Die Gartenlaube (1880)/Heft 32

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[513]

No. 32.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Alle Rechte vorbehalten.
Frühlingsboten.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Oswald von Ettersberg schien seit seiner Abreise fast verschollen zu sein. Die Gräfin sprach nie von ihrem Neffen und hatte die Erkundigungen Rüstow's kurz und kalt dahin beantwortet, daß Oswald sich in der Residenz ganz wohl befinde, daß er aber nur äußerst wenig mit seinen Verwandten correspondire. Sie wünschte offenbar, diesen Gegenstand zu vermeiden, und er war in Folge dessen auch nicht weiter berührt worden. Daß aber auch Edmund niemals den Namen seines Vetters nannte, von dem er doch sonst unzertrennlich gewesen war, daß auch ihm die Erwähnung desselben peinlich zu sein schien, das gehörte gleichfalls zu seinen jetzigen Unbegreiflichkeiten. Wahrscheinlich hatte es kurz vor der Abreise Oswald's noch eine neue Differenz gegeben, und der Bruch war ein vollständiger geworden.

Müde vom Sinnen und Träumen hatte sich Hedwig in den Sessel zurückgelehnt. Sie vernahm wohl, daß die Thür des Nebenzimmers geöffnet wurde, daß ein Schritt näher kam, aber in der Voraussetzung, daß Edmund zurückkehre, änderte sie ihre Stellung nicht, und erst als der Kommende eintrat, wandte sie matt und langsam den Kopf nach jener Richtung.

Da war es auf einmal, als ob ein elektrischer Schlag die Gestalt des jungen Mädchens durchzucke. Bebend, von glühender Röthe übergossen, sprang sie auf, das Auge auf die Thür gerichtet. War es Schrecken oder Freude, was mit so betäubender Gewalt auf sie einstürmte – sie wußte es nicht, gab sich auch keine Rechenschaft davon, aber der Name, der sich unbewußt ihren Lippen entrang, und der Ton, mit dem er ausgesprochen wurde, verrieth Alles:

„Oswald!“

Es war wirklich Oswald, der dort auf der Schwelle stand. Er mußte wohl auf die Möglichkeit eines Wiedersehens gefaßt sein, als er nach Ettersberg kam; dennoch war auch ihm dieses Zusammentreffen ein unerwartetes; das zeigte die Gluth, die auch seine Stirn färbte, als er die Braut seines Vetters erblickte. Im ersten Moment stand er noch zögernd, unentschlossen da, aber als er seinen Namen von ihren Lippen hörte, da war es vorbei mit dem Zögern. In der nächsten Minute war er an ihrer Seite.

„Hedwig! Habe ich Sie erschreckt?“

Die Frage schien nur zu sehr gerechtfertigt; denn Hedwig war noch völlig fassungslos.

„Herr von Ettersberg – Sie kommen so plötzlich – so unerwartet – –“

„Ich konnte meine Ankunft nicht erst anzeigen. Es handelt sich um eine dringende Angelegenheit, um derenwillen ich Edmund persönlich sprechen muß.“

Er sprach die Worte fast ohne zu wissen, was er sagte; denn sein Blick hing unverwandt an den Zügen des jungen Mädchens. Der eine Moment des Wiedersehens vernichtete Alles, was eine Trennung von zwei Monaten so mühsam geschaffen hatte.

Hedwig machte eine Bewegung, um sich zu entfernen.

„Ich – ich werde Edmund benachrichtigen.“

„Meine Ankunft wird ihm bereits gemeldet. Fliehen Sie doch nicht so vor mir, Hedwig! Gönnen Sie mir nicht eine Minute?“

Hedwig blieb stehen. Der schmerzliche Vorwurf bannte sie an ihren Platz, aber sie wagte es nicht, darauf zu antworten.

„Ich kam nicht freiwillig und nicht in meinem Interesse,“ fuhr Oswald fort. „Ich reise schon morgen wieder ab und konnte nicht ahnen, daß Sie gerade in diesen Tagen in Ettersberg sein würden, sonst – hätte ich uns Beiden dieses Wiedersehen erspart.“

Uns Beiden! Mitten durch die Bitterkeit seiner Worte brach es doch wie ein heller Strahl des Glückes. Jener unbewachte Ausruf hatte ihm ja endlich die Gewißheit dessen gegeben, was er bisher nur geahnt, und wenn er auch keine einzige Hoffnung daran knüpfen konnte und durfte, er hätte diese Gewißheit doch um keinen Preis hingegeben. Beim Abschiede hatte der junge Mann noch so energisch seine Selbstbeherrschung behauptet, dieses unerwartete Wiedersehen aber drohte das Siegel von seinen Lippen zu nehmen. Die lang verborgene Gluth wollte zur hellen Flamme aufschlagen – das las Hedwig in seinen Augen, und jetzt war sie es, die ihre volle Fassung zurückgewann und behauptete.

„So lassen Sie uns wenigstens das Wiedersehen abkürzen,“ sagte sie leise, aber mit festem Tone und wandte sich ab. Doch Oswald that ihr einen Schritt nach.

„Und so wollen Sie von mir gehen? Darf ich Ihnen denn nicht einmal ein einziges Wort sagen?“

„Ich fürchte, wir haben uns schon zu viel gesagt. Lassen Sie mich gehen, Herr von Ettersberg – ich bitte Sie darum.“

Oswald gehorchte. Er trat zurück, um sie vorüber zu lassen. Sie hatte ja Recht – und es war gut, daß sie wenigstens die Besinnung behielt, wo ihn die seinige zu verlassen drohte. Er blickte ihr schweigend, mit unendlich düsterem Ausdrucke nach, aber er machte keinen Versuch mehr, sie zurückzuhalten.

Kaum war Hedwig in den Zimmern der Gräfin verschwunden, als Edmund von der anderen Seite her eintrat. Die Ankunft seines Vetters war ihm jedenfalls gemeldet worden, aber sein [514] Gesicht verrieth nichts von freudiger Ueberraschung. Der junge Graf erschien im Gegentheile sehr erregt, beinahe verstört. Als Oswald ihm entgegen eilte und ihm mit der alten Herzlichkeit die Hand reichen wollte, wich er zurück, und auch seine Bewillkommnung klang eigenthümlich fremd und gezwungen.

„Welche Ueberraschung, Oswald! Ich ahnte nicht, daß Du uns hier in Ettersberg einen Besuch zugedacht habest.“

„Bin ich Dir unwillkommen?“ fragte Oswald befremdet und erkältet von dem ganz ungewohnten Empfange, indem er die ausgestreckte Hand sinken ließ.

„Durchaus nicht!“ rief Edmund hastig. „Ganz im Gegentheil! Ich meinte nur, Du hättest mir zuvor irgend eine Nachricht senden können.“

„Die Nachricht durfte ich wohl von Dir erwarten,“ sagte Oswald vorwurfsvoll. „Du hast meinen ersten Brief nur mit einigen Zeilen, den zweiten gar nicht beantwortet. Ich konnte mir dieses Schweigen ebenso wenig erklären, wie jetzt Deinen Empfang. Bist Du krank gewesen oder ist etwas vorgefallen?“

Der junge Graf lachte; es war wieder jenes laute, höhnische Lachen, das jetzt so oft von seinen Lippen kam:

„Was fällt Dir ein! Du siehst es ja – ich bin ganz gesund. Ich hatte nur keine Zeit zum Schreiben.“

„Nicht?“ sagte Oswald verletzt. „Nun, da habe ich doch mehr Zeit für Dich übrig, trotz meiner dringenden Berufsarbeiten. Ich komme einzig und allein Deinetwillen, um Dich vor einem Verluste zu bewahren, und nicht als Besuch. Hast Du die Vollmachten Deines Administrators zurückgezogen?“

„Was für Vollmachten?“ fragte Edmund zerstreut und unruhig. Er vermied es consequent, dem Blicke seines Vetters zu begegnen.

„Die früheren, welche Baron Heideck noch als Vormund in Deinem Namen ertheilte, die den Administrator ermächtigten, Ettersberg ganz selbstständig zu verwalten. Hat er sie wirklich noch in Händen?“

„Ja, vermuthlich; denn ich habe sie nicht zurückgefordert.“

Oswald's Stirn faltete sich unwillig. „Wie konntest Du so unvorsichtig sein und einem Manne, den Du als unzuverlässig kennst, ein solches Vertrauen schenken! Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er es in der schmählichsten Weise mißbraucht. Oder weißt Du etwas davon, daß der dritte Theil Deiner Forsten niedergeschlagen und verkauft werden soll?“

„So? Soll das geschehen?“ fragte Edmund, wie abwesend. Die Nachricht schien keinen Eindruck auf ihn zu machen.

„Aber so besinne Dich doch!“ drängte Oswald. „Wenn Du nichts davon weißt, wenn es ohne Deine Zustimmung geschieht, so liegt der Betrug ja klar vor Augen. Die Kaufsumme, ein wahrer Spottpreis, soll baar ausgezahlt werden, und der Administrator hofft jedenfalls, sich damit unsichtbar zu machen, ehe die Sache entdeckt wird. Ich erfuhr durch einen Zufall davon – der Käufer legte dem Justizrath Braun den Vertrag zur Einsicht vor – und bin sofort hierhergeeilt, um Dich und Ettersberg vor einem ganz unberechenbaren Schaden zu bewahren.“

Edmund fuhr mit der Hand über die Stirn, als müsse er sich gewaltsam zwingen, seine Gedanken auf den Gegenstand des Gespräches zu richten.

„Das ist sehr freundlich von Dir. Deshalb bist Du gekommen? Nun, wir können das ja zu einer anderen Zeit besprechen.“

Oswald's Befremden wuchs bei dieser völligen Theilnahmlosigkeit, und mehr noch als diese machte ihn der eigenthümlich starre Ausdruck in den Zügen des jungen Grafen besorgt, der mit seinen Gedanken augenscheinlich ganz anderswo war.

„Edmund, hast Du denn gar nicht gehört, was ich Dir sagte? Die Angelegenheit ist von der äußersten Wichtigkeit und duldet nicht den geringsten Aufschub. Du mußt augenblicklich jene Vollmachten für erloschen erklären und Dich des Betrügers versichern, oder Du bist gezwungen, einen Vertrag anzuerkennen, der Deine Forsten geradezu verwüstet und das ganze Majorat in einer Weise schädigt, die vielleicht nie wieder gut zu machen ist.“

„Das Majorat?“ wiederholte Edmund, der von der ganzen Auseinandersetzung nur dieses eine Wort aufgefangen zu haben schien. „Ja freilich, das darf nicht geschädigt werden. Uebernimm Du die Sache, Oswald! Du hast sie ja doch einmal in die Hand genommen.“

„Ich? Wie kann ich Bestimmungen auf Deinen Gütern treffen, wenn Du selbst anwesend bist? Ich kam nur, um Dich zu warnen und Dir den Betrug aufzudecken. Das Handeln ist Deine Sache. Du bist ja der Herr von Ettersberg.“

In dem Antlitze des jungen Grafen zuckte es, wie eine innere, mühsam unterdrückte Qual, und sein Auge suchte wieder scheu den Boden vor dem erstaunt fragenden Blicke seines Vetters. Er preßte die Lippen zusammen und schwieg.

„Nun?“ fragte Oswald nach einer Pause. „Wirst Du den Administrator rufen lassen?“

„Wenn Du meinst.“

„Gewiß meine ich das. Es muß unverzüglich geschehen.“

Edmund trat an den Tisch und wollte die Klingel ergreifen, als Oswald, der ihm gefolgt war, plötzlich die Hand auf seine Schulter legte und in ernstem, eindringlichem Tone fragte:

„Edmund, was hast Du gegen mich?“

„Gegen Dich? Nicht das Geringste! Du mußt es schon entschuldigen, wenn ich jetzt etwas zerstreut bin. Ich habe alle möglichen Dinge im Kopfe; Unannehmlichkeiten mit der Verwaltung, mit den Beamten. Du siehst es ja an diesem Zwischenfall mit dem Administrator, was für Erfahrungen man macht.“

„Das ist es nicht,“ sagte Oswald mit voller Bestimmtheit. „Deine Verstimmung gilt mir allein. Mit welcher Herzlichkeit hast Du mich bei der Trennung entlassen, und wie empfängst Du mich jetzt dagegen! Was ist zwischen uns getreten?“

Er hatte bei der letzten Frage den jungen Grafen umfaßt und wollte ihm prüfend in's Auge sehen, aber Edmund machte sich mit Ungestüm los.

„So quäle mich doch nicht fortwährend mit solchen Vermuthungen und Voraussetzungen!“ brach er heftig aus. „Muß ich Dir denn von jedem Worte, von jedem Blicke Rechenschaft ablegen?“

Oswald war zurückgetreten und blickte seinen Vetter mehr erstaunt als beleidigt an. Dieser Ausbruch, zu dem so gar keine Veranlassung vorlag, war ihm ganz unerklärlich. In diesem Augenblicke vernahm man das Geräusch anfahrender Wagen und das laute Gebell von Hunden. Edmund athmete auf, als sei er von einer unerträglichen Pein erlöst.

„Ah, unsere Gäste! Verzeih, Oswald, daß ich Dich allein lasse! Ich erwarte einige Herren zu der Jagd, die morgen stattfindet. Du bist doch auch von der Partie?“

„Nein,“ sagte Oswald kalt. „Ich kam nicht des Vergnügens wegen und muß schon morgen Nachmittag abreisen.“

„So bald schon? Das thut mir leid, aber Du mußt ja wissen, über wie viel Zeit Du verfügen kannst. Ich werde Befehl geben, Deine Zimmer in Stand zu setzen.“

Er stand bereits an der Schwelle:

„Und noch Eines, Oswald! Stelle Du den Administrator zur Rede! Ich habe kein Geschick, keine Geduld. – – Ich bin mit Allem einverstanden, was Du anordnest. Auf Wiedersehen!“

Die letzten Worte verriethen wieder jene athemlose Hast, die in jähem Wechsel die frühere Theilnahmlosigkeit ablöste. Dann eilte er fort, als brenne ihm der Boden unter den Füßen. Oswald stand allein da und wußte nicht, ob er erzürnt oder besorgt sein sollte über einen derartigen Empfang.

Was war das? Es gab nur eine einzige Erklärung dafür. Edmund war in den Salon getreten, fast unmittelbar nachdem Hedwig ihn verlassen hatte. Vielleicht war er schon früher gekommen und hatte im Nebenzimmer das kurze und doch so inhaltreiche Gespräch theilweise angehört. Wenn auch kein Wort dabei gefallen war, das auf ein Einverständniß hindeutete, so war es doch genug, um zu zeigen, wie es zwischen Oswald und der Braut des junge Majoratsherrn stand, genug, um diesen in heller Eifersucht aufflammen zu lassen. Das erklärte auch sein Zurückweichen, als Oswald ihm die Hand bot, seine Gleichgültigkeit den drohenden Vermögensverlusten gegenüber, sein stürmisch aufgeregtes Wesen. Es konnte gar nicht anders sein.

„Das war es also,“ sagte Oswald halblaut. „Er muß irgend etwas gehört haben. Nun denn, so hat er auch gehört, wie unschuldig wir Beide an diesem Zusammentreffen waren und wie wir uns trennten. Ich weiß mich frei von Schuld, und wenn die Sache zwischen uns zur Sprache kommen muß, so werde ich ihm Rede stehen.“

Drunten im Schloßhofe hörte man jetzt lebhaftes Sprechen und Begrüßen, vor allem Edmund's Stimme, der mit lauter [515] Heiterkeit seine Gäste empfing. Oswald warf einen Blick durch das Fenster. Er kannte die Herren sämmtlich, die soeben ausstiegen, aber er war nicht in der Stimmung, sich begrüßen zu lassen und auf alle möglichen Fragen zu antworten. Er verließ deshalb rasch den Salon und schlug den Weg nach seinen ehemaligen Zimmern ein, noch ehe die Fremden in das Schloß getreten waren.




Das Wetter erwies sich der beabsichtigten Jagd günstiger, als man voraussetzte. Wenn es sich auch nicht vollständig aufhellte, so hörte doch das Schneegestöber und der dichte Nebel auf, und der nächste Morgen verhieß einen zwar etwas trüben, aber im Ganzen doch vortrefflichen Jagdtag.

Es war noch sehr früh am Tage, als Oswald seine Zimmer verließ und sich nach dem Hauptgebäude des Schlosses begab, wo die Wohnung des Grafen lag. Noch war Niemand von den Gästen sichtbar, aber unten im Hofe traf die Dienerschaft bereits Vorbereitungen zum Aufbruche der Herrschaften, der unmittelbar nach dem Frühstücke erfolgen sollte.

Oswald fand die Zimmer seines Vetters verschlossen, seltsamer Weise; denn es war sonst nie dessen Gewohnheit gewesen, sich einzuschließen. Erst auf wiederholtes Klopfen öffnete Edmund die Thür.

