Gebäude der Stadt stolz überragend, hat äußerlich ihre Würde zu wahren gewußt, im Innern jedoch zeigt sie sich dergestalt profanirt, daß selbst ein guter Protestant sich eines mitleidigen Bedauerns nicht zu erwehren vermag. Zwar ist der Lärm verstummt, der sonst in den zum Betriebe einer Münze eingerichteten Kreuzgängen und Seitencapellen zu herrschen pflegte, dafür aber müssen heutzutage die am Plafond der Decke schwebenden Engelsgestalten geduldig zusehen, wie in den geweihten Räumen anstatt der allerseligsten Jungfrau und ihren Heiligen dem Cultus des Gambrinus gehuldigt wird, indem handfeste Mälzer und Brauknechte die goldenen Gerstenkörner zum Gebräu jenes edeln Trankes zurichten, in dessen Genusse der Saalfelder schwelgt, wie der Rheinländer im Safte seiner Reben. Doch die alten Mönche rächen die Schmach ihres Klosters, denn ihre abgeschiedenen Geister hüten mit Argusangen die massiv silberne Orgel, welche die fliehenden Klosterbrüder in den Tiefen der Kirche so sicher vergruben, daß sie bis heute noch nicht wieder gefunden worden ist.

Aber nicht allein fatanisirte Bauern waren es, die Saalfeld mit Feuer und Schwert überzogen, die alten Mauern und Thorthürme, mit denen Heinrich der Finkler schützend die Stadt umgab, wüßten, könnten sie reden, haarsträubende Dinge von jener furchtbaren Ländergeißel, den wilden Hunnen, zu erzählen, und über acht und ein halbes Jahrhundert später von jener unglücklichen Schlacht am 10. October 1806, in welcher der tapfere Preußenprinz Louis Ferdinand den Heldentod erlitt; so hat Saalfeld auch in der Kriegsgeschichte sein Blatt erhalten.

In tiefem Frieden ruht heute die oft und schwer heimgesuchte Stadt. Handel und Gewerbe blühen, und statt der verstummten Klosterglocken, die sonst zu jeder Tageszeit ihre Stimme erschallen ließen, vernehmen wir die schrillenden Arbeitersignale der zahlreichen Fabriken, die einem großen Theil der Bevölkerung Arbeit und Brod geben.

Zwischen diesen modernen langgestreckten Gebäuden mit ihren hohen rothen Dampfschlöten heben sich im Süden der Stadt die vom Alter schwarzbraun gefärbten Ruinen der Sorbenburg doppelt interessant ab, gleich einer verwitterten ehrwürdigen Greisengestalt inmitten einer jugendlichen Generation. Die Zeit ihrer Erbauung wie der Name ihres Gründers hüllen sich in undurchdringliches Dunkel; dagegen berichtet die Sage, slavische Priester hätten eine mit einer Klingel versehene Taube ausgesandt, um durch ihre Niederlassung den Platz zur Erbauung einer Burg zu bezeichnen. Ein Eichbaum war es, den sie sich zur Rast ersah, und als man diesen fällte, flog aus dem hohlen Stamme ein Bienenschwarm, welcher der Burg ihren Namen „Hoher Schwarm“ verliehen haben soll.

Zum Range eines Reichspalatiums erhoben, war die Sorbenburg mit ihren nahen wildreichen Wäldern einst der Lieblingsaufenthalt Heinrich’s des Finklers, sowie auch Otto der Große und nach ihm Otto der Zweite und der Dritte, mit Vorliebe hier residirten. Eigentliche geschichtliche Bedeutung aber erhielt sie erst durch die nach dem Tode Ludwig’s des Deutschen von dessen Söhnen hier vollzogene Theilung des deutschen Reiches. Ausgebrannt und im Laufe der Zeit zu einem Aufenthalte für Wegelagerer herabgesunken, ist die Burg nebst vielen anderen Thüringer Raubnestern auf Befehl Rudolph’s von Habsburg im Jahre 1290 zerstört worden. Wenn auch vielleicht wieder aufgebaut, war doch die Glanzzeit der Burg vorbei. Nirgends ist heute eine Spur von der einst hier herrschenden Kaiserpracht zu erkennen. Moosbedeckte Trümmerhaufen liegen auf den grausigen Verließen, in denen einst der gefangene Feind schmachtete und die Todesseufzer jener Unglücklichen ungehört verhallten, deren eingemauerte Skelete man aufgefunden hat. Verschüttet sind auch die von der Burg auslaufenden unterirdischen Gänge und vermauert die großen Kellergewölbe sammt alle dem, was sie an Interessanten und Grauenvollem bargen.

