Die Gartenlaube (1878)/Heft 40
In dem Zimmer der Baronin Derenberg prasselt ein Holzfeuer im hohen Kamine und verleiht dem Gemach mit den alten geschweiften Meubeln etwas Trauliches, Anheimelndes. In einer der tiefen Fensternischen sitzt ein junges Mädchen von kaum vierzehn Jahren und schaut in das verglimmende Abendroth des kurzen Wintertages; ihr feines Profil zeichnet sich scharf ab gegen den hellen Hintergrund des Fensters. Sie hat die schmalen Hände in einander gefaltet, und ihre Gedanken wandern offenbar in die Ferne.
„Mama,“ sagte sie dann plötzlich und wendet den Kopf mit der blonden Lockenfülle der zarten, blassen Frau zu, die in einem Sessel am Kamine sitzt und strickt. „Mama, Army bleibt wieder unverantwortlich lange in Großmama’s Zimmer; wir werden nicht dazu kommen, in die Mühle zu gehen, und es ist doch schon die höchste Zeit; Army hat nur acht Tage Urlaub, und vier sind schon verstrichen. Heute hatte er mir’s ganz bestimmt versprochen, mitzukommen, – was soll nur Lieschen denken, daß er noch nicht einmal drunten war?“
Das junge Mädchen war bei diesen Worten aufgestanden und hatte sich der Mutter genähert; ein Zug von Unmuth und Ungeduld lag auf dem kindlichen Gesichte.
„Hab’ nur Geduld, Nelly!“ erwiderte die Mutter, und streichelte die blühende Wange der Tochter. „Du weißt, wenn Großmama es wünscht, muß Army bleiben so lange sie will. Großmama wird ihm Mancherlei zu sagen haben. Uebe Dich in Geduld, mein Liebling! Sie ist so nöthig für das Leben. – Zünde die Lampe an! Du weißt, es ist noch Verschiedenes an Army’s Wäsche fertig zu machen.“
Die schlanke Mädchengestalt, mit den noch kindlichen Formen, glitt beinahe geräuschlos über den getäfelten Fußboden, und bald beleuchtete die Lampe das Zimmer, das nun doppelt traulich erschien in seiner altmodischen und doch so behaglichen Einrichtung. Auch die Baronin erhob sich und nahm Platz an dem großen runden Tisch. Jetzt fiel der Schein der Lampe auf ein blasses anziehendes Gesicht, dem wohl der Kummer die vielen schmerzlichen Linien eingegraben hatte.
Das Töchterchen ihr gegenüber trug ihre Züge; in diesem Augenblicke leuchteten die blauen Augensterne unter den langen Wimpern hell auf, denn draußen im Corridor ertönte ein fester elastischer Schritt. Gleich darauf öffnete sich die Thür des Zimmers – ein schmucker junger Officier trat ein. Auf seinem neunzehnjährigen Gesicht lag der sonnigste Lebensmuth der Jugend. Nelly eilte ihm entgegen.
„Army, wie schön, daß Du kommst! Nun können wir doch noch zur Mühle gehen,“ bat sie und schlang, sich auf den Zehen erhebend, schmeichelnd die Arme um seinen Hals; „ich hole nur schnell Kapuze und Mantel, denn lange dürfen wir nicht mehr säumen; in der Mühle wird pünktlich zu Abend gegessen.“
Sie wollte fröhlich davon eilen.
„Nelly!“ rief der junge Mann und hielt sie am Arme, „laß das jetzt! Es – paßt nicht mehr,“ setzte er zögernd hinzu.
„Es paßt nicht mehr?“ Das junge Mädchen sah fragend zu dem Bruder auf.
„Nein, Nelly, Du mußt vernünftig sein; als Kind darf man umgehen, mit wem man will, weil man eben Kind ist, als Officier aber geht das nun einmal nicht –“
„Nun, Lieschen darfst Du doch besuchen; Du bist doch sonst immer so gern mitgekommen.“
„Ei, Army!“ sagte die Baronin, „das ist nicht Dein Ernst; es sind ehrenwerthe Leute, die auf der Mühle, und haben es stets gut mit Dir gemeint; es würde undankbar sein –“
„Aber Mama, ich bitte Dich,“ erwiderte er, und seine dunklen Augen leuchteten unwillig auf. „Die Leute zählen zu den Ungebildeten. Denke Dir, wenn der Müller einmal nach B. reiste und hätte den unglücklichen Gedanken, mich aufzusuchen! Ich käme in die tollste Verlegenheit.“
„Es sind gar keine ungebildeten Leute,“ rief Nelly, „und das hat Dir nur Großmama gesagt, die Lumpenmüllers nun einmal nicht leiden kann.“
„Lumpenmüllers! Da haben wir’s!“ lachte der junge Officier. „Bleibe jeder in seinem Stande! Auch Du Nelly, wirst nicht immer dort verkehren können. Wenn das erste lange Kleid hinter Dir drein rauscht – dann Adieu Lumpenlieschen!“
„Nimmermehr!“ erwiderte außer sich das junge Mädchen, „ich würde Nachts zur Mühle laufen wenn man mir es am Tage verböte. Lieschen ist meine einzige Freundin. Was soll ich nur sagen, weshalb Du nicht kommst?“ Sie brach in Thränen aus.
„Es wird sich ja ein Grund finden lassen, Nelly – weine doch nicht!“ tröstete der Bruder. Seine Stimme klang weich, genau so wie früher, wenn er die Puppe der Schwester zerschlagen hatte und nicht wußte, womit er sie trösten sollte.
„O, nicht wahr, Army,“ bat sie nun und blickte hoffnungsreich zu ihm auf, „Du hast mich necken wollen – wir gehen zur Mühle, gelt?“
Er stand einen Augenblick regungslos da; vor seine Seele trat die wohlbekannte Gestalt eines kleinen Mädchens, wie er sie hundertmal früher gesehen, Lieschen, Lumpenmüllers Lieschen aus [650] der Papiermühle dort unten im Grunde; sie schaute ihn an mit den sonnigen blauen Kinderaugen; die rothen Lippen öffneten sich. „Army, kommst Du mit? Wir wollen zur Muhme gehen; sie soll uns Aepfel geben, und ein Vogelnest habe ich gesehen im Park; komm, Army, komm!“ Mechanisch machte er eine Bewegung, als wolle er die Mütze ergreifen, die auf dem Tische lag. Der Schein der Lampe traf einen funkelnden Ring an seiner Hand, in dessen goldgrünem Steine das Bärenwappen der Derenbergs blinkte; flüchtig streifte sein Blick dasselbe, und hastig ergriff er die Mütze und warf sie auf einen Nebentisch.
„Quäle mich nicht!“ sagte er kurz und wandte sich ab.
Eine lange Pause entstand; das junge Mädchen erhob sich und setzte sich auf ihren früheren Platz, das Köpfchen tief über die Arbeit beugend, aber die kleinen Finger, welche die Nadel führten, zitterten heftig, und aus den Augen fielen große Tropfen auf das weiße Zeug. Die Baronin seufzte und heftete ihre Blicke mit schmerzlichem Ausdruck auf den Sohn, der unaufhörlich im Zimmer hin und her ging. Die alte Rococo-Uhr schlug die sechste Stunde und begann ein längst vergessenes Liebeslied zu spielen; die feine zierliche Mel‘odie klang verhallend durch das Gemach, und noch immer lag das Schweigen des Unmuths auf den drei Menschen, die doch die zärtlichste Liebe verband.
„Army,“ nahm endlich die blasse Frau das Wort, „wann gab Dir die Großmama den Ring, den Du jetzt am Finger trägst?“
Er blieb vor dem Kamine stehen, und indem er das Schüreisen in die Gluth stieß, daß die Funken hoch aufsprühten, sagte er:
„Heute Nachmittag, vorhin, als ich in ihrem Zimmer war.“
„Weißt Du auch, daß es Deines Vaters Ring ist, Army?“
Der junge Mann wandte sich plötzlich um. „Nein, Mama, das hat mir Großmama nicht gesagt; sie sprach nur im Allgemeinen von der Bedeutung des Wappens und –“
„Nun, mein Kind, so sage ich es Dir,“ kam es von den Lippen der Baronin, und es schien, als zitterte ihre Stimme vor innerer Erregung. „Es ist der Ring, den Großmama einst von der kalten erstarrten Hand Deines Vaters zog, als er – gestorben war.“ Die letzten Worte klangen wie ein halb erstickter Schrei. Die Redende sank wie gebrochen in den Sessel zurück.
„Meine liebe, gute Mama!“ rief Army und war schnell neben ihr, während Nelly, sich über sie beugend, die Wange an ihr thränenüberströmtes Gesicht schmiegte.
„Weine nicht, liebe Mama!“ bat er, „ich will den Ring so hoch in Ehren halten, wie es nur ein Sohn vermag, der stolz ist auf das Andenken seines Vaters; ich will mich bemühen, ebenso gut, so edel zu werden, wie er es war.“
Es lag in diesen Worten, in den Blicken, mit welchen er zu der weinenden Mutter aufschaute, noch die ganze Ueberzeugung eines unverdorbenen kindlichen Herzens, die ganze volle Pietät, die in dem verstorbenen Vater den besten Menschen sieht. Aber die Wirkung seiner Worte war eine beinahe vernichtende. Die schmächtige Gestalt der Baronin richtete sich aus dem Sessel empor; sie blickte wie geistesabwesend auf den Sohn, und: „Army, allmächtiger Gott!“ rief sie in dem Tone der Verzweiflung. „O, nur das nicht, nur das nicht!“
„Mama ist krank,“ sagte der Sohn und eilte zum Klingelzuge. Aber ein schwaches „Komm zurück, Army! Es geht schon vorüber,“ rief ihn an ihre Seite; sie nahm dankbar ein Glas Wasser und sagte, indem sie zu lächeln versuchte:
„Ich habe Euch erschreckt, Ihr armen Kinder. – Die Erinnerung an den Tod Eures Vaters ist mir noch heute eine tieftraurige, aber jetzt, wo Army im Begriff steht, in das Leben zu treten, muß ich mit Euch von der Vergangenheit sprechen, was ich bis jetzt immer zu vermeiden suchte. Ihr habt Euch wohl schon im Stillen gewundert,“ fuhr sie nach kurzer Pause fort, „daß wir ein so einfaches, zurückgezognes Leben führen, ein Leben, das eigentlich jedes Aufwandes entbehrt. Ach, Army, nicht meinetwegen schmerzt es mich – nur Euretwegen. Ihr tretet ein in die drückendsten Verhälnisse, die man sich denken kann, heraufbeschworen durch den grenzenlosen Leichtsinn Eures –“
Sie hielt erschrocken inne und brach in bitterliches Weinen aus.
Army stand mit finster gefalteter Stirn am Kamin und sah herüber zu der weinenden Frau; der sonnige Ausdruck seines Gesichtes war wie hinweggeweht, und um seinen Mund lag ein Zug bitterer Enttäuschung.
„Als ich hier einzog an der Seite Eures Vaters, ein Kind von eben sechszehn Jahren,“ nahm die Baronin wieder das Wort, „da fand ich hier Glanz und heiteres Leben. Schloß Derenberg war wegen seiner Gastfreiheit berühmt seit langen Jahren, und Eure Großmama verstand es, ein Haus zu machen. Sie war damals noch wunderschön, fast ebenso berückend wie auf ihrem großen Bilde oben im Ahnensaal, und sie liebte Glanz und Pracht. Mir erwies sie sich so gut und lieb, daß ich wirklich meinte, eine zweite Mutter in ihr gefunden zu haben. Ach, jene kurze glänzende Zeit war die schönste meines Lebens, und als ich Dich an’s Herz drücken durfte, mein Army, und Dich, meine Nelly, da fehlte nichts zu meinem Glücke. – Dann aber kam das Schreckliche: der Tod Eures Vaters; plötzlich und jäh brach das Unglück über uns herein.“
Sie schauderte und preßte die zitternden Hände an die Schläfen, als müsse sie sich besinnen, ob das, was sie da erzählte, auch wirklich schon einer fernen Vergangenheit angehöre.
„Nach seinem Tode wurde mir in der Person des alten Justizrathes Hellwig ein Curator beigegeben. Es fand sich, daß unsere Verhältnisse mehr als ungeordnet waren; wohin auch das Auge sich wendete – Hypotheken, Pfandscheine, unbezahlte Rechnungen; es war ein Wirrwarr sonder Gleichen, in den Großmama und ich uns plötzlich versetzt sahen. Wie viel schlaflose Nächte, wie viel kummervolle Stunden sind seitdem vergangen, und doch ist bis heute trotz der Bemühungen des alten Hellwig noch nicht Licht in dem Chaos geworden.“
„Rege Dich nicht auf, liebe Mama!“ bat der junge Officier, „ich wußte ja längst, daß wir in beschränkten Verhältnissen leben, wenn ich auch nicht ahnen konnte, daß wir so arm sind, aber fasse Muth! Es kommen gewiß auch wieder andere, bessere Zeiten, und Großmama hat mir erst vorhin gesagt, daß die Sachen durchaus nicht so verzweifelt liegen, da wir jedenfalls noch eine reiche Erbschaft von Tante Stontheim zu erwarten haben.“
„Großmama glaubt allerdings an diese Erbschaft, aber –“
„Sie meint,“ unterbrach eifrig der junge Mann die Mutter, „daß ich mich, ehe ich zu meinem Regiment gehe, Tante Stontheim vorstellen soll.“
„Ich habe nichts dawider, mein Kind, und wünsche lebhaft, Großmama irre sich nicht, aber zu bedenken bleibt, daß die Derenbergs in Königsburg ebenso erbberechtigt sind wie wir; der Tochter des Obersten von Derenberg vom sechszehnten Regiment gebührt dasselbe Recht wie Dir und Nelly.“
In diesem Augenblicke öffnete Sanna, die alte Dienerin der Baronin, die hohen Flügel der Thür, und die alte Baronin Derenberg trat in’s Zimmer; eine noch immer stattliche, gebietende Erscheinung, hielt sie sich tadellos gerade, trotz ihrer begonnenen sechszig Jahren sie trug ihre einfache graue Wollrobe mit derselben Würde und Anmuth, mit der sie einst in schwerster Seidenschleppe durch das Zimmer geschritten war. Ihr volles, noch immer dunkles Haar, an den Schläfen leicht zurückgenommen, bedeckte ein Häubchen, unter dessen gelblich angehauchter Spitzenkante die mächtigen schwarzen Augen hervorflammten. Ueber ihrer ganzen Erscheinung lag ein echt aristokratischer Hauch, und aus den seinen Zügen sprach der Ausdruck eines durch nichts zu demüthigenden Stolzes. Wie alt sah die vergrämte kränkelnde Schwiegertochter aus neben dieser imposanten Frauengestalt!
Army eilte ihr entgegen; er nahm ihr ein großes Buch ab, das sie in der Hand hielt, und führte sie dann zum Kamine, wo Sanna bereits mehrere Sessel geordnet hatte. Die Enkelin war ebenfalls rasch aufgesprungen, und die blasse Frau trocknete verstohlen die letzten Thränen aus den Augen.
„Wovon war hier die Rede?“ fragte die alte Baronin, indem sie am Kamine Platz genommen und die Dienerin mit einer Handbewegung entließ. „Ich hörte etwas von ‚denselben Rechten wie Army und Nelly‘.“
„Wir sprachen von Tante Stontheim und der Erbschaftsangelegenheit,“ erwiderte ihr die Schwiegertochter, sich ebenfalls an den Kamin setzend, „und dabei gedachte ich auch der Königsburger Derenbergs und meinte, Blanka von Derenberg sei ebenso gut zu der Erbschaft berechtigt wie unsere Kinder.“
„Blanka? Welche Idee!“ rief die alte Dame achselzucked, das rothhaarige, scrophulöse Geschöpf? Die Stontheim hat – Gott sei Dank! – einen zu guten Geschmack, um solchen Mißgriff zu thun; übrigens hatte sie auch, so viel ich mich erinnere, einen sehr gerechtfertigten Widerwillen gegen diesen großthuerischen [651] Herrn Oberst und ebenso gegen seine hochblonde Frau Gemahlin, die er Gott weiß in welchem Winkel Englands oder Schottlands aufgelesen hat – sie ist ja wohl eine Miß Smith oder Newman? Nun, so etwas Obscures war es. Nein, Cornelie, das ist einmal wieder eine Deiner ganz grundlosen, hervorgesuchten Geschichten, mit denen Du Dich und Andere ängstigst.“
Es klang etwas Ironisches aus ihrer Rede, wie immer, wenn die stolze Frau das Wort an ihre Schwiegertochter richtete.
„Ich meinte nur,“ erwiderte diese sanft, „daß man durchaus nicht mit Bestimmtheit – –“ sie brach ab. „Das Leben bringt schon so viele Täuschungen mit sich, daß man wirklich –“
„Army wird es schon verstehen,“ fiel ihr die alte Dame gereizt in die Rede, „der alten grämlichen Tante das Herz so zu wenden, daß ihm das wahrhaft fürstliche Vermögen zufällt.“
„Wie meinst Du das, Großmama?“ ertönte plötzlich die klare Stimme des jungen Mannes. „Du verlangst doch hoffentlich nicht, daß ich – erbschleichen soll, wie man das so nennt? Ich werde ihr höflich begegnen, wie es einem Cavalier einer Dame gegenüber zukommt, aber das ist auch Alles – scherwenzeln kann ich nicht; was sie mir aus freien Stücken nicht geben will, mag sie behalten!“
Die Großmntter richtete sich erstaunt aus ihrer nachlässigen Stellung im Sessel auf, und ihre Augen sahen funkelnd vor Entrüstung über diese unumwundene Erklärung in die des Enkelsohnes. „Sollte man das von so einem jungen Grünschnabel für möglich halten?“ fragte sie mit einem Tone, in den sie sich bemühte, etwas Scherzhaftes zu legen, aber ihre Stimme bebte vor Aerger. „He, Army! Hast Du den Respect mit dem Cadettenrock ausgezogen und meinst, weil Du seit acht Tagen die Epaulettes trägst, Du könntest Deiner Großmutter gute Lehren geben und ihren guten Rath verschmähen? Du bist eben noch zu jung, um die Verhältnisse, in die Du jetzt eintreten wirst, richtig zu beurtheilen. Ist es Erbschleichen, wenn man das Herz einer alten einsamen Verwandten zu gewinnen sucht?“
„Ja, Großmama,“ sagte Army fest, und kein Zug veränderte sich in seinem hübschen Gesichte. „Ja, es ist Erbschleichen, sobald man mit dem Herzen eines Menschen auch sein Geld zu gewinnen sucht –“
„Das man äußerst nöthig hat, wenn man nicht zeitlebens am Hungertuche nagen und in einem Schloß ohne Herrschaft und Einkünfte darben will,“ fiel die alte Baronin zornig ein und rückte ein Stück mit ihrem Sessel zurück.
„Das gebe ich zu, Großmama, ich würde auch den schroffen Ausspruch nie gethan haben, wenn nicht noch eine Erbin da wäre; aber weil Blanka –“
„Schon wieder diese Blanka! Kennst Du sie überhaupt? Weißt Du, ob sie noch lebt, das kränkliche Geschöpf? Wie fatal es ist, diese Kinderweisheit, die stark nach der Confirmationsstunde schmeckt, auskramen zu hören! Ich wünsche dringend, Army, daß Du zur Stontheim reisest; ich dulde keinen Widerspruch; noch heute geht der Brief ab, der Dich anmeldet.“
„Gewiß, Großmama, ich werde reisen,“ sagte Army mit kalter Höflichkeit, „sobald Du es wünschest.“
Sie erhob sich; ihr stolzes Gesicht war von einer dunklen Röthe überflammt, und um den Mund lag ein eigenthümlich hartnäckiger Zug; nie war die Aehnlichkeit zwischen Großmutter und Enkel auffallender gewesen. Mit blitzenden Augen und fest auf einander gepreßten Lippen, in schroffer Haltung, so standen sie sich gegenüber, Keines dem Andern weichend.