„Du bist es, Oswald? So früh schon?“

Seine Stimme verrieth deutlich genug, daß die Ueberraschung eine peinliche war. Oswald trat nichtsdestoweniger ein.

„Du bist schon angekleidet, wie ich sehe,“ sagte er. „Ich störe Dich also nicht mit meinem frühzeitigen Besuche.“

Der junge Graf war allerdings schon in vollem Jagdanzug, aber er sah bleich und überwacht aus, und seine Augen brannten fieberhaft. Die Spuren einer schlaflosen Nacht waren seinem Antlitze nur zu deutlich eingeprägt. Er hatte augenscheinlich seit gestern Abend weder Schlaf noch Ruhe gefunden.

„Du hast wohl Deine Absicht geändert und kommst, mir zu sagen, daß Du doch an der Jagd Theil nimmst?“ fragte er leichthin, entzog sich aber zugleich den beobachtenden Augen seines Vetters, indem er sich abwandte und sich an seinem Schreibtisch zu schaffen machte.

„Nein,“ entgegnete Oswald, „Du weißt ja, daß ich am Nachmittag abreise. Vielleicht bist Du dann noch nicht einmal zurück. Ich wollte Dir daher jetzt Lebewohl sagen.“

„Muß denn das unter vier Augen geschehen?“

„Allerdings, denn ich habe noch einiges von Wichtigkeit mit Dir zu besprechen. Du pflegtest mir sonst nicht so geflissentlich auszuweichen, Edmund. Ich habe gestern Abend vergebens versucht, Dich eine Minute allein zu sprechen. Du warst so vollständig von Deinen Gästen in Anspruch genommen und überhaupt so erregt, daß ich es aufgab, mit geschäftlichen Angelegenheiten bei Dir Gehör zu finden.“

„Geschäftliche Angelegenheiten? Ah so, Du meinst die Sache mit dem Administrator. Hast Du mir den Gefallen gethan, mit ihm zu sprechen?“

„Ich mußte wohl, da Du trotz meiner wiederholten Mahnungen keine Anstalt dazu machtest. Die Sache verhielt sich genau so, wie ich fürchtete, und da der Administrator sah, daß ich hinreichend orientirt war, so gab er schließlich das Leugnen auf. Ich ließ ihm die Wahl, entweder Ettersberg noch heute zu verlassen oder einer gerichtlichen Untersuchung gewärtig zu sein. Er hat natürlich das Erstere vorgezogen. Hier sind die Vollmachten zurück, die er mir ausgeliefert hat, Du thust aber doch besser, sie noch in aller Form für erloschen zu erklären. Auch der Käufer ist bereits benachrichtigt. Ich hatte mir für alle Fälle seine Adresse notirt, und habe ihm telegraphisch mitgetheilt, daß der Kaufvertrag nicht vollzogen werden kann, da die Vollmacht Deines Vertreters zurückgezogen ist und die Verhandlungen ohne Deine Zustimmung geführt wurden. Der Verlust ist also für diesmal abgewendet.“

Er berichtete das alles ruhig und geschäftsmäßig, ohne das mindeste Gewicht auf die jedenfalls sehr energische Thätigkeit zu legen, die er dabei entwickelt hatte. Edmund mochte trotzdem fühlen, wie viel er dem umsichtigen Einschreiten seines Vetters dankte, aber das schien ihn eher zu drücken, denn seine Antwort klang sehr einsilbig:

„Ich bin Dir sehr dankbar. Ich wußte es ja, Du verstehst in solchen Dingen viel energischer aufzutreten als ich.“

„Das Auftreten wäre hier wohl Deine Sache gewesen,“ sagte Oswald vorwurfsvoll. „Ich habe den Administrator glauben lassen, daß vorläufig nur ich von seinem versuchten Betruge wisse, daß ich ihn auf eigene Verantwortung zur Rede stelle, und Dir erst heute nach seinem Verschwinden die nöthigen Mittheilungen mache – sonst hätte er sich wohl nicht erklären können, daß Du Dich so entschieden einer Angelegenheit fern hältst, die doch nur Dich allein angeht.“

„Ich sagte es Dir ja bereits gestern: ich war nicht in der Stimmung –“

„Das sah ich und habe dieser Stimmung Rechnung getragen; denn ich weiß, was sie veranlaßt.“

Edmund zuckte zusammen und wendete sich jäh und heftig um.

„Du weißt –? Was soll das heißen? Was weißt Du?“

„Den Grund Deines seltsamen Empfanges, Deiner beinahe feindseligen Haltung gegen mich, und deshalb allein bin ich hergekommen. Es muß klar zwischen uns werden Edmund. Wozu dieses Schweigen und Verbergen? Wo man mit einander steht, wie wir, da ist ein offenes Wort das Beste.“

Der junge Graf stützte sich auf den Tisch, an dem er stand. Er erwiderte nichts, sondern starrte todtenbleich, keines Wortes mächtig, den Sprechenden an, der unbeirrt fortfuhr:

„Du brauchst mit Deiner Anklage nicht zurückzuhalten; ich kann ihr mit freier Stirn entgegentreten. Ich liebe Hedwig und scheue mich nicht, Dir das zu bekennen; denn ich habe ehrlich gekämpft gegen diese Leidenschaft, und als ich sah, daß sie nicht zu besiegen war, da bin ich gegangen. Nie ist ein Wort der Erklärung zwischen uns gefallen, und wenn ich mich gestern zu einer Andeutung hinreißen ließ, so ist es das erste und letzte Mal gewesen. Das unerwartete Wiedersehen raubte mir für einen Moment die Besinnung, aber es war eben nur ein Moment – schon der nächste gab mich mir selbst zurück. Wenn Du das Schuld nennen willst – ich denke es verantworten zu können.“

Die offene, männliche Erklärung hatte eine ganz unerwartete Wirkung. Edmund hörte zu wie ein Träumender. Die schreckensvolle Ueberraschung, die ihn vorhin lähmte, wich allmählich, aber fassen konnte er die Worte augenscheinlich noch nicht.

„Du liebst Hedwig? Du? O, das ist nicht möglich.“

„War Dir das denn noch ein Geheimniß?“ fragte Oswald betreten. „War es nicht Eifersucht, die seit der Minute meiner Ankunft zwischen uns stand?“

Edmund achtete nicht auf die Frage; seine brennenden Augen hefteten sich mit dem Ausdrucke der furchtbarsten Spannung auf das Gesicht Oswald's, während er in athemloser Erregung hervorstieß:

„Und Hedwig? Erwidert sie Deine Gefühle? Wirst Du von ihr geliebt?“

„Ich habe Dir ja bereits gesagt, daß kein einziges Wort der Erklärung zwischen uns gefallen ist.“

„Wozu bedarf es der Worte? Du weißt es, mußt es wissen, ob Du geliebt bist. Man fühlt das ja in jedem Blicke, in jedem Athemzuge. Habe ich es doch gefühlt, daß es nicht die ganze volle Liebe war, die sie mir gab, daß sich ewig etwas zwischen uns drängte. Bist Du dieses Etwas gewesen? Sprich! Ich will Gewißheit, um jeden Preis.“

Oswald sah zu Boden. „Hedwig wird die Heiligkeit des gegebenen Wortes ehren, wie ich es thue,“ entgegnete er leise.

Die Antwort sagte genug, und es erfolgte auch keine Erwiderung darauf. Während der nächsten Minuten herrschte ein banges Schweigen; man vernahm nur die kurzen heftigen Athemzüge des jungen Grafen.

„Also auch das noch!“ sagte er endlich.

Oswald blickte ihn besorgt an. Er hatte sich auf eine stürmische Scene, auf leidenschaftliche Auseinandersetzungen gefaßt gemacht, diese dumpfe Resignation, die so gar nicht in dem Charakter Edmund's lag, befremdete ihn auf's Aeußerste.

„Wir werden es überwinden,“ nahm er wieder das Wort. „Wir habe ja Beide nie an die Möglichkeit einer Vereinigung gedacht, und selbst wenn Hedwig frei gewesen wäre, durfte ich keine Hoffnung nähren. Ich habe stets die Glücksritter verachtet, die dem Vermögen der Frau ihre ganze Existenz verdanken, während sie selbst nichts zu bieten haben. Mich würde ein solches Verhältniß erdrücken, ich würde es nicht einmal an der Hand der Liebe ertragen. Und meine Laufbahn soll ja erst beginnen. Ich [516] habe noch auf Jahre hinaus für mich allein zu arbeiten, wo Du mit Deiner Hand ein glänzendes Loos bieten konntest.“

Die Worte wurden ganz absichtslos gesprochen, sie sollten nur beruhigen, aber sie erreichten das Gegentheil. Edmund war bei der letzten Hindeutung aufgefahren; sein ganzes Wesen, selbst seine Stimme war verwandelt, während es in schneidender Bitterkeit, im wildesten Hohne von seinen Lippen brach:

„Willst Du mich nicht beneiden um dieses glänzende Loos, das mir das Schicksal gegeben hat? Ich bin ja ein Kind des Glückes, mir fällt ja Alles, Alles zu. Du hast Dich geirrt mit Deiner Prophezeiung, Oswald. Wir haben die Rollen getauscht. Hedwig’s Liebe wenigstens glaubte ich noch zu besitzen; dieses Einzige hielt ich noch für mein. Auch das wird mir genommen, durch Dich genommen. O, es ist genug und übergenug.“

„Edmund, Du bist außer Dir,“ mahnte Oswald. „Fasse Dich! wir wollen das ruhiger –“

„Laß mich allein!“ unterbrach ihn Edmund ungestüm. „Ich kann jetzt nichts hören, nichts ertragen, und Deine Gegenwart ertrage ich am wenigsten. Geh!“

Oswald wollte beschwichtigend näher treten, aber vergebens. In einer Gereiztheit, die fast an Wahnsinn grenzte, stieß der Graf ihn zurück.

„Ich will allein sein – sage ich Dir. Bin ich denn nicht einmal mehr Herr in meinen Zimmern? Soll ich Dich beleidigen, um Dich fortzutreiben?“

„Das hast Du nicht nöthig,“ sagte Oswald, sich tiefverletzt emporrichtend. „Auf eine derartige Aufnahme meiner offenen, ehrlichen Erklärung war ich nicht gefaßt, sonst hätte ich geschwiegen. Du wirst bald genug einsehen, wie unrecht Du mir gethan, aber dann möchte es zu spät für unsere Freundschaft sein. Leb’ wohl!“

Er ging, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Nach seinem Fortgange brach Edmund wie vernichtet in den Sessel zusammen. Der Schlag, der ihn soeben getroffen, war vielleicht nicht der schwerste gewesen – der fiel in jenem Augenblicke, wo die Liebe des Sohnes zu der Mutter und sein Glaube an sie den Todesstoß empfing – aber es war der letzte. Und dieser letzte warf ihn nieder. –

Eine Stunde später war die ganze Gesellschaft im Speisesaal versammelt, wo das Frühstück eingenommen werden sollte. Die Herren waren sämmtlich in der besten Laune; denn das Wetter verhieß eine vorzügliche Jagd. Die Gräfin machte die Honneurs des Hauses mit der ihr eigenen vornehmen Anmuth. Was sie auch innerlich bedrücken mochte, sie war zu sehr Weltdame, um in Gegenwart Fremder irgend etwas davon zu verrathen. Hedwig zwang sich gleichfalls, heiter zu erscheinen. Das Gespräch war äußerst lebhaft, und Oswald’s ernste Schweigsamkeit und Zurückhaltung fiel nicht auf, da man gewohnt war, ihn meistentheils so zu sehen.

Graf Ettersberg selbst erschien erst auffallend spät bei seinen Gästen. Er entschuldigte sich damit, daß er noch einige nothwendige Anordnungen für die Jagd getroffen habe, und war jedenfalls bemüht, seine Verspätung durch verdoppelte Liebenswürdigkeit wieder gut zu machen.

Edmund sah jetzt nicht mehr bleich und überwacht aus, wie vor einer Stunde. Es lag im Gegentheil etwas wie Fiebergluth auf seinen Wangen, und wie Fiebergluth schien es auch durch seine Adern zu stürmen, während er sich einer Lebhaftigkeit oder vielmehr Ausgelassenheit hingab, die in der That nur durch die höchste Ueberreizung zu erklären war. Er bemächtigte sich sofort des Gespräches und riß mit seiner glänzenden Unterhaltungsgabe all die Uebrigen hin. Scherze, Spöttereien, Jagdanekdoten jagten einander. Er schien förmlich etwas darin zu suchen, alle Welt von seiner vortrefflichen Laune, von seiner sprudelnden Heiterkeit zu überzeugen, und bei seinen Gästen gelang ihm das auch vollständig. Die älteren Herren, sämmtlich Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, fanden, daß der junge Graf noch nie so liebenswürdig gewesen sei wie heute. Die Jüngeren ließen sich von seinem Muthwillen mit fortreißen und stimmten in den Ton ein. Die Zeit bei Tische verging wie im Fluge, bis der Schloßherr das Zeichen zum Aufbruche gab.

Oswald hatte sich auch jetzt ziemlich schweigsam verhalten, aber er hatte unausgesetzt und unruhig seinen Vetter beobachtet. Es befremdete ihn nach dem Vorhergegangenen nicht, daß Edmund ihm noch mehr als gestern auswich, und es sogar vermied, das Wort an ihn zu richten, aber eben deshalb täuschte ihn auch diese fieberhafte Lebhaftigkeit nicht. Nach der Scene, die heut Morgen stattgefunden hatte, konnte nur die Verzweiflung einen solchen wilden Uebermuth dictiren. Erst jetzt, wo die Erregung des beleidigten Stolzes vorüber war, kam es dem jungen Manne zum Bewußtsein, wie verstört, wie außer sich Edmund bei jenem Geständniß gewesen war. Er hatte also wirklich nichts davon geahnt, es war nicht Eifersucht gewesen, die sein unbegreifliches Benehmen veranlaßte. Was aber war es dann?

Man hatte sich allseitig erhoben und machte sich jetzt zur Abfahrt fertig. Die Herren verabschiedeten sich von den Damen des Hauses und von Oswald, der gleichfalls zurückblieb. Herr von Ettersberg wurde allgemein bedauert, weil seine schnelle Abreise ihm nicht erlaubte, an der Jagd Theil zu nehmen, und in aller Eile wurden noch einige Artigkeiten und Grüße ausgetauscht.

Edmund hatte bereits von seiner Braut Abschied genommen, mit derselben stürmischen Heiterkeit, die heut von seinem Wesen unzertrennlich schien. Seinem Vetter rief er im Vorübergehen nur ein kurzes „Adieu Oswald!“ zu, so kurz und flüchtig, daß es gar keine Erwiderung zuließ. Er wollte augenscheinlich jede weitere Berührung mit ihm vermeiden, und trat jetzt zu der Gräfin, die mit einem der Herren sprach.

„Ich wollte Dir Lebewohl sagen, Mama!“

Die Worte wurden hastig, eilig gesprochen, aber es klang etwas wie der alte, lang entbehrte Ton hindurch, und das Ohr der Mutter fing augenblicklich diesen Ton auf. Ihr Auge suchte und fand das des Sohnes, und zum ersten Male seit langer Zeit las sie dort nicht das scheue Zurückweichen, das sie so namenlos quälte. Heute stand etwas Anderes, Unsagbares darin, aber es war kein Vorwurf mehr. Die Hand, welche die Gräfin ausstreckte, bebte leise. Der kühle, förmliche Handkuß war ja das Einzige, was Edmund beim Gehen und Kommen noch für sie hatte. Er beugte sich auch jetzt nieder, plötzlich aber fühlte die Mutter sich von seinen Armen umschlossen, fühlte seine heißen, zuckenden Lippen auf den ihrigen. Es war die erste Umarmung seit jenem Tage, wo er das unselige Geheimniß entdeckte.

„Edmund!“ flüsterte die Gräfin, es klang wie eine halb zärtliche, halb angstvolle Frage. Edmund erwiderte nichts, er hielt die Mutter fest an sich gepreßt, nur einen Moment lang, aber sie fühlte es doch, daß in diesem Moment die ganze alte Liebe mächtig wieder aufflammte. Noch einmal berührten seine Lippen die ihrigen, dann aber machte er sich rasch und entschieden los.

„Lebe wohl, Mama! Ich muß fort; es ist die höchste Zeit.“

(Fortsetzung folgt.)




Die Raupenfeinde der Insectenwelt.

Größeren Leserkreisen ist bisher ein Einblick in das Leben der Raupenfeinde der Insectenwelt wohl nur selten gewährt worden, und doch bietet dasselbe des Lehrreichen und Interessanten so vieles, daß wir der Versuchung nicht widerstehen können, im Nachfolgenden eine kleine Excursion in dieses an fesselnden Aufschlüssen so reiche Gebiet der Naturkunde zu unternehmen. Ein Beispiel möge uns gleich mitten in das Thema hineinführen!