Bei Weitem besser erhalten sind zwei andere, allerdings auch jüngere Bauten: der Kitzerstein und das Rathhaus am Hauptmarkte. Der Kitzerstein ist eine kleine mittelalterliche Burg, die sich mit ihrem seltsamen Giebelschmucke in den dicht vorüberziehenden Fluthen der Saale spiegelt. Wohl hat auch sie den Wechsel der Zeit und der Geschicke erfahren, denn ursprünglich zur Beherbergung vornehmer Gäste erbaut, für welche die Sorbenburg bei Gelegenheit reichsherrlicher Hoflager nicht Raum genug bot, diente sie später als Nonnenkloster, bis sie nach mancherlei Schicksalswechseln zuletzt in bürgerlichen Privatbesitz überging. Blicken wir von hier aus auf die Stadt mit ihren grauen Thürmen, von deren nördlichem Endpunkte das hochgelegene, mit gerechtem Stolze seiner Begründung durch Karl den Großen sich rühmende Stift Graba zu uns herüber schaut, so sehen wir zugleich das lieblichste in weitem Bogen von Thüringens Waldbergen umrahmte Landschaftsgemälde. Und die ganze blühende Flur, wie ist sie so still und feierlich, und doch so erinnerungsbelebt, daß man wähnt, die hünenhaften Gestalten jener alten Völkerschaften daherschreiten zu sehen, die dort, dem Dorfe Köditz gegenüber an Rainen[WS 3] und unter Feldsteinen schon länger als ein Jahrtausend den ewigen Schlummer schlafen.

Zum frischen Leben der Gegenwart kehren wir in die Stadt zurück und erfreuen uns am spätgothischen Baudenkmale des Rathhauses. Es wurde im Jahre 1537 vollendet und [625]

gewährt äußerlich mit seinen Erkern, Giebeln, Thürmchen und dem stattlichen Treppenthurm ein ebenso freundliches Bild, wie seine inneren Räume von der großartigen Anlage und Festigkeit der damaligen Baukunst Zeugniß ablegen. – Wollen wir schließlich das Saalfeld der Zukunft vorahnend im Geiste sehen, so gehen wir über die alte Saalbrücke zum neuen Bahnhof hinaus. Hier pulsiren die Adern des modernen Lebens. Schon münden hier zwei Eisenbahnen, die Saalfeld durch das Saalthal und über Gera mit dem großen Weltverkehr verbinden, und nur kurze Zeit wird vergehen, so dehnen diese Eisenstränge sich nach Hof und Coburg im Süden, nach Arnstadt und Erfurt im Norden aus. Schon jetzt, und später erst recht, werden unsere Leser uns verzeihen, daß wir sie mit Bild und Wort schon wieder hinein nach Thüringen geführt haben.
E. Greiner.




Erinnerungen aus dem akademischen Leben.
Nr. 1. Im Frack.


In der alten Musenstadt Tübingen, an dem freundlichen Neckarstrome, war in den zwanziger Jahren, in Folge der bekannten Karlsbader Beschlüsse, die frühere akademische Freiheit aufgehoben worden und an deren Stelle ein strenges Polizeiregiment getreten. Die oberste Gewalt lag in den Händen eines Mannes, der die Oberaufsicht über die ganze Universität mit einer pedantischen Strenge handhabte, die wohl weit über die Absichten der Regierung hinausging. Nicht nur die Studirenden, sondern auch die Lehrer selber ertrugen diesen brutalen Gewaltherrscher nur mit Widerwillen.