„Du reisest morgen Nachmittag mit der Fünf-Uhr-Post,“ sagte die Alte kalt und bestimmt, und ohne die zustimmende Verbeugung des jungen Mannes abzuwarten, grüßte sie die bestürzte Schwiegertochter mit einer leisen Neigung des Kopfes und schritt hinaus.
Eine peinliche Stille herrschte, als sich die Flügeltüren hinter der hohen Gestalt der alten Baronin geschlossen hatten. Der es gewagt hatte, der stolzen Frau zu widersprechen, deren Wort Befehl für Alle im Hause war, er stand in so ruhiger Haltung am Kamin und schaute so gleichmütig in die Flammen, als sei nichts passirt. Nelly blickte den Bruder mit verwunderten Augen an; er war nicht mehr er selbst. Niemand sprach ein Wort. Nach einer Weile trat die alte Sanna in’s Zimmer; sie hielt einen Brief in der Hand und fragte:
„Haben die Frau Baronin aus dem Dorfe etwas mitzubringen? Der Heinrich muß zur Post; es schneit just so arg, und vielleicht wär’s mit Eins abzumachen.“
Die Baronin verneinte, und die Alte verschwand eilig. Army hatte sich indessen an den Tisch gesetzt und blätterte in dem Buche, das er vorhin aus den Händen der Großmutter genommen.
„Da finde ich etwas von unserer schönen Agnese Mechthilde droben im Ahnensaal,“ rief er freudig; „komm einmal her, Schwesterchen! Das ist interessant – höre nur!“
Das junge Mädchen trat zu ihm heran, bog sich über die Lehne seines Stuhles und sah mit neugierigen Augen auf das vergilbte und mit schwer zu entziffernder Schrift bedeckte Papier. Er las, mühsam buchstabirend:
„‚An dem 30. Novembris von Anno 1694 ist allhier zu Schloß Derenberg die Leiche der Hochgeborenen Frauen Agnese Mechthilde Baronin auf und zu Derenberg, Schüttenfeld und Braunsbach, so eine geborene Freiin Krobitz aus dem Hause Trauen gewesen, in dem hiesigen Erbbegräbniß solenniter begraben, und zwar alles nach ihrer eigenhändig bei Lebezeiten gemachten Verordnung. Und hat gestanden die hohe Leiche in dem Saal neben der Kapellen, und hat den Sarg gedecket erstlich ein groß weisses und über diesem ein schwarz sammetenes Leichentuch mit darauf von Silbern Toile genähetem Kreuz; obendrauf lag ein silbernes vergüldetes Crucifix, und waren auf jeder Seite acht kleinere, zu Häupten und Füssen aber größere und auf orange farben Atlas reichgestickte doppelte Wappen, so das der Derenbergs wie der Trauen, geheftet. Den Sarg trugen Die von Adel in die Kapellen, so in der Nachbarschaft seßhaft und gar oft hieselbst gebankettiret hatten. Zunächst dahinter gingen die sechs Söhne der Verstorbenen, sodann der Wittwer, so sehr betrübet war.‘“
„Das ist langweilig,“ unterbrach sich der junge Officier, „aber hier – höre weiter!“
„Und ist die Frauen Agnese Mechthilde, Baronin auf und zu Derenberg eine gar stolze und kluge Fraue gewesen, so ihrem Manne wacker beigestanden in allen Fährden. Sie hat eine lange feine Gestalt gehabt und rothes Haar, so eigentlich kein gut Zeichen sein soll, indem es in einem alten Sprüchlein heißet:
‚Frawen undt auch pferdt,
Sindt sie schön, so sindt sie wehrd,
Sindt sie aber ohne Tück,
so ist’s fürwar ein großes glück;
Darum nimb war, wasz für Haar!
Ist solches roth, hatz groß Gefahr.‘
Doch hat sie sonsten nicht mehr Tück gehabt als andere Weibsbilder auch, und ist eine feine schöne Fraue gewesen, und hat sich ihretwegen ein Cavalier, so ihr in Liebe zugethan und sie ihn nicht hat erhöret, das Leben aus Desperation selbsten genommen, was ihm Gott verzeihen möge, und hat sie ihn in seinem Blute schwimmend vor der Thür ihres Gemaches gefunden, was sie also erschrecket, daß sie zur Stund ist in ein hitzig Fieber verfallen, also daß man gemeinet hat, sie werde elendiglich ihr Leben aufgeben. Der allgütige Gott hat ihr aber eine fröhliche Genesung geschenket, doch soll sie nie wieder gelachet haben nachhero, und ist der Cavalier, so ein Junker von Streitwitz gewesen, im Schloßgarten allhier begraben.“
„Was sagst Du dazu, Mamachen?“ rief Army ganz erregt, „ich glaub’s schon, daß sich ihretwegen Einer das Leben nehmen konnte; es ist ein wundervolles Gesicht. Ich wünschte, ich könnte mir das Bild mitnehmen und in meine Lieutenantsstube hängen; sie muß ein reizendes Geschöpf gewesen sein, diese Agnese Mechthilde.“
„Ei, Army!“ lächelte die Baronin, „ich habe ja noch gar nicht gewußt, daß Deine erste Schwärmerei einer Todten gilt. Nun es ist wenigstens nicht gefährlich – was meinst Du, Nelly?“
Nelly erwiderte nichts; die heitere Stimmung wollte in den kleinen Kreis nicht wieder einkehren; das junge Mädchen saß stumm über ihre Arbeit gebeugt und dachte daran, was sie Lieschen zur Entschuldigung sagen könnte; Army vertiefte sich wieder in die Lectüre des alten Buches, und um den Mund der Baronin war das flüchtige Lächeln verschwunden. Dann und wann fuhr sie mit der Hand über die Augen und seufzte tief auf, und jedesmal, wenn ein so banger Seufzer das Ohr ihrer Kinder traf, wandten sie gleichzeitig den Kopf und ein paar traurige Blicke ruhten einen Augenblick fragend auf dem bekümmerten Gesichte der Mutter; dann nahm Jedes seine Beschäftigung wieder auf.
„Die gnädige Frau Baronin wünschen den Thee auf ihrem [652] Zimmer zu trinken,“ sagte eintretend die alte Sanna, „sie lassen um Entschuldigung bitten, daß sie nicht mit zu Abend speisen; die Frau Baronin haben Kopfschmerz.“
Die alte Frau trug einen Präsentirteller mit einer alterthümlichen kleinen Kanne und einer Tasse im Rococogeschmack. Sie war offenbar im Begriffe, ihrer Herrin den Thee zu bringen, und stand nun, einer Antwort wartend, an der Thür; sie blickte prüfend auf die drei Gestalten, als wollte sie ergründen, was für einen Eindruck diese Nachricht auf sie mache. Die träumende Frau am Kamine schien ihre Worte gar nicht gehört zu haben und schreckte empor, als ihre Tochter freundlich sagte:
„Wir bedauern das gewiß sehr, liebe Sanna, und wünschen Großmama herzlich gute Besserung.“
„Ist Ihre gnädige Frau krank, Sanna?“ fragte die Baronin.
„Jawohl,“ erwiderte diese, und ihre große knochige Figur richtete sich zur vollen Höhe auf, indem sie die grauen Augen unter der finsteren Stirn fest auf das erschrockene Gesicht der Fragenden richtete. „Die Frau Baronin müssen ja von hier krank fortgegangen sein, denn sie kamen mit heftigem Herzklopfen in ihr Zimmer; ich habe ihr schon drei Brausepulver mischen müssen. Wenn’s nur nichts Schlimmes wird!“
Es lag etwas Vorwurfsvolles, Impertinentes in dieser Antwort, weniger noch in den Worten, als in der Stimme und dem Ausdrucke des Gesichtes, sodaß der Baronin Derenberg plötzlich vor Entrüstung das Blut in die Wangen stieg.
„Ich bedaure sehr,“ sagte sie mit erhobener Stimme, indem sie eine entlassende Handbewegung machte, „und hoffe, daß es der gnädigen Frau morgen besser gehen wird.“
„Sehr wohl,“ erwiderte die Alte und verließ das Zimmer, aber ihre Haltung und der Ausdruck ihrer Züge unter der gefältelten Haube waren geradezu feindselig geworden.
Army war aufgesprungen, und dunkelroth im Gesichte schaute er der verschwindenden Dienerin nach.
„Army, ich bitte Dich,“ rief die Baronin, „laß sie! Du machst es nicht besser, wenn Du sie zur Rede stellst. So ist sie ja von jeher gewesen; sie kann, wie ihre Herrin, das heiße südliche Blut nicht verleugnen, und dann – sie liebt die Großmutter abgöttisch. Du weißt, Army, daß Sanna schon mit der Großmama aus Venedig hierherkam, daß sie die Zeiten des Glanzes mit ihr verlebt hat und jetzt standhaft die Sorgen und Entbehrungen mit ihr theilt. Sanna hat viele gute Seiten; eine Treue wie die ihrige ist selten; und Euch, Kinder, besonders Dich, Army, liebt sie über Alles; sie ist außerdem schon so alt, daß man ihr vieles gar nicht übel nehmen kann.“
Army antwortete nicht; er nahm seine Mütze. „Ich muß einen Augenblick in’s Freie, sonst schlafe ich schlecht,“ sagte er entschuldigend, küßte der Mutter die Hand und verließ das Zimmer.
Er stand dann in dem hohen kalten Corridor und fragte sich selbst, wohin er eigentlich wolle. „Erst muß ich mir den Paletot holen,“ dachte er, und schritt den langen Gang hinunter zu seinem Zimmer; ihm war so wunderbar zu Muthe heut – zum ersten Male hatte seine junge Stirn der Ernst des Lebens gestreift. Freilich, er wußte ja, daß seine Familie in dürftigen Verhältnissen lebte, aber er hatte sich nach echter Knabenart keine Gedanken darüber gemacht. Nun hatte ihm die Großmutter davon gesprochen und ihm zugleich die Hoffnung auf eine reiche Erbschaft in Aussicht gestellt, aber es war ja noch eine Erbin da, ein kleines rothhaariges Geschöpf, wie Großmama sie vorhin nannte.
Die schöne Agnese Mechthilde fiel ihm ein; wie hieß es doch in dem Verse: „Darumb nimb war, wasz für Haar! Ist solches roth, hatz groß Gefahr.“ Die rothen Haare würden doch nicht auch ihm Gefahr bringen? Doch nein, er hatte keine Anlage zum Idealisten.
Großmutter hatte gesagt: „Auf Dich, Army, und auf die Stontheim’sche Erbschaft baue ich meine ganze Hoffnung,“ und nun hatte er ihr etwas von „Erbschleichen“ entgegengerufen. Aber freilich die Blanka, die kleine rothhaarige Blanka – da war sie schon wieder – aber Tante Stontheim konnte ja theilen zwischen Blanka, Nelly und ihm – ja, das war ein Ausweg. Ob nicht doch noch Alles gut werden könnte?
Ihn fröstelte; er trat zum Kamin und warf eine Hand voll Reisig in das verglühende Feuer; die Flammen schlugen prasselnd aus in dem dürren Holz und beleuchteten zuckend und unsicher den getäfelten Fußboden. Ihr röthlicher Schein ließ das vergoldete Laubwerk des alte Kamins in hellem Glanz aufblitzen, und die Augen des jungen Mannes folgten träumerisch den Windungen der Eichenguirlande, die sich unter dem Sims des Kamins hinzog; in der Mitte umschloß sie kranzartig ein Schild; es stand ein Spruch darauf: „An Gott nit verzag! Glück kombt all Tag,“ ein Kernspruch alter – längst vergangener Zeiten. „Glück kombt all Tag,“ wiederholte er halblaut noch einmal; hatte er denn noch nie diese Worte gelesen? Sie ergriffen ihn mächtig in dieser Stunde; konnte denn nicht das Glück auch zu ihm wieder kommen?
Er sah empor zu den prächtigen Hirschgeweihen – alle waren sie von den Derenbergs erbeutet, wie die Täfelchen mit Namen und Datum anzeigten, alle in den Wäldern, die man theils verkauft, theils verpfändet hatte. Aber es konnte ja möglich sein – warum denn nicht? – daß er wieder dort jagte, wo seine Vorfahren so manche fröhliche Pirsch gehalten. Weg mit den Grillen! Das Leben lag ja noch vor ihm, so hoffnungsreich, so lockend, und „Glück kombt all Tag.“
Ueber sein jugendliches Gesicht flog es wieder wie Sonnenschein; das Herz klopfte ihm heiß in der Brust, und er fühlte den Muth, auch Stürmen zu trotzen. „Nur vorwärts, weiter hinein in die Woge des Lebens! Je toller die Brandung, je besser! Ob Lust oder Schmerz, ich nehme es wie es kommt; ein Leben ohne Kampf – das ist kein Leben. Ich will Großmama um Verzeihung bitten des Erbschleichens wegen,“ fuhr er fort, „auch Mama soll nicht mehr so traurig sein – warum so schwarz sehen? Selbst die Kleine hing ihr Köpfchen, ja so – das war wegen der Liese, der kleinen Lumpenliese, pah! das ist nicht der Rede werth, und sie wird es später selbst einsehen, daß –“
Er pfiff ein Liedchen vor sich hin, als er den Corridor entlang schritt, um zu seiner Mutter zurückzukehren.
Verschiedenartig sind die Begabungen der Künstlerinnen, denen es vergönnt ist, auf weitere Kreise eine glänzende Wirkung auszuüben: die einen verdanken diese Wirkung der Hoheit und Majestät des Kothurns und der zündenden Macht tragischer Leidenschaft, die anderen der maßvollen Harmonie einer sympathischen Natur, welche innerhalb der Grenzlinien des Schönen anmuthige Gebilde schafft.
Zu jenen ersten Künsterinnen gehört Charlotte Wolter, zu den letzteren Franziska Ellmenreich, eine jüngere Darstellerin, welche überall, wo sie bisher aufgetreten, einstimmigen Beifall gefunden und sich warme bis zur Begeisterung gesteigerte Sympathien erworben hat. Von Hause aus ein strebsames Talent, mit angeborenem Tact für das Richtige und Zutreffende, von durchaus gefälligen Formen, klug ohne die Aufdringlichkeit eines zergliedernden Scharfsinns, geistreich ohne prahlende Schaustellung eines pikanten Esprits, warm und herzlich ohne sentimentale Ueberschwänglichkeit, war sie auf harmonische Gestaltungen angelegt und durch ihre ganzen Bildungsgang hierin gefördert, sodaß sie stets die schöne künstlerische Mitte behauptete, ohne künstlerischer Mittelmäßigkeit zu verfallen. Bei ihrem rastlosen Fortstreben von Jahr zu Jahr, bei ihrer aufgeschlossenen Empfänglichkeit für alle Anregungen, die ihr von außen zukamen, hat sie jetzt einen Platz unter den hervorragenden Künstlerinnen der deutschen Bühne erreicht, der es wohl rechtfertigt, daß wir einen Blick auf ihren Bildungs- und Lebensgang werfen.
Franziska Ellmenreich stammt aus einer Künstlerfamilie; sie beweist von neuem die Erblichkeit künstlerischer Anlagen, mag auch das Licht des Talents sich in einem Regenbogenspiel mannigfacher Farben brechen. Ihre Großmutter, Friederike Ellmenreich, hat sich als eine der ersten Uebersetzerinnen italienischer Operntexte in weiten Kreise bekannt gemacht; ihr Vater, Albert Ellmenreich, bekleidete einundzwanzig Jahre lang eine erste Stelle als
[653][654] Charakterdarsteller am Schweriner Hoftheater, bekundete aber auch musikalische Begabung als Componist der Opern „Der Schmied von Gretna-Green“ und der „Gundel“, welche letztere wegen ihrer politischen Tendenz verboten wurde. Noch bekannter war er als Liedercomponist geworden. Franziska wurde am 28. Januar 1850 als Tochter des Schauspieler-Componisten in Schwerin geboren: Anregungen des Theater- und Musiklebens mußten unausbleiblich, obschon die sorgfältig erzogenen Kinder dem Theater gänzlich ferngehalten wurden, doch schon aus der ganzen Atmosphäre, in der sie athmeten, ihnen zuströmen. So kam es denn auch, daß Franziska in aller Stille eine Rolle einstudirt hatte. Es war dies die Selma in „Mutter und Sohn“ der Frau Birch-Pfeiffer. Der Vater prüfte die Tochter, doch wortkarg, wie er war, sprach er sich nicht über den Erfolg der Prüfung aus. Daß dieser nicht ungünstig ausgefallen, konnte Franziska aus dem Eifer entnehmen, mit dem der Vater ihr jetzt manche andere Rollen einstudirte. Es war natürlich, daß er, bei seiner Begeisterung für Musik und seinen Leistungen als Componist, auch für die musikalische Ausbildung der Tochter Sorge trug. Sie nahm Gesangsstunden, die freilich nicht den Zweck hatten und nicht ausreichten, sie zur dramatischen Sängerin auszubilden, aber sie doch für den Vortrag leichter Lieder hinlänglich schulten. Man fand ihre Stimme zwar nicht stark, doch angenehm.
Die kleine Theaterenthusiastin sah sich plötzlich und früh genug am ersehnten Ziele. Kaum confirmirt, noch nicht fünfzehn Jahre alt, trat sie schon auf einer deutschen Hofbühne auf. Es war dies freilich keine große Bühne, immerhin aber ein Theater, das neuerdings mit den größten Hoftheatern gewissermaßen in Concurrenz trat: die Meininger Hofbühne, die damals indeß noch nicht als Hofwanderbühne die alleinseligmachende Lehre vom künstlerischen Ensemble in bewunderter Praxis durch die Lande trug. Die Rollen, welche der kleinen Debutantin zufielen, waren natürlich sehr bescheidener Art. Sie trat zuerst als Brautjungfer im „Freischütz“ auf. Die Aufregung des Lampenfiebers ließ ihr zartes Stimmchen noch dünner und schwächlicher erscheinen, gleichwohl regten sich einige mitleidige Hände. Das war ihr Debut in der Oper, welches wenig Aussicht eröffnete, daß sie den Lorbeer der Primadonna erobern werde. Gleich darauf sah das Meininger Publicum sie im Schauspiele und zwar in kleinen, aber sehr gefährlichen Rollen. Was ist gefährlicher als ein Page im Schauspiele? Je weniger solche Pagen zu sagen haben, desto mehr sieht das Publicum darauf, wie sie es sagen. Die kleinste Anmelderolle hat ihre Klippen: für Pagenrollen sind diese Klippen am schwersten, denn es wird zugleich die ganze Erscheinung kritisirt. Es sind ja meist die angehenden jungen Künstlerinnen, welche sich in diesem schmucken Costüme auf der Bühne präsentiren, ohne recht brilliren zu können, wie in den eigentlichen sogenannten Hosenrollen, aber Pagenrollen sind die Hosenrollen der classischen Tragödie, welche sonst den Geschlechtertausch verschmäht. Darum werden sie mit einer gewissen besondern, oft boshaften, oft allzu wohlwollenden Aufmerksamkeit betrachtet.