An einem Kohlblatte, einem Baumstamme u. dergl., die sich in der Nähe von Kohlpflanzungen befunden, entdeckten wir im Spätsommer öfters eine Kohlweißlingsraupe, eingebettet in weißliche oder gelbliche Körperchen welche ihrer Form nach allenfalls für Eier gehalten werden könnten und in der That für solche gehalten worden sind, aber nur von Leuten denen es nicht klar geworden war, daß eine Raupe als noch unfertiges Insect überhaupt niemals Eier legen könne.

Jene gelblichen Körperchen sind die Puppengespinnste für so viele Maden wie im Körper der Raupe auf deren Kosten gelebt haben; das arme Thier wurde auf einmal nach allen Seiten hin in seinem Innern gezwickt, und bald hier und bald da drängte sich aus seiner Haut eine kleine weiße Made hervor, welche zu

[517] 

Raupenvertilgende Insecten.
Nach der Natur aufgenommen von Emil Schmidt.

[518] spinnen begann, noch ehe sie vollkommen frei geworden war; sie hüllte sich allmählich in eines jener eiförmigen Körperchen ein, deren Bedeutung uns nun verständlich geworden ist. Der leere Raupenbalg wurde schließlich von den Maden mehr oder weniger vollkommen eingehüllt; er trocknet nun zusammen, und das Gebilde, durch die Gespinnstfäden befestigt, bleibt den Winter über an derselben Stelle sitzen, wenn nicht Meisen oder andere Insectenfresser unter den Vögeln die Püppchen in der futterarmen Zeit als willkommene Nahrung aufgepickt haben.

Wenn im nächsten Frühjahre wieder geeignete Raupen vorhanden sind, kommt aus jedem jener Cocons eine kleine schwarze Schlupfwespe mit gelben Beinen, der Microgaster glomeratus, hervor. Die Schlupfwespchen umschwärmen die jungen Kohlweißlinge – oder andere verwandte Raupen, damit sich ihre Weibchen eine Stätte für ihre Nachkommen erobern. Ihnen kommt alles darauf an, mit dem kurzen Legestachel die Oberhaut der Raupe zu durchbohren und die Eier unter dieselbe zu bringen. Mag sich die verfolgte Raupe auch noch so sehr dagegen wehren und durch Um-sich-Schlagen mit dem vorderen Körpertheile den ungebetenen Gast zu vertreiben suchen, dieser hat die nöthige Ausdauer, um die Raupe zu ermüden und seinen Zweck schließlich zu erreichen.

Die in kürzester Zeit den Eiern entschlüpften fußlosen Larven, an denen man infolge von Quereinschnitten zwölf Leibesringe und an der größeren Stumpfheit das vordere von dem spitzeren Hinterende unterscheiden kann, ernähren sich im Innern der Raupe. Sie saugen an dem sich aufspeichernden Fettkörper und verschonen die edleren Theile, sodaß beide, der Schmarotzer und der Wirth, gleichzeitig mit einander gedeihen und ungefähr zu derselben Zeit erwachsen sind. Ein Blick auf die Raupe Nr. 1 des beigegebenen Bildes zeigt uns das Ergebniß der Schmarotzerthätigkeit.

Einen ähnlichen Feind hat die Kiefernspinnerraupe in dem Microgaster nemorum, dessen zahlreiche Larven dieselbe in einen ganz ähnlichen Zustand versetzen können, wie die der vorher genannten Schlupfwespe die Kohlweißlingsraupe. Die Puppengespinnste und in deren Mitte den vertrockneten Raupenbalg (vergl. auf dem Bilde Raupe Nr. 2) bekommt man nur tief unten an einem Kiefernstamme zu sehen. Die erwachsene Raupe pflegt sich Ende Juni oder Anfangs Juli hoch oben zwischen den Nadeln oder am Stamme zur Verpuppung in ein dichtes Gespinnst von gelblicher oder graubrauner Farbe einzuschließen, wenn sie aber den genannten Schmarotzer beherbergt, so steigt sie in ihrer Angst tiefer herab und zeigt kein Verlangen zum Spinnen, sondern muß es sich gefallen lassen, daß sie allseitig umsponnen wird von den aus ihrem Leibe hervordringenden Maden.

Einige Monate später, nachdem mittlerweile die gesunden Kiefernspinnerraupen zu Puppen geworden, aus den Puppen die Schmetterlinge gekrochen sind und deren Eier die Räupchen geliefert haben, sind auch die Schlupfwespen ihrer Puppe entstanden. Jede derselben hat ein Deckelchen von dem sie umhüllenden Gespinnste abgenagt (2) und findet nun in der jungen Kiefernspinnerraupe für ihre im nächsten Jahre schwärmenden Nachkommen die geeignete Brutstätte.

Bisweilen bemerkt man statt des abgehobenen Deckels auf dem Scheitel des Puppengespinnstes ein seitliches winziges Löchlein in der Nähe jenes, und darf dann voraussetzen, daß nicht der Microgaster, sondern eine noch kleinere Schlupfwespe, also ein Schmarotzer-Schmarotzer, daraus hervorgegangen ist.

Der hier in starker Vergrößerung beigegebene Microgaster nemorum möge eine Vorstellung von dieser artenreichen, allgemein verbreiteten Gattung geben. Sie gehört mit noch vielen anderen zur Familie der sogenannten Schlupfwespenverwandten, Braconiden, welche bei sonst verschiedener Körpergestalt alle das mit einander gemein haben, daß im Vorderflügel nur eine Querader (rücklaufende Ader) von den Ueberrandzellen in die Flügelfläche führt, während bei den echten Schlupfwespen deren zwei vorhanden sind.

Die in Rede stehende Gattung ist an dem kleinen, nicht gestielten Hinterleibe zu erkennen, welcher den wissenschaftlichen Namen, „Kleinbauch“ zu deutsch, einigermaßen rechtfertigt, an den achtzehngliedrigen, plumpen Fühlern und an der Bildung der Unterrandzellen, das heißt der dem Vorderrande zunächst gelegenen Reihe von Adern geschlossener Räume in der äußern Hälfte der Flügelfläche. Unter Berücksichtigung der eben gegebenen Erklärung erblicken wir in unserer Abbildung unter dem dunklen Flecke am Vorderrande, dem sogenannten Flügelmale, eine unregelmäßig sechseckige Unterrandzelle (auch siebeneckig kann sie sein), bei andern Arten kommt auch noch eine kleine, dreieckige zweite in Steigbügelform nach außen sich anschließende vor, die hier jedoch fehlt. Der Körper unseres Wespchens ist glänzend schwarz; die Hinterränder der beiden ersten Hinterleibringe sind lichter; die Flügelschüppchen das heißt die die Flügelwurzel deckenden Haarplättchen, gelb und die Beine röthlich-gelb, mit Ausschluß sämmtlicher Füße und der ganzen Hinterbeine, welche schwarze Farbe tragen.

Andere zu den Braconiden gehörende Arten sind es, deren Larven aus wieder anderen Raupen kommen und gemeinschaftlich spinnen, sodaß der Raupenbalg gänzlich verschwindet, indem er von der Futterpflanze herabfällt und an dieser ein dichter Gespinnstballen zurückbleibt. Dergleichen gelbe oder weiße, wattenähnliche Flöckchen bemerkt man an Kräutern oder Grasstengeln gar nicht selten, wie inmitten unseres Bildes (3) dargestellt ist. Beim Auseinanderrupfen wimmelt es im Innern von Maden oder von Puppen; sollten sich dagegen kugelige Eier zeigen, so haben wir ein Spinnennest vor uns, da manche Spinnen ihre Eier genau in dieser Weise einschließen und an einen Pflanzentheil anheften.

Die Maden anderer Schlupfwespen, welche zu ermitteln mir indessen noch nicht gelungen ist, bleiben in der Raupe und verwandeln dieselbe in eine sehr verkürzte hartschalige „Mumie“, wie Nr. 4 unseres Bildes auf der Fichte von der Fichtenspinnerraupe (Dasycira abietis) eine solche wiedergiebt. Soweit meine Erinnerungen reichen, waren es immer nur bündelartig behaarte Spinnerraupen, welche ich an der Futterpflanze fest angeheftet in diesem mumienartigen Zustande angetroffen habe; sie zeigten alle eine harte, runzellose Oberfläche, welche meist noch mit einigen Haarbüscheln bekleidet war, und auffällige Verkürzung ihres natürlichen Längsdurchmessers.

Bei Weitem die meisten und zugleich größeren Schlupfwespen führen ihr Schmarotzerleben so im Geheimen, daß der Laie so leicht nichts davon zu sehen bekommt, desto häufiger aber der raupenzüchtende Schmetterlingssammler durch sie schmerzlich enttäuscht wird, wenn statt des erwarteten Schmetterlings, dessen Raupe mit vieler Sorgfalt gehegt und gepflegt worden war, eine Schlupfwespe im Zwinger umherschwirrt. Sofern er diesen untergeschobenen Kindern einige Aufmerksamkeit schenkt – und als wirklicher Naturfreund, dem es nicht blos auf eine schöne Schmetterlingssammlung ankommt, wird er es thun – kann er an jenen mancherlei interessante Erfahrungen sammeln.

Diejenigen Raupen, welche zu ihrer Verpuppung ein Gespinnst anfertigen, hüllen sich in dasselbe ein, wenn ihre Zeit gekommen ist. Oeffnet man es nach Verlauf einiger Wochen, so wird man keine Schmetterlingspuppe sammt der abgestreiften Raupenhaut vorfinden, wie es nach regelrechter Entwickelung zu erwarten stände, sondern – wenn die Raupe „angestochen“ gewesen ist – bis vier sehr langgestreckte, spindelformige, an beiden Polen aber abgerundete Körper neben dem zusammengeschrumpften Raupenbalge; es sind die Cocons von Schlupfwespen. Am häufigsten haben dieselben eine schwarze, stark metallisch glänzende Färbung und solche Derbheit in ihrem Gefüge, daß sie keinem Gespinnste, sondern einer pergamentartigen Umhüllung gleichen, die jedem Versuche des Zerreißens Widerstand leistet. Bisweilen legt sich um die Mitte ein hellerer Ring, oder die ganze Oberfläche hat einen mehr schmutzigen grauen Anflug. In ihrem Cocon nun wird die Schlupfwespenmade zu einer Puppe, und die dieser entschlüpfte Wespe nagt sich an dem einen Pole durch ein mehr oder weniger regelmäßiges Loch zu einer Zeit heraus, in welcher die betreffende Schmetterlingsraupe vorhanden ist, der sie ihre Nachkommen anvertrauen kann.

Was die Schlupfwespe selbst anlangt, welche sich in der angegebenen Weise entwickelt, so kann sie ein sehr verschiedenartiges Aussehen haben, daher bald dieser, bald jener Familie angehören. In erster Linie dürfte es eine Sichelwespe sein, wie der hier in der Mitte des Unterrandes als Beispiel vorgeführte Ophion merdarius mit seiner Puppenhülse (5), eine der verbreitetsten und stattlichsten Arten. Alle Sichelwespen sind durch einen, mindestens in der Hinterhälfte von der Seite her zusammengedrückten Hinterleib ausgezeichnet, welcher gleichsam sichelförmig erscheint und beim Weibchen kaum den Legestachel am Ende sehen läßt; Bei einer Sichelwespengattung (Banchus) ist die Hinterleibswurzel [519] breit und stark niedergedrückt, das Rückenschildchen außerdem in ein kurzes Dörnchen ausgezogen, bei einer andern (Exetastes) jenes mehr oder weniger drehrund, nur an der Spitzenhälfte mäßig zusammengedrückt und in ein kurzes Schwänzchen, das Futteral für den Legestachel, verlängert.

Die vorherrschend lehmgelben Ophionarten vergegenwärtigen das Urbild der Sichelwespen durch den langgestielten, sehr entschieden zusammengedrückten Hinterleib und unterscheiden sich von mancher ebenso gefärbten Art der Gattung Paniscus dadurch, daß die mittlere (zweite) Unterrandzelle mit der ersten verschmolzen ist, die erste aber, wie bei allen echten Schlupfwespen, mit der darunterliegenden sogenannten Mittelzelle zu einer einzigen „großen Zelle“ vereinigt erscheint, sodaß manchmal, wie auch bei unserer Art, ein Aderästchen nur den Anfang der fehlgeschlagenen trennenden Ader andeutet.

Statt einer Sichelwespe konnte aber auch eine Cryptide aus einem andern jener langgestreckten Puppengehäuse hervorgekommen sein. Ein Familiengenosse, der Cryptus migrator, ist auf unserm Bilde unter Nr. 6 dargestellt, und zwar das Weibchen am untern Rande, das Männchen fliegend unter der Benadelung der Kiefer. Alle Cryptiden haben einen gestielten Hinterleib, welcher beim Männchen fast linienförmig oder mehr keulenförmig, beim Weibchen deutlich niedergedrückt und geschwänzt ist; überdies zeigt der Hinterrücken des Mittelleibes sehr unvollständige Felderung und der Vorderflügel in der Regel drei Unterrandzellen, von denen die mittelste, bei den Schlupfwespen auch Spiegelzelle genannt, vorherrschend viereckig erscheint. Unser Cryptus migrator ist schwarz, an den vier ersten Hinterleibsringen und den Schenkeln, mit Ausnahme der schwarzen Hinterschenkelspitze, roth; die hinteren Füße an der Wurzel, die weiblichen Fühler in einem Ringe und die äußerste Hinterleibsspitze sind weiß. Durchschnittliche Länge 11 Mm. Die eben genannten Farben finden sich freilich bei vielen andern Gattungsgenossen, sodaß noch manches zu weit in das Einzelne führende Merkmal hinzugefügt werden müßte, um die Art mit Sicherheit zu erkennen.

Eine weitere Erfahrung lehrt den Raupenzüchter, daß sehr viele angestochene Raupen, mögen sie sich bei der Verwandlung in ein Gehäuse verspinnen oder nackt in einer Erdhöhle liegen, sich zu anscheinend vollkommen gesunden Puppen ausbilden; diese Puppen enthalten aber schließlich keinen Schmetterling, sondern eine Schlupfwespe, welche den bereits besprochenen Sichelwespen angehören und beispielsweise das Anomalon circumflexum sein kann, welche sich als eine Pimpla, eine Tryphonide vorstellt, in den meisten Fällen jedoch eine Ichneumonide im engeren Sinne des Wortes sein wird. Es sind hier Namen genannt worden, mit denen der geehrte Leser keine bestimmte Vorstellung zu verbinden im Stande ist, wenn nicht einige erläuternde Worte hinzugefügt werden.

Das Anomalon circumflexum (8) auf dem untersten Eichenblatte unseres Bildes ist eine stattliche Sichelwespe von der vorgeführten schlanken Form; der Kopf und der kurze Rumpf mit Einschluß der Hüften sind schwarz, die Fühler, das Gesicht, das Schildchen und der Hinterleib gelb; nur die Spitze des letzteren und die der Hinterschenkel und Hinterschienen behalten die Grundfarbe. Die verhältnißmäßig kurzen, gleichfalls gelben Flügel zeichnen sich bei allen Anomalonarten durch eine kurze Querader an Stelle der Spiegelzelle aus Beim Ausschlüpfen köpft die Wespe die Puppe des Kiefernschwärmers und einiger anderer Schmetterlinge in der Figur 7 dargestellten Weise.

Um die große Mannigfaltigkeit in der Entwickelung der Sichelwespen darzuthun, sei beiläufig noch bemerkt, daß von den gleichfalls lehmgelben Arten der Gattung Paniscus die sich durch eine dreieckige Spiegelzelle von Ofhion unterscheidet, einige ihre Eier im der Kopfnähe gewisser Raupen äußerlich anheften und daß die Larven nicht in den Raupenkörper eindringen, sondern, äußerlich saugend, an ihnen haften bleiben, bis sie, zur Verpuppung reif, ein Gespinnst anfertigen.

Die Mitglieder der großen Pimplarierfamilie zeichnen sich durch ihren sitzenden, das heißt an seiner Wurzel nicht stielartig verengten, niedergedrückten Hinterleib aus, dessen Spitze beim Weibchen in Folge des Legbohrers in ein kürzeres oder längeres Schwänzchen ausläuft; im Vorderflügel zählt man bei den meisten drei Unterrandzellen, deren mittelste der Dreiecksform am nächsten kommt. Die Beschaffenheit des Mittelrückens, ob er querrunzlig oder glatt, die des Hinterleibsrückens, ob durch Erhebungen und Eindrücke uneben oder eben, des Bohrers, ob aus der Spitze oder aus einer Längsspalte des Bauches heraustretend, der Klauen, ob einfach oder an der Innenseite kammartig gezähnt, das Vorhandensein einer vollständig geschlossenen Spiegelzelle, nur eine Andeutung derselben oder ihr gänzlicher Mangel und noch andere Merkmale entscheiden über die Zugehörigkeit jeder Art zu dieser oder jener der zahlreichen Gattungen, welche die ganze Familie zusammensetzen.