Insbesondere wandte sich die väterliche Fürsorge des Schreckensregimentes der Hebung des sehr mangelhaften Collegienbesuches zu und fand die Ursache hiervon in jener schon von den Vätern ererbten Sitte des „Frühmesselns“. Es wurde daher streng verboten, Vormittags eine Kneipe zu besuchen. Das war eine wohlgemeinte Maßregel, aber zugleich ein empfindlicher Schlag für die jugendlichen Gemüther, und gar manchem „alten Hause“, das mit Ehren beim Frühschoppen bemoost und grau geworden war, fiel es sehr schwer, die Frühmesse einzustecken.

So sehen wir denn den Rechtscandidaten Kohlmops in einer kleinen, tief im Herzen der „Gogerei“ versteckten Weinkneipe, hinter einem Schoppen Heurigen und in intimster Beschäftigung mit einem Schweineknöchle begriffen, schon um die zehnte Vormittagsstunde. In der Gogerei aber, dem von Weingärtnern und anderen Handwerksphilistern bewohnten Stadttheile Tübingens, behauptete die Wirthschaft des Metzgers Spath einen gewissen Rang durch die Feinheit oder wenigstens Reinheit des Tranks, sowie durch die urwüchsige Grobheit und den derben Humor des Schweine metzelnden Gastwirths. Zu ihm, dem riesigen Spender des angenehm säuerlichen Frühtrunks und des Schweinernen, welchen beiden Elementen in ihrer Verbindung unfehlbare mageneinrichtende Wirkungen zugeschrieben wurden, hatte sich Kohlmops in ziemlich düsterer, steifbroschirter Stimmung begeben, um den unangenehmen Folgen des gestrigen Trinkgelages mit Energie zu begegnen.

Schon war die anfänglich trübe Weltanschauung desselben durch das Zusammenwirken magenstützenden Vespers und Heiterkeit weckenden Frühtrunks lichter und freundlicher geworden. Bereits brach sich durch die Nebel, die das Hirn anfänglich noch belasteten, ein siegreicher Humor Bahn, der sich nicht ohne Glück an der herculischen Gestalt des weinschenkenden Schweinemetzgers versuchte. Da – im besten Zuge beginnender Heiterkeit – glitt ein Schatten schnell an dem Fenster der ebenerdig gelegenen Trinkstube vorüber: es war ein sogenannter „Hatschier“, mit langem Wurfstocke bewaffnet. Ein scharfer Blick musterte die leere Weinstube und blieb endlich schadenfroh aufleuchtend an der untersetzten Gestalt des ahnungslosen Candidaten hängen.

Der Schatten war vorüber. Kohlmops saß bereits am zweiten Schoppen. Da trat der Hatschier, der inzwischen seine Entdeckung auf dem Polizeiamte gemeldet hatte, unvermuthet zur Thür herein und überreichte unter hämischem Lachen eine Vorladung zu augenblicklichem Erscheinen vor dem königlichen Commissär. Wehmüthig trennte sich Kohlmops von seinem Schoppen. Langsam stieg er die Treppe zum Amtszimmer herauf. Endlich steht er vor dem Gestrengen; sein Herz schlägt lebhaft unter dem Sammetrocke, und ist er auch sonst beherzt und ein heiterer Bursche, so steht ihm doch sein Schicksal in reizloser, beunruhigender Gestalt vor der Seele.

„Herr Studiosus Kohlmops,“ beginnt die pathetische Stimme des Commissärs hinter einem Amtspulte hervor, „Sie sind angezeigt, das Verbot, betreffend den vormittäglichen Besuch von Schenk- und Gastkocalen, übertreten zu haben. Ist dem so?“

„Ja, Euer Gestrengen,“ erwiderte der Student.