Die junge Franziska spielte zwei classische Pagen aus Schiller’schen Tragödien, zuerst den Pagen aus „Maria Stuart“. Das profane deutsche Theaterpublicum wird von der Existenz eines solchen Pagen nichts wissen; denn die Bühneneinrichtung, in welcher das Trauerspiel meistens gegeben wird, hat ihn beseitigt. Doch in Meiningen konnte man schon damals auf ein geduldiges Publicum rechnen, welches den Pokal der elastischen Tragödie bis auf die Neige leert. So schloß man auch „Maria Stuart“ nicht, wie dies fast allgemein üblich ist, mit dem dröhnenden Effect des zur Erde stürzenden Lord Leicester, sondern man gab auch noch die folgenden Scenen, die im Zimmer der Königin Elisabeth spielen. Hier tritt ein Page auf, der als solcher verhältnismäßig viel zu sprechen hat. Franziska glänzte mit diesem gefährlichen Rapport auf der Probe so, daß man ihr auch die Schlußworte der ganzen Tragödie anvertraute, da Graf Kent, der sie eigentlich zu sprechen hat, dem Schiller’schen Genius nicht gerecht zu werden vermochte. Diese Worte lauten bekanntlich:
Wenige Worte: aber sie berichten eine für Elisabeth niederschmetternde Thatsache und verkünden die Nemesis, welche der Dichter für sie bereit gehalten hat. Und die Schlußworte einer Tragödie, kurz vor dem fallenden Vorhange, welche Verantwortlichkeit! Wenn sie das Publicum in eine heitere Stimmung versetzen, so werden fünf Acte um den Schlußapplaus gebracht.
Franziska feierte einen kleinen Triumph durch das Vertrauen, das man in sie setzte, und sie wußte es auch zu rechtfertigen. Doch sie sollte auch den Revers der Münze kennen lernen. Ihr zweiter Page war der in „Don Carlos“. Das ist nicht blos ein anmeldender Knabe: seine Scenen mit Carlos und der Eboli haben dramatisches Leben. Hier blieb nun die junge Künstlerin stecken, in bedauerlicher rettungsloser Weise. Darüber war sie lange nicht zu trösten, obwohl man ihr aus der Chronik des Theaters zahlreiche Beispiele ähnlicher Unglücksfälle mittheilte, welche sogar großen Künstlern zugestoßen waren. Einen ersten wirklichen Erfolg, der sich zu Hervorruf bei offener Scene steigerte, errang sie in der Rolle des Bärbel in Iffland’s „Jägern“. Nun wuchs ihr Muth! Noch einmal übernahm ihr Vater die Leitung ihres Talentes bei einem dreimonatlichen Sommerengagement, wo sie alle Tage spielte, bedeutende und unbedeutende Rollen, und so die nöthige Routine gewann.
In Mainz wurde sie zuerst für ein bestimmtes Rollenfach engagirt, für das Fach der zweiten Liebhaberin, jedenfalls eines der entsagungsvollsten Fächer der Schauspielkunst, dem gar keine Lorbeern blühen. Man lasse eine hervorragende Künstlerin zwei Jahre hindurch zweite Liebhaberin in Lust- und Trauerspielen darstellen, und über ihren Ruhm wird gewiß bald Gras wachsen. Inzwischen giebt jedes Fach immer einen bestimmten Halt, und der neueste Ukas der Bühnenleiter, durch welchen die Fächer in den Contracten der Schauspieler abgeschafft werden, verdient die entschiedenste Mißbilligung, da er die Darsteller den Launen der Directionen vollkommen preisgiebt, während jedem Engagement doch nach wie vor ein bestimmtes Fachschema zu Grunde liegt, ohne das keine Direction ein Ensemble bilden könnte.
Von Mainz kam Fräulein Ellmenreich nach Cassel, wo sie ebenfalls meistens zweite, aber bisweilen auch erste Liebhaberinnen spielte. Ein Antrag von der Hannöverischen Hofbühne veranlaßt sie zu einem heimlichen Gastspiel in Hannover, da in Cassel niemals Urlaub ertheilt wurde; das Gastspiel führte zu einem Engagement und zwar gleich nach der ersten Rolle der Darstellerin, der Preciosa. Anfangs entsprachen die Verhältnisse nicht den ehrgeizigen Erwartungen der Künstlerin; erst als Marie Seebach die Hofbühne verlassen hatte, öffnete sich ihr ein umfassender Wirkungskreis, der sich von Maria Stuart bis zum Wolfgang Goethe im „Königslieutenant“, von Chriemhilde in den „Nibelungen“ bis zur Margaretha in den „Erzählungen der Königin von Navarra“, von Julie und Desdemona bis zu den Heldinnen kleiner einactiger Salonplaudereien erstreckte.
Im Jahre 1875 verließ Fräulein Ellmenreich die Hannöverische Hofbühne und trat in ein Engagement am Leipziger Theater, das damals unter Friedrich Haase’s Leitung stand. Auch hier füllte sie das Fach der ersten Liebhaberin im Lust- und Trauerspiel mit seltener Vollständigkeit und unermüdlichem Eifer aus und trug nicht wenig dazu bei, das Schlußjahr der Haase’schen Direction zu dem glänzendsten derselben zu machen. Im Jahre 1876 wurde sie von Pollini für das Hamburger Stadttheater engagirt, welches von diesem Director durch das Aufgebot großartiger Mittel und hervorragender Kräfte zu einer seit Baison’s Hinscheiden vermißten Bedeutung gebracht wurde. In dem Künstlerkreise der Barnay und Friedmann nahm sie hier eine ebenbürtige Stellung ein; sie wußten vereint besonders den Sinn für die classische Tragödie und das moderne Trauerspiel wieder zu beleben. Im Frühling dieses Jahres nahm Fräulein Ellmenreich ein Engagement am Dresdener Hoftheater an, wo ihr von Seiten der Kritik und des Publicums die günstigste Aufnahme zu Theil wurde und sie jetzt auf drei Jahre gebunden ist.
Selten hat sich eine Darstellerin einer so großen Beliebtheit in den Kreisen der gebildeten Gesellschaft zu erfreuen gehabt wie Franziska; wenige dürfen sich so glänzender Huldigungen rühmen, wie sie dieser jungen Künstlerin zu Theil geworden sind. Am Tage ihrer Abschiedsvorstellung in Hannover hatte sich ihr Zimmer in einen Bazar verwandelt, so zahlreich waren die Geschenke, die ihr von den angesehensten Damen und Herren Hannovers zu Theil geworden. Die in dieser Stadt anwesende studirende Jugend begleitete nach der Vorstellung ihren Wagen mit Jubelruf in’s Hôtel, wo zu ihren Ehren ein Abschiedssouper veranstaltet [655] war. Die Leipziger Jugend, die in solchen Huldigungen noch mehr Routine und Enthusiasmus hat, spannte nach der Abschiedsvorstellung, die an Hervorrufen und Blumensträußen überreich war, sogar die Pferde aus und zog den Wagen mit der gefeierten Künstlerin nach Hause.
Man könnte bei diesen zum Theil übertriebenen Huldigungen von Familienerfolgen sprechen; eine Darstellerin von Geist, feiner Bildung und tactvollem Benehmen erobert sich überall die Salons und ihre persönliche Beliebtheit überträgt sich auf ihre Leistungen als Künstlerin. Doch bei Fräulein Ellmenreich wäre diese Erklärung einseitig; sie hat überall auch den Beifall des großen Publicums und der Kritik gefunden; in der Liebenswürdigkeit ihres Wesens und der Harmonie ihrer Darstellung liegt der Zauber, der weitere Kreise ebenso für sie gewinnt, wie engere Freundeskreise. Die Hamburger Damen sandten ihr nach Dresden ein kostbares Armband mit der Devise: „Das ewig Weibliche zieht uns hinan“. In der That liegt in diesem ewig Weiblichen das Geheimniß ihrer Erfolge.
Es giebt freilich hochtragische Charaktere, durch welche diese Devise in einer fast ironischen Weise beleuchtet wird, Rollen, in denen das Dämonische und das wild Leidenschaftliche der Frauennatur gewaltthätig zum Durchbruch kommt. Derartige Rollen, wie Medea und Messalina, liegen außer der Sphäre unserer Künstlerin, so sehr sie sonst für Trauerspiel und Lustspiel gleichmäßig begabt ist. Und wenn wir hier die eine Schranke ihres schönen Talentes finden, so ist die andere auf der entgegengesetzten Seite zu suchen: Fräulein Ellmenreich ist eine natürliche, aber sie ist keine naive Schauspielerin. Kindliche Naivetät liegt ihr fern: dazu ist sie zu bewußt, zu klug, zu reflectirend. Zwischen diesen beiden Extremen aber liegt ein weites Feld der Dramatik aller Zeiten, auf denen für ihr darstellendes Talent die schönsten Blüthen wachsen.
Im Lustspiel erfreut sie durch das Gefällige ihrer Erscheinung, die Sicherheit ihres Benehmens, den sinnigen gebildeten Salonton, die Schalkhaftigkeit ihres Spiels. Nehmen wir ihre Katharina von Rosen in „Bürgerlich und Romantisch“ und ihre Adelheid in den „Journalisten“, die weibliche Hauptrolle in zwei der besten deutschen Lustspiele: wie anmuthig verkörpert sie diese gesunden, harmonischen Gestalten! Hier hat man das Gefühl, daß sich Dichtung und Darstellung vollkommen decken. Das Gleiche gilt von allen deutschen Mädchenrollen ähnlichen Schlages in den Lustspielen von Benedix, von Putlitz, Bauernfeld und anderen ähnlich gearteten Dichtern. Wärme des Gefühls charakterisirt bei ihr stets die gehobeneren Stellen des Lustspiels; wo es aber geistreiche Pikanterie des Salontones in ein- oder mehractigen dramatischen Plaudereien gilt, da kommt ihr angeborener Tact für seine Auffassung und glückliches Verständniß ihr in seltener Weise zu statten; sie hat für die zartesten psychologischen Uebergange die Farben auf ihrer Palette.
Auch in der Tragödie hat Fräulein Ellmenreich schöne Erfolge zu verzeichnen; es sind die Rollen der mittleren Tragik, der tragischen Dulderinnen, die sie mit ergreifendem Gefühl und edlem Aufschwung spielt: eine Maria Stuart, als welche unsere Abbildung sie darstellt, eine Hermione im „Wintermärchen“, in welcher Rolle sie einmal in Berlin auftrat und die glänzendste Anerkennung Seitens der Berliner Kritik fand, eine Rutland in „Graf Essex“, eine Katharina Howard und zahlreiche andere Rollen.
Ihr Organ hat zwar nicht markerschütternde Kraft, aber es ist voll, klar und melodisch. Für die geistige Bedeutung der Dichtungen zeigt sie das feinste Verständniß: niemals wird sie mit getragener Declamation, mit dem prunkenden Schleppkleid eines falschen Pathos über unbarmherzig zerrissene Perioden oder durch einander gewirrte Accente hinwegfegen. Logische Mißgriffe, Sinnfehler irgend welcher, auch versteckter Art sind ihr gänzlich fremd. Ebenso fein ist ihr psychologisches Verständnis: meisterhaft weiß sie Monologe zu gliedern, stimmungsvoll zu beleben. Ihr großer Monolog „Katharina Howard“, einer ihrer Glanzrollen, ist ein schöner Beweis hierfür. Und da dem Dichter selbst über die Auffassung und Stellung der von ihm geschaffenen Charaktere ein wohl zu beachtendes Urtheil zustehen muß, so will ich noch hier ihrer Elisabeth in meiner „Amy Robsart“ gedenken, als einer der Rollen, in welcher das Talent der Künstlerin für charakteristische Darstellung am meisten hervortrat. Denn die angebliche, gelehrte, geistvolle pretiöse Königin mit ihrer versteckt auflodernden Leidenschaftlichkeit kam in einer allgemein anerkannten Weise zur Anschauung.
So gehört diese anmuthige, kluge, fein durchgebildete und vielseitige Schauspielerin nicht nur zu den stolzen Hoffnungen unserer Bühne, sondern bereits zu ihren gegenwärtigen Zierden. Das moderne Trauerspiel und Lustspiel darf in ihr eine feinfühlige und glänzende Vertreterin sehen. Natur und Wahrheit sind ihre Devisen; mit Tact und Geist ausgestattet, ergreift sie das Richtige und die Grazien, die ihr nicht ausgeblieben sind, geleiten sie auf anmuthigem Wege zu dem Ziele, das ihrem rastlosen Streben vorschwebt: stets vollendeterer Gestaltung, der auch der Nachruhm nicht fehlen wird.
Der Vorschlag, den Ertrag der Wilhelmsspende zur Gründung von Invaliden-, Pensions-, Wittwen- und Waisencassen für Arbeiter zu verwenden, beruht auf einem so glücklichen und doch so naheliegenden Gedanken, daß er Unzähligen aus der Seele gesprochen und vom deutschen Kronprinzen, wie vom Haupte des Comité der Wilhelmsspende, dem ehrwürdigen Moltke, freudig erfaßt worden ist. Als am 15. September dieses Comité dem Kronprinzen in besonderer Audienz über das Ergebniß der Sammlung berichtete und als Erfolg die Summe von 1,739,418 Mark 42 Pfennig, dargebracht von nahe an zwölf Millionen Beisteurern, überreichen konnte, sprach es der Kronprinz offen aus: „er hoffe, daß ein Mittel gefunden werde, wie der dringendsten Noth gerade derjenigen Classen des Volkes abzuhelfen sei, bei denen Irrlehren Eingang gefunden hätten, welche auf Untergrabung und Zerstörung des gesammten Volkslebens gerichtet seien“. So ist man denn an maßgebender Stelle gesonnen, jenen glücklichen Gedanken zu verwirklichen. Unbedingt ist damit ein Weg bezeichnet, der endlich mit Entschiedenheit betreten werden muß, wenn durch Erfüllung vernachlässigter Pflichten wider den schlimmen Geist gewirkt werden soll, der uns in den letzten Monaten seine Gefährlichkeit in so erschreckender Weise gezeigt hat. Möge sich aber Niemand einbilden, daß mit der eben genannten Summe der Wilhelmsspende das Ziel erreicht werden könnte. Von erfahrener und bewährter Seite schreibt man uns neuerdings über die Frage:
„Keinem Widerspruch dürfte die Behauptung begegnen, daß derjenige Arbeiter, welcher das Bewußtsein in sich trägt, daß der erste beste seine Arbeitskraft schädigende Unfall ihn und seine Familie zu Bettlern herabdrücken kann, leicht auf den Gedanken kommt, es müsse der Augenblick dem Genusse gewidmet werden, da die Zukunft denn doch eine unsichere sei. Die Unsicherheit, in der er lebt, muß seine Selbstachtung schwächen, die Aussicht auf den Bettelstab den Sinn für Ehre in ihm ertödten. Das Gefühl der Bitterkeit wird in ihm großgezogen, das Gefühl des Hasses gegen eine Gesellschaft und gegen Institutionen, unter deren Herrschaft es möglich ist, daß selbst ein braver und fleißiger Mann durch vorübergehende oder andauernde Störung seiner Erwerbsfähigkeit in die mißachtete Classe der Almosenempfänger gestoßen wird. Moralische Verwilderung, Versinken in niedrigen Materialismus und andererseits Haß alles Bestehenden und die natürliche Frucht der geringen Sicherheit, welche wir der materiellen Existenz unserer Arbeiter geben. Und diese Zustände werden je länger, je schlimmer. Das heranwachsende Geschlecht wird in denselben schlechten Grundsätzen erzogen, die Kinder aber solcher armen Leute, welche erwerbsunfähig wurden oder starben, ehe jene sich selbst ernähren konnten, sind nicht selten ganz verloren. Aufwachsend im Elend, ohne häusliche Erziehung, der Schule entfremdet, hinausgestoßen auf die Straße, um durch Betteln ihr Leben zu fristen, verfallen sie nur allzu oft vollständig dem Laster. Und daß solcher Kinder nicht wenige sind, das beweist die Statistik der Knappschaften, wonach auf je zehn Bergarbeiter eine Waise unter fünfzehn Jahre kommt.“
Es ist wahrlich keine Uebertreibung, wenn behauptet wird,
[656] daß die eben bezeichneten Folgen des Mangels von Einrichtungen zur Sicherstellung der Zukunft der Arbeiter mit in erster Linie Ursache der Empfänglichkeit für die Verführungen der Socialdemokratie sind. Daß das Gefühl, nichts zu besitzen, für den folgenden Tag, für die nächste Woche nicht einen Pfennig auf den andern legen zu können, sondern immer nur von der Hand in den Mund leben zu müssen, selbst in gutangelegten Naturen erst niederdrückend und endlich empörend wirkt, das haben schon jene Männer eingesehen, welche durch Arbeiter-Sparcassen das Selbstgefühl der so hart von allem Besitz Ausgeschlossenen wieder zu erwecken hofften. Die glücklicher gestellte Gesellschaft hat es bereits vielfach als eine Unterlassungssünde eingestanden, daß sie zu wenig gethan hat, um dieses Mißgefühl der Besitzlosigkeit und Zukunftsunsicherheit in den Massen zu solcher Höhe erwachsen zu lassen. Damit aber drängt sich für Jedermann die Pflicht auf, zu thun, was in seinen Kräften steht, um das bisher Versäumte nachzuholen mit Hand anzulegen zur Schaffung der fehlenden Einrichtungen. Die Arbeitgeber müssen jetzt zusammentreten und aus sich heraus Kranken-, Invaliden-, Wittwen- und Waisencassen für die Gesammtheit der von ihnen beschäftigten Arbeiter in’s Leben rufen. Es mögen zu diesem Zwecke alle Arbeitgeber einer Gemeinde, oder wenn diese dazu nicht stark genug ist, eines größeren geographische Bezirkes sich vereinigen, oder was in vielen Fälle noch besser ist, die Genossen eines einzelnen Industriezweiges innerhalb größerer Districte, weil damit der Grund gelegt werden könnte zu einer auch in sonstigen Beziehungen sehr zweckmäßigen Organisation der Gewerbe. Die Einrichtungen der bereits erfolgreich bestehenden Knappschaftscassen für Bergleute werden Denjenigen, welche die Bildung der Cassen in die Hand nehmen, in vielen Beziehungen als Beispiel dienen können. In den Statuten und Berichten jener Cassen wird man die Grundlagen für die hier in Rede stehenden Schöpfungen finden, und eine bereits ziemlich ausgedehnte Literatur (aus der hier besonders der im Jahre 1874 vom „Verein für Socialpolitik“ herausgegebene Band „Gutachten über Alters- und Invalidencassen für Arbeiter“, Verlag von Duncker und Humblot in Leipzig, hervorgehoben sei) wird Anhaltspunkte dafür geben, wie in einzelnen Fällen die Einrichtungen der Knappschaftscassen zu ändern sind und in welcher Weise die nöthige Verbindung der verschiedene Cassen mit einander zu bewerkstelligen ist.
Aber nicht nur der Mühe der Errichtung und der Theilnahme an der Verwaltung der Cassen sollen sich die Arbeitgeber unterziehen, sie müssen auch bereit sein, in die Tasche zu greifen; sie müssen unbedingt, wie die Bergwerksbesitzer, einen Zuschuß zu den Cassenbeiträgen der von ihnen beschäftigten Leute leisten; sie müssen selbst, wo dies nicht anders möglich ist, bereit sein, eine Lohnerhöhung zu gewähren, welche mit den von den Arbeitern zu zahlenden Prämie auf gleicher Höhe steht. Die von Arbeitern und Arbeitgebern zusammengenommen zu leistenden Beiträge werden allerdings, wenn die Unterstützung in Krankheitsfällen und die Pension der Invaliden, Wittwen und Waisen eine auskömmliche sein soll – und dies ist unbedingt nothwendig – ungefähr fünf Procent vom Normallohn der betreffenden Arbeiter betragen; wenn aber auch die Arbeitgeber diese fünf Procent ganz aus ihrer eigenen Tasche zahlen müßten, würden sie dabei auf die Dauer immer noch ein sehr gutes Geschäft machen. Was sind fünf oder auch sechs Procent gegenüber den Lohnsteigerungen der letzten zwanzig Jahre! Es ist ganz richtig, daß jetzt ein freiwillig zu dem gedachte Zwecke gebrachtes Opfer schon in den nächsten Jahren doppelt und dreifältig wieder eingebracht wird. Abgesehen davon, daß die Arbeiter durch Sicherstellung ihrer Zukunft arbeitsfreudiger werden, also mehr leisten, werden sie wieder Interesse am Bestehenden gewinnen und werden nicht mehr so leicht, wie dies bisher geschah, wenn die Conjunctur ihnen günstig ist, Lohnforderungen stellen, welche die rentable Fortführung des Geschäfts unmöglich machen, in dem sie thätig sind.