Die namengebende Gattung Pimpla ist an der knotigen Oberfläche des Hinterleibes und der Längsspalte für den Bohrer zu erkennen, welch letzterer mithin an seiner Wurzel durch diese Spalte, im weiteren Verlaufe durch das schwanzartige Futteral gedeckt wird, so lange er nicht als Eierleger dient. Schwarz, Roth, reines Gelb und Weiß sind die Farben, welche hier nur in Betracht kommen können, die Vereinigung der beiden ersten mit der letzten besonders an den Beinen. Die aus dem obersten Eichenblatte sitzende Pimpla varicornis (9) ist schwarz, rothbeinig, an den Schienen und Füßen der Hinterbeine hell geringelt, an der- Schildchenspitze, den Fühlern und im Gesicht mehr oder weniger gelb, auch wohl auf dem Rücken zwischen den Flügeln mit zwei gelben Längslinien gezeichnet und auf dem Rücken des ersten Hinterleibsringes in auffallender Weise muldenartig ausgehöhlt. Sie zerstört in der eben angegebenen Weise die Puppe eines Fleckenfalters der Melitaea Maturna.

Die glänzend schwarze, reichlich schwefelgelb gezeichnete Colpotrochia elegans (10), mit verhältnißmäßig kurzen, dicken Beinen und einer kurzen Querader an Stelle der Spiegelzelle, mag als Vertreter der Tryphoniden gelten, einer Familie, die sich in ihren verschiedenen Formen nur in größerer Umständlichkeit charakterisiren ließe, als hier angebracht erscheint.

Ungemein zahlreich und wechselnd in den Farben sind die zierlichsten aller Schlupfwespen, welche sich um die alte Gattung Ichneumon schaaren und in der Mehrzahl durch einen niedergedrückten, gestielten Hinterleib, in welchem der weibliche Legstachel verborgen ist, durch einen regelmäßig gefalteten Hinterrücken des Mittelleibes und durch eine fünfeckige Spiegelzelle im Vorderflügel gekennzeichnet sind. Die männlichen Fühler lassen diese zusammensetzenden Glieder kaum unterscheiden und bleiben nach dem Tode unverändert, während die sich dann ringelnden weiblichen Fühler deutlich abgesetzte Glieder und viel häufiger als jene einen weißen Ring zeigen.

Viele Arten sind in ihren beiden Geschlechtern abweichend gefärbt, die Weibchen oft bunter, als ihre Männchen (gelb oder roth, schwarz und weiß am Hinterleibe), diese dagegen wieder reichlicher gelb oder weiß gezeichnet, als jene, weshalb es oft sehr schwer wird, beide auf ihre Art zu deuten. Dies gilt nicht von dem hier vorgeführten Vertreter, Ichneumon pisorius (11). Die schwarze Grundfarbe weicht am Hinterleibe vom zweiten Gliede an, bisweilen mit Ausschluß der Spitze, einem schmutzigen Gelb, die Schildchen, je eine Linie vor der Flügelwurzel, sind rein gelb, beim Männchen auch das Gesicht und die Beine, an denen die Grundfarbe nur fleckenartig zurückbleibt, beim Weibchen dagegen nur ein Schienenring, die oberen und vorderen Augenränder noch gelb und ein Fühlerring weiß. Die Art schmarotzt vorzugsweise in der Raupe des Kiefernschwärmers und entwickelt sich aus dessen Puppe, welche dann genau so aussieht (7), als wäre das Anomalon circumflexum daraus hervorgebrochen.

Noch hat der Raupenzüchter seine Beobachtungen nicht erschöpft; denn er findet beispielsweise in dem aus den Körperhaaren gewebten Cocon einer Bärenraupe oder in dem gleichfalls durchsichtigen Gespinnste der Gamma-Eule keine Schmetterlingspuppe, sondern eine Anzahl kurzer, dunkler „Tönnchen“, wie die Gruppe (12) zwischen der Kohlweißlingsraupe und dem unteren Eichenblatte unseres Bildes andeuten soll. Dieselben sind wesentlich anderer Natur als die früher besprochenen (5). Ein nur schwacher Druck zwischen den Fingerspitzen läßt die brüchige Haut nachgeben und zeigt, daß sie nicht gesponnen sind; außerdem liefern sie bei natürlicher Entwickelung keine Schlupfwespen, sondern Fliegen, im Hinterleibe viergliederige Grasflügler, deren verschiedene Arten hinsichtlich der Größe zwischen derjenigen einer kleinen Stubenfliege und einer derben, blauen Fleischfliege schwanken.

Auch in Färbung, im Baue des Körpers und im Verlaufe des Flügelgeäders erinnern viele derselben lebhaft an die gemeine [520] Stubenfliege, unterscheiden sich aber bei näherer Betrachtung in erster Linie von ihr durch die kräftigen Borsten zwischen der Haarbekleidung des Körpers und zum Theil auch der Beine und durch die nackte Fühlerborste, welche dort gefiedert ist. Ihre Bewegungen sind hastiger, der Flug ein rascherer (daher auch Schnellfliegen), und als Larven ernähren sie sich, wie die Schlupfwespen, parasitisch in anderen Insectenlarven. Weil diese anderen Insectenlarven erfahrungsmäßig vorherrschend Schmetterlingsraupen sind, hat man die in Rede stehenden Fliegen in ihrer Gesammtheit Raupenfliegen, oder nach der ursprünglichen, neuerdings vielfach gespaltenen Gattung Tachina, auch Tachinen genannt.

Die auf ihren braunen, etwas heller und dunkler grünstreifigen Püppchen sitzende Exorista Vulgaris (12) ist kräftiger, namentlich breiter als die Stubenfliege, schwarz von Farbe, auf dem Mittelleibsrücken streifenartig, auf dem Hinterleibe unvollkommen bindenartig weißgrau schillernd, Schildchen gelblichgrau, der Körper stark beborstet, drittes und letztes Fühlerglied sehr lang und schmal, mit kräftiger Rückenborste. Die Beborstung im Gesicht, welche beiderseits nur die halbe Länge desselben, vom Mundrande nach der Stirn zu, reicht, die Behaarung der Augen und die gleich näher zu bezeichnende Beschaffenheit des Flügelgeäders bilden die Gattungsmerkmale. Die Flügel haben sechs Längsadern, von denen sich die erste vorn theilt, die dritte und vierte sind, wie bei allen echten Fliegen, etwa in der Mitte durch die „kleine Querader“ verbunden, jenseits welcher sie die „erste Hinterwandszelle“ bilden; daß dieselbe offen ist, das heißt nach außen nur durch den Flügelsaum und nicht durch eine Ader geschlossen wird, und, entfernt von der Flügelspitze, in den Vorderrand mündet, bildet die weiteren Gattungsmerkmale. Die Beugung der vierten Längsader nach der dritten hinauf, welche die eben bezeichnete Zelle bilden hilft, heißt überall, wo sie vorhanden, die „Spitzenquerader“; ihr ziemlich gleichlaufend, vom Flügelsaume entfernter, verbindet die „hintere Querader“ die vierte und fünfte Längsader mit einander; überdies bemerkt man nahe der Flügelwurzel je vier sehr kleine Queradern zwischen derselben und zwischen der fünften und sechsten Längsader, welche beide zwei unscheinbare für den Fliegenflügel charakteristische Zellen begrenzen. Hinter jedem Flügel steht ein großes, weißes Schüppchen, unter welchem ein gestieltes Knöpfchen, die allen Zweiflüglern zukommenden „Schwinger“, verborgen sind. Hiermit sei ein für allemal auf die wesentlichsten Punkte aufmerksam gemacht, welche zur Unterscheidung der echten Fliegen (Muscidae) in Betracht gezogen werden. Die genannte Exorista schmarotzt in der Raupe der Gamma-Eule; aber auch, wie die folgende, in derjenigen des Kiefernschwärmers.

Auf der eben genannten Raupe sehen wir die Phorocera concinnata (13) sitzen. Nach geschäftigem Hin- und Herschwirren hat das Fliegenweibchen die ihm genehme Raupe erspäht, und nun wiederholt sich ungefähr dasselbe, was oben von den Angriffen des Microgaster erzählt wurde. Die Raupe ist ungemein empfindlich gegen jegliche Berührung, wehrt sich nach Kräften, aber umsonst: die Fliege erreicht ihren Zweck, verfährt jedoch insofern glimpflicher mit ihr, als die meisten Schlupfwespen, als sie die Haut nicht verletzt, sondern die Eier äußerlich anheftet. Man trifft bisweilen Raupen an, namentlich von Schwärmern, welche an einer ihrer Körperseiten reichlich mit kleinen lichten Körnchen, wie mit einem Ausschlage besetzt sind, so regelmäßig oder wenig geordnet, wie es unsere Kiefernschwärmerraupe zeigt. An der der Raupenhaut zugekehrten Eiseite schlüpft die Made aus, dringt unter dem Schutze der Eischale in jene ein und ernährt sich nur vom Fettkörper in der Raupe, ebenso wie die Schlupfwespenlarven. Wenn sie erwachsen ist, findet ein anderer, den echten Fliegen eigener Vorgang statt. Die Larve verkürzt sich, nimmt dadurch in der Breitenausdehnung zu; das Innere löst sich von der Haut los und bildet mit der Zeit die Puppe, während die Haut als schützende Hülle für jene erhärtet. Diese Umwandlung erfolgt meist dann, wenn sich die reife Larve aus der Raupenhaut herausgebohrt hat; die hier vorkommenden Verschiedenheiten sind jedoch noch lange nicht hinreichend erforscht. Die in dem „Tönnchen“, wie man die auf die eben angegebene Weise entstandenen Fliegenpuppen allgemein nennt, entwickelte Fliege stößt ein mehr oder weniger regelmäßiges Deckelchen mit ihrem Kopfe los – nagen kann sie nicht, wie überhaupt keine Schlupfwespe – und wird frei.

Die genannte Phorocera welche, wie bei sehr verschiedenen Raupen, so auch noch bei denen des Kohlweißlings, des Weidenspinners, des Goldafters schmarotzt, stimmt in ihren Gattungsmerkmalen fast vollständig mit der vorigen überein und weicht nur dadurch von ihr ab, daß die Borstenwimperreihe beiderseits des Gesichtes nicht in der halben Höhe aufhört, sondern bis zu den Fühlern hinaufreicht. Die abgebildete Art ist schwarz, auf dem Rücken in der Weise grau bestäubt, daß vier Längsstriemen die Grundfarbe beibehalten, auch auf dem Hinterleibe zeigen sich vom zweiten Ringe an breite, weißlichschillernde Bänder; die gelben Tastenspitzen und die nicht winkelig, sondern unter einem Bogen von der vierten Längsader weitergehende Spitzenquerader vervollständigen die Artkennzeichen.

Aus einem der äußeren Eichenblätter ist noch eine dritte und größere Raupenfliege abgebildet, die Echinomyia lucida (14), einer Gattung zugehörig, welche sich leicht an dem an Länge das erste übertreffenden zweiten Fühlergliede erkennen läßt. Unsere Art trägt außer den schwarzen Borsten ein ziemlich dichtes und weißes Haarkleid, hat jederseits der Hinterleibswurzel einen schmutzig gelben Fleck und die Spitzenhälfte der Beine von noch lichterer Färbung. Sie schmarotzt unter Anderem in der Raupe einer „Kapuzeneule“, der Cucullia verbasci.

Bisher haben wir nur schmarotzende Fliegen und Schlupfwespen als Raupenfeinde kennen gelernt und das höchst anziehende Leben derselben allerdings nur andeuten können; näher auf dasselbe, namentlich der Schlupfwespenschaaren, einzugehen, würde einmal ein umfassenderes Vorstudium dieser so hochinteressanten Insecten erfordern, als bei den Lesern vorausgesetzt werden darf; überdies würden wir aber auch weit von unserem vorgesteckten Ziele abweichen, da ja die Raupen nicht allein, sondern auch die Larven anderer Insecten, wie deren Eier oder Puppen von ihnen zu Brutstätten auserkoren werden. Aber selbst dann, wenn wir uns nur auf erstere beschränken, ist es nach dem heutigen Stand der Wissenschaft noch nicht möglich, die angedeuteten Mannigfaltigkeiten in der Lebensweise dieser Thierchen unter gewisse Gesichtspunkte zu ordnen und als gültige Gesetze präcisiren zu wollen.

Durch die Schlupfwespen sind wir mit einem kleinen Theile der interessantesten aller Kerf-Ordnungen, den Hautflüglern, bekannt geworden. Gewisse andere Ordnungsgenossen hat man in Folge ihrer Lebensweise mit dem gemeinsamen Namen der Mondwespen zusammengefaßt und dieselben in Rücksicht auf den Körperbau in mehrere Familien getheilt. Diese Mondwespen legen in dazu geeignetem Erdboden, in Lehmwänden, mürben Baumstämmen, alten Pfosten u. dergl. wenige künstliche Röhren (Nester) an, tragen in dieselben Insecten verschiedener Art, und unter ihnen auch Raupen, eine jede nach ihrem Geschmacke und mit Auswahl, legen ein Ei an das eingetragene Futter, verschließen die Röhre je nach der Oertlichkeit mit Erde, mit Abnagseln von Holz oder Pflanzenmark, reihen wohl auch mehrere Zellen, jede mit ihrem besonderen Futtervorrath und einem Ei, an einander, wenn sie es nicht vorziehen, für jedes folgende Ei eine neue Röhre zu graben. Mit letzterer Beschäftigung z. B. füllt das Weibchen der gemeinen Sandwespe (Ammophila sabilosa [15]) seine sommerlange Lebenszeit aus. Es sucht sich eine und die andere Art der sogenannten Erdraupen, tödtet oder lähmt dieselbe vielmehr nur mit einigen Stichen und schleppt sie oft weite Strecken mit Aufopferung aller ihrer Kräfte, da das Opfer mehrmals schwerer zu sein pflegt, als die Sandwespe selbst, nach ihrer im Sandboden gegrabenen Röhre, legt ein Ei an diesen Vorrath und verschließt den Zugang der Röhre sorgfältig mit kleinen Sandsteinen, dadurch jede Spur von dem Vorhandensein des Nestes tilgend. Zu Ende des nächsten Frühjahres öffnet eine junge Sandwespe den Verschluß ihres Kellergewölbes und ahmt die mütterliche Brutpflege nach, sofern sie ein Weibchen ist. Das außerordentlich schlanke und bewegliche Thierchen ist schwarz, in der Mitte des langgestielten und hierdurch keulenförmigen Hinterleibes roth, an den Brustseiten durch Behaarung silberfleckig und hat drei geschlossene Unterrandszellen im Vorderflügel. Wenige ihr nahe verwandte Arten führen dieselbe Lebensweise und werden zu Raupentödtern.

Manche Ameise dürfte dieses und jenes Räupchen einheimsen, manche Baumwanze eins mit ihrem spitzen Schnabel anstechen und aussaugen, auch der vierpunktige Aaskäfer (16) stellt sich besonders dann zahlreich auf dem Eichenstangenholze ein, wenn dessen Blätter von Raupen zerfressen sind, um an den Fressern seine Mahlzeiten zu halten.

[521] Unter den von den genannten und anderen Insecten unmittelbar verspeisten Raupen sind möglicher Weise viele schon krank und keiner regelrechten Entwickelung mehr fähig. Die Schmarotzer sind und bleiben ihre gefährlichsten Feinde unter den Insecten, und darum sei zum Schlusse noch der bisher unerwähnt gebliebenen Schlupfwespen-Familie, der Pteromalinen oder Chalcidier, gedacht, von denen gewisse Arten Schmetterlingseier oder Schmetterlingspuppen anstechen. Wir erblicken hier den Pteromalus puparum als Vertreter einer Familie, unter welcher wir die kleinsten aller Schlupfwespen zu suchen haben, so klein, daß selbst mehrere ihrer Larven im Inhalte eines Schmetterlingseies hinreichende Nahrung finden. Gekniete Fühler, fast vollkommen aderlose Flügel, deren vordere stumpf und breit gerundet sind, und vorherrschend metallisch grüne Körperfarbe zeichnen die Familienglieder aus. Das hier abgebildete Weibchen ist olivengrün, an den Beinen von den Knieen an gelblich, sein schlankes Männchen heller und an den Beinen ausgedehnter gelb gefärbt. Wenn die Kohlweißlings- oder andere Tagschmetterlingsraupen sich in gleicher Art, wie die genannte, an einen Gegenstand angeheftet und ihre letzte Haut abgestreift haben, so umschwärmt das Wespchen die noch zarthäutige Puppe und schiebt hier und da zwischen die noch nicht zusammenklebenden Körpertheile ein Ei. Die vollkommen wehr- und hülflose Puppe muß dies geschehen lassen, wenngleich sie zum Zeichen ihres Unbehagens ob dieser Frechheit die Hinterleibsringe lebhaft hin und her windet. Bald nachher ist ihre Oberhaut erhärtet und wie aus einem Gusse in allen Theilen zusammenhängend; kein Mensch kann es ihr ansehen, daß sie den Keim des Todes in sich birgt. Allmählich jedoch verliert sie ihre Beweglichkeit, entfärbt sich, und zu einer Zeit, in welcher dieselbe oder verwandte Puppen bald wieder anzutreffen sind, erhält sie allerwärts runde Löcher, aus welchen ein Schlupfwespchen nach dem andern hervorspaziert und behaglich mit den Fühlern auf und ab nickt. Die durchlöcherte Puppenhaut bleibt zurück, wie Fig. 17 andeutet.