„Treten Sie näher! So, nun gut! Aber was seh’ ich? Sie wagen es, in diesem mir so verhaßten Studentencostüme vor meine Augen zu treten, in diesem Sammetrocke, der ein Zeichen demagogischer Gesinnungen ist, hinter welchem eine leichtfertige Jugend Thron und Altar umstürzende Tendenzen birgt und nährt? Wissen Sie nicht, daß man vor mir nur im Fracke zu erscheinen hat?“

Schüchtern wagte Kohlmops die auf Wahrheit beruhende Einwendung, daß er derzeit noch keinen Frack im Vermögen habe. Aufbrausend über den auch in bescheidenen Tone vorgebrachten Einwand donnerte der Polizeigewaltige: „Nehmen Sie einen Frack, woher Sie wollen! Gehen Sie jetzt auf der Stelle und binnen einer halben Stunde haben Sie sich wieder vor mir einzufinden, aber, wohlverstanden! im Fracke, bei Carcer- und Hungerarrest. Wo Sie einen herbekommen, ist mir gleichgültig.“

Ein sehr ungnädiger Wink verabschiedete den verblüfften Musensohn. Niedergeschlagen verließ er die Kanzlei, da er sich sagen mußte: nun hab’ ich auch noch den Zorn des Tyrannen herausgefordert.

Aber nicht lange vermochte diese traurige Vorstellung seinen gesunden, heiteren Sinn zu beherrschen. Schon überlegte er in Gedanken, welcher von den Tanzkränzchen besuchenden Patentfüchsen ihm wohl mit dem ihm unnütz dünkenden Möbel eines Frackes, dieses urwelschen Bekleidungsstückes, aushelfen könne. Da kam ihm eine andere Idee. Ein schelmisches Lächeln zuckte um seinen Mund; sein bemoostes Haupt hob sich und mit elastischem Schritt eilte er dahin. Aber was ist das? „Der geht auf bösen Wegen,“ denkt mancher Vorübergehende, denn Kohlmops strebt unverkennbar auf die vor Kurzem unter so trüben Aussichten verlassene Weinkneipe zu. Hier angekommen, ergreift er mit beiden Händen den Meister Spath an der breiten Brust, und indem er an der Stelle, wo er das Herz des biederen Schweineschlächters vermuthet, einige Male ganz vernehmlich anpocht, ruft er: „Stephan, Du mußt mir helfen. Der Herr Polizeicommissarius können mich nur im Frack brauchen, und ich habe keinen. Fühle doch ein christliches Mitleid mit mir, der ich so manches Knöchle und so manches ‚Tröpfle‘ in Deiner muffigen Gogenwirthschaft zu mir genommen und – unglaublich, aber wahr! – stets baar bezahlt habe. Alte treue Seele, sei mein Freund und leih mir nur auf eine halbe Stunde – Deinen Hochzeitsfrack.“

Sinnend und bedächtig das monumentale Haupt mit dem brutalen und doch eigentlich heimlicherweise gutmüthigen Gesichtsausdruck wiegend, verglich Spath die kurze gedrungene Gestalt des vor ihm stehenden Studiosen mit seiner eigenen respectabeln Körperlänge; er wollte nicht recht daran, so sehr er sonst einen Spaß liebte. Aber ein Scherz mit der hohen Obrigkeit, das ging ihm doch etwas gegen den Mann, wie er sagte. Endlich aber ließ er sich doch erbitten, holte den Hochzeitsfrack aus der Kammer hervor und legte ihn dem Studenten an, dessen untersetzte Figur in dem vorweltlichen Frackungethüm nahezu verschwand. Er war nicht mehr modern nach Schnitt und Façon: denn schon des Schweinemetzgers Vater hatte ihn an seinem Ehrentag getragen. Es war noch eine ehrwürdige Reliquie aus der „guten“ alten Zeit, wo der Zunftzwang und die herrschende Kleiderordnung der guten Stadt Tübingen ihren ehrsamen Metzgermeistern als Fest- und Hochzeitskleid einen Frack [626] von rothem, sage rothem Tuche vorschrieben. Und so war denn auch Meister Spath’s Ehrengewand, in welchem er einst seine längst entschlafene „Theres“ geehlicht hatte und in welchem jetzt Kohlmops höchst befriedigt sich umschaute, ein Frack von der schönsten blutrothen Farbe.