Daß die Arbeitgeber hier nicht einseitig vorgehen dürfen, daß sie womöglich schon bei der Gründung der Cassen, jedenfalls aber bei der späteren Verwaltung, die Arbeiter mit heranziehen müssen, versteht sich von selbst. In der Mitwirkung der Arbeiter liegt nicht nur die beste Garantie gegen Mißbrauch der Cassen und ein vortreffliches Erziehungsmittel, sondern es wird dadurch die für Herbeiführung des socialen Friedes so wirksame persönliche Annäherung zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, die gemeinsame Thätigkeit im Dienste der Humanität auf die denkbarbeste Weise gefördert.
Mögen alle deutschen Arbeitgeber hier ihre Pflicht, und – füge ich hinzu – ihren Vortheil erkennen, mögen sie sich vereinigen zur Gründung von Arbeiterhülfscassen im weiteste Sinne des Worts! Der Staat, die gesetzgebenden Factoren werden dann gewiß ihrerseits nicht säumen, das zu thun, was sie als nothwendig erkennen, die vom Volke selbst geschaffenen Instiutionen zu unterstützen und in jeder Weise zu fördern. Mit der allgemeinen Durchführung eines Systems guter Arbeiter-Hülfscassen werden alle jene neuerdings vorgeschlagenen Polizeimaßregeln, wie Paßzwang und Aehnliches, sowie alle gesetzlichen Beschränkungen der bestehenden Freizügigkeit überflüssig; die übermäßige Belastung des Armenbudgets der Gemeinden wird beseitigt und, was die Hauptsache ist, eine der wesentlichsten Ursachen des Umsichgreifens der socialdemokratischen Umsturzlehre wird aus der Welt geschafft werden. Darum frisch an’s Werk! Zeigen wir, daß wir Kopf und Herz auf dem rechten Fleck haben!
Wo Gletscherhöhen starren ohne Bahn
Dem Firmament des Himmels schroff entgegen,
Da hat ein See, wildeinsam hochgelegen,
Sein schwarzes Auge traurig aufgethan.
Der dunkeln Wasserfläche naht kein Schwan,
Und nichts Lebend’ges will das Ufer hegen;
Doch kommt die Nacht mit ihrem Sternensegen,
Dann gleitet durch die Fluth des Mondes Kahn.
So weiß ich auch ein Herz, umringt von Schrecken,
Der blüh’nden Welt, dem frohen Leben ferne,
In Traurigkeit unnahbar und allein;
Zwar vor den Menschen kann es sich verstecken,
Doch wachen über ihm die ew’gen Sterne,
Und der barmherz’ge Himmel blickt hinein.
Von unseren gesammten Wohnräumen ist das Schlafzimmer derjenige Raum, welchem gute Luft am nöthigsten thut und in welchem man sie doch am seltensten findet. Wer Gelegenheit hat, Morgens früh, bevor die Nachtgäste aufgestanden sind, fremde Schlafzimmer zu besuchen, der entsetzt sich wohl über das, was er als „Luft“ dort vorfindet, und wenn er dann durch die frische Morgenluft in sein eigenes Schlafzimmer zurückkehrt, so mag er leicht entdecken, daß es da gar nicht viel besser bestellt ist, was er vorher nur deshalb nicht bemerkt hatte, weil die Verschlechterung so ganz allmählich und während er sich selbst darin befand, eingetreten war. Wenn man erwägt, daß jeder Schläfer während acht Nachtstunden durchschnittlich an dreihundert Liter Kohlensäure, nebst einer beträchtlichen Menge von Wasserdampf und mehr oder weniger stark riechenden Zersetzungsstoffen von sich giebt, daß aber Thüren und Fenster nicht nur des Schlafzimmers, sondern auch des ganzen übrigen Hauses während dieser ganzen Zeit ununterbrochen geschlossen zu sein pflegen, wird man sich nicht mehr wundern und vielmehr die häufige Versicherung: „ich lüfte den ganzen Tag“,
[657] für ungefähr ebenso viel werth halten, wie die andere Versicherung: „das Wasser hat gekocht“, wenn ihm[WS 1] nicht fortwährend neue Wärme zugeführt wird.
Aerzte und Gesundheitslehrer haben mündlich und schriftlich schon viel gepredigt, daß reine Luft dem Schlafenden mindestens ebenso nothwendig sei, wie dem Wachenden, und daß gute Luft der Schlafstuben eine wesentliche Bedingung der Gesundheit ausmache; geholfen haben diese Predigten offenbar noch nicht recht viel. Die große Mehrzahl der Menschen weiß vom Luftbedürfniß sehr wenig: man achtet die Luft vielleicht deshalb so gering, weil sie umsonst zu haben ist. Sind doch sogar weise Gesetzgeber darauf verfallen, die Fenster zu besteuern, als ob diese Luftlöcher ein Luxusartikel seien. Andere wissen freilich, daß reine Luft höchst wünschenswerth ist, aber wie man sich ohne Gefahr solche verschaffen könne, das ist den Meisten noch immer ein ungelöstes Räthsel.
Schlafzimmer sollen geräumig, hoch und luftig sein, aber die Nothdurft des Lebens steht nur zu oft dieser Forderung entgegen, namentlich in größeren Städten, wo die Wohnungen theuer sind und Wohn- und Arbeitszimmer, Geschäftsräume und die oft ebenso „unentbehrlichen“ (!) Empfangs- und Gesellschaftszimmer die besten Räume in Anspruch nehmen. Dann werden zu Schlafzimmern die kleinsten, oft nach engen Höfen belegenen Räume, oder die unter dem Namen Alkoven bekannten Zwischenzimmer benutzt, die überhaupt keine unmittelbare Verbindung mit der Außenluft haben.
Wie ist nun diesem Uebelstande, und zwar ohne Gefahr für die Schlafenden und ohne wesentlichen Kostenaufwand, wenigstens einigermaßen, abzuhelfen?
Als erstes Erforderniß ist auch hier, wie überall, wo es sich um Erhaltung und Beschaffung guter Luft in geschlossenen Räumen handelt, im Auge zu halten, daß man nicht außer den lebenden Insassen noch andere Quellen der Luftverschlechterung duldet und daß man wenigstens den Tag benutzt, um alle Spuren der vergangenen Nacht hinauszuschaffen.
Aus letztgedachter Rücksicht ist Morgens sogleich das geöffnete Bett durch Oeffnen von Fenstern und Thüren möglichst lange einem kräftigen Luftstrome auszusetzen, wobei die einzelnen Bettstücken und Nachtkleider so zu legen oder zu hängen sind, daß sie von der Luft durchdrungen und wirklich ausgelüftet werden. Alles gebrauchte Wasser und Geschirr und was irgend zu Ausdünstungen Veranlassung geben kann, muß alsbald aus dem Schlafzimmer entfernt und draußen gründlich gereinigt werden. Damit schlechte Luft möglichst wenig Schlupfwinkel und Haftpunkte finde, sollte im Schlafzimmer nicht mehr Mobiliar vorhanden sein, als für seine Zwecke nothwendig ist: also Bettstellen, Waschtisch, Nachttische, einige Stühle, ein Schrank für Wäsche und solche Kleidungsstücke, die nahe zur Hand sein müssen, wenn man nicht, was immer vorzuziehen ist, im Nebenzimmer einen Platz dafür einrichten kann. Polsterstühle, Polstersophas etc. dürfen im Schlafzimmer überhaupt nicht sein, weil die Polsterung verdorbene Luft anzieht und festhält, auch dem Staube Lagerplätze bietet. Wollene Fenster- und Thürvorhänge sind aus demselben Grunde sehr bedenklich und erfordern mindestens ausgiebige Reinigung durch Lüften und Ausklopfen. Dient das Zimmer als Krankenzimmer bei irgend ansteckenden Krankheiten, als Masern, Scharlach, Pocken, Rachenbräune, Typhus u. dergl. m., so dienen die Polstermöbel und Wollstoffe, neben den Betten und Kleidern, vorzugsweise als Schlupfwinkel und Sammelstätten der Ansteckungsstoffe und erfordern wenigstens besondere Reinigung oder Desinfection durch Ausschwefeln, Ueberhitzen, Waschen mit scharfen, chlorhaltigen Laugen oder anderen Zerstörungsmitteln organischer Keime.
Fußböden und Wände des Schlafzimmers müssen so eingerichtet sein, daß Staub und Verunreinigungen wenig Haftstellen an ihnen finden und nicht in sie eindringen können. Die Dielen der Fußböden müssen deshalb geölt oder mit Firniß überzogen, auch gut gefugt oder in den Fugen verkittet sein. Für die Wände ist einige Fuß hoch eine Bretterverkleidung, die ebenso wie der Fußboden glatt und wasserdicht gemacht werden muß, oder ein glatter Kalkanputz mit wasserfestem Anstriche sehr zu empfehlen; höher oben wählt man am besten einen haltbaren, nicht abbröckelnden glatten Anstrich, oder glatte Tapeten. Wo man, wie in den meisten Miethswohnungen, diese Einrichtungen nicht findet, noch selbst treffen kann, behilft man sich durch Belegen der Fußböden und derjenigen Wandstellen, die am meisten der Befeuchtung und Beschmutzung ausgesetzt sind, mit Wachstuch. Immer ist es nothwendig, das Schlafzimmer jeden Morgen mit einem feuchten Tuche sorgfältig aufzuwischen; das Tuch darf jedoch blos so feucht sein, daß es nur gerade den Staub aufnimmt, aber möglichst wenig Wasser zurückläßt.
Selbstverständlich ist, daß man zum Schlafzimmer niemals einen Raum wählt, in den von außen schlechte Luft eindringt: das kann aus Kellern – nicht blos aus Balkenkellern, sondern auch aus gewölbten –, sowie aus anderen Unterräumen, von Höfen, von Abtritten u. dergl. m. geschehen. Wo man solche Luft nicht abhalten kann, da ist es dringend geboten, ein anderes Schlafzimmer oder eine andere Wohnung zu suchen. Auch die aus Schwemmcanälen eindringende Luft ist, wie sichere Erfahrungen beweisen, höchst gesundheitsschädlich und besonders vom Schlafzimmer, in welchem ohnedies der geringste Luftwechsel zu sein pflegt, sorgfältig fern zu halten. Wenn das Schlafzimmer an die Küche stößt, so ist täglich und vorzüglich Abends gründliche Reinigung des Spülsteines, sorgsamer Abschluß des Ableitungsrohres, am besten wohl durch Wasserverschluß, und häufiges Ausspülen desselben mit Carbolsäure und reichlichen Wassermengen geboten. Außerdem ist es nothwendig, in der Küche keine anderen Quellen der Luftverderbniß, wie Schmutzeimer, riechende Speisenreste u. dergl. m. zu dulden. Damit Kochdünste nicht bei Tage in das Schlafzimmer eindringen, wo sie in den Betten sich hartnäckig festsetzen, auch die Wände feucht machen, muß für guten Abzug derselben gesorgt sein: wenn nicht ein offener Schornstein sie mit dem aufsteigenden Luftstrome entführt, ist der Küchenschornstein nahe unter der Decke mit einer Oeffnung zu versehen, in welcher eine stellbare Jalousieklappe angebracht wird. Eine solche, recht empfehlenswerthe Vorrichtung hat Senking in Hildesheim angefertigt; sie ist in dem „Lehrreichen Bilderbuch für Hausfrauen etc.“ von Ottilie Ebmeyer (C. Schmidt in Zürich) abgebildet. Die Klappe ist, ähnlich wie die weiter unten zu beschreibende Fensterklappe, um ihre untere Achse nach innen, das heißt nach der Küche zu, drehbar und durch einen Draht beliebig weit zu öffnen oder auch ganz zu schließen.
Wenn man die Lage des Schlafzimmers frei bestimmen kann, so ist sie an einer Außenwand zu wählen, wo möglich mit großen Fenstern, die auf einen Garten oder einen freien Platz zu führen; denn hierdurch ist nicht nur bei Tage eine reichliche Lüftung möglich, sondern es findet durch die Poren der Außenwand, sowie durch die Ritzen der Fenster auch bei Nacht ein keineswegs unbedeutender Luftwechsel statt, durch welchen ein Theil der verbrauchten Luft gegen bessere eingetauscht wird. Von den Himmelsrichtungen ist diejenige nach Norden am wenigsten wünschenswerth, weil sie des directen Sonnenlichts entbehrt, das nicht nur unmittelbar zur Luftverbesserung in den besonnten Stuben, sondern zur Austrocknung und Aufrechterhaltung der Luftdurchgängigkeit der Außenwand wesentlich beiträgt. Die westliche Lage hat die Unannehmlichkeit, daß die Außenwand des Zimmers im Sommer durch die tiefstehende Abendsonne zu stark erwärmt wird, um dann genügende Abkühlung für die Nacht zu erreichen. Jedenfalls sind aber auch diese ungünstigeren Außenlagen der Binnenlage an einem engen, schlecht gelüfteten Hofe oder im Inneren des Hauses vorzuziehen.
Die Fenster des Schlafzimmers sollen, wenn irgend möglich, den ganzen Tag offen stehen, damit die frische Luft auch in die verborgensten Winkel eindringen kann. Wenigstens aber soll Morgens und Abends (kurz vor Schlafengehen) durch Oeffnung sämmtlicher, besonders auch der oberen Fenster, und wo es durch gegenüberliegende Fenster und Thüren möglich ist, auch durch Oeffnen dieser ein möglichst starker Luftzug hervorgerufen werden. Die oberen Fenster müssen deshalb vorzugsweise geöffnet werden, weil die erwärmte mit Ausscheidungsstoffen beladene Luft nach oben steigt und hauptsächlich in dem oberen Zimmerraume verweilt.
Durch Anwendung solcher Maßregeln kann man denn wohl erreichen, daß beim Schlafengehen das Zimmer nur reine Luft und keine anderen Quellen der Luftverderbniß hat, als die menschlichen Bewohner; durch diese aber wird, wie wir wissen, die im Zimmer eingeschlossene Luft wirklich verdorben. Diese Thatsache läßt sich durch Wohlgerüche verstecken, aber nicht wegbringen: jeder Athemzug raubt der Luft Sauerstoff und giebt ihr dafür Kohlensäure und Wasserdampf; jede Blutwelle, die durch unsere Haut kreist, giebt Ausscheidungsstoffe an die Luft ab. Die Luft [658] des Schlafzimmers wird von Minute zu Minute schlechter, so rein sie auch vorher gewesen sein mag. „Das Wasser hat gekocht“, wenn ihm nicht fortwährend neue Wärme zugeführt wird; die Zimmerluft ist rein gewesen, wenn sie nicht so frei mit der Außenluft in Verbindung steht, daß die ausgeathmete Luft beständig entweichen, frische Luft von außen ununterbrochen eindringen kann. Die Nase allein giebt schon dem von außen aus reiner Luft Hereintretenden deutlich an, wie die Binnenluft beschaffen ist.
Der Stoffaustausch zwischen Außenluft und Innenluft findet mit Hülfe der verschiedenen Wärme und des Winddrucks durch Spalten der Fenster und Thüren, sowie durch die Poren der Außenwände statt. Diese natürliche Ventilation kann genügen, wenn der Temperaturunterschied zwischen draußen und drinnen beträchtlich genug ist, wenn der Wind hilft, wenn Fenster und Thüren undicht, die Außenwände groß und porös genug sind. Undichte Fenster und Thüren liebt man nicht, weil der feine Zug, wo er einen Menschen trifft, örtliche Erkältungen mit ihren unangenehmen Folgen hervorruft – die Wand kann um so mehr leisten, je freier sie liegt und je höher das Zimmer ist, sodaß oben beträchtlich wärmere Luft sie berührt als unten, wo dann das Eindringen der kalten Außenluft keinen Widerstand findet. Wenn diese wegen der Langsamkeit und Feinheit der Luftströmchen unfühlbare Porenventilation im Winter unter sonst günstigen Umständen ausreichen mag, so thut sie es gewiß nicht im Sommer bei geringen Wärme-Unterschieden zwischen innen und außen, während ihre Wirkung bei eng gebauten Stadthäusern sehr gering ist, bei Zimmern ohne Außenwände, bei Alkoven und Kellerwohnungen aber ganz wegfällt.
Wo die Porenventilation nicht ausreicht, ist man auf größere Luftöffnungen angewiesen: zunächst auf die Fenster, sodann auf die Verbindungsthüren zwischen den Zimmern, endlich auf die Vorplatzthüren, wenn letztere nicht mehr schlechte Luft herein- als hinauslassen. Man öffnet gern obere Fenster, weil dadurch die wärmste und schlechteste Luft am besten entweichen kann; kältere kommt durch den untern Theil des Fensters, sowie durch andere kleine Oeffnungen herein. Ist der Winddruck so stark, daß er durch die ganze Oeffnung hereinpreßt, so muß dann die Binnenluft irgend einen andern Ausweg suchen.
Abgesehen von der ganz unbegründeten Furcht vor der Nachtluft, die im Gegentheil in Städten meist reiner (von Staub, Rauch etc.) ist, als die Tagesluft, scheut man mit Recht rasche und besonders einseitige oder örtliche Abkühlung durch die hereinströmende kältere Luft. Man suche deshalb ihren Strom so zu lenken oder zu brechen, daß er die Schlafenden nicht trifft, auch ihn durch willkürliche Verengerung der Oeffnung so zu verkleinern, daß die Schlafstubenluft nicht zu sehr abgekühlt wird. Es ist aber jedenfalls besser, sich durch dichtere Nachtkleider und Betten gegen die Abkühlung zu schützen, als in verdorbener Luft zu athmen. Zum Schutz öffne man ein Fenster nur theilweise und breche den Luftstrom durch Vorhänge oder Bettschirme; oder man setze statt eines Fensterflügels ein engmaschiges Drahtnetz ein, oder öffne, wo Doppelfenster vorhanden sind, einen obern innern und einen untern äußern Flügel! Weil aber das Oeffnen oberer Fenster in der Regel unbequem ist, oft auch durch Rouleaux oder Vorhänge verhindert wird, mache man eine obere Fensterscheibe um ihre untere Achse an der Sprosse so drehbar, daß sie beliebig weit nach innen umgelegt werden kann; steht dann diese Scheibe (etwa in einem halben rechten Winkel) schräg nach oben, und sind die seitlichen Winkel noch durch an der Scheibe befestigte Blechwangen geschlossen, so bekommt der einströmende Wind, welcher eigentlich allein zu fürchten ist, eine solche Richtung nach oben, daß er für die unten Schlafenden ungefährlich wird. Wegen der Stellbarkeit der beweglichen Luftscheibe hat man auch die Menge der einströmenden Luft hinreichend in der Gewalt. Wo diese Lüftung noch nicht genügt, was namentlich in warmen, windstillen Sommernächten, sowie in engern Straßen und Höfen der Fall sein kann, da kann man durch eine zweite, möglichst tief unten in der Wand oder allenfalls auch im Fenster angebrachte Oeffnung eine stärkere Luftströmung hervorrufen.