Trotz der gestrengen Polizei, welche die kleinen und größeren Schmarotzer unter den Wespen und Fliegen neben Vögeln, Kriechthieren, Spinnen etc. gegen die Raupen ausüben, können sie derselben doch nicht immer Herr werden, und jeder neue Raupenfraß mahnt uns daran, daß wir selbst alle Kräfte aufbieten müssen, um diesem Ungeziefer gegenüber unsere Culturen möglichst zu schützen. [1]


Pferde in der Schwemme.
Zeichnung von Gustav Jäger in München.

[522]
Das „Schiller-Album“ im Schiller-Hause zu Weimar.

Es war im Juni 1847, als der Stadtrath von Weimar das ehemalige Wohnhaus des Dichters aus Privatbesitz erwarb und in dem neugeweihten Hause ein „Schiller-Museum“ begründet wurde. Einige Weimarische Verehrer Schiller’s faßten den Entschluß, ein „Schiller-Album“ hinzuzufügen; die einzelnen Blätter wurden an die hervorragendsten Persönlichkeiten des Tages gesandt, und im Beginn des Jahres 1848 erfolgten die ersten Einzeichnungen. Seit Abschluß des Albums liegt dasselbe in zwei stattlich eingebundenen Büchern den Besuchern des Schiller-Hauses zur Einsicht vor.

Daß in einem Album zu Ehren Friedrich Schiller’s eine ausgewählte Gesellschaft zusammenkommen und Gaben des Geistes mitbringen werde, die des Gefeierten sich würdig erweisen, war wohl im Voraus als sicher anzunehmen. Nicht voraussehen, kaum ahnen konnten aber die Stifter desselben, daß sie mit diesem „Schiller-Album“ die Gelegenheit bieten würden zur Aufstellung des treuesten Spiegelbildes einer der denkwürdigsten Zeiten der deutschen Geschichte.

Wenn nämlich auch ein gut Theil dieser Blätter sich abseits von den politischen Bewegungen der Zeit stellt, den Dichter feiert, Handzeichnungen und musikalische Autographen berühmter Meister giebt (auch manche Schiller-Reliquie hat im Album ihren Platz gefunden), so beanspruchen doch zahlreiche andere ein geschichtliches Interesse: da haben von den Wehen der Zeit erregte Geister aller Schattirungen ihrem Herzen mehr oder weniger Luft gemacht, und wer die politisch-nationalen Strömungen des Jahrzehnts vor dem Sturmjahr von 1848, dieses selber und die Zeit bis zur beginnenden Reaction sich vor Durchblätterung des Albums einen Augenblick in die Erinnerung zurückruft, dem wird dasselbe einen ganz eigenartigen Genuß bereiten.

Alle vorherrschenden Gedanken und Stimmungen im Kopf und Herz der Zeit- und Kampfgenossen jener Tage – sie treten uns frisch und lebendig noch heute aus dem „Schiller-Album“ entgegen, und daß alle diese hochstehenden und hochbegabten Männer und Frauen die unumwundensten, dem Augenblick entsprungenen Darlegungen ihrer Gedanken und Gefühle, ihrer Hoffnungen und Wünsche, ihrer Klagen und Verwünschungen in der ganzen Reihenfolge der damaligen Schicksale der Nation dem „Schiller-Album“ anvertrauten, daß sie gleichsam ihr Herz dem Dichter ausschütteten, gerade das gereicht unserm Friedrich Schiller zur höchsten Ehre: er ist dadurch vor Allem gefeiert als der Sänger des Vaterlandes und der Freiheit, als der geistige Mitkämpfer in jedem Kampfe um die höchsten Güter der Nation.

Ehe wir aber in diesen Ehrenbau eintreten, lassen wir uns wie von einführenden Herolden an der Pforte von einem Dichter und einer Dichterin begrüßen. Hören wir schon einzelne weimarische Stimmen ihre Freude über die neue Weihe des alten Schiller-Heim aussprechen, so hat den rechten Thorgruß doch am gelungensten Oscar Ludwig Bernhard Wolff[2], Deutschlands erster und größter Improvisator († 1851), ausgesprochen in dem Gedichte, das er in Jena, am 20. Januar 1848, also noch vor der Revolution, dem Album widmete:

               „Schiller’s Manen.

Dir hat in diesen engen Räumen
Einst Liebe sanft die Stirn gekühlt,
Wenn, trotz urmächt’gen Dichterträumen,
Du schwer des Alltags Last gefühlt.
In dieser Heimath Heiligthume
Barg sich die Freude Deiner Welt,
Wo Du dem Adler, Deinen Ruhme,
Die Friedenstaube zugesellt.

Nun erst, nach mehr denn vierzig Jahren,
Ward es der Bürger edles Ziel,
Vor schnödem Untergang zu wahren
Das Haus, das fast zusammenfiel.
Sie eilen froh, es auszuschmücken,
Selbst des Geringsten frommer Sinn
Legt mit dem innigsten Entzücken
Sein Scherflein Deinem Altar hin.

Auch diese tief empfundnen Zeilen
Sind nur ein Scherflein solcher Art,
Ein Streben, das Gefühl zu theilen,
Das treu Dein Vaterland bewahrt.

So muß die Wahrheit sich entschleiern,
Die ernst der Nachwelt Kunde giebt:
Nicht, wie Dich deutsche Fürsten feiern,
Nein, wie das deutsche Volk Dich liebt!“

Die Dichterin, die uns am Eingang mit begrüßt, Henriette Ottenheimer, deren Dichtungen von der Frauenwelt nicht hätten vergessen werden dürften, stand mitten im Revolutionssturm, als sie (zu Regensburg am 27. April 1849) in edler weiblicher Bescheidenheit, und doch von ihrer Zeit und Schiller’s Geist erhoben, sang:

„Dir huldigen?! – Zum Lächeln ist es fast,
Nicht Du bist’s, den so arme Klänge ehren;
Sie sind der Opferrauch, der aufwärts steigt,
Ein Zeugniß, daß wir heil’ges Feuer nähren.

Dein Ziel war göttliche Vollkommenheit
Und Deine Spur, für alle Zukunft, Segen;
Jetzt liegt wohl Deine klare Sonnenbahn
Weit ab von dieser Welt verworrnen Wegen.

Im Liede aber lebst Du mit uns fort
Und streitest mit in unsrem Freiheitskriege;
Du weißt es nicht, doch hilft Dein Geist gewiß
Dem Heile unsres Vaterlands zum Siege.

Auch sagt man, und ich glaube es so gern,
Daß Liebe leicht Verständniß jenseits findet,
Sie sei im Himmel ja des Hauses Kind,
Die milde Kraft, die Stern mit Stern verbindet.

O ist es so, so kannst Du nimmermehr,
Verklärter, unsern Herzensgruß verschmähen;
Denn daß der Liebe Athem ihn durchweht,
Du wirst es wohl erkennen und verstehen.“

Und nun treten wir ein, und wenn wir die beiden von Künstlerhand und Familienliebe mit Schiller’s Bildniß und einer Locke seines Haares geschmückten Bande durchblättert haben, und Anfang und Ende vergleichen, so stehen wir überrascht von der wunderbaren Fügung, daß zwei Männer, für uns beide gleich ehrwürdig durch ihr hohes Alter, der Eine der beharrlichste Vaterlandsverherrlicher bis an seinen Tod und als „treues deutsches Gewissen“ unsterblich – der Andere der Erbe und Vollender all der Kämpfe um Deutschlands Befreiung, Einigung und des Reiches Wiederaufstehen, daß beide wie zwei höchste Ehrensäulen am Anfang und am Ende dieses Albums stehen: dort der Vater Arndt und hier – der Kaiser Wilhelm! Und würdig ihres Charakters sind ihre eigenhändigen Inschriften im „Schiller-Album“.

Arndt schrieb am 14. Hornung (Februar) 1848 (also, wie Wolff, noch vor der Revolution):

„Wer sich des Muths erkühnt, zu singen und zu klagen
Dein Weh’, o Vaterland, und dein’s, o Menschenherz,
Wer die Lawine wälzt der Schicksalsräthselfragen,
Bald fliegend himmelauf, bald stürzend höllenwärts,
Der horche nimmer auf, wo Späne, von Philistern
Mit schalem Spott besprützt, durch Himmelsflammen knistern.

Hat Einer der Erde prometheische Flammen zugetragen, so trug sie Deutschlands idealistischster Dichter. Sein unsterblicher Name ist auch oft angesprützt worden und wird es zuweilen noch, aber die Flammen, die er ausgesäet hat, werden brennen und leuchten, so lange deutsch noch ein Name ist.“

Unser Kaiser, damals „Prinz von Preußen“ und aus dem Revolutionskrieg heimgekehrt, citirt, am 1. December 1850, als seine Schiller-Albumsausgabe die Stelle der „Piccolomini“ in der sechsten Scene des zweiten Acts, so bedeutungsvoll für ihn nach seinen Erlebnissen in dieser Zeit:

„Auch des Menschen Thun
Ist eine Aussaat von Verhängnissen,
Gestreuet in der Zukunft dunkles Land,
Den Schicksalsmächten hoffend übergeben.“

Wir ordnen die folgenden Mittheilungen aus dem Album nach der Zeit und beginnen mit den Inschriften politischer Farbe vor dem Ausbruche der Februarrevolution. Dies giebt uns das Recht, auch hier einen alten Volksmann, und zwar einen aus dem Volke, an die Spitze zu stellen.

Der weimarische Buchbindermeister Adam Henß schrieb am 20. Januar 1848 in das Album:

[523] „Wenn die Geschichte die Namen brutaler Volksdränger und zelotischer Finsterlinge der Nachwelt überliefert, so thut sie das nur, damit die Verachtung der künftigen Geschlechter sie ebenso trifft, wie die Verwünschungen der Gegenwart. – Aber in eigenem Lichte glänzen die Namen der geistigen Heroen, die, ihrer Zeit voraneilend, dem Ideenkreise ihrer Zeitgenossen ihre Richtung haben; ihr Geist ist lebendig durch alle Zeiten, denn die zum Gemeingut gewordene Idee ist in endloser Folge die Mutter stets wachsender Erkenntniß. – Nie wird Deutschland des ersten seiner Dichter vergessen, und sollte man einstens fragen: Wo stand Weimar? dann wird die Geschichte mindestens sagen: In seinen Mauern lebte Schiller!“

Am 22. Januar zeichnet der Weimarische Oberbürgermeister und Stadtdirector Karl Georg Hase ein:

                  „An Schiller.

Was Du von der Freiheit hast gesungen,
Hat in Deinem Volke nachgeklungen;
Ueberall schon grünet Deine Saat!
Frost und Hitze konnten sie nicht drücken,
Golden werden bald die Aehren nicken,
Und dem kühnen Worte folgt die That.“

Gustav von Struwe, der spätere badische Revolutionsmann und Geschichtsschreiber, liefert vom 3. Februar aus Mannheim folgenden Beitrag:

„Die Zeit des Dichters Schiller liegt um ein halbes Jahrhundert hinter uns. Deutschland ist an Erfahrungen reicher geworden, seit er aufhörte, seine Ideale dem Vaterlande vorzuführen. Wenn Schiller’s Zeit dazu aufforderte, für Freiheit und Recht zu schwärmen, so ist es die Aufgabe unserer Tage, für Freiheit und Recht zu wirken, Gut und Blut für diese höchsten Güter der Menschheit einzusetzen. Thun wir dieses, dann handeln wir im Geiste des Dichters der Freiheit, dann üben wir unsere Pflicht als Menschen und Bürger. Lebte Schiller unter uns, er würde in den vordersten Reihen kämpfen gegen die Verderbniß, welche von den höchsten Stufen der Gesellschaft herab ihr Gift über die ganze Nation ausschüttet.“

Adolph Stahr in Oldenburg schrieb am 4. Februar:

„,Die moralische Möglichkeit, den Staat der Noth in den Staat der Freiheit zu verwandeln, fehlt, und der freigebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht!’ (Schiller’s Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen.)

Je näher diese große Aufgabe der Menschheit ihrer Lösung entgegenschreitet, desto tiefer und dankbarer wird es erkannt werden, daß Schiller’s unsterblicher Genius die Menschheit zu derselben erzogen hat und täglich erzieht.“

Günther von Ziegeler, fürstl. Schwarzburg-Sondershausener wirklicher Geheimrath a. D. in Sondershausen, ein Verwandter von Schiller’s Gattin, schließt seine am 12. Februar 1848 im Album niedergelegten persönlichen Erinnerungen an seine Aufnahme in Schiller’s Hause zu Jena (1793 und 1794) mit den ganz im Geiste von 1847 gedachten Worten:

„Offener Sinn für alles Wahre und Gute, und dann vorwärts zum Besseren, aber nicht im Sturmschritte, sondern in besonnener Weise, das sey unser Losungswort und die Maxime unseres Handelns!“

Von Dr. Joh. Wilhelm Schäfer in Bremen, berühmtem Literaturhistoriker, auch Dichter, lesen wir:

„Das ist des deutschen Volkes Hoffnungstraum,
Daß einer neuen Hansa Bund sich webe,
Daß durch des Weltenmeeres Wellenschaum
Am stolzen Mast die deutsche Flagge schwebe,
Und daß in seinem ungemeßnen Raum
Die deutsche Flotte ihr Panier erhebe;
Die Hansa schlummert noch im Zeitenschooße:
Der Tag kommt für das Herrliche und Große.

Ein Völkerfrühling naht mit mächt’gem Wehen,
Er sendet seine Boten schon voran.
Nicht hemmen ihn die eisbedeckte Höhen;
Vom Süd zum Norden macht er kühn sich Bahn.
Und was vom Belt bis zu den Alpenseeen
Prophetisch sich verkündet, ist kein Wahn:
Ein Jugendfeuer strömt durch Deutschlands Glieder,
Und Eine große Hansa eint uns wieder.

Worte zum Schlusse einer öffentlichen Vorlesung über die Geschichte der deutschen Hansa – niedergeschrieben im Vorgefühl großer vaterländischer Ereignisse am 20. Februar 1848.“

Louise von Ploennies, die Dichterin in Darmstadt, hat das „Schiller-Album“ mit einem längeren Gedichte geschmückt, welches beginnt:

„Ich hab’ dir manches Lied gesungen,
Doch nur im innersten Gemüth,
Wenn still von deinem Geist durchdrungen
Es mir im Herzen tief geglüht“ –

und schließt, schon die erwachenden Ansprüche des Weibes auf Betheiligung am öffentlichen Leben andeutend – es ist am 22. Februar 1848 geschrieben –:

„Wenn an der Geister Heiligthume
Nicht mehr vergebens pocht die Frau,
Dann blüht der Liebe Wunderblume
Noch herrlicher auf deutscher Au.“

Unter den Prophetenstimmen einer anderen Richtung möge, um auch in dieser Beziehung eine Probe zu bringen, dem Theologen und Literaturhistoriker, damaligen Gymnasialdirector in Marburg, Dr. August Friedrich Christian Vilmar das Wort gegeben sein. In seinem Beitrag, der am 22. Februar (Schiller’s Hochzeitstag 1790) niedergeschrieben worden ist, heißt es unter Anderem:

„Sie feiern dir manch ,Schiller-Fest’, manch ,Hoch!’ gilt deinen ,Manen’;
Im Prunksaal deine Büste steht, dein Bild in Sänger-Fahnen;
Dort weihen sie ein Standbild dir; dies Album wird gegründet;
Sie lesen, wie die Briefe einst mit Körner dich verbündet etc.

Wer noch dich liest, der pflückt doch nur an deinen Ruhmeskränzen,
Liest auch vielleicht aus dir heraus – moderne Staatstendenzen.
Wer fühlt, wie wir als Knaben einst, dein sturmgewalt’ges Wehen?
Wo sind die Dichter, die allein den Dichterheld verstehen?
Die Sänger, die aus tiefster Brust zu deiner Harfe singen?
Die Seelen, die du kühn einst trugst auf deiner Seele Schwingen?
Die Wangen, die wie Morgenroth bei deinem Sang geleuchtet,
Die Augen, die mit Thränenglanz dein Liederstrom befeuchtet?
Wo ist ein Herz, in das dein Wort wie Blitz und Sturm gewittert,
Daß selbst noch in des Greises Brust Begeistrung es durchzittert?
Ein Herz, in das dein mächt’ger Klang des Lebens Odem hauchte
Und tief es in den frischen Quell der ew’gen Jugend tauchte?
Kaum lernen wollen sie von dir, nur über dich viel sprechen etc.