Bald stand der Student mit festem Tritt und zuversichtlicher Haltung auf der Schwelle des Amtslocals vor den erstaunten Augen des Commissarius, den solche Frechheit fast mit Entsetzen erfüllte. War es denn möglich, ihm, dem mit den stärksten Vollmachten ausgerüsteten Vertreter einer königlichen Regierung, eine solche Unverschämtheit zu bieten? Mit einem Ruck, der das ganze Polizeistrafgesetz mit allen seinen Schrecken enthielt, stürzte er sich in wilder Wuth auf den Unglücklichen und rief ihm mit geiferndem Munde entgegen:

„Sie nichtswürdiges Subject unterstehen sich, in diesem Harlequins-Aufzug vor mir zu erscheinen und mich mit Ihrer Mummerei zu foppen? Wahrlich, das sollen Sie mir büßen! Amtsknecht vor!

Aber lächelnd, mit dem Bewußtsein der Unschuld auf seinem freundlichen Angesichte, beginnt Kohlmops:

„Halten zu Gnaden, wenn ich Dero Intention nicht ganz getroffen habe! Sie haben mir befohlen, im Frack zu erscheinen, gleichviel, woher er stamme. Dies hier ist der Hochzeitsfrack des Metzgers Spath in der Gogerei, der mir die Freundschaft erwiesen hat, mir denselben zum würdigen Erscheinen vor dem gestrengen Herrn Commissarius zu leihen. Ich habe nun Ihren Befehl wörtlich befolgt; deßwegen bitte ich, mich nicht unschuldig einer unverdienten Behandlung auszusetzen.“

Jetzt sah sich der Gewaltige in dem Netze seiner eigenen Worte gefangen, und sich selbst beherrschend, um sich keine weitere Blöße zu geben, fuhr er bedeutend sanftmüthiger fort: „Aber was fällt Ihnen ein, sich in einem rothen Frack zu präsentiren? Das ist ja schauerlich despectirlich.“

„Bitte sehr um Entschuldigung! Die Frage in Betreff der Farbe des Fracks, in welchem ich erscheinen sollte, ließen Sie bei unserer erstmaligen Unterredung ganz bei Seite. Es stand mir also frei, mich auch der rothen Farbe zu bedienen, und überdies –“

Doch hier unterbrach der sonst so gewaltthätige Beamte den beginnenden Redefluß des Studiosen mit der kurzen Bemerkung: „Die Formfrage wäre hiermit erledigt, aber ich warne Sie vor ähnlichen Streichen. Da Sie Ihre Gesetzesübertretung, betreffend den Besuch einer Weinwirthschaft vor zwölf Uhr, zugegeben haben, so haben Sie hierfür sofort zwei Thaler Strafe zu erlegen.“

Da kratzte sich Kohlmops verlegen hinter den Ohren und sprach: „Meine Börse steckt leider in meinem Sammetrocke; ich habe vergessen, dieselbe in diesen Frack zu schieben; hätten Sie mich in meinem eigenen Gewande annehmen wollen, so müßte ich jetzt nicht zum dritten Male den Herrn Polizeicommissarius belästigen, indem ich mich schleunigst heimbegeben und mich mit Geld versehen will.“

Schon hatte er die Thür geschlossen, als er sie schnell noch einmal öffnete und hereinrief: „Muß ich nun wieder in dem rothen Fracke erscheinen, oder darf ich im Sammetrocke kommen?“

Das war dem Manne denn doch zu viel. „Scheren Sie sich in des Henkers Namen fort! Ich will Sie nimmer sehen, weder im Fracke noch im Sammetrocke, Sie –“