Manchmal läßt sich auch eine dem Fenster gegenüberliegende Gegenöffnung benutzen oder herstellen, um eine stärkere, im untern Theile des Zimmers aber doch unfühlbare Luftströmung zu veranstalten, was namentlich bei großer Sommerwärme, sowie immer in Alkoven und ähnlichen abgesperrten Schlafräumen nothwendig ist. In solchen Fällen benutzt man entweder die häufig schon vorhandenen Fenster, welche von dem Raum auf den Vorplatz oder auf den Treppenraum hinausgehen, und eine in den Dachraum oder durch das Dach oberhalb der Treppe hinausführende Oeffnung, durch welche die wärmere Luft des Hauses zu entweichen strebt. Vorplatz- und Treppenthüren, welche solche Luftströmung hindern würden, müssen natürlich mit Oeffnungen von hinreichender Größe versehen sein. Die auf solche Weise in jedem Hause leicht herstellbare Lüftungseinrichtung verdient viel größere Beachtung, als sie bis jetzt gefunden hat, auch noch aus dem Grunde, weil sie die schlechtere Luft des ganzen Hauses ableitet und dadurch die Zimmer der obern Stockwerke vor der in den untern verdorbenen Luft schützt, die sonst in jene eindringt.
In den mit Luftheizung versehenen Häusern dienen bekanntlich in den offenen Dachraum oder über das Dach hinaufsteigende Lüftungsröhren zur Ableitung verbrauchter Luft. Wo solche fehlen, also auch überall bei Ofenheizung ohne besondere Ventilationseinrichtungen, kann man die Kamine oder Schornsteine, vorzüglich den Küchenschornstein, einigermaßen dem gleichen Zwecke dienstbar machen. Dazu ist nur erforderlich, daß man nahe unter der Zimmerdecke, wo die Binnenluft am wärmsten ist und deshalb das größte Bestreben hat, aufwärts zu entweichen, eine Oeffnung in den Schornstein hineinführt. Ist der Schornstein durch die Küchen- oder Ofenheizung warm, so geht ein starker aufsteigender Luftstrom hindurch, aber selbst erkaltete Schornsteine werden ihren Dienst nicht ganz versagen, weil die warme Binnenluft des Hauses durch die von außen nachdrängende kalte Luft emporgeschoben wird, wie unter Anderem bei Abtrittsanlagen hinlänglich erprobt ist. Um die Oeffnung nach Belieben verschließen und sich gegen niederdrückenden Rauch, sowie gegen das Herausfallen von Ruß, gegen das Eindringen von Ungeziefer u. dergl. m. schützen zu können, wird in derselben entweder die oben beschriebene Ventilationsklappe von Senking, auch Munde’s Schornsteinventilator oder eine ähnliche Vorrichtung angebracht. Munde’s Schornsteinventilator, beschrieben und abgebildet in einer 1876 bei Arnoldi in Leipzig erschienenen Broschüre („Zimmerluft, Ventilation und Heizung“), besteht aus einem schräg abgestutzten Blechröhre, welches in ein ausgemeißeltes Loch des Schornsteins nahe unter der Zimmerdecke eingesetzt und mit Gypsmörtel dicht und sicher befestigt wird. An der Zimmerseite hat das Rohr eine verschließbare Klappe, an der Schornsteinseite ein enges Drahtnetz, um das Hereinfallen von Ruß u. dergl. m. zu verhüten. Das Rohr muß genau der Dicke der Mauer vom Zimmer bis zur inneren Fläche des Schornsteins entsprechen und darf hier nicht hervorragen, damit es nicht beim Kaminfegen verletzt wird; besser etwas zu kurz, als zu lang. Die Weite des Rohrs richtet sich nach der Größe des Zimmers und der Zahl der darin athmenden Personen; für gewöhnliche Zimmer reicht eine Lichtung von drei bis vier Zoll hin, größere Weite kann aber nicht schaden und ist für stärkere Lüftung, sowie bei weiten Schornsteinen nothwendig. Wo der Schornstein nicht unmittelbar an der Zimmerwand anliegt, kann er durch ein längeres Rohr erreicht werden, was der Wirkung dieses einfachen, für wenige Mark herstellbaren Ventilators keinen wesentlichen Abbruch thut.
Zur Verstärkung der ventilirenden Wirkung des Schornsteins wird die Krönung desselben mit Dr. „Wolpert’s“ Luft- und Rauchsauger vielfach empfohlen und angewendet; derselbe ist so construirt, daß jeder Wind, der auf denselben trifft, eine saugende Wirkung auf seinen Inhalt ausübt, und da selbst die sogenannte ruhende Luft beständig in beträchtlicher Bewegung ist, kann jene Aussaugung des Schornsteins niemals fehlen.
Durch solche Lüftungseinrichtungen, wenn sie mit Verständniß und Sorgfalt gehandhabt werden, kann sogar die Luft eines Alkovens oder eines andern ungünstig gelegenen Raumes erträglich gemacht und damit den Vergiftungen vorgebeugt werden, denen die Bewohner langsam, aber sicher anheimfallen. Wer erinnerte sich nicht der schrecklichen „schwarzen Höhle“ von Calcutta? Eine große Anzahl von gefangenen Engländern mußte dort in ihrer eigenen Ausathmungsluft ersticken. Und sollte dieselbe verdorbene Luft, wenn sie auch nicht so hohe Grade erreicht, um rasch tödtlich zu wirken, täglich und allnächtlich eingeathmet, nicht allmählich die Gesundheit untergraben? Wer einmal verglichen hat, wie er in eingeschlossener Luft und wie er in offener Luft geschlafen hat und wie ihm Morgens nach dem jedesmaligen Versuche [659] zu Muthe war, der wird wissen, daß er in der eingeschlossenen schlechten Luft unruhig und ohne rechte Erquickung geschlafen, nach dem Erwachen Abgespanntheit und schweren Kopf, trübe Augen und trübe Stimmung als Folgen davongetragen hat, während der Schlaf in reiner Luft ihn erquickt und gestärkt, in gehobener Stimmung dem Tageswerke entgegengehen ließ. Nicht die Hitze ist es, was uns im Sommer vergeblich die Nachtruhe suchen läßt, sondern der bei dem geringen Wärmeunterschiede zwischen drinnen und draußen äußerst geringe Luftwechsel, der uns Beklemmungen verursacht und die Ruhe verscheucht. Oeffnet die Fenster und sorgt für genügende Lüftung auch während der Nacht, so wird ein erquickender Schlaf auch im Sommer auf die Arbeit des Tages folgen!
Kinder sind wegen ihres lebhaften Athembedürfnisses noch empfindlicher gegen schlechte Luft als Erwachsene. Bleiche Farbe, mangelhafte Eßlust, schlechte, weinerliche Stimmung, nicht selten als Unart angesehen und bestraft, sind die nächsten Folgen. Zahlreiche Kinderkrankheiten, Scrophulose und Schwindsucht, diese verheerendste Seuche unserer Binnenluft-Bevölkerung, wurzeln und wuchern in schlechter Schlafstubenluft. Manche Arzt- und Apothekerrechnung, manche Brunnen- und Badecur, die in jedem Jahre mehr kosten, als die beste Ventilationseinrichtung für das ganze Leben, viel Siechthum und Elend könnte gespart werden, wenn man der Reinheit der Luft, dieses ersten Lebensbedürfnisses, genügende Sorgfalt widmen wollte.
Warum nur ist es so selten, daß schöpferisch bedeutende Menschen auf ebenem Wege ihr Ziel erreichen? Mühsal und Noth warten an ihrer Wiege; ein Kampf um’s Dasein ist ihre Jugend, bis sie endlich die Arbeit der Hände mit der geistigen Arbeit vertauschen.
Fast von jedem hervorragenden Künstler läßt sich erzählen, wozu er von Haus aus bestimmt war, bevor er Künstler wurde. Warum? Es ist, als hätte die Natur, wo sie echtes Gold geschaffen, auch gleich das Feuer hinzugefügt, in dem das Gold sich läutert.
Wenn wir zurückschauen auf die ersten Jahre Eduard Grützner’s, dem diese Zeilen gewidmet sein sollen, dann steht eine kahle ärmliche Bauernstube vor uns, um deren Tisch acht kleine Kinder sitzen, wie zwitschernde Schwalben um’s Nest. – Harte Diele, harte Züge, harte Kost!
Eduard Grützner war am 16. Mai 1846 zu Carlowitz in Schlesien geboren, auf der Erde, die sein Vater im Schweiße des Angesichts pflügte. Es hat ja, wenn man aus besseren Tagen darauf zurückschaut, etwas Hochpoetisches, so ganz aus dem ursprünglichsten Volksthum hervorzugehen; es ist ein Schatz unverwüstlicher Frische für den, der ihn zu heben weiß, aber ein Schatz, dessen Besitz auch mit tausend Schmerzen erkauft wird. Denn nur jene, die zutiefst in’s Leben des Volkes hineingesehen, wissen es ganz, was es heißt, ein Bauer sein, welche innere Gebundenheit, welche Menschenscheu, welch’ heimliche Last ein Bauer durch’s Leben trägt, und was es ihn kostet, sich loszureißen aus diesem Banne zur geistigen Freiheit.
Unserem kleinen schlesischen Freunde war diese Freiheit bestimmt, aber freilich verstanden die Eltern etwas Anderes darunter, als er selbst; er sollte ein katholischer Priester werden und die höchste Würde bekleiden, die ein Sterblicher erreichen könne. Für dieses Ziel schien kein Opfer zu groß, das Vater und Mutter sich auferlegten, aber auch der Pfarrer des Ortes, ein liebenswürdiger und menschenfreundlicher Mann, that alles Erdenkliche, um den kleinen künftigen Collegen zu unterstützen. Es war so gut gemeint, und dennoch stimmte es so schlecht zum Charakter, zu der ganzen Persönlichkeit des wilden Knaben, dem schon die ersten frohen Lebensgeister durch die Seele zuckten. Das arme Bauernstudentlein, das zur Theologie erzogen wird, es ist und bleibt ja doch immer ein wehmüthiges Bild – er soll so ernsthaft sein, und wäre doch viel lieber lustig; er ist etwas Anderes, als die übrigen Kinder im Dorfe, und wäre doch so gern ihres Gleichen; er weiß es noch nicht, aber er fühlt es doch mit ahnungsvollem Kinderherzen, wie er schon jetzt heranwächst aus seinem Kreise und innerlich vereinsamt.
So war es wohl auch unserem Freunde zu Muthe, als ihn die Eltern nun nach Neiße auf die Schule sandten, damit er sich mit der lateinischen Grammatik und dem griechischen Alphabet auseinander setze. Mit gekreuzten Beinen und mit aufgestützten Ellenbogen saß er dort auf den verwünschten Bänken und starrte in die gelehrten Blätter, die Cornelius Nepos einst – so vielen Jünglingen zum Leide – hinterlassen; widerwillig mußte er dem großen Kahlkopf Cäsar folgen, aber nicht seinen Heldenthaten, sondern nur den meisterhaften Worten, womit er sie beschrieb. Es war wohl schwer, solch auserlesene Geister zu bemeistern; er saß und brütete, und leise tändelte sein Stift über den Rand des verschwiegenen Blattes. Er kritzelte einen Römer hin, der mit preußischer Pickelhaube Schildwache stand vor dem neuen Capitel; es waren fast die sämmtlichen Genossen, die sich allmählich in dieser heimlichen Gallerie zusammenfanden, und welcher Schüler, der Carricaturen zeichnen kann, hätte dabei jemals seine Lehrer vergessen? Manch schwüles Gewitter zog sich darob zusammen über dem hohen Katheder, wo der Professor zürnend die Locken schüttelte, wie ein drohender Zeus; manch wohlverdienter Blitz fuhr aus seinen Blicken auf den kühnen Bauernknaben – es schlug auch bisweilen ein – aber den kleinen Schalk, der ihm im Nacken saß und über die Schulter sah, konnte nichts mehr vertreiben. Der war sein Trost in den lateinischen Schmerzensstunden und bei den Foltergebilden gleichschenkliger Dreiecke; es ging so hart mit dem Studiren und so leicht mit den lustigen Kritzeleien, die bald jedes leere Blatt bedeckten und sich sogar al fresco verbreiteten. Man zürnte und schalt, aber dennoch konnte man dem liebenswürdigen kleinen Missethäter, der den Beruf des Gesalbten so hartnäckig verneinte, nicht ernstlich böse sein, denn es kam ja auch ihm das alte Dichterwort zu statten:
Von allen Geistern, die verneinen,
Ist mir der Schalk am wenigsten verhaßt.
In Obertertia endlich kam es zum Bruche mit aller Gelehrsamkeit; der innere Drang zum Künstlerberufe war mächtiger, als die äußere Bedrängniß, in welche der halberwachsene Knabe durch diesen Wechsel seines Berufes gerieth. Denn daß die Eltern ihn nach einem solchen Schritte nicht weiter unterstützen würden, das schien wohl außer Zweifel; er konnte es ihnen ja kaum verargen, aber ebenso wenig konnte er ihrer Anschauung die seinige opfern. Und was mochte nun vollends sein Wohlthäter, der gute alte Herr Pfarrer, sagen?
Gleichwohl ging Alles besser, als er sich’s jemals gedacht. Denn obwohl er dem priesterlichen Berufe entsagt hatte, blieb ihm dennoch der alte liebenswürdige Pfarrherr ein Freund, der ihm mit Rath und That an die Hand ging; er sah in dem bedrängten Jüngling nicht einen geistlichen Deserteur, sondern nur den Menschen, den sein Herz überwältigt hatte, und einem solchen durfte ja auch er aus ganzem Herzen zugethan bleiben.
Bald kam von außen her noch weitere Hülfe. Es war der Baumeister Hirschberg, auch ein Schlesier von Geburt, dem man auf einer Reise nach seiner Heimath von dem begabten jungen Manne erzählt hatte, der jetzt mittellos und rathlos in der Welt stehe; sofort suchte er den Bedrängten auf, packte dessen Arbeiten zusammen und nahm sie mit sich nach München.
Nachdem die Künstler, die er dort zu Rathe zog, ihm das seltene Talent seines jungen Schützlings bestätigt hatten, ließ er denselben ohne weiteres kommen und stellte ihm die Mittel zur Verfügung, deren er auf Jahre hinaus für seine Studien bedurfte.
Grützner trat nun zunächst (es war im Jahre 1864) in die kunstgewerbliche Schule ein, die unter den Arcaden ihre Ateliers besaß, und zeichnete dort nach Gypsmodellen, um sich vor Allem
[660][661] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [662] mit den Elementen der Technik vertraut zu machen. Spielend fügte sich sein Talent, das er bisher nur zügellos geübt, in die festen geregelten Formen, und schon nach kurzer Zeit war er so weit, um in die Akademie der Künste überzutreten. Er arbeitete zuerst im Antikensaal, dann in der Malclasse bei Prof. Anschütz und trat nach Ablauf weniger Jahre in die Schule Piloty’s, der schon für seine Uebersiedlung den Ausschlag gegeben hatte. Welch andere Welt war das nun mit einem Male, wenn er neben dieses rege volle Künstlerleben die Erinnerungen der engen Schulstube und gar der engen Bauernstube hielt; welche Lust war dieses Lernen, das seinem geistigen Bedürfniß so ganz entgegenkam, wie leicht war hier die Unterwerfung unter Regel und Gesetz!
Nur was die Wahl der Stoffe betraf, konnte er sich nie ganz mit den Anschauungen seines Lehrers verständigen; hier erwachte bald der selbstständige, tief individuelle Geist, der in ihm lebte, zum vollen Bewußtsein. Er hatte ein historisches Bild beginnen müssen, ein tragisches Motiv aus dem Leben König Heinrich’s des Zweiten – und sein ganzer Sinn war doch nach der Sonnenseite des Lebens gerichtet. Die Arbeit war nun einmal unternommen und unerbittlich bestand der Meister darauf, daß das Begonnene auch vollendet werde – aber heimlich dazwischen nahm Grützner seinen eigenen Pinsel zur Hand und malte das erste jener lachenden Pfäfflein, die seinem Namen später so viel Ruhm brachten. Beide Theile hatten Recht. Piloty war ja weit davon entfernt, die künstlerische Individualität zu unterdrücken, im Gegentheil: er beschützte sie allenthalben und keine Schule hat vielleicht so viel eigenartige, so grundverschiedene Meister herangebildet, wie die seinige, aber während der Lehrzeit mußte nach seiner Meinung auch der Wille des Lehrers der einzig maßgebende sein. Erst wenn er die Schüler mit vollem Können entlassen, dann mochte Jeder das, was er konnte, auf seine Weise anwenden. Andererseits aber kann man es wohl auch einer schöpferisch begabten, übersprudelnden Natur kaum verdenken, wenn sie bisweilen forschend erproben möchte, was ihr innerstes Ich verlangt, wie sich’s auf eigenen Füßen steht, was man kann ohne den Lehrer. Nur eine Natur, die jedes Talentes bar ist, wird den heimlichen Reiz eines solchen Versuches verkennen.
Noch ein anderes größeres Gemälde stammt indessen aus den Lehrjahren Grützner’s, und dieses war allerdings ganz aus dem Boden seiner eigensten Neigung hervorgewachsen. Es stellt die Recrutenmusterung Falstaff’s dar. Schon auf der Schulbank war dem kleinen Studiosus – Gott mag es wissen wie – ein Abdruck Shakespeare’s in die Hand gefallen, und die Gestalten, die er sich damit eingeprägt, ließen ihn nun nicht mehr rasten und ruhen. Es war der mächtigste Eindruck seiner ganzen Jugend, um so gewaltiger, je unberührter ja sein ganzes Wesen noch von geistigen Einflüssen war. Was konnte natürlicher erscheinen, als daß er diese Gedanken auch in sein Künstlerleben hinübernahm, daß er die Bilder, die ihm vor der Seele schwebten, auch zum Bilde zu gestalten strebte? So war auch in dieser Richtung schon frühe das Gebiet angedeutet, auf welchem Grützner einst so Unübertreffliches leisten sollte, denn seine Fallstaff-Gruppen sind nicht minder ein Unicum, als jene schalkhaften Motive, die er aus der Kutte hervorgezaubert. Die „Recrutenmusterung“ aber ging nach England und ward damit der erste Schritt auf dem Wege jener internationalen Popularität, deren sich der jugendliche Meister heutzutage erfreut.
Seit dem Ende der sechsziger Jahre, nachdem er die Schule Piloty’s verlassen, stand Grützner völlig auf eigenen Füßen und war nun allein Herr seiner Arbeit, seiner Inspirationen und des unbezwinglichen Humors, der in ihm sprudelte.
Zwei heitere Bilder, die in jener Zeit entstanden, weisen uns zunächst in die Theaterwelt; das eine stellt eine Garderobe dar, in der die Mimen sich zum Wettkampf schmücken; das andere ist betitelt „Mephisto hinter den Coulissen“ und läßt genugsam errathen, was dieser geniale Teufel der verschämten kleinen Tänzerin in’s Ohr raunt. Allein dies war nur ein kleiner „Abstecher“, der den Künstler bald genug wieder in jene Sphäre zurückführte, deren unübertroffener Bildner er geworden ist. Wir meinen jene weindurchdufteten Idyllen aus dem Klosterleben.