Nichts werden wollen sie durch dich, von dir nur vieles wissen,
Und wenn sie Leben und Gedicht zergliedert und zerrissen,
Dann thun sie breit und groß damit, was du durch sie geworden –
Sie werden alles nur durch sich, die Literatenhorden etc.

Doch wenn dereinst ein neu Geschlecht durch dich will etwas werden,
Dann bricht ein neuer Tag herein der Lieder hier auf Erden,
Und wieder, wie in alter Zeit, wird’s von den Bergen klingen
Und regen sich in Flur und Wald ein neues frohes Singen.
Wenn wieder dann bei deinem Lied die Herzen freudig schlagen,
Dann wird Gesänge stolzen Klangs ein Sturm durch Deutschland tragen,
Der kühn als junge Freiheit braust, wie Ost im Frühlingslaube,
Und mild und warm, wie Maienhauch, als alter treuer Glaube.
Sein Odem ruft die Todten auf, die Grüfte sprengt sein Wehen:
Es wird aus seinem Felsengrab der Rothbart auferstehen,
Und weltgebietend rauscht, wie einst, des deutschen Aars Gefieder.
Heran! du freie neue Zeit, du Zeit der deutschen Lieder!“

Und nun treten wir in die Sturmwehen der Revolution selbst ein und begrüßen voll Ehrfurcht den ersten Verkündiger derselben im Schiller-Album, der kein Geringerer ist, als der 1860 verstorbene Ignaz Heinrich von Wessenberg, damals Bisthumsverweser in Constanz (in der „Gartenlaube“ in Bild und Wort – Jahrgang 1863, Seite 37: „Die Mitra mit dem Eichenkranz[WS 1] – dargestellt). Er, der als Kirchenfürst, Patriot und Dichter gleich hervorragende Mann, singt begeistert – am 25. Februar 1848 –:

                 „Der Völker Auferstehen.

Wer fühlt jetzt nicht allwärts die Schauer wehn,
Wie sie voraus der Morgensonne gehn?
Wo ist ein Volk so tief in Schlaf versunken,
Daß es, durchzuckt von einem Himmelsfunken,
Nicht lauschte sehnsuchtsvoll und freudetrunken
              Dem Ruf zum ,Auferstehn’?

Welch Brausen in den Tiefen, auf den Höhn?
Wem giebt sich Gottes Finger nicht zu sehn?
Ist’s der doch, der gelöst der Völker Zungen,
Daß eine Stimm’ ist durch die Welt gedrungen:
Wornach umsonst Jahrhunderte gerungen,
              Soll jetzt uns auferstehn.

Kein Wahnbild nennt’s, um was die Völker flehn?
Wer dürfte so, was Menschen heilig, schmähn?
Gerechtigkeit und Freiheit sind die Güter,
Wofür der Völker Chor jetzt treue Hüter
Begehrt. Ist Frevel gegen die Gebieter –
              Solch edles Auferstehn?

O nein! Gott will, daß ernten, welche sä’n,
Will, daß nach Licht frei alle Geister spähn.
Aufrecht zu ihm soll jedes Antlitz schauen,
Sich jeder Mund erschließen mit Vertrauen,
Und jedes Volk, um sich sein Haus zu bauen,
              Frohlockend auferstehn!

[524] Dieses Auferstehungslied sei dem Genius unseres deutschen Sophokles geweiht, dessen Muse im ,Don Carlos’, im ,Wilhelm Tell’, im ,Wallenstein’, in ,Maria Stuart’ und ,Jungfrau von Orleans’ die Morgenröthe des Auferstehens der Völker zum Licht und zur Freiheit mit hoher Begeisterung begrüßt hat.

Constanz, den 25. Hornung (Februar) 1848.

J. H. Wessenberg.“

Oscar von Wydenbrugk, der Weimarische Märzminister, schrieb am 4. März in Weimar in das Album:

„Schlägt Deutschland sich nicht selbst die tiefsten Wunden,
So wird kein Feind dem schönen Lande schaden.“

Eine Inschrift vom 19. März lautet:

„Tief sinkt der Same in der Erde Schooß,
und Ceres Klage tönt ob seinen Grüften –
Der Frühling naht, mit ihm ein selig Loos,
Die goldne Aehre dringt zu lauen Lüften.

Kühn richtet der Gedanke sich empor
Aus langer Nacht – des Geistes heil’ge Habe!
Durch Deutschlands Gauen tönt der Jubelchor,
Und freudig leuchtet es ob Deinem Grabe.“

v. Canaval in Prag.

Dr. J. G. E. Schwarz, Kanzelredner und freisinniger Theologe in Jena, knüpft an Schiller’s Ausspruch in „Tell“:

„Seid einig – einig – einig,“

das Sinngedicht im Geiste des damaligen großen Augenblicks:

„Immer ist auch ein Prophet, wem die echte Weihe des Dichters
Wohnt in der Tiefe der Brust, seinem Geschlechte zum Heil.
Darum hört, was im ,Tell’ der Sänger der Freiheit gelegt hat
In des Sterbenden Mund – hört es, ihr Lebenden heut!

Jena, den 18. Mai 1848. Am Tage der Eröffnung des deutschen Parlaments.“

Gervinus schreibt unter Anderem:

„Schiller faßte den großen Gedanken, daß durch die Bildung, durch Kunst das deutsche Volk in dem Maße müßte veredelt werden, daß eine ähnliche Stunde (wie die der französischen Revolution) der politischen Erhebung Deutschlands ein für die Segnungen der Freiheit und für das Staatsleben besser vorbereitetes Volk finden müßte. Diese Fassung schließt so viel höchsten Seelenadel, so viel vaterländisches Gefühl, Freiheitsliebe und politischen Sinn in sich, daß es das Glänzendste, Edelste und Beste in Schiller’s Wesen ausspricht etc.“

(Jeden Besucher des Schiller-Hauses machen wir auf dieses Blatt unseres Gervinus besonders aufmerksam.)

Margaretha von Schiller, die Wittwe von Schiller’s Sohn Friedrich Wilhelm Ernst (schon 1841 †), sandte als „Dank für die Pietät der hochherzigen Stadt Weimar gegen den unsterblichen Dichter“, von Köln, im Frühling 1848, folgendes ebenfalls vom Geist des Völkerfrühlings dictirte Gedicht:

„Du schriebst mit Deines Herzens Blut,
Du warst des deutschen Volkes Herz,
Drum ist Dein Wort sein heilig Gut,
Bleibt ewig jung ihm, ewig wahr.

Du ahntest freie Morgenluft,
Vorläufer deutscher Freiheit Du –
Und sieh, gesprengt ist ihre Gruft!
Jetzt wird erfüllt Dein Seherwort!

Jetzt klingt Dein Name doppelt hell
An jedes brave deutsche Herz –
Mich freilich rührt zugleich er stets
Mit stiller Wemuth, stillem Schmerz.“

Günther, reg. Fürst zu Schwarzburg-Sondershausen, schrieb zu derselben Zeit in das Album:

„Die schönen Worte, welche Schiller in seinem ,Don Carlos’ den Marquis von Posa an den König Philipp richten läßt, sind auch in die Ohren deutscher Fürsten gedrungen, und nicht überall sind sie an den kalten Felsenherzen zurückgeprallt, in welchem der finstere Philipp seine Königswürde zu finden glaubte.“

(Schluß folgt.)




Wien auf dem Lande.
Von Balduin Groller. Mit Illustrationen von J. J. Kirchner.
II.

Unser Ziel ist Hietzing. Wie wir dahin kommen? Ganz einfach. Wir besteigen auf der Ringstraße in Wien einen Pferdebahnwagen und fahren, wenn an der Stirnseite des Wagens eine grüne Scheibe angebracht ist, bis nach Penzing, der Endstation der Tramway. Hatte die Scheibe eine andere Farbe, dann fahren wir mit dem Wagen nur bis zur Bellaria am Burgring und steigen dort um in einen Wagen, der sich durch seine grüne Scheibe und durch die grünen Stirnbänder der Pferde für unseren Zweck empfiehlt. In Penzing angelangt, überschreiten wir eine kleine Kettenbrücke, die sich über das Wienflüßchen streckt, und wir sind in Hietzing. Gehen wir von der Brücke noch hundert oder zweihundert Schritt geradeaus weiter, so haben wir den richtigen Augenpunkt für unser Bild gefunden. Wir stehen auf dem Hauptplatze von Hietzing. Es vergeht keine Minute, ohne daß wir hier einen Omnibus nach der Stadt fahren oder von dieser kommen sähen. Der Verkehr ist ein außerordentlich reger und starker; Hietzing gehört zu Wiens nothwendigsten Bedürfnissen; es ist jedenfalls die bequemste Sommerfrische, die sich denken läßt.

So wie man aus dem westlichen Thore des Schönbrunner Parkes heraustritt, steht man auf dem Hauptplatze von Hietzing, dessen bedeutsame Zier ein ehernes, vom verstorbenen Meixner, dem Schöpfer des Albrecht-Brunnens und so mancher anderen plastischen Zierde Wiens, geformtes Standbild des unglücklichen Kaisers Max von Mexico bildet. Das Denkmal macht in seiner frischen, grünen Umgebung einen mehr freundlichen, als großartigen und weihevollen Eindruck.

Hinter dem Denkmal steht die Kirche, ein einfacher gothischer Bau. In derselben befindet sich ein Bild, das angeblich den Namen des Ortes erklärt. Es ist die Darstellung einer Sage, nach welcher bei einem Einfalle der Türken mehrere Wiener Bürger durch ein Gnadenbild der Madonna, das ehedem an einem Baume aufgehängt war, und das sich gegenwärtig ebenfalls in der Kirche befindet, gewarnt worden sein sollen. Das Bild soll gerufen haben: „Hüet’s eng!“ (Hütet euch!) Es dürfte gerathen sein, dieser Ableitung nicht allzuviel Vertrauen zu schenken.

Dem Denkmal gegenüber, auf unserem Bilde jedoch nicht mehr ersichtlich, steht ein altberühmtes Wirthshaus „Dommager’s Casino“. Die Gartenconcerte daselbst locken immer ein sehr zahlreiches und elegantes Publicum aus Wien heraus. Die gut gepflegte Fahrstraße führt zunächst zu dem triumphbogenförmigen Portal, das der Leser auf dem Hintergrunde des Bildes noch ohne Mühe entdecken wird. Das ist der Zugang zu einem im großen Stile angelegten Belustigungsort, zu Schwender’s „Neue Welt“. An schönen Sommernachmittagen und Abenden giebt es da Militärmusik, Gesang, Theater, Seiltänzer, Gymnastiker, wohl auch Luftschiffer, und zum Schluß auch Feuerwerk, kurz Alles, was des Menschen Herz, und natürlich auch was sein Magen begehrt. Die „Neue Welt“ war ehemals ein herrschaftlicher Park, und sie gehört noch heute zu den schönsten und größten Parkanlagen in der Umgebung Wiens.

Daß nach den Ereignissen des Jahres 1866 der gewesene König von Hannover Hietzing zu seiner Residenz machte, ist allgemein bekannt. Die hannoversche Colonie hat sich hier sehr bald wohl und heimisch gefühlt. – Vor dem Portal zur „Neuen Welt “ theilt sich der Weg. Die eine Zinke der Wegegabel führt nach Lainz, Speising, Mauer, die andere nach Unter- und Ober-St. Veit, Haking etc. – durchwegs belebte Sommerfrischen.

Um nun nach Dornbach zu gelangen, müssen wir Tramway, Omnibus oder Fiaker benutzen; eine Eisenbahnverbindung steht uns hier nicht zu Gebote. Der Weg nach Dornbach führt durch Hernals, einen der volk- und industriereichsten Vororte von Wien. Allsonntäglich ergießt sich ein gewaltiger Menschenstrom nach Dornbach, der noch immer mächtig genug bleibt, auch nachdem er beträchtliche Menschenfluthen in Hernals zurückgelassen hat. In Hernals wird nämlich ein ganz besonderer Saft credenzt, der „höchste Heurige“, ein junger Wein von rebellischem, äußerst

[525]

Dornbach.

Heiligenstadt.

Hietzing.

Kahlenberg.

Klosterneuburg.

[526] stürmischem Charakter. Hernals hat nicht gerade ein Privileg auf den Heurigen, der in derselben Qualität auch anderwärts geschenkt wird, aber eine Laune der öffentlichen Meinung und wohl auch geschickter Industrialismus hat dem Hernalser Heurigen zum Ruhmespreise verholfen. Der Heurige ist nichts Anderes, als der österreichische Landwein, der seine erste Jugend austobt; er ist von jungfräulicher Herbigkeit und vollführt doch sehr tolle Streiche – es ist ihm nicht zu trauen.

Dornbach zeichnet sich durch eine große Anzahl koketter Villen und schöner Gärten aus; dennoch könnte es die vielen Menschen, die da zusammenzuströmen pflegen, nicht beherbergen. Es bildet nur den Knotenpunkt für einen großen Transitoverkehr von Naturschwelgern, die von Dornbach aus nach allen Richtungen hin kürzere oder längere Ausflüge unternehmen und die dann nach erledigtem Naturgenuß von Neuwaldegg, vom Galizinberg oder sonst woher aus der Umgebung wieder in Dornbach zu gemeinsamer Rückkehr nach Wien zusammentreffen.

Muß Dornbach noch zu den Sommerfrischen des Wiener Waldes gezählt werden so gehört Heiligenstadt zu dem engsten Umkreis der Donaugegenden um Wien. Heiligenstadt ist ein Bade-Ort mit rühmend anerkannter Heilquelle gerade vor den Thoren Wiens, kaum eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Die schönste Zierde und die wichtigste Anziehungskraft des Ortes ist das Bad, das sich inmitten eines freundlichen Parkes befindet. Von Heiligenstadt aus ist nach den Sommerfrischen Nußdorf, Döbling, Grinzing und Sievering nur ein Katzensprung.

Ziehen wir den Kreis der Donaugegenden um Wien nur etwas weiter, und wir werden den Kahlenberg, und noch etwas weiter Klosterneuburg berühren. Der Kahlenberg ist förmlich ein Wahrzeichen von Wien, er gehört so gut zu dem Bilde Wiens, wie der Stephans-Thurm, und wie dieser ist er von allen Seiten sichtbar und kenntlich als einer der hervorstechendsten und charakteristischsten Züge der Physiognomie Wiens. Er gehört nicht eben zu den Bergriesen; er hat eine Seehöhe von etwas über 1500 Fuß; berücksichtigt man, daß die Donau am Fuße des Leopolds-Berges, des nächsten Nachbarn des Kahlenberges, in einer Höhe von etwa 500 Fuß über dem Meeresspiegel dahinfließt, so wird man auf dem Gipfel des Kahlenbergs weder Gletschereis noch auch nur Edelweiß suchen wollen. Der Aufstieg ist an sich ein angenehmer und leichter, allein er ist ganz bequem gemacht worden durch zwei in der Periode des volkswirthschaftlichen Aufschwunges entstandene Eisenbahnen, welche die Ausflügler in wenigen Minuten auf den Gipfel des Berges brachten. Eine dieser Bahnen freilich ist von den Stürmen des Jahres 1873 einer zarten Blume gleich geknickt worden, allein die andere besteht noch und wird sich als ein wirkliches Bedürfniß wohl auch für die Folge halten.

Das geräumige Gebäude auf der Höhe des Berges ist ein Hôtel, ebenfalls eine Schöpfung des modernen Geistes der Association. Das Schlößchen neben dem Hôtel ist ein Stein gewordener Künstlertraum. Maler Felix hat sich hier auf felsiger Höhe vor wenigen Jahren ein Künstlerheim erbaut, wie es anmuthiger und prächtiger nicht gedacht werden kann. Der Bewohner des Schlosses sieht die schimmernde Vindobona zu seinen Füßen liegen; sein Auge folgt dem Laufe des mächtigen Donaustromes und verliert sich in wonniger Träumerei in die in Luft und Nebel und Sonnenglanz daliegenden Auen; es ist eine Aussicht von märchenhafter Schönheit. Das war ein schöner, ein künstlerischer – aber ein unpraktischer Gedanke, sich da anzukaufen und zu bauen. Der glänzende Bau verschlang ungeheure Summen. Eine Fahrstraße wurde in den Stein gehauen, und zahllose Marmorquadern mußten den Berg hinauf geschleppt werden – es war eine Sisyphusarbeit. So wacker der Künstler auch schaffte, er war in materieller Hinsicht doch den mächtigen Anforderungen nicht gewachsen. Um sein Kleinod vor störender, prosaischer Nachbarschaft sicher zu stellen, hatte er alle angrenzenden Grundstücke zusammenkaufen müssen, welche er sämmtlich zu einem herrlichen Parke vereinigte. Eingerichtet war das Schlößchen in fürstlicher, mehr, in wahrhaft künstlerischer Weise. Und als dann Alles in wunderbarer Pracht fertig war, da gehörte es nicht mehr dem Künstler, sondern seinen Gläubigern. Der Mann, der ein Feenschloß auf die Bergesspitze gezaubert hatte, ging arm aus demselben hinaus. Ein arabischer Schimmel mit rosenrothen Nüstern, ein Thier von unvergleichlicher Schönheit, hatte ihn hinaufgetragen – zu Fuße stieg er zu Thal, ernst und still, ein ruinirter Mann. Doch nein, mit seinem Kopfe und seiner Hand ist man kein ruinirter Mann. Felix begann auf's Neue; er arbeitete mit eisernem Fleiße, und bald dürfte er wieder so weit sein – vielleicht ist er es wirklich schon – um abermals auf's Neue Pläne zu neuen Feenschlössern auszudenken.