Doch Kohlmops zog im Triumphe der verlassenen Kneipe zu. Es war die Mittagsstunde gekommen, wo Schulen und Hörsäle sich leeren. Da war’s denn ein Gaudium, die abenteuerliche Gestalt des Studenten in dem ungeheuren rothen Fracke zu sehen. Unter Hurrah und Jubelruf nahmen seine Freunde ihn in die Mitte, und eine Schaar fröhlicher Jungen, denen er mit fliegenden Worten seine Schicksale mitgetheilt hatte, wälzte sich durch die engen Gassen der Gogerei auf das Haus Spath’s zu, der heute zu Ehren des Abenteuers und seines Hochzeitfrackes noch ein Fäßlein Remsthaler anstach und lustig seine Gäste bediente. Manches Pereat ward der verhaßten Polizeiwirthschaft gebracht, manches kräftige Lied in tyrannos intonirt; manche kräftige Lache erschütterte die niedrigen Räume der Weinstube. Aber auch mancher Schoppen ward geleert, und Scherz und Fröhlichkeit herrschten den ganzen Abend, bis endlich mitten unter den singenden, lärmenden Cameraden Einer sein schweres Haupt auf die Tischplatte sinken ließ, der zuvor der lauteste Sänger und der animirteste Trinker im Kreise gewesen war: es war Kohlmops – im rothen Fracke.
H. K.




Blätter und Blüthen.


Eine Heiligen-Erscheinung zur ebenen Erde. An die Erscheinungen der Madonna auf Obstbäumen, wie sie bekanntlich während der letzten Jahre im neuen Reichslande häufig vorgekommen sein sollen, erinnert mich, wahrscheinlich sehr sündhafter Weise, eine „Erscheinung“, die ich selbst ganz vor Kurzem im botanischen Garten von Schöneberg bei Berlin gehabt habe. Während ich im hellen Nachmittagssonnenschein zwischen zwei und drei Uhr an dem großen Rasenplatze vor dem Palmenhause vorüberwandele, sehe ich plötzlich meinen unwürdigen Schatten mit einem so wundervollen Heiligenscheine um den Kopf, daß ihn die Schwärzesten unter den Schwarzen darum hätten beneiden können. Und zwar spazierte Seine Heiligkeit, mein Schatten, auf einer Baumkrone ebenso gut, wie die elsässer und lothringer Madonnen umher, und sowie ich ihn nöthigte, von derselben herunter zu kommen, verschwand auch der Nimbus völlig. „Die Nachmittagssonne, welche den Schatten eines Menschen vom ebenen Gartenwege auf eine Baumkrone zaubert, möchte ich kennen lernen,“ sagt Sanct Thomas, der Unverbesserliche, aber ich kann ihm versichern, daß ich selber meinen Augen nicht traute. „Theils dieserhalb, theils außerdem,“ wie Wilhelm Busch so schön sagt. Schon die Baumkrone selber, auf welcher die Erscheinung zu sehen war, ist ein wahres Wunder; sie gehört nämlich dem niedergestreckten Wachholder (Juniperus prostrata) an und liegt wie ein silbern durchstickter, zwei bis drei Quadratmeter großer, hellgrüner Plüschteppich flach im Rasen, wobei die feinen Nadeln des ausgebreiteten Astwerks die starken, platt an dem Boden anliegenden Hauptäste vollkommen mit ihrem Pelzwerke verhüllen.