Man kann es wohl unzählige Male hören, wie trefflich Grützner das „mönchische Treiben“ zu „geißeln“ wisse, aber wahrlich, wenn wir unseren Freund richtig verstanden haben, dann war das mit nichten sein Ziel. Die Kunst kennt überhaupt keine Tendenz; es ist nicht Satire, die er uns bietet, sondern Humor, und zwischen beiden liegt eine tiefe, tiefe Kluft; zwischen beiden steht die Liebenswürdigkeit des Menschen, der die Dinge hinnimmt, wie sie sind, und der lachend lebt und leben läßt. Grützner’s Klosterbilder sind mit völliger Objectivität empfunden und erdacht; sie athmen gleichsam den lebensfrohen Geist; sie sind gewissermaßen die künstlerische Verkörperung der alten – Carmina burana.
Was bedeutet dieses fremde staubig-gelehrte Wort? Im blauen Hochland, am Fuße der zerklüfteten Benedictenwand, stand einst ein uraltes Kloster, Buren oder Benedictbeuern genannt, und unter den Schätzen der tausendfachen alten Pergamente war auch ein Buch voll farbenglühender Lieder – Carmina burana. Es war strenge verschlossen und hing an einem eisernen Kettlein, damit nicht jeder unberufene Novize darin blättern und seine Erbaulichkeit mit unzeitigem Widerhall der prächtigen Verse stören möchte, die würdigen Alten aber verthaten damit wohl manches köstliche Stündlein. Und sie thaten recht; sie hatten der Welt genug an geistiger That gegeben, um auch von der Welt ein frohes Wort dahinzunehmen; ihrem Schaffen that es wahrlich keinen Eintrag, wenn sie bisweilen in lauer Sommernacht dieser fröhlichen Strophen gedachten.
Und so wie jene Lieder gedichtet sind, in jenem lebensfrohen Geiste, sind Grützner’s Bilder gemalt. Je besser sie aber dem Maler gelangen, desto schlechter gelingt es dem Erzähler, ihren Inhalt wiederzugeben; ihr Werth liegt eben darin, daß es so ausschließlich malerische Motive sind – man muß sie sehen, nicht hören. Die Darstellung des Künstlers hat sie erschöpft.
In demselben Geiste liebenswürdiger Naturwahrheit sind auch die reizenden Idyllen gehalten, die Grützner dem altbaierischen Landleben abgelauscht hat, sein „Jägerlatein“, die „Schwere Wahl“ etc.
Es ist bezeichnend genug, daß diese Bilder, so viel auch über sie gesprochen und geschrieben ward, noch nie einen Tadler gefunden haben. An Neidern freilich hat es ihnen nicht gefehlt, und vielleicht war es zunächst der Widerhall dieser Empfindung, wenn man bisweilen klagen hörte, daß ein solches Talent nur an derlei alltäglichen Stoffen und bürgerlichen Motiven sich erprobe. Denn der Hang zur Verkleinerung wurzelt ja unendlich tiefer im deutschen Wesen, als der Hang zur Ueberschätzung; mit einem gewissen Behagen erinnerte sich so Mancher bei dieser Gelegenheit an das geistreiche französische Wort: „il est grand dans son genre, mais son genre est petit.“
Grützner hat seinen Freunden die Freude gemacht, auch diesen Einwand glänzend zu widerlegen, als er vor etwa drei Jahren den großartigen Cyclus seiner sieben Falstaffbilder begann. Hier stand er nicht mehr auf dem ländlich naiven, sondern geradezu auf classischem Boden; der Maßstab, der an diese Arbeiten gelegt werden mußte, war ja von vornherein durch den Namen Shakespeare gegeben. Es durften nicht bloße Illustrationen sein, sondern eine geistig selbstständige That ist es gewesen, welche jene Gestalten künstlerisch neu erschuf, die der Dichter vor Jahrhunderten geschaffen hatte. Daß diese Aufgabe glänzend gelöst war, bewies schon der erste unmittelbare Eindruck, den die Originale bei ihrer Ausstellung im Münchener „Odeon“ hervorriefen; auch der Laie, der sich keine Rechenschaft darüber giebt, worin die Macht eines künstlerischen Eindruckes wurzelt, empfand es klar, welcher Schöpferkraft er hier gegenüberstand. Dieser geistigen Bedeutung entsprach übrigens auch der äußere Erfolg; unter den großen Kunstinstituten, die sich um das Recht der Vervielfältigung bewarben, war selbst die weltberühmte Firma Goupil in Paris, doch gelang es der „Photographischen Gesellschaft“ in Berlin, ihr den Sieg zu entreißen. Die Originale befinden sich im Breslauer Museum; zwei Holzschnitte aus dem berühmten Cyclus, die aus Knesing’s geschätzter Werkstatt hervorgegangen, haben die Leser hier vor Augen, uns aber erschien es thöricht,[3] Bilder weitläufig zu beschreiben, die so klar für sich selber sprechen.
Im Verlaufe weniger Jahre ist Eduard Grützner aus einem jungen Akademiker ein gefeierter Meister geworden; auf allen großen Ausstellungen der letzten Zeit wurden seine Werke bewundert [663] und prämiirt, und weit über die Grenzen des Vaterlandes hinaus, ja selbst weit drüben über dem Meere hat sein Name ruhmvollen Klang. Er selbst aber ist schlicht und anspruchslos geblieben, wie ehedem, ein Liebling des kleinen heiteren Kreises, auf den er seinen geselligen Verkehr beschränkt, denn die Sympathien, die er als Künstler gefunden, verdient in gleichem Maße der Mensch.
Wer noch jung ist, wie er, der spricht nicht viel von der Vergangenheit, aber gedenken mag er derselben wohl tausendmal, wenn er jetzt in seiner prächtigen und doch so trauten Werkstatt an der Arbeit sitzt. Keiner von uns kann die Fülle der Lebensbedingungen, unter denen seine Persönlichkeit sich entfaltet hat, zergliedern; er kann nicht entziffern, was er dem einen oder dem anderen Umstande verdankt, aber vielleicht war es doch gerade der harte Boden der Bauernwelt, aus dem der junge Meister einst seine urwüchsige Frische und dieses kerngesunde Können gewann. Denn eine Macht, die uns lebenslang beherrscht, liegt unsichtbar in jener Erde, aus der wir hervorgewachsen sind.
Oft erscheint mir im Traume der canadische Wald, den ich, längst kein Jüngling mehr, durchwanderte, als nach achtzehnjähriger Trennung mein Herz ungestüm gesagt hatte: Ich will Wilson wiedersehen. Wilson und ich waren nicht eigentlich Freunde gewesen. Wir hatten uns nur Einen Tag gekannt, doch jener Tag blieb mir unvergeßlich. Er hatte ein junges reiches Mädchen entführt, aber er hatte es arm entführt, denn er wollte nichts haben, als Eleanor, und Eleanor ließ sich arm entführen, denn sie wollte nichts haben, als Wilson.
Es war in Ohio, wo ich beide am Fuße eines Hügels fand, das Mädchen bewußtlos und Wilson verwundet. Sie waren auf Pferden entflohen; unweit der Stelle, wo ich sie fand, in tiefer Nacht, waren sie von Freibeutern überfallen und der Pferde beraubt worden; Wilson hatte beinahe mit Verlust seines Lebens Eleanor ihren Händen entrissen. Er hatte eine Wunde am Kopfe und eine am Oberarm und sagte mir, er habe vergeblich nach Wasser gesucht und sei jetzt von dem Blutverluste ganz entkräftet.
„Aber,“ setzte er hinzu, „lassen Sie mich sterben, denn Eleanor ist schon todt.“ Nach diesen Worten verlor er das Bewußtsein. Sie waren beide jung und beide schön; sie schwarz, er blond. Auf Beider Stirn lag Geist und Offenheit, auf Beider Lippen die Liebe und der Tod.
Ich lauschte an des Mädchens Munde – sie athmete noch. Wäre sie todt gewesen, so hätte ich Wilson ruhig sich verbluten lassen; denn ich hatte errathen, daß ich hier jener positiven, großen Liebe begegnet war, nach welcher es nichts mehr auf Erden giebt.
Nachdem ich Beide durch Branntwein in’s Leben zurückgerufen und Wilson’s Wunden verbunden hatte, ließ ich sie sich auf mein Pferd setzen und brachte sie zu einer Farm, in welcher tüchtige, gute Menschen wohnten, auf die ich mich verlassen konnte. Wilson dachte nach Canada zu entfliehen und dort durch Jagd und Pelzhandel sich und seine Frau zu ernähren. Da ihm seine Baarschaft, welche seine ganze Habe war, geraubt worden, zwang ich ihm meine Börse auf. „Wenn ich es Ihnen aber nicht zurückgeben kann?“ sagte er zaudernd.
„Bezahlen Sie mich mit Edlerem, als mit Geld, bezahlen Sie mich mit Freundschaft!“ erwiderte ich.
„So lange ich lebe, werde ich Sie lieben,“ sagte er, mit männlichem Ernst mir die Hand drückend.
Und die schöne Eleanor rief mit süßer Stimme: „So lange ich lebe, werde ich für Sie beten.“
Sie konnte nicht lange für mich beten, denn sie starb ein Jahr später, nachdem sie Wilson ein kleines Mädchen in die Arme gelegt und gesagt hatte:
„Sie soll Eleanor heißen.“
Wilson hatte sich weit hinter Montreal im tiefen Wald eine Hütte gezimmert und mit einigen Indianerstämmen, besonders mit den Creeks, durch Klugheit und Wohlwollen gute Beziehungen geschaffen. Er jagte mit ihnen und verkaufte die erbeuteten Felle an die Unterhändler der Canadischen Pelz-Compagnie. Nach fünfzehn Jahren verließ er den Wald und baute sich vor demselben ein festes, warmes Häuschen. Jagd und Pelzhandel blieben seine Beschäftigung. Wenn ich einen Brief von Wilson bekam, war mir jedesmal wie einem Wanderer, der von der staubigen, geräuschvollen Landstraße in Waldeinsamkeit tritt.
Er schrieb mir nicht oft, alle zwei Jahre etwa einmal; in seinen Briefen fand sich dann und wann ein stylistischer Fehler, aber nie ein Gemüthsfehler.
Wilson war ein ganzer Mann. Ich wollte ihn nach achtzehnjähriger Trennung wiedersehen.
Acht Meilen von seiner kleinen Besitzung führte mich mein Weg durch tiefen Wald. Ich trat in eine grüne Nacht. Zuweilen stahl sich in diese Nacht ein Sonnenstrahl, fein wie ein Goldfaden, zitternd wie die Seide eines Spinnengewebes. Mit fessellosem Ungestüm brauste hier und dort ein niederstürzendes Wasser, und über mir ertönte der wilde Schrei und der Flügelschlag großer Vögel. Hier pochte das Herz der Natur; hier wehte ein Hauch der Ewigkeit. – Ich ging neben meinem Pferde hin in jener Stimmung, in welcher wir fühlen, daß jeder Schritt, mit dem wir uns von der Natur entfernten, uns von der Wahrheit entfernte. All unser Treiben ist verkehrt. Unser Leben ist ein Lügennetz, in dem des Herzens freier Schlag erstickt. Das Blut, das die Natur uns mitgegeben, wird zu Wasser oder Gift. Wir vergessen, daß die Natur unsere Mutter ist, und daß nach einem schmerzensvollen Leben, wenn alle Himmel, die wir über sie erhoben, uns lügen sollten, sie uns dennoch ihren Schooß zur Ruhe öffnet. Wir haben der Natur vergessen. Nur wenn sie im Gewitter spricht oder Berge und Meere über die menschliche Lüge wälzt, dann denken wir ihrer und – zittern.
Ich mußte mich in solchen Gedanken ganz verloren haben, denn plötzlich sah ich, daß ich vom richtigen Pfade abgekommen war. Ich befand mich vor einer Schlucht, aus der ein gurgelndes Wasser quoll und links über zerklüftetes Gestein zur Tiefe rann. Ich suchte den Weg, auf dem ich hergekommen, allein ich gerieth in immer tiefere Nacht. Schwarze Tannenäste spannten ihre Bogen bis zur Erde herab; ich versank bis hoch über die Knöchel in feuchtes Moos und mein Pferd begann ängstlich zu wiehern und wollte nicht weiter gehen. Ich erinnerte mich des Pfeifchens, welches mir am verflossenen Tage ein Farmer gegeben hatte.
„Ein Indianer-Ohr wird Euer Pfeifchen weithin hören, falls Ihr Euch verirren solltet. Die Creeks und freundliche Leute und Wilson’s gute Freunde,“ hatte der Mann gesagt. Ich pfiff. Nach einer Weile tönte mir schwach, gleich einem fernen Echo, ein Pfiff entgegen. Vielleicht ist es ein Echo, dachte ich, und wartete; dann pfiff ich noch einmal und wieder kam mir die Antwort entgegen, aber etwas stärker und hörbar näher.
Nachdem ich mit einem unbekannten Wesen mehrere, immer lebhaftere Pfeifenrufe getauscht, hörte ich ein leises Geräusch wie das kollernder Erde und dann ein anderes: das Knicken schwerer Aeste. Ich wollte rufen, aber die Stimme versagte mir – zwischen zwei Tannenästen, dicht vor mir, brannten in einem braunroten Gesicht zwei tiefliegende schwarze Augen und bohrten ihren ruhigen Blick in den meinen. Ich stand gebannt, versteinert, aber nur äußerlich. Die Verzauberung, der ich unterlag, berührte meine Seele nicht und ich empfand keine Bangigkeit und kein Unbehagen; ich fühlte, daß ich mich einem starken und gerechten Manne gegenüber befand. Da er mich beobachtete, beobachtete ich ihn auch.
Sein Gesicht war jung, lang und schmal. Nie habe ich ein Antlitz gesehen, das jenem an düsterem Ernst, an Festigkeit und Entschlossenheit gleich käme. Sein Auge, ein wenig von den Lidern bedeckt, sagte: Ich weiß nicht, was die Furcht ist. Unter einer schmalen scharlachrothen Binde fiel dichtes blauschwarzes Haar in Strähnen an den Wangen nieder; einzelne Büschel hingen über die Binde und auf die ruhige Stirn herab, welche [664] durch gerade und über der Nase sich begegnende Brauen abgeschlossen war. Die lange gebogene Nase hatte etwas Strenges; die ruhig geschwungenen nicht dicken Lippen drückten unerschütterliche Entschlossenheit, aber auch viel Güte aus. Dieses Gesicht war das Ideal des Indianertypus.
Endlich trat auch die Gestalt vor mein Auge und der Jüngling fragte mich mit ruhiger, angenehmer Stimme und in leidlichem Englisch:
„Wohin wollt Ihr?“
„Zu Jonathan Wilson.“
„Kennt Ihr Wilson?“
„Ja, seit achtzehn Jahren.“
„Liebt Ihr Wilson?“
„Wilson ist mein Freund.“
Nach diesem Verhör wandte er den brennenden Blick von mir, nahm mein Pferd am Zügel und sagte:
„Kommt!“
Mein Pferd gehorchte ihm und schritt neben ihm her wie ein Lamm. Ich folgte ihm. Er zog ein Messer aus seinem Gürtel und hieb hier und dort die Zweige ab, welche dem Pferde keinen Durchgang gestatteten. Als wir auf den Weg kamen, von dem ich abgeirrt war, übergab er mir die Zügel, sagte wieder: „Kommt!“ und schritt schweigend vor mir her. Er war nur mittelgroß, mager, aber sehnig gebaut; der ziemlich kleine Kopf saß auf einem kurzen Halse, dessen Sehnen hoch sichtbar waren und wie unzerreißbare Stränge nach den breiten Schultern liefen.
Seine Haltung war stolz, aber nicht herausfordernd, sein Gang ruhig, leicht und so völlig geräuschlos, daß er vor mir hinwandelte, als berührte er den Boden nicht. Er trug einfache Mocassins, ohne jede Verzierung; außer einem Gürtel, in welchem sein Messer stak, und einem Fuchsfelle, das theilweise seinen Körper bedeckte, trug er keine Kleidung. Eine Büchse hing ihm über die Schulter.
„Wie heißt Ihr?“ frug ich ihn.
„Creek.“
„Ich meine nicht den Stamm, sondern Euch selbst.“
„Creek,“ wiederholte er.
„Wo ist Euer Gebiet?“
Er wandte sich um, zeigte mit dem Kopfe nach Westen und beschrieb dann mit der Hand einen Halbkreis.
„Jagt Wilson mit Euch?“
Er nickte stumm. Ich verstand, daß er lieber schwieg als sprach, und fragte ihn nun nichts mehr. Ich gab mich ganz den Eindrücken des majestätischen Waldes und der magischen Anziehung des Indianers hin. Plötzlich blieb dieser stehen, legte eine Hand auf meinen Arm und einen Finger auf seinen Mund. Sogleich hielt ich das Pferd an. In dem Gesichte des jungen Mannes war kaum eine Veränderung sichtbar; nur die Nasenflügel waren weiter geöffnet und bewegten sich; er witterte etwas. Ich blickte umher und gewahrte in einem Felsen eine große dunkle Oeffnung. Nach einer Weile sagte der Indianer:
„Der Bär kommt. Seid ruhig – laßt Creek machen!“
Wirklich kam aus der Höhle langsam und mit gesenktem Kopfe ein schwarzes Ungetüm; nach einigen Schritten erhob es den Kopf und schnüffelte und that wieder ein paar träge Schritte. Jetzt löste der Indianer die Schnur, welche das Fuchsfell zusammenhielt, und es fiel hinter ihm zur Erde, wo er auch seine Büchse geräuschlos niederlegte. Nackt und mit keiner andern Waffe, als dem Messer, schritt er dem Bären entgegen und so ruhig, als ob er ihm zu einer Unterredung entgegen ginge. Als der Bär ihn gewahrte, blieb er stehen und gab dumpfe, drohende Laute von sich. Creek ging ruhig weiter. Ich hatte zwar ein großes Vertrauen in die Unerschrockenheit und die Kraft des jungen Mannes, allein sein Vorgehen war eine furchtbare Verwegenheit; mein Haar sträubte sich und ich zog mein Messer aus der Scheide, um dem Tollkühnen im Falle der Noth beizustehen.
Der Bär stellte sich jetzt und zeigte seine fletschenden Zähne, doch nur einen Augenblick; dann fing er an, dem Indianer entgegen zu laufen. Nun blieb dieser stehen und ließ ihn heran kommen. Als sie etwa sechs Schritte von einander entfernt waren, hielt die Bestie an und stellte sich wieder. Entsetzen rann mir durch die Adern, als ich den Jüngling zwei Sätze thun und sein Messer in dem Rachen des Thieres verschwinden sah. Ich lief hinzu: das Ungethüm lag röchelnd am Boden, und Creek zog sein Messer aus dem dampfenden Schlunde. Dann gab er ihm noch einen Stich zwischen die Rippen und schleifte ihn zur Höhle zurück. Als ich ihm dabei helfen wollte, sagte er:
„Laßt! Creek thut es allein.“
Darauf wusch er seine Arme und das Messer in einem Bache und trat ruhig, als ob nichts geschehen wäre, zu mir. Ich drückte ihm ruhig die Hand und sagte:
„Ihr seid ein Held.“
Er verstand das Wort nicht, Nachdem er sein Fuchsfell sich über die Schulter geworfen, sagte er wieder: „Kommt!“ und schritt mir voran. Als wir an der seitwärts liegenden Höhle vorüber kamen, warf er einen Blick auf dieselbe und lächelte. Dieses war das einzige Lächeln, welches ich an ihm gesehen habe.
Nach einem langen, stummen Marsche gelangten wir zu einem Blockhause; da führte er das Pfeifchen, welches ihm neben einem Büschel weißer Bärenklauen an einer rothen Schnur auf der Brust hing, zum Munde; er pfiff. Ein hochgewachsener Mann trat heraus und gab dem Indianer ein Päckchen, welches dieser in seinen Gürtel steckte. Darauf drückten sich die Beiden die Hand und trennten sich, ohne ein Wort gesprochen zu haben.
