Die Gartenlaube (1880)/Heft 31

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 31.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Alle Rechte vorbehalten.
Frühlingsboten.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


In dem Salon des Ettersberg'schen Schlosses, wo man sich gewöhnlich versammelte, wenn die Familie allein war, saß die Gräfin mit einem Buche in der Hand und las, oder schien doch wenigstens zu lesen. Hedwig, die sich, wie das oft geschah, auf einige Tage zum Besuche bei ihrer Schwiegermutter befand, stand am Fenster und blickte in die schneebedeckte Landschaft hinaus. Der Winter war längst eingezogen, und auch heute herrschte draußen ein leichtes Schneetreiben, das den Aufenthalt im Freien mindestens nicht behaglich machte.

„Edmund kommt