Das letzte unserer Bilder stellt Klosterneuburg vor, eine überaus freundliche Stadt an der Donau, die von Wien aus mit der Eisenbahn in einer halben Stunde zu erreichen ist und die ihrer gesunden und malerischen Lage wegen von vielen Wiener Familien mit besonderer Vorliebe zur Sommerfrische erwählt wird. Das mächtige Gebäude unseres Bildes stellt das hochangesehene Stift dar, das eine Fülle von historischen und künstlerischen Kostbarkeiten birgt. Die Stiftsherren haben hier seit langen Jahrhunderten die ihnen zugefallene, nicht unwichtige Culturmission bis auf den heutigen Tag getreulich erfüllt. Sie haben Künste und Wissenschaften mit Liebe gepflegt und um die Hebung der Landwirthschaft sich unvergängliche Verdienste erworben. Insbesondere aber sind sie als die Begründer des rationellen Weinbaues in Oesterreich zu betrachten. Der Klosterneuburger Stiftskeller erfreut sich eines festwurzelnden und weitreichenden Ruhmes und einer Popularität, die bisher noch niemals erschüttert worden ist. In diesem Keller befindet sich auch das berühmte große, neunhundertneunundneunzig Eimer haltende Faß, das den Anlaß zu einer oft geschilderten und oft abgebildeten Volksbelustigung, dem „Fasselrutschen“, geboten hat. Die heiter gestimmte Menschheit findet nämlich in diesem Keller eine ganz besondere Freude daran, das Faß, zu dessen Höhe eine Treppe führt, zu besteigen, um sich dann auf der andern Seite unter großem Halloh und Juchhe hinuntergleiten zu lassen. Da purzelt denn Alles, auch Frauen und Kinder, über und durch einander, und je toller es hergeht, desto größer die Freude. Im Ganzen ist der „Jux“ ziemlich harmlos, „a rechte Hetz“ – und die rechte Hetz kann auch nur von fröhlichen und harmlosen Naturen vollführt und genossen werden.




Frauen und Mädchen als Gärtnerinnen.
Etwas zur Frauenfrage.


Wenn ich von „Gärtnerinnen“ rede, so verstehe ich unter dieser Bezeichnung weder die bunten Theaterfiguren aus den Idyllenspielen der Zopfzeit, noch jene massiven Frauenbilder auf dem Gemüsemarkt der Gegenwart. Ich meine Kunstgärtnerinnen, wie sie sich gern nennen hören, mit aller Bildung, die ein so verwickeltes und von der Wissenschaft untrennbares Geschäft nöthig macht, und ich berühre damit zugleich die Frage von den Berufsarbeiten des weiblichen Geschlechtes, die so viele Gedanken und Federn beschäftigt.

Den Anstoß zu den nachfolgenden Betrachtungen gab eine junge Dame aus Holstein, die sich gegen mich als Fachmann folgendermaßen brieflich aussprach:

„Wie weit besser entspricht das stille, sinnige Pflegen und Ziehen der Kinder der Natur den sanften sorgsamen Neigungen des Weibes, als denen des Mannes! Würde der Schönheits- und Farbensinn, der im Allgemeinen doch wohl im weiblichen Geschlecht ausgeprägter ist, als im männlichen, uns Frauen im Gärtnerberufe nicht herrlich zu statten kommen? Ja selbst das Oculiren der Pflanzen, wozu bekanntlich eine leichte Hand gehört, ist eine angenehme, passende Arbeit für Frauen. Daß die Beschäftigung in der freien Natur der schwächlichen Constitution des Weibes überdies weit mehr zusagt als andere, z. B. der Telegraphendienst etc., brauche ich wohl kaum zu erwähnen … Es ist ja auch der eigentliche Beruf des Weibes, mit liebender Hingabe zu sorgen, zu pflegen und zu veredeln. Gestatten ihm die Verhältnisse und Fähigkeiten nicht, seine Sorgfalt der jungen Menschenknospe zu Gute kommen zu lassen, so mag es mit den Kindern der Natur versucht werden! Sie werden seine Mühe nicht unbelohnt lassen.“

Dieser Vorschlag erschien mir sofort besser, als mancher andere, der in der Frauenfrage gemacht worden, weil ich aus Erfahrung weiß, wie viel Nützliches Frauen in der Gärtnerei leisten können. Ich unterziehe mich daher mit Vergnügen im Folgenden einer kurzen Besprechung des Gegenstandes.

Daß der Blumenverkauf und das Ordnen der Blumen zu Sträußen, Kränzen etc. theilweise schon seit Jahren in den Händen von Mädchen und Frauen liegt, ist bekannt. Es vergeht keine Woche, wo nicht in den gärtnerischen Geschäftsblättern von Blumenhändlern „geübte Binderinnen“ gesucht werden; denn die Gärtner kommen immer mehr dahinter, daß [527] weibliche Gärtner im Allgemeinen mehr Geschick und Geschmack zu Blumenarbeiten haben und weniger Ansprüche machen, als dazu fähige Männer. Ja, die Männer sind in diesem Fache sogar selten, weil die Arbeit des Bindens ihnen meistens nicht zusagt. Ich kenne eine Erfurter Gärtnerei, welche bedeutenden Blumenhandel treibt; dieselbe beschäftigt mehrere Hundert junge Mädchen mit Sammeln, Sortiren, Ordnen und Binden von getrockneten und frischen Blumen. Die männliche Thätigkeit ist aus diesem Theil der Geschäftsräume so gut wie ausgeschlossen. Auch wird die Leitung aller dieser Blumenarbeiten meistens von der Frau des Gärtners geführt, soweit die häuslichen Pflichten ihr dies gestatten. Dieses Alles sind Thatsachen, welche laut für die Befähigung der Frau zum Betriebe der Gärtnerei sprechen.

Ich erinnere indessen daran, daß man die jungen Mädchen, an welche wir hier denken, nicht mit derben Tagelöhnerinnen vergleichen darf, welche mit Leichtigkeit hundert Pfund auf dem Rücken tragen, graben und hacken wie ein Mann. Wir haben im Allgemeinen Töchter aus Familien des Mittelstandes vor uns, die statt der Nadel ein einträglicheres Werkzeug handhaben möchten. Aber selbst wenn wir annehmen, daß sich die Muskeln durch die Arbeit stärken, daß auch diese anfangs schwachen Mädchen kräftiger werden, selbst dann kommen immer noch Arbeiten vor, welche Frauen aus Mangel an Kraft nicht verrichten können. Die weibliche Gärtnerei muß daher Männerhülfe haben. Auch kann ich mir wohl eine Gärtnerei mit männlichen Arbeitern denken, in der eine Frau an der Spitze steht, aber keine mit gemischter Arbeiterschaft; sie würde nicht lange in Frieden gedeihen.

Ein, wie es scheint, unvertilgbarer Fehler des weiblichen Geschlechts, welcher den Werth der Frauenarbeit sehr verringert, ist das Bedürfniß der Unterhaltung. In der Gärtnerei, wo eine gewisse Ungebundenheit herrscht, äußert sich dieses Bedürfniß nachtheiliger, als bei anderen Beschäftigungen. In der Fabrik steht der Aufseher neben den Arbeiterinnen; anders im Garten, wie ich aus Erfahrung weiß, da ich seit vierzig Jahren weibliche Arbeiter (freilich keine gebildeten Damen) beschäftigt habe. Kaum sind sie an die Arbeit gegangen, so geht das Plaudern an. Und dies geschieht nicht etwa bei der Arbeit, sondern die letztere steht während dieses wichtigen Geschäftes ganz still. Schon aus diesem Grunde darf Frauenarbeit im Garten nicht so hoch bezahlt werden, wie Männerarbeit. Verhütet man das gemeinschaftliche Arbeiten, so giebt es einzelne Frauen, welche gut und viel arbeiten. Wer sie aber fesseln und zufrieden erhalten will, darf sie allerdings nicht ganz isoliren, muß ihnen Gelegenheit geben, die Zunge manchmal in Bewegung zu setzen. Man glaube nicht, daß ich lästern will; denn ich spreche auf Grund reicher Erfahrung in verschiedenen Gegenden, selbst Ländern: die Frauen sind überall dieselben und werden es immer bleiben.

Ein anderes Hinderniß bildet die Frauenkleidung. Doch dem ließe sich allenfalls abhelfen.

Endlich muß, sofern es sich um „Damen“, das heißt einigermaßen gebildete Mädchen und Frauen handelt, welche hier allein in Betracht kommen, bemerkt werden, daß Gartenarbeit rauhe, harte, rothe, nach Befinden schmutzige Hände macht. Wer sich damit nicht befreunden kann, soll davon bleiben. Selbst die Kranzbinderin, wenn es ihre tägliche Beschäftigung ist, verdirbt ihre schönen Hände und muß in der Gesellschaft durch Handschuhe das Uebel verbergen; denn bald ritzt der Dorn einer Rose; bald schneidet der Faden beim straffen Anziehen in die Finger, sodaß bleibende Spuren der Arbeit unvermeidlich sind. Daß bei Gartenarbeit auch kein weißer „Teint“ zu erhalten ist, daß trotz Strohhut Gesicht, Hals und Nacken „verbrennen“, will ich nicht als ein Uebel ansehen, es würde aber doch wohl viele junge Damen von der Gärtnerei abschrecken.

Nachdem ich diese der Frauenwelt nicht schmeichelhaften und daher auch meinem Gefühl nicht angenehmen Stellen unseres Artikels glücklich hinter mir habe, wollen wir nun sehen, welche Ausdehnung die Frauenarbeit in der Gärtnerei erlangen kann. Zunächst fallen selbstverständlich dem weiblichen Geschlecht diejenigen Leistungen zu, welche sich schon in seinen Händen befinden: das Binden von Sträußen, Kränzen, sogenannten Coiffuren etc. im Dienste eines Gärtners. Bis jetzt sind die „Binderinnen“ meist aus Töchtern der Verwandten von Gärtnern hervorgegangen, und nur der Zufall hat auch Töchter aus dem Gewerbe- und niederen Beamtenstande anstatt zu Nähmädchen dann und wann zu Blumenmädchen gemacht.

Ich meine, daß diese Beschäftigung ebenso anständig ist, wie jede andere, welche Mädchen aus gebildeten Ständen gewöhnlich ergreifen, dabei aber um vieles angenehmer, vorausgesetzt natürlich, daß der Arbeitgeber und dessen Familie nicht abstoßend sind. Das Geschäft der Blumenbinderin kann unter günstigen Umständen in Selbstständigkeit übergehen, wenn sie ein Blumengeschäft errichtet, und das Material dazu liefern jetzt allenthalben „Klein“-Gärtner. Wirklich einträglich und vollständig wird das Blumengeschäft jedoch erst dann, wenn dabei eine kleine Gärtnerei unterhalten wird, welche die gangbarsten Blumen selbst zieht. In dieser Gärtnerei mag die „Herrin“ entweder selbst die Oberaufsicht führen, zum Theil mit weiblichen Arbeitern, oder einem Manne übertragen. Im Allgemeinen ist dieses Blumengeschäft, wie die ganze Gärtnerei, kein bequemes; denn die Arbeiten drängen oft mehr, als für das Leben angenehm ist, und während die Besitzerin eines Putzwaarenladens ihr Geschäft Abends schließt, die Lehrerin, Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbeamtin ihre bestimmte Arbeitszeit hat, muß die Binderin bei vielen Bestellungen oft bis tief in die Nacht hinein und an Sonn- und Festtagen arbeiten; denn sie kann wegen der schnellen Vergänglichkeit ihres Materials und des Umstandes, daß die Aufträge meistens dringlicher Art sind, weder etwas voraus arbeiten, noch etwas aufschieben, muß vielmehr eingelaufene Aufträge auf der Stelle ausführen.

Frauen, welche Geschick und Uebersicht genug haben, können ihren Garten oder ein Pachtgrundstück dadurch verwerthen und sich auskömmliche Einnahmen verschaffen, daß sie es zur Anzucht von Blumen für das eigene Geschäft benutzen oder an fremde Blumengeschäfte verkaufen. An Badeorten und Plätzen, wo im Sommer viele Fremde wohnen, verwerthen sich Rosen sehr hoch, und die Händler kommen jeden Morgen oder Abend, um sie zu schneiden.

Ebenso sind Erdbeeren und andere Beerenfrüchte, sowie alle Küchengewächse gangbare Artikel, und ihre Pflege ist eine geeignete Aufgabe für Frauenhände. Daß Frauen das sogenannte Veredeln der Bäume ebenso gut verrichten können, wie Männer, wenn sie beim Oculiren die Dornen der Rosen nicht scheuen, ist sicher, ebenso das Anbinden und Schneiden von Spalierbäumen.

Zum Schlusse dürfen wir die Frage nicht vergessen: wie und wo sollen Gärtnerinnen sich ausbilden? Meiner Ansicht nach muß die theoretische Geschäftsbildung so gut wie ausgeschlossen werden, und es sich nur um praktisches Erlernen, um Können handeln. Ist der Trieb zur Selbstbildung da, dann genügen bei sonst guter Schulbildung die Fachschriften. Nur keine Vorträge! Ehe sich die Sache einlebt, mögen junge Mädchen suchen, in einer Gärtnerei zu lernen, in welcher eine Frau die Oberleitung oder den größten Einfluß hat! Einen größeren Andrang von lernenden Gärtnerinnen zu befriedigen, dazu fehlt noch jede Gelegenheit. Die einzige Möglichkeit, solche anzulernen, wäre die, daß Privatleute und Vereine zur Beförderung der Frauenarbeit Geld und ein Grundstück zur Errichtung einer praktischen Lehranstalt für Gärtnerinnen hergäben. Man müßte mit wenigen Schülern anfangen und dann prüfen, wie die Aussichten zum weitern Fortkommen derselben sich gestalten.

Vielleicht ist es den Frauenvereinen, bei ihrer Rührigkeit, möglich, recht bald eine solche Versuchsanstalt in’s Leben zu rufen. Erst dann würde sich klar herausstellen, ob und welche Hindernisse sich auf einer solchen neuen Bahn der Frauenarbeit entgegenstellen und was zur Bewältigung derselben gethan werden kann.
H. Jäger.
Wir freuen uns, dem kleinen obigen Artikel eines der ältesten Mitarbeiter der „Gartenlaube“ die Bemerkung beifügen zu können, daß der Letztere selbst mehrere Bücher zur Belehrung in Gartensachen für Frauen geschrieben hat. Hierher gehört z. B. sein „Allgemeines illustrirtes Gartenbuch“, von dem jetzt die vierte Auflage erscheint, und die bei J. J. Weber in Leipzig in vier Auflagen herausgekommenen „Illustrirten Katechismen“; doch sind für Frauen besonders berechnet der „Frauengarten“ (Stuttgart und Leipzig 1871) und „Zimmer- und Hausgärtnerei“, in dritter Auflage bei Philipp Cohen in Hannover erschienen. „Frauengarten“ beschäftigt sich mehr mit Dekoration, Blumenverwendung und Beaufsichtigung, das letztgenannte Werk dagegen vorzugsweise mit Blumenzucht in Wohnräumen.
Anm. d. Red.




Blätter und Blüthen.


Aufruf zu einem Gutzkow-Denkmal. Freudige Zustimmung und wärmste Beherzigung in weiten Kreisen des deutschen Publicums wird hoffentlich ein neuerdings zur Errichtung eines Gutzkow-Denkmals erlassener Aufruf finden. Derselbe ist von einer beträchtlichen Anzahl namhafter Männer aus den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft und Kunst, der Literatur und Presse unterzeichnet und lautet:

„Unter den in den letzten Jahren gestorbenen Schriftstellern ist keiner, der so hervorragende und tief eingreifende Wirkung auf die deutsche Literatur ausgeübt hat, wie Karl Gutzkow. Als geistiger Führer des ‚Jungen Deutschland‘ bahnte er für die Literatur eine neue Richtung an, welche mit den letzten Nachklängen der romantischen Schule brach und dem realen Geiste zu seiner Geltung verhalf. In seinen Kritiken wehte der Geist einer philosophisch durchgebildeten Weltanschauung, dem nur das Höchste genügt, und seine Schöpfungen auf dem Gebiete des Dramas sind zum Theil bereits Geisteseigenthum aller Gebildeten geworden und werden ihre hohe Bedeutung behalten, so lange wir überhaupt ein deutsches Drama haben. Auf dem Gebiete des Romans hat er gleichfalls durch den Roman des Nebeneinander und durch die meisterhafte Darstellung ganzer Culturepochen und einzelner Geistesströmungen eine neue Bahn eingeschlagen und für lange Zeit auf dieses Gebiet der Literatur bestimmend eingewirkt.

Karl Gutzkow gehört unbestritten zu den Säulen und Zierden der deutschen Literatur; er hat sich in seinen Werken selbst ein unvergängliches Denkmal gesetzt und durfte dreist das Horazische Wort: ‚Exegi monumentum aere perennius‘ auf sich anwenden, allein für die Nachwelt würde es als ein Zeichen der Undankbarkeit erscheinen, wenn sie die Verdienste des Todten nicht in einem Allen sichtbaren Monumente zur Anerkennung brächte. Für Diejenigen, welche Gutzkow’s Werke kennen, bedarf es eines solchen Zeichens nicht, allein für die Tausende, die nur seinen Namen kennen, und für die heranwachsenden Geschlechter soll es ein Hinweis sein, daß Deutschland nicht allein große Dichter besitzt, sondern daß es deren Andenken auch ehrt.

In einer Zeit, wo allerorten Denkmale errichtet werden, geziemt es sich, der Dichter nicht zu vergessen, die das Schwert des Geistes siegreich schwangen und deren Triumphe dem ganzen Volke dauernd zum Segen und Ruhme gereichen.“

Die Redaction der „Gartenlaube“ schließt sich dieser Aufforderung auf das Wärmste an, legt dieselbe ihren Lesern dringend an’s Herz und erklärt sich zur Entgegennahme der voraussichtlich zahlreich eingehenden Beiträge bereit. Ueber den Betrag der Sammlung wird zur Zeit Rechnung abgelegt werden.



[528] Das Reifen der Früchte beim Scheine der Polarsonne und des elektrischen Lichtes. Im Anschluß an unsere frühere ausführliche Mittheilung über „Pflanzenzucht bei elektrischem Licht“ (1880, S. 266) wollen wir nicht unterlassen, mitzutheilen, daß Herr C. W. Siemens in London in einer Frühjahrssitzung der dortigen Royal Society reife Erdbeeren vorgelegt hat, die durch Unterstützung der Sonne mit elektrischem Lichte so früh zur Reife gebracht worden waren. Der berühmte Industrielle zeigte den Anwesenden zwei Töpfe mit zu gleicher Zeit und unter gleichen Bedingungen eingesetzten Erdbeerpflanzen vor, von denen die eine nur dem Tageslichte, die andere außerdem, während der Nacht, dem elektrischen Lichte ausgesetzt worden war, und von denen die erste völlig grüne Beeren, die zweite völlig reife und schmackhafte Früchte trug. Herr Siemens schließt daraus, daß elektrisches Licht auch geeignet ist, den Zucker und aromatischen Stoff zu bilden, von denen das Reifen der Früchte abhängt. So interessant die Thatsache ist, so wenig zuverlässig ist der daraus gezogene Schluß. Man weiß nämlich aus sehr interessanten neuerdings veröffentlichten Versuchen des Professor Schübeler in Christiania, daß in den Nordpolarländern, z. B. in Norwegen, gezogene und im Sommer beinahe immerwährendem Sonnenschein ausgesetzte Früchte zwar außerordentlich aromatisch werden, aber völlig sauer bleiben. Manche dort gezogene Gemüse, die in anderen Ländern ganz milde schmecken, werden dort so aromatisch, daß man sie gar nicht genießen kann. Schübeler schließt daraus, und im Hinblick auf die Süßigkeit der Südfrüchte wohl mit Recht, daß das Licht Aroma und die Wärme Zucker erzeuge. Das schnellere Reifen der mit dem elektrischen Lichte gezogenen Erdbeeren erklärt sich aber einfach daraus, daß die Vegetationszeit verdoppelt wurde, was ungescheut geschehen darf, da Pflanzen eben keiner Nachtruhe bedürfen. Letztere Thatsache war von Schübeler schon früher dadurch augenfällig bewiesen worden, daß er eine neuholländische echte Akazie (Acacia lophanta), die ihre Blätter in unseren Gewächshäusern wie in ihrer Heimath allabendlich zum sogenannten „Schlafe“ schließt, nach den Lofoden und nach einem Orte Westfinnmarkens brachte, woselbst sie während zweier Monate, so lange die Sonne ununterbrochen über dem Horizonte blieb, ihre Blätter nicht schloß. Aehnlich den Erdbeeren des Herrn Siemens wachsen und reifen beim anhaltenden Scheine der Polarsonne alle in Scandinavien aushaltenden Beeren und Getreide-Arten innerhalb zwei bis drei Monat.




Oesterreichischer Touristenclub. Wenn wir vor einiger Zeit (in „Blätter und Blüthen“ von Nr. 43, Jahrg. 1879 an dieser Stelle das Wirken der alpinen Vereine besprachen, und hierbei namentlich den deutschen und österreichischen Alpenverein als den größten und bedeutsamsten besonders hervorhoben, so möchten wir heute noch eines Vereines gedenken, welcher sich sowohl vermöge der Zahl seiner Mitglieder (über 250), wie wegen seines thatkräftigen Wirkens vollen Anspruch auf Beachtung und Gleichberechtigung mit allen anderen großen Alpenvereinen erworben hat. Es ist dies der im Jahre 1869 gegründete, unter dem Protectorate des Erzherzogs Karl Ludwig stehende „Oesterreichische Touristenclub“ in Wien.

Daß auch er seine Aufgabe nicht blos in sportmäßig betriebener Berggymnastik, sondern in der touristischen und wissenschaftlichen Erschließung und Durchforschung der Alpen, in der Hebung und Förderung des Fremdenverkehrs sucht, daß somit seine Ziele in letzter Reibe volkswirthschaftliche und culturelle sind, dürfte nachfolgende Uebersicht seiner Thätigkeit und seiner Leistungen erweisen.

Seinem Namen entsprechend, hat er sich, unterstützt von vorläufig acht Sectionen vorzugsweise das Gebiet der österreichischen Alpen zu seinem Operationsfelde auserkoren und hierin nach jeder Richtung bereits höchst Bedeutendes geleistet. Den Schwerpunkt seines Wirkens verlegt auch er namentlich auf die Bauthätigkeit: den Bau von Schutz- und Unterkunftshäusern, Anlegung, Verbesserung und Markirung von Gebirgssteigen, die Errichtung von Wegweiserzeichen und Aussichtswarten etc. So hat er bereits zehn Schutzhäuser, darunter zwei vollkommen eingerichtete, mustergültige Alpenhospize (auf dem Schneeberge und der Raxalpe) erbaut, zwei meteorologische Beobachtungsstationen (auf dem Schneeberge in Niederösterreich und dem Hochobir in Kärnthen) errichtet, zahlreiche Wege, Wegmarkirungen etc. durchgeführt und hierfür im Ganzen den sehr ansehnlichen Betrag von 46,000 Gulden verausgabt.

Aber neben dieser praktischen Thätigkeit werden auch die theoretischen Aufgaben nicht vernachlässigt. Zeugniß hierfür legt das seit zehn Jahren erscheinende, an Gediegenheit der Aufsätze und Reichhaltigkeit der Beilagen sich alljährlich vervollkommnende „Jahrbuch des Oesterreichischen Touristenclub“ ab, außerdem verschiedene andere Publicationen, Monographien von Gebirgsgruppen, Reiseführer etc.

Eine besondere Specialität dieses Clubs bildet die Anfertigung und Herausgabe von Panoramen der vorzüglichsten Aussichtspunkte Nieder-Oesterreichs und anderer Hochgipfel der Ostalpen. Solcher Panoramen sind bereits vierzehn in zum Theil musterhafter Ausführung publicirt worden, und alljährlich vermehrt sich die Zahl derselben.

Nicht minder eifrig wird das gesellige Element im Club, durch Veranstaltung von Wanderversammlungen, Clubpartieen, Festen und Vergnügungsabenden, Wochenversammlungen mit Vorträgen und Ausstellung von Panoramen und Landschaftsbildern gepflegt und dadurch das Interesse und treue Zusammenhalten der Clubmitglieder beständig rege erhalten. Der österreichische Touristenclub darf sich das Verdienst zuschreiben, durch seine rastlose Thätigkeit im Baufache, seine Bemühungen für Regelung des Führerwesens, durch die Pflege einer rührigen Propaganda für den Alpencultus, durch interessante Schilderungen von Bergtouren mittelst Schrift und Wort, durch Ausstellungen, Versammlungen, Partieen, durch Anlegung einer reichhaltigen Bibliothek alpiner Werke und Karten etc. wesentlich zur Weckung und Belebung des Interesses für die Alpinistik unter den Residenzbewohnern beigetragen und das Touristenwesen in Wien geradezu popularisirt zu haben.

Zu erwähnen wäre noch, daß sich der österreichische Touristenclub an den zwei internationalen Ausstellungen in Paris betheiligte und daß er hierfür einmal durch Zuerkennung eines Ehrendiploms, das andere Mal durch Prämiirung mit der silbernen Medaille erster Classe ausgezeichnet wurde. Als Präsident des Clubs fungirt nunmehr durch länger als zehn Jahre der Hof- und Gerichtsadvocat Dr. Leopold Schiestl, dem der Schriftführer Ernst Wolfrum thätig zur Seite steht. Als Redacteur des „Jahrbuches“ sowie der „Alpinen Chronik“ macht sich der Vicepräsident Edmund Graf verdient, während für das gesellige Element der Dr. med. Emerich Klotzberg als Oberarrangeur trefflich sorgt.

So hat sich der österreichische Touristenclub durch richtiges Erfassen seiner Aufgaben und durch unablässige gemeinnützige Thätigkeit neben allen anderen großen Alpenvereinen, mit denen er auch im besten Einvernehmen und Schriftenaustausch steht, eine allseitig geachtete Stellung errungen und verdiente es daher wohl, daß wir hier ein kurzes Bild seiner Thätigkeit entrollten.




Bildungsschulen schwäbischer Bauernmädchen. Wie segensreich in Württemberg die von der Regierung gegründete „Centralstelle für das Wohl der arbeitenden Classen“ wirkt, ist wohl allgemein bekannt, aber noch unbekannt ist das neue Verdienst, das sie sich um die Errichtung von Fortbildungs- oder Haushaltungsschulen für Bauerntöchter seit länger als einem Jahre erworben hat.

Wer auf dem Lande gelebt, weiß, wie wenig hier durch eine von Knaben und Mädchen gleich sehr überfüllte Schule im Unterricht geleistet werden kann, besonders schlecht steht es aber da, wo der Handarbeitsunterricht noch nicht eingeführt ist, um die Mädchen. Sie bleiben in jeder Beziehung zurück, und wenn sie endlich in der Wirthschaft, im Feld und Stall den Eltern helfen sollen, kommen sie im glücklichsten Fall bis auf den Standpunkt, den ihre Mütter eingenommen, aber weiter nie. Vermögendere Bauern geben wohl oft ihr Töchterchen ein oder zwei Jahr in eine Stadtpension – aber das Wenige, was sie bei der mangelhaften Vorbildung dort profitiren, ist gewöhnlich mehr geeignet, sie bei der Rückkehr in ihr Dorf mit den alten Verhältnissen unzufrieden, als für dieselben tauglicher zu machen. Aehnliches geschieht mit den ärmeren Bauernmädchen, welche in der Stadt einen Dienst finden. Kehren sie auf’s Land zurück, so bringen sie nur eine schädliche Halbbildung und Gewohnheiten mit, welche meist dem allgemeinen Dorfleben keineswegs förderlich sind. Tüchtige Mägde wie tüchtige Hausfrauen sind gleicher Weise an ihnen verdorben.

Allen diesen Uebelständen wird durch die erwähnten, speciell für Bauernmädchen und ihre künftige Berufserfüllung auf dem Lande bestimmten Schulen begegnet und dadurch dem Fortschritt eine Gasse auch unter der Dorfbevölkerung gebrochen.

Solcher Schulen bestehen in Württemberg bereits vier. Wir geben ein gemeinsames Bild von allen, wenn wir hier die in Stubersheim bei Ulm zu schildern versuchen; sie steht unter der Oberleitung des Oberamtmanns von Geislinger und wurde als erste derselben auf Anregung des Regierungsraths Schillerholm gegründet. Ein älteres Staatsgebäude, das der Regierung zur Verfügung stand, wurde zur Aufnahme der Bauernmädchen eingerichtet. Ueber diese führt die Aufsicht eine Hausmutter, welche, in dem Gebäude wohnend, die Wirthschaft leitet, und eine Arbeitslehrerin. Jede Schülerin zahlt auf sechs Monate ein Lehrgeld von sechsundzwanzig Mark und ein tägliches Kostgeld von achtzig Pfennig. Der Cursus beschränkt sich auf die Wintermonate, wo die Mädchen, die ganz in der Anstalt wohnen, ja am leichtesten zu Hause entbehrt werden können. Die im Dorfe ansässigen Zöglinge behalten die Wohnung im Elternhause. Unter Aufsicht der Hausmutter werden nun alle Mädchen der Schule gleichmäßig zu allen Hausarbeiten, wie Kehren, Waschen, Putzen, Kochen, Backen etc. angeleitet, von der Handarbeitslehrerin in allen nötigen Handarbeiten: Stricken, Nähen, Flicken etc., durch den Schullehrer des Ortes im Singen, in Religion, im deutschen Aufsatze und im Briefschreiben, Rechnen und Buchführung, wie sie für die Hauswirthschaft nöthig, unterrichtet. Der nächstwohnende Arzt ertheilt Gesundheitslehre und Naturlehre, soweit beide der Fassungskraft der Mädchen angemessen erscheinen. So erhalten sie einen Einblick in Nutzen und Nothwendigkeit vom Gebrauche des Wassers und der frischen Luft; sie lernen den wahren Werth der Nahrungsmittel kennen und werden über die wichtigsten Naturerscheinungen aufgeklärt. Es giebt offenbar keinen bessern Weg, um dem auf dem Lande noch immer herrschenden Aberglauben und solchen Vorurtheilen zu begegnen, deren hauptsächlichste Trägerinnen ja die in Unwissenheit erhaltenen Frauen sind.

Der Aufwand für diese Anstalt beträgt jährlich etwa 1500 Mark. Reicht das Pensionsgeld dazu nicht aus, so schießen die benachbarten landwirthschaftlichen Bezirksvereine zu und schließlich die königliche Centralstelle, der ein jährlicher Rechenschaftsbericht vorgelegt werden muß. An Kostspieligkeit können also diese trefflichen Schulen nicht zu Grunde gehen.

Möchte dieses segensreiche Vorbild aus dem still und bescheiden, aber um so lehrreicher in der Volksbildung vorwärts strebenden Schwaben überall im deutschen Vaterlande Nachahmung finden!

L. O.




Kleiner Briefkasten.

E. H. in Malaga. Das Verfahren, alkoholreiche Getränke zum Gefrieren zu bringen wurde ja in dem betreffenden Artikel (1878, Nr. 5) bereits angedeutet. Die gewöhnlichen Eismaschinen reichen nicht dazu aus, und die Fabrikation dürfte kaum lucrativ sein.

M. R. in Schönberg. Das Schielen ist heilbar. Wenden Sie sich an einen tüchtigen Augenarzt!

R. B. in Glauchau. Wenn Sie Antwort auf eine Frage haben wollen, so vermeiden Sie die unausstehliche Unsitte, Ihren Namen völlig unleserlich zu schreiben!

Frz. Largstn. Abgelehnt! Verfügen Sie gütigst!


Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir benutzen diese Gelegenheit, um auf ein der Bekämpfung schädlicher Insecten besonders zu Hülfe kommendes Werk hinzuweisen – wir meinen Prof. Dr. E. L. Taschenberg’sPraktische Insectenkunde“ (Bremen, M. Heinsius), ein für Entomologen, Land- und Forstwirthe, Gärtner, Lehrer und ähnliche Berufsangehörige sehr empfehlenswerthes Handbuch, das in fünf Bänden alles Wissenswerthe über die Insectenwelt Deutschlands enthält und seine Gegenstände durch zahlreiche Illustrationen veranschaulicht.
    D. Red.
  2. Vergl. „Gartenlaube“ 1867, S. 808.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: „Die Tiara mit dem Eichenkranze“