„Wer war der Mann?“ fragte ich im Weitergehen.
„Ein weißer Jäger,“ erwiderte er.
„Was gab er Euch?“
„Briefe.“
„Für wen?“
„Für die Compagnie.“
Mit diesen Worten zog er aus dem Gürtel ein anderes Päckchen, welches er darin verborgen hatte, und zeigte es mir. Mit Erstaunen sagte ich:
„Wie könnt Ihr einen Bären herausfordern, wenn Ihr anvertraute Briefe bei Euch tragt?“
„Creek hat ein Messer,“ erwiderte er ruhig.
„Aber der Bär konnte Euch niederwerfen.“
Er schüttelte den Kopf:
„Creek ist stärker als der Bär.“
Er hatte Recht; er war stärker als der Bär. – Im Weitergehen drang ein kläglicher Ruf zu unserem Ohre, und wir sahen einen Häher mit gebrochenem Flügel und gebrochenem Beine jämmerlich über den Weg hüpfen. Der Indianer nahm ihn in die Hand und drückte ihm mit drei Fingern die Kehle zu. Als der Vogel todt war, warf er ihn in’s Dickicht und sagte:
„Vogel, der nicht fliegen kann, ist armes Thier.“
„Ihr habt ein gutes Herz,“ meinte ich.
Er schritt weiter, ohne ein Wort zu sagen. Echte Helden sind nicht eitel.
Endlich lichteten sich die Stämme des Waldes. Rothgoldene Lichtströme schütteten ihren Glanz herein; Creek wandelte vor mir, wie in einer Glorie. Als wir auf eine große, von drei Seiten mit Wald umgebene Wiese traten, blieb er stehen und sagte, mit dem Finger nach einem weißen Punkte zeigend:
„Dort, wo der Strauch ist, wohnt Jonathan Wilson.“
Ich drückte ihm die Hand und dankte ihm. Mit seinen ruhigen Gluthaugen mich fest anblickend, fragte er wieder:
„Liebt Ihr Wilson?“
„Ja.“
„Manche Weißgesichter lügen. Wenn Ihr Wilson Böses thut, holt Creek Euren Scalp.“
Es schauerte mich. Weder Wildheit noch Drohung lagen in seiner Stimme; er sprach jene Worte mit vollkommener Gelassenheit. Aber gerade diese Gelassenheit machte sie furchtbar. Wäre ich Wilson’s Feind gewesen und in schlimmer Absicht zu ihm gegangen, vor des jungen Indianers Blick und Stimme hätte ich vernichtet zu Boden sinken müssen.
„Creek,“ sagte ich, „ich habe Vertrauen zu Euch, habt auch Vertrauen zu mir! Geht Ihr zuweilen zu Wilson.“
„Ja, Creek geht zuweilen zu Wilson?“
„Ist seine Tochter noch bei ihm?“
„Fragt dies Wilson!“ erwiderte er und schritt stolz in den Wald zurück. Ich blickte ihm nach, bis er hinter den Stämmen verschwand. Dann setzte ich mich auf einen Stein und schaute immer in den Wald hinein, wo jetzt ein blauer, goldschimmernder Duft die Tiefen zu verschleiern begann.
[665]
Mit einem Gefühle von Beschämtheit verglich ich mich mit dem Indianer. In ihm war rauhe Größe, in mir höfliche Kleinheit; er war ein Urbild, ich eine Schablone; er war ein Charakter, ich ein Schwätzer. Und doch war er nur ein Indianer und ich ein gebildeter Mensch, der vieles weiß und stolz darauf ist und die Indianer wie Hunde behandelt, sich eine seidene Cravatte kunstvoll um den Hals schlingt und seine Hände mit Handschuhen bedeckt, in gepolstertem Wagen fährt und im Salon sich mit Eleganz und Witz zu bewegen versteht, gebratene Lerchen ißt und Champagner trinkt, wissenschaftliche und humane Gesellschaften gründet und mit Branntwein die Indianer vertilgt.
Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Der Ruf wilder Tauben drang aus dem Walde zu mir. Da packte mich ein Weh am Herzen. Mein Pferd am Zügel fassend schritt ich schnell über die Wiese hin, dem weißen Häuschen zu, welches traulich am schwarzblauen Waldesrande hingebettet lag.
[666] „Wohnt hier Jonathan Wilson?“ fragte ich einen stattlichen Mann mit gebräuntem Gesicht und grauem Bart, der vor dem Hause saß.
„Der bin ich selbst,“ erwiderte er, sich von der Bank erhebend; „wer seid Ihr?“
„Wer wird der Mann sein, der von Ohio nach Canada reist, um Jonathan Wilson zu sehen?“ fragte ich.
Er forschte eine Weile in meinen Zügen und rief dann: „Von Ohio? Dann seid Ihr der Mann, dem ich Alles verdanke; o guter Herr, tretet ein!“ Wir drückten uns die Hände, dann aber sagte er mit feuchtem Blick: „Nein, für so viel Freundschaft muß ich Euch anders danken,“ und schlang seine Arme um meinen Hals. Schweigend führte er mich in eine große Stube zu ebener Erde, wo ein junges Mädchen vor einer Schüssel saß und glänzende Bohnen aus den grünen Schoten streifte, welche, ein ganzer Hügel, auf dem Tische lagen.
Sie erhob sich erst, als Wilson sagte: „Eleanor, das ist der Mann, der Deiner Mutter und mir das Leben rettete.“
Mit schnellen Schritten trat sie zu mir und sagte: „Herr, ich bin kein feines Mädchen; ich bin im Walde erzogen und weiß nicht viel zu sprechen, aber ich habe ein dankbares Herz.“
Sie sprach mit Befangenheit, aber ihre Haltung und ihr Blick waren sicher; ihre Gestalt war klein, aber von stolzem Ausdruck.
„Sie hat die Züge der Mutter,“ sagte ich, „und die Farben des Vaters: goldenes Haar und veilchenfarbene Augen.“
„Nein,“ meinte Wilson, „die Augen hat sie von der Mutter.“
„Ich glaubte, Eure Frau hätte graue Augen gehabt.“
„Für andere Leute, ja, aber nicht für mich. Wenn sie mich ansah, waren ihre Augen wie zwei Veilchen. O Herr, die Wunder der Liebe –“
Eleanor entfernte sich. Es ward mit der Dämmerung kühl; Wilson warf zwei ungeheure Holzblöcke in den großen Kamin und entzündete sie mit einer brennenden, träufelnden Harzfackel. Ein köstlicher Geruch durchdrang die Stube; eine mächtige Lohe flammte auf und warf ihren rothen Schein auf den gescheuerten Boden und die Wolfsfelle, die ihn zum Theil bedeckten.
Nachdem ich mich mit Wildbraten gestärkt und Wilson die Fensterladen, Haus und Stall geschlossen hatte, setzten wir uns zur Seite des Kamins.
„Wilson,“ sagte ich, „Ihr seid früh grau geworden.“
„Früher, als Ihr glaubt, mein Freund,“ erwiderte er, in das Feuer schauend. „Eleanor hat die blonde Farbe meines Haares lieb gehabt; als sie starb, nahm sie die Farbe mit.“
„Wißt Ihr, Wilson, daß, seit ich den canadischen Wald gesehen, ich die Städte hasse und die sogenannte Civilisation?“
Wilson lächelte: „Ja, ja, ich verstehe Euch und muß Euch Recht geben. Das Leben in den Städten verdünnt das Blut; es macht uns krank an Leib und Seele.“
„Wenn ich noch jünger wäre, Wilson, bei Gott, ich würde bei Euch bleiben!“
„Versucht es einmal! Allein ich fürchte, Ihr seid die Stadt, den steinernen Gürtel, der Euch so viele Jahre eingeengt, zu sehr gewöhnt, um ihn nicht zu vermissen. Die Größe dieser Einsamkeit würde Euch nicht langweilen, o nein, aber sie würde Euch entsetzen.“
„Entsetzen?“
„Ja, lieber Freund. Ich habe in den ersten Jahren meines Waldlebens Tage gehabt, wo ich glaubte, wahnsinnig zu werden. Nie habe ich vor den Thieren des Waldes gezittert, aber vor dem Walde selbst. Die Tannen und Kiefern, diese stummen Kolosse mit Aesten, wie schwarze ausgespannte Flügel, die Bewegungen und das Säuseln des Laubes, das Glitzern im Moos, das in langen Büscheln von den Aesten der Nadelhölzer niederhängt und im Winde weht, die Stimmen der Quellen, der Bäche und Katarakte, der Schrei der Vögel und das melancholische Girren der Wildtauben, der dröhnende Hall niederstürzender Bäume und, mein Freund, die furchtbare Stille – das hat mich oft bis in’s Mark der Gebeine frieren gemacht. In solchen Stunden war die Natur für mich ein Orakel und ich selber war der Priester, der auf dem Dreifuße sitzt und dem das Herz im Leibe zittert und das Haar auf dem Haupte sich sträubt.“
„Ist es wahr, Wilson, daß man im Walde wieder an Gott glauben lernt?“
„An Gott glauben?“ sagte er sinnend; „was denken wir uns eigentlich unter ‚Gott‘? Ich finde, daß die Indianer das beste Wort für ihn haben; sie nennen ihn den ‚großen Geist‘ und ahnen in ihrer Naivetät nicht, wie viel sie damit sagen. Als ich noch in den Städten lebte und mich zu unterrichten suchte, las ich allerlei gelehrte Subtilitäten, aber das Hirn wurde mir schwach davon und Glaube und Hoffnung schwanden mehr und mehr. Hier, in den canadischen Einsamkeiten, habe ich mehr als einmal die Fittige des ‚großen Geistes‘ rauschen hören, und von seiner Stimme kam ein geheimnißvoller Hauch zu mir. Euch, lieber Freund, der viel mehr denkt als ich, Euch würden diese Einsamkeiten tiefsinnig machen. Man erträgt sie nur, wenn man durch körperliche Arbeit und Jagd die Gedanken und die feineren Sinne in den Hintergrund drängt. Man muß ein wenig Indianer werden.“
„Indianer! Ich habe Einen getroffen, der wahrlich kein geringer Mensch ist. Er kennt Euch und geleitete mich bis vor den Wald. Er lief, nackt und ein Messer in der Hand, einem Bären entgegen, als wäre es ein zahmer Hund.“
„Dann war es mein Freund Creek,“ rief Wilson.
„Ja, so nannte er sich. Aber ich glaubte, dies sei der Name des Stammes und nicht der seine.“
„Es ist der Name des Stammes und der seine. Creek wird von allen Amerikanern, die ihn kennen, seines festen und zuverlässigen Charakters wegen geachtet und seiner Stärke und seines Muthes wegen bewundert. Er ist der Stolz seines Stammes und der Schrecken seiner Feinde.“
„Und doch scheint er noch jung zu sein.“
„Er ist einundzwanzig Jahre alt.“
„Ich bekenne Euch, Wilson, daß er eine wahre Verzauberung auf mich ausübte und daß ich mir sehr klein, sogar erbärmlich neben ihm erschien.“
Wilson lachte. „Er kann schrecklich sein und doch auch wieder sanft. Wenn er zu mir kommt, ist er still und scheu wie ein Kind.“
Auf meine Frage, wie es komme, daß er die Briefe der amerikanischen Jäger an die Compagnie befördere, antwortete Wilson:
„Die Creeks sind in Verbindung mit der Compagnie; sie liefern Felle und erhalten Geld dafür. Da sie aber von den Unterhändlern betrogen wurden, zogen sie es vor, direct mit der Compagnie zu verhandeln, und wählten zu ihrem Repräsentanten Creek, weil er der Intelligenteste und Muthigste des Stammes ist. Den Beamten der Station gefiel sein würdiges Benehmen, und sie anerkannten seine Zuverlässigkeit. Seit zwei Jahren schon vertrauen sie ihm Briefe und selbst Geldsendungen an die Jäger an, welche im Gebiete der Creeks sich angesiedelt haben, und auch die königliche Landvermessung betraut ihn mit Briefen an die verschiedenen Stationen. Seine Körperkraft und Gewandtheit sind nicht minder groß, als seine Verwegenheit. Wenn er auf die Büffeljagd geht, beschützt er seinen Körper so wenig, wie wenn er den Bären herausfordert. Mit Messer und Speeren bewaffnet, schwingt er sich auf sein Pferd, und wenn er eine Büffelheerde gefunden hat, reitet er mitten hinein, wenn er aber darinnen ist, schwingt er sich, immer mit der wüthigen Heerde fortreitend, von seinem Pferde auf einen Büffel und wirft seine Speere nach ihnen, bis er so viele erlegt hat, wie er sich zu erlegen vorgenommen. Ich sah ihn einmal auf seinem Pferde wie ein rasender Gott dorthinfliegen, von wo das Stampfen und das Gebrüll der Büffel herdrang. Ich folgte ihm, aber ich hatte nicht seine Feuernatur. Mein Pferd blieb ein Pferd; das seine ward unter ihm ein Vogel. Bald sah ich nur noch seine Sporen in der Sonne blinken, und als ich ihn endlich erreichte, war die Büffelheerde entflohen; er stand zwischen sieben erlegten Büffeln und sah ruhig seinem grasenden Pferde zu. Auf dem Heimritte überfiel uns ein furchtbares Gewitter; bleischwarze und fahlbraune Wolken flogen mit dem Sturme; die Blitze fuhren bis zu unseren Füßen herab, und der Hagel fiel auf uns wie ein Steinregen. Creek, der, wie immer, wenn er jagt, völlig unbekleidet war, lachte, als der Hagel auf ihn schlug, und als ich bei einem Donnerschlage, der Himmel und Erde schien zertrümmern zu wollen, sagte: ‚Creek, heute kann es uns schlimm ergehen,‘ erwiderte er gelassen: ‚Der große Geist hat eine schöne Stimme.‘“
Ich hörte Wilson mit jenen Gefühlen zu, mit welchen man in der Jugend von den Helden des Alterthums erzählen hört.
[667] Eleanor, welche eben hereingetreten war, bereitete den Abendthee. Sie stand in ihrem kurzen linnenen Kleide und dem weißen Wolltuche, das sie auf der Brust gekreuzt und im Rücken geschlungen trug, so einfach, so schmucklos und doch so stolz dort am eichenen Tische, daß ich mein Auge nicht von ihr abwenden konnte. Sie bot uns jetzt eine große Tasse dampfenden Thees und Waldhonig, ihn zu süßen, dann setzte sie sich in eine Ecke und schaute träumerisch zum Feuer hinüber.
„Vor einigen Monaten,“ fuhr Wilson fort, „waren die Creeks im Streite mit einem feindlichen Stamme, der zahlreicher ist, als der ihre. Mein junger Freund befand sich unter den fünfzig Männern, welche dem Häuptlinge zunächst waren. Als dieser im Angesicht der feindlichen Zelte das Kriegsgeschrei anhob, sprengte Creek auf seinem Pferde voraus, mitten unter die Zelte, empfing den überraschten Feind mit Kugeln, die alle trafen, drang bis zum Ende des Lagers durch und griff dann ganz allein mit seinen Geschossen den Feind im Rücken an, während die Uebrigen ihn von vorn bedrängten. Aehnliche Heldenthaten thut er bei jedem Kampfe; ich habe Euch schon gesagt, daß er der Schrecken der feindlichen Stämme ist.“
„Warum hat er keinen besondern Namen wie Andere? Warum heißt er nur: Creek?“ fragte ich.
„Man hat seine Eltern nicht gekannt. Die Creeks fanden auf einer Wanderung den zweijährigen Knaben hülflos am Wege liegen; er gehört nicht zu ihrem Stamme. Wahrscheinlich ging er bei einem plötzlichen Aufbruche der Seinen verloren. Die Creeks nahmen ihn auf und gaben ihm ihren Namen.“
„Wird er in der nächsten Zeit nicht zu Euch kommen?“
„Doch, ich denke morgen. Ich traf ihn heute früh im Walde; er sagte mir, er habe einen prächtigen Weih geschossen, und versprach ihn mir, als ich den Wunsch äußerte, einen solchen auszustopfen.“
Das Löffelchen, mit welchem Eleanor bisher unhörbar den Thee geschlürft hatte, klirrte jetzt plötzlich, und als ich zu ihr hinsah, stand sie auf und verließ das Zimmer.
„Eleanor ist ein stilles Mädchen,“ bemerkte ich.
„Eleanor ist wie der Wald,“ sagte Wilson, „still, aber voll geheimen Lebens.“
„Hat sie keinen Umgang?“
„Doch,“ erwiderte er lächelnd, „sie hat Umgang mit einem zahmen Reh, mit Ziegen und Tauben, mit mir und der alten Frau, welche seit Eleanor’s Geburt bei uns ist.“
„Das Mädchen weiß also nichts vom Leben?“
„Nichts, außer dem, was ich ihr davon erzählte.“
„Aber, Wilson, wir sind sterblich. Wenn Ihr nicht mehr seid, dann ist Eleanor ganz verlassen, ohne Erfahrung und ohne Schutz.“
Er schüttelte den Kopf: „Sie will nicht heirathen, aber ich nehme Eleanor’s Wort nicht so ernst. Sie wird schon anders wollen, wenn sie einmal liebt. Es ist unmöglich, daß mein und meiner Eleanor Kind nicht lieben sollte.“
Er zeigte auf die Flamme im Kamin und sagte wehmüthig: „So waren Eleanor und ich.“
Falstaff in der Sage, Geschichte und Dichtung. (Vergl. den Artikel „Unser Falstaff-Maler“ S. 659 nebst Bildern.) Der dicke Schlemmer und Bramarbas, dem man, trotz all seiner Schelmenstücke, nie gram sein kann, ist ein strammes Kind des Shakespeare ’schen Humors, eine Bühnenfigur von solcher Unverwüstlichkeit, daß selbst schwache Mimen sie nicht völlig ruiniren können, während Meister, wie Devrient und Döring, sie zu Cabinetsstücken ihrer Kunst auszuarbeiten für werth hielten. Da Shakespeare auf der deutschen Bühne längst Heimathsrecht erworben hat, wie unwiderleglich sein dreihundertjähriges Jubiläum bewies, das in Deutschland mit mindestens nicht geringerer Theilnahme, als in England, gefeiert worden ist, und da ebendeshalb sein Falstaff auch zu den deutschen Bühnen-Lieblingen gehört, so widmen wir ihm hiermit die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Jenes Jubiläum (1864) feierte die „Gartenlaube“, indem sie zwei von Paul Thumann illustrirte Artikel aus der Feder Julius Rodenberg’s „Ein Tag in Shakespeares London“ (Nr. 16 und 17) zur Ehre des Festes darbrachte. Daß Oldcastle dort als eine Gestalt aus des Dichters Zeit die Gruppe schmückt, geschah in künstlerischer Freiheit.
Die Falstaffiade beruht, wie unser schwäbischer Dichter und Shakespeare-Kenner Hermann Kurz[4] darlegt, ihrem ersten Ursprunge nach „auf einer der wunderlichsten Verquickungen unverbürgter Sage und entstellter Geschichte“. Es wird nämlich sagenhafter Ueberlieferung nacherzählt, daß Heinrich der Fünfte als Kronprinz (Prinz Heinz) ein wüstes, ausschweifendes Leben geführt habe, wenn nun selbst Shakespeare diesen Helden der Sage poetischer fand, als den der Geschichte, die, nach unserm Kurz, „den Prinzen im Dienste seines Vaters und Königs als einen so rechtschaffenen und rauhen Soldaten zeigt, wie alle Helden seiner Zeit es waren“, so mußte doch Alles, was der Böswilligkeit der Verleumdung und der Leichtgläubigkeit des Volks möglich war, geleistet werden, um den Sir John Oldcastle, der des jungen Prinzen sehr ernster Freund war, in den Falstaff der Sage und der Dichtung zu verwandeln.
Oldcastle war das Haupt der Wicleffiten oder englischen Lollarden und suchte den Prinzen Heinrich für seine Partei auch dadurch zu gewinnen, daß er auf die Bereicherung der Krone durch Einziehung der Kirchengüter hinwies. Vom Hofe Heinrich’s des Fünften verbannt, suchte er sein Ziel mit Gewalt zu erreichen. Wie aber schon Heinrich’s Vater, um die Gunst des Clerus sich zu erhalten, die Wiceleffiten verfolgt hatte, so geschah dies nun auch von Heinrich dem Fünften, der so weit ging, den Freund seiner Jugend (1417) dem Ketzertode zu überliefern.
Und diesen so grausam Geopferten mußte das noch grausamere Loos treffen, bei der Nachwelt als „dicker Taugenichts, grauer Sünder und Verführer der Jugend zu allen nichtsnutzigen Streichen“ fort zu leben. Offenbar ist dies nur aus der Macht des Fanatismus und des die blinde Menge für ihren Haß mißbrauchenden Klerus zu erklären. Die Sage hatte die neue Gestalt fertig gemacht und die dramatische Dichtung benutzte sie schon vor Shakespeare in einem Stücke, dessen Held der „jovial-heroische“ Heinrich der Fünfte war. Dieses Stück gehört noch den rohesten Erzeugnissen jener Zeit an, welche die Kraft in der plumpsten Derbheit suchten und den Prinzen so arm an Geist hinstellten, wie seinen dicken Ritter Oldcastle.
So fand Shakespeare diese Bühnengestalt vor, und wenn er sie auch, wie seinen Prinz Heinz, mit seinem Geiste erfüllte und zu dem Originale eines immer mit Lust begrüßten alten Nichtsnutz erhob, wie nur er es vermochte, so setzte er doch anfangs auch das alte Unrecht fort, ihm den Namen des Oldcastle zu belassen, bis endlich der vollständige Sieg des Protestantismus in England das Märtyrerthum des Todten zu Ehren brachte und den Dichter zwang, den Träger dieser Rolle umzutaufen. Aber auch bei dieser Umtaufe spielte dem Dichter sein Glaube an die Wahrhaftigkeit des von ihm benutzten Chronisten einen schlimmen Streich, indem er nach dem Namen des von diesem schwer verunglimpften Siegers in der berühmten „Häringsschlacht“ (12. Februar 1429), Sir John Fastolfs, seinen alten Schelm – Falstaff nannte.
Auf diesen wunderlichen Irrwegen ist aus Sage und Geschichte der Falstaff der Dichtung entstanden. – Doch nun zu unseren Grützner’schen Falstaff-Bildern! Wie Shakespeare gleich in der ersten Scene, in welcher Falstaff und der Prinz auftreten („König Heinrich der Vierte“, erster Theil, zweiter Auftritt des ersten Aufzugs), den Falstaff hinstellt, wie er ist und ohne weitere Entwickelungsmöglichkeit bleibt, so kann der „feistwitzige Hans“ lange Schatten auf künftige Scenen vorauswerfen, ehe wir sie selbst sehen. Er verräth uns sein System bei der Recruten-Aushebung schon im vierten Aufzug des ersten Theils von „Heinrich dem Vierten“ mit den Worten (nach Heinrich Viehoff’s Uebersetzung): „Wenn ich mich nicht meiner Soldaten schäme, will ich ein ranziger Häring sein. Ich habe das Aushebungspatent des Königs schmählich mißbraucht. – Ich fahndete nur auf verlobte Junggesellen etc., auf so eine Sorte von Ofenhütern, die eben so gern den Teufel wie eine Trommel hören etc., ich hob Niemand aus, als solche geröstete Butterbemmen, mit Herzen im Leibe, nicht größer als Stecknadelköpfe. Die haben sich vom Kriegsdienst freigekauft, und nun besteht meine ganze Mannschaft aus – einem Gesindel so abgerissen, wie Lazarus in Tapetengemälden, wo ihm des reichen Prassers Hunde die Schwäre lecken etc., aus Kerlen etc., zehnmal niederträchtiger zerlumpt, als eine alte geflickte Fahne.“ – Treten wir nun nach diesem Geständniß Falstaff’s vor die Aushebungsscene („Heinrich der Vierte“, zweiter Theil, dritter Act, zweiter Auftritt) selbst, so finden wir, daß der alte Hans seinem System allezeit treu bleibt.
Da stehen sie vor dem Hause des Friedensrichters Schaal in Glostershire, der Herr Hauptmann Sir John Falstaff mit seinem lachenden Pagen, hinter ihm Bartolph, neben ihm die beiden Friedensrichter Schaal und Stille und vor ihnen der flehende Schimmelig, der sich um vierzig Schillinge loskaufen will. Zur Seite aber harren die Tapferen: Schatte, Warze, Bullenkalb und das kleine Frauenschneiderlein Schwächlich. – Man täuscht sich aber wiederum, wenn man annimmt, daß wenigstens diese Vier für des Königs Armee erhalten blieben, denn schließlich spricht
[668]
„Herr, auf ein Wörtchen! – (Beiseit) Von Schimmelig und Bullenkalb hab’ ich drei Pfund, um sie loszulassen.“
„Genug, gut! – – Lebt wohl, Ihr herrlichen Herren! – Vorwärts, Bartolph, marschire mit den Leuten ab!“
Unser zweites Bild führt uns in eine Straße Londons, wo (in der zweiten Scene des ersten Aufzugs von „Heinrich der Vierte“, zweiter Theil) Falstaff mit einem Pagen aufritt, der ihm Degen und Schild trägt. – Ueber das Größen-Verhältniß Beider spricht sich Falstaff so aus:
Da wand’re ich hier vor Dir her, wie ein Mutterschwein, das seinen ganzen Wurf aufgefressen hat bis auf eins. Ich will nicht meine Sinne beisammen haben, wenn Dich der Prinz in einer anderen Absicht bei mir in Dienst gab, als um recht abzustechen gegen mich. Du verwittertes Alräunchen, es wäre passender, ich steckte Dich an meine Mütze, als daß Du hinter meinen Fersen hertrippelst. Ich – – gedenke Dich Deinem Herrn wieder zuzuschicken, Dich Juwelchen dem Jüngelchen, dem Prinzen, dessen Kinn noch nicht flügge geworden. Ich sehe mir eher einen Bart aus der flachen Hand wachsen, als er einen auf die Backe kriegt, und doch hat er die Keckheit zu sagen, sein Gesicht sei ein Königskronengesicht. Nun, Gott kann’s fertig machen, wenn’s ihm beliebt etc. etc. –
Endlich kam die Zeit, wo dem Heinz doch der Bart gewachsen und das Königskronengesicht fertig war. Da kam der tragikomische Schluß der Herrlichkeit des alten Hans. Vergeblich rief er dem gekrönt einziehenden König Heinrich in alter traulicher Weise zu:
„Heil Dir, mein Heinz! Mein königlicher Heinz!
Gott schirm’ Dich, Herzensjunge!
Mein Herr! mein Zeus! Dich ruf ich an, mein Heinz!“
„Ich kenne Dich nicht, alter Mann! Geh’ beten!
Wie schlecht steht Possenreißern weißes Haar! – – –
Gieb auf Dein wüstes Schlemmerleben! Wisse,
Das Grab gähnt dreimal weiter Dir als Andern.
Antworte nicht mit einem Narrenscherz
Und denke nicht, ich sei, was ich gewesen!“ – –
Der alte Camerad wird aus zehn Meilen im Umkreis von London verbannt und mit seinen Gesellen auf so lange Zeit eingesperrt –
„Bis sie in Red’ und Handeln vor der Welt
Sich weiser und geziemender benehmen.“
Welche Zumuthung für einen Sir John Falstaff! Er sollte sich bessern, anders werden. – Shakespeare selbst konnte nicht an die Möglichkeit solcher Wandlung seines alten John glauben, und darum erlöste er ihn von dem unbilligen Zwang und versetzte ihn, kraft der poetischen Gerechtigkeit, nach Windsor, wo er mit den lustigen Weibern fortlebt – für alle Zeiten.
Für den Journaltisch des Hauses. Zu der literarischen Hinterlassenschaft Ernst Keil’s und zu den Unternehmungen, denen er seinen thatkräftigen Schutz und eine besondere Fürsorge angedeihen ließ, gehört auch die Zeitschrift „Europa“. Zwar hat er dieses Blatt nicht begründet und auch an der Redaction desselben nicht speciell sich betheiligt, ihm aber andauernd und in der alleruneigenützigsten Weise Bestand, freie Bewegung und Fortgang gesichert, seitdem er es vor länger als zwölf Jahren aus drohendem Schiffbruch gerettet und in die Reihe seiner Verlagsartikel gestellt. Unter der vortrefflichen Redaction Friedrich Steger’s, und nach dem leider vorzeitigen Tode dieses rüstigen Publicisten unter der fleißigen geschmack- und umsichtsvollen Leitung Hermann Kleinsteuber’s hat denn auch die „Europa“ immer mehr der ihr von ihrem Verleger gegebenen Bestimmung entsprochen: ein sogenanntes literarisch-kritisches Journal nicht blos für Literaten und Gelehrte, sondern zugleich auch für möglichst weite Kreise der gebildeteren, geistig angeregten und bildungsbedürftigen Laienwelt zu sein. Wenn dies jetzt auch die Feuilletons der politischen Zeitungen leisten wollen, so reichen sie doch wegen der Beschränktheit ihres Raumes und ihrer meistens unmethodischen Art für alle Diejenigen nicht aus, denen es um einen regelmäßigen und lebendigeren Zusammenhang mit dem allgemeinen Culturgang und um eine vollständige und rechtzeitige Kenntniß seiner vielseitigen Ereignisse und Erscheinungen zu thun ist. Wer in dieser Hinsicht stets auf dem Laufenden erhalten und möglichst lückenlos unterrichtet sein will, dem muß dafür ein eigens zu diesem Zwecke hergestelltes Organ geboten sein. Das ist die Aufgabe, welche die „Europa“ sich gestellt hat und die sie bisher mit so viel Geschick und Emsigkeit zu lösen suchte, daß sie weit und breit in Deutschland einem zahlreichen Stamme treuer Leser eine unentbehrliche Lectüre geworden ist und namentlich vielen Freunden der „Gartenlaube“ als eine willkommene Ergänzung von Specialitäten gilt, welche diese, ihrer volksthümlichen Tedenz gemäß, von ihrem Programm ausschließen muß. Trotzdem wissen Manche, die eine solche Gabe zu schätzen wüßten, von der Existenz derselben noch nichts, und darum erscheint es uns als eine Pflicht, daß hier einmal ausdrücklich an das Vorhandensein, und ungestörte Forterscheinen dieser achtungswerthen Leistung erinnert werde.
Auf drei Bogen oder achtundvierzig Spalten bietet die „Europa“ in jeder Woche einen ungemein reichen und mannigfaltigen Inhalt. In Originalartikeln, sowie vielfach in sorgfältig gewählten und gut verarbeiteten Auszügen aus neuen Werken, auf welche dadurch zugleich die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll, bietet der erste Haupttheil der Zeitschrift eine ganze Reihe von mehr oder weniger ausführlichen Schilderungen und Darlegungen aus allen Gebieten der Wissenschaft, der Kunst und des öffentlichen Lebens, besonders der Geschichte und Naturbeschreibung, der Länder- und Völkerkunde, der Literatur-, Cultur- und Sittengeschichte, dies Alles meist im Hinblicke auf die Zeitströmungen und immer in ansprechend-eleganten und anregend-unterhaltenden Formen. Der fernere Raum ist sodann der in der literarischen Welt hinlänglich bekannten „Europa-Chronik“ gewidmet, die unter den vier Rubriken „Literatur“, „Bildende Kunst“, „Musik“ und „Theater“ stets eine Fülle von Mittheilungen über die neuesten Erscheinungen und Vorgänge auf allen diesen Gebieten nebst kritischen Besprechungen des Geleisteten in wohlgeordneter Uebersicht vorüberführt. Namhafte Mitarbeiter wenden dem einen wie dem anderen Theile regelmäßig eine fleißige Thätigkeit zu, und man braucht nur einige Nummern anzusehen, um sich zu überzeugen, daß dieses Ganze mit derartiger Promptheit nur an einem Mittelpunkte des Buchhandels und literarische Verkehrs geschaffen werden kann, wie es Leipzig ist.
Daß es bei einem solchen Unternehmen nicht aus Erzielung geschäftlichen Gewinnes abgesehen ist, wird jeder irgend Sachkundige leicht ermessen können. Freilich kann aber auch bei dem erforderlichen Umfange des Blattes und der Begrenztheit seines Absatzes der Abonnementspreis kein so geringer sein, wie die auf große Kreise berechneten Blätter ihn zu stellen vermögen. Wo jedoch dieser Umstand hinderlich ist, da können doch Minderbemittelte zu einem gemeinsamen Abonnement sich vereinigen, wie dies in der That schon hier und dort geschieht.
Zur Sache sei schließlich noch Folgendes bemerkt: Unstreitig ist das Publicum berechtigt, eine Hinweisung auf Bestrebungen zu fordern, die seinem geistigen Bedürfniß entgegenkommen. Ebenso unbedingt aber hat das Publicum auch die Pflicht, diesen seinen Bildungsinteresse, seinem edleren Nutzen und Genuß dienenden Bestrebungen nicht fern und fremd zu bleiben, sondern ihnen durch ermunternde Theilnahme einen fortschreitenden Aufschwung zu erleichtern. Neben andern beliebten Journalen sollte auch ein gemeinverständliches literarisches Blatt wie die „Europa“ auf allen Lesetischen gebildeter deutscher Familien zu finden sein und zwar auch als Geistesnahrung für Frauen und Töchter.
Ein patentirtes Perpetuum mobile. Dem rechtschaffenen Physiker und Mechaniker, der darauf schwört, daß eine Kraft ebenso wenig aus Nichts erzeugt, wie in Nichts verwandelt werden kann, geht jedesmal ein gelindes Grauen an, wenn er hört, daß da und da wieder Jemand, der von den Kraftgesetzen nichts versteht, ein sogenanntes Perpetuum mobile erfunden haben will. Bis jetzt hat uns unsere Erfahrung nur mit einem einzigen Perpetuum mobile bekannt gemacht, das ist die Welt selbst, mit ihre immer kreisenden Weltkörpern und ihren Wärmeprocessen, welche Luft, Wasser und Erde in Bewegung bringen, aber auch diesem anscheinenden Perpetuum mobile wollen die modernen Physiker keine ewige Dauer zugestehen. Indessen sind Andere entgegengesetzter Meinung, und so lange diese Streitfrage nicht ausgetragen ist, dürfen wir wohl den Kosmos als solches betrachten. Die reelleren Perpetuum mobile Fabrikanten sind daher diejenigen, welche es versuchen, an diesem gewaltigen Gehwerk ihr kleines anzukoppeln und es von ihm treiben zu lassen, bis an’s Ende der Dinge. In diesem Sinne ist jede Wassermühle, deren Strombett immer Wasser hat, die Tommasi’sche Ebbe- und Fluthmaschine, so jedes Barometer und Thermometer ein Perpetuum mobile. In demselben Sinne hatte es auch der altberühmte Bürgermeister von Magdeburg, Otto von Guericke, verstanden, als er die Figur, die auf der Quecksilberkuppe seines Barometers auf- und niederstieg und mit ihrem Prophetenstabe das Wetter auf einer daneben befestigten Scala bezeichnete, Meister Immermobil (Perpetuum mobile) oder Semper vivum taufte. Diesem ersten Wetterglas oder Guericke’schen Perpetuum mobile in der Idee ähnlich ist das unter Nr. 1696 vom kaiserlichen Patentamte in Berlin kürzlich registrirte Perpetuum mobile des Herrn Gustav Riedel in Havelberg beschaffen. Jedes Thermometer führt bekanntlich jahraus jahrein innerhalb vierundzwanzig Stunden, von den kleineren Schwankungen abgesehen, eine ansehnliche Bewegung aus, und wenn man den Quecksilberbehälter sehr groß, und das Steigerohr verhältnißmäßig enge sein läßt, so wird die Niveauveränderung des Quecksilbers durch die Temperaturschwankungen groß genug, um eine kleine Maschinerie im Gange zu halten. Der Genannte hat nun eine geistreiche Einrichtung erdacht, um diese Bewegung im Thermometerrohr zur Spannung einer Feder zu benutzen, die eine Uhr oder ein anderes Gehwerk treiben kann, so lange die Sonne fortfährt, des Morgens auf- und des Abends unterzugehen. Man könnte auf diese Weise Thurmuhren herstellen, die niemals aufgezogen zu werden brauchen, oder vielmehr von der Sonne aufgezogen werden. Obwohl nun, wie wir sahen, der Name eines Perpetuum mobile für die durch die kosmischen Einflüsse verursachten Bewegungen des Quecksilbers in einer Röhre eine gewisse historische Berechtigung hat, so konnte das kaiserliche Patentamt selbstverständlich seine Unterstützung nicht dem Wahne leihen, als ob hier wirklich ein Perpetuum mobile erfunden sei oder jemals erfunden werden könnte, und hat der hübschen Erfindung den Namen eines „Thermometrischen Aufziehwerkes“ beigelegt.
J. B. F. in München. Beileibe nicht! Das Mittel gehört zu den ärgsten Auswüchsen modernen Humbugs. Einen ausführlichen Artikel über den Gegenstand werden Sie in einer der nächsten Nummern finden.
C. R. jur. in Hagen. Wir können Ihnen eine Aufklärung aus der Feder einer Autorität zukommen lassen. Zuvor ist aber die Angabe Ihrer vollen Adresse nöthig.
- ↑ Zur Ergänzung des Artikels „Unser Bett“ in Nr. 26 d. Jahrg.
Die Redaction.
- ↑ In den Kunstausstellungen der letzten Jahre haben die geistreichen Compositionen Eduard Grützner’s und in jüngster Zeit namentlich die Falstaffbilder desselben die Theilnahme der Kunstfreunde an den Schöpfungen dieses so rasch und frisch erblühten Talents in einer Weise angeregt, daß wir dem vielfach uns ausgesprochenen Wunsche nach einem Lebensbilde des Künstlers wohl nachkommen mußten. Wir thun dies mit um so mehr Berechtigung, als der Künstler den Lesern der „Gartenlaube“ auch durch manche erquickliche Leistung werth geworden ist. D. Red.
- ↑ Oho! Nicht jeder der Hunderttausende unserer Leser hat den Shakespeare im Besitz oder so im Kopf, wie der Herr Verfasser. Deshalb erlauben wir uns, auf den betreffenden Artikel über diese Falstaffbilder unter „Blätter und Blüthen“, S. 667 hinzuweisen. D. Red.
- ↑ Wenigstens in einer Anmerkung müssen wir hier eines andern Falstaff-Darstellers gedenken! Paul Konewka’s, dessen „Falstaff und seine Gesellen“ (Straßburg, M. Schauenburg) Hermann Kurz mit einem Text begleitet hat, dem wir manche unserer obigen Angaben verdanken. Konewka, der, erst einunddreißig Jahre alt, 1871 gestorben ist, war Meister in der Silhouette; die herrlichsten Meisterstücke seiner schwarzen Kunst schmücken dieses Werk, das an Bild und Wort des Ergötzlichen und Belehrenden viel bietet.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: ihn