Ich habe den Lesern der „Gartenlaube“ früher einmal erzählt (Jahrgang 1873), daß dergleichen Erscheinungen auf thaubedecktem Rasen bei Morgen- oder Abendsonnenschein, wenn die Schatten riesenlang dahin schießen, wahrgenommen werden, aber hier waren die kleinen Nadeln völlig trocken, die Sonne hoch am Himmel, und der lichtumflossene Schatten lag dicht vor mir. Da die merkwürdige Erscheinung meines Wissens noch niemals unter diesen abweichenden Umständen beobachtet, respective beschrieben worden ist, so bin ich, gerade wie die guten Leute von Marpingen, im Juli mehrere Male mit naturkundigen Freunden nach dem Wunderbaume im Schönberger botanischen Garten hinausgewallfahrtet und sehr erbaut von der jedesmal wiedergekehrten Erscheinung zurückgekehrt. Die schimmernden Nadeln dieses rasenbildenden Wachholders wirken also ganz ähnlich wie die Thautröpfchen, indem sie die im Umfange des Kopfes darauf fallenden Strahlen am vollkommensten in das Auge des Beobachters zurückwerfen. Weder Lebensbäume noch andere Wachholderarten, die ich darauf ansah, boten einen ähnlichen Effect. Besonders auffallend wurde, wegen der Kürze des Schattens, die leicht erklärliche Eigenthümlichkeit, daß von mehreren Personen Jeder nur um seines eigenen theuren Hauptes Schatten den Silberglanz wahrnimmt, während die Schatten der Begleiter scheinlos umherspazieren müssen, eine Beobachtung, die wohl schon manchen Heiligen, wie ich früher von Benvenuto Cellini erzählt habe, zu dem Glauben verführt haben mag, er allein gehöre zu den Auserwählten, aus deren Schatten sogar Licht hervorsprüht.
C. St.

„Ein riesiger Wohlthäter“ ist in Nr. 5 der „Gartenlaube“ der blaue Gummibaum genannt worden, und es sind ihm außerdem wegen seiner Größe und anderer schätzenswerthen Eigenschaften Ehrenbezeichnungen, wie „lebendige Pestscheuche“, „Desinfection in Person“, „Vertreiber aller schlechten Dünste“ etc. zu Theil geworden. Leider reicht sein Gedeihen nicht weiter, als bis an die Nordküsten des mittelländischen Meeres. Italien könnte seine sumpfigen und ungesunden Lagunengegenden noch damit verbessern. In unserem Klima kann er die Winterkälte im Freien nicht überdauern. Da er aber an einem frostfreien Ort – im Gewächshaus, Zimmer oder Keller – leicht überwintert und für die guten Jahreszeiten eine Zierde jedes Gartens werden kann, so hat der Kunstgärtner Karl Gustav Deegen in dem durch seine großartige Blumenzucht berühmten Köstritz die Anzucht dieses Eucalyptus im Großen übernommen. Bei seinen Culturversuchen hat er die Erfahrung gemacht, daß dieser Gummibaum im Sommer im freien Lande sich sehr gut entwickelt und im Herbst ohne Schaden zum Ueberwintern in ein Gefäß – Topf, Kübel oder Korb – gebracht werden kann.

Da sehr viele Pflanzenliebhaber und Gärtnereien dieses umständlichere Verfahren bei andern weniger interessanten Pflanzen einschlagen müssen, so dürfte es gewiß auch kein Hinderniß sein, den hochinteressanten, nützlichen Eucalyptus, der überdies hübsch aussieht und einen angenehmen Geruch verbreitet, in unsere Gärten einzuführen. Es ist natürlich, daß er unter [WS 4] solchen Culturverhältnissen langsamer wächst und nicht zu große Dimensionen annimmt, und vortheilhaft ist es der Ueberwinterungsräume und des Transportes wegen, daß der Baum im Schnitt gehalten werden kann.




Kleiner Briefkasten.

Ch. D. in L. Soweit die Kürze der Zeit es zuläßt, werden wir Ihren Wunsch erfüllen und den monumentalen Schmuck des Augustusplatzes beim Kaiserempfang in unserer nächsten Nummer zur Darstellung bringen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Diese Notiz (in Nr. 31) bestritt die nationale Bedeutung des Bayreuther Unternehmens, ein Protest, den wir auch heute noch aufrecht erhalten müssen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. vergl. dazu Erklärung
  2. Berichtigung, Vorlage: Peterberg
  3. Berichtigung, Vorlage: Ruinen
  4. Vorlage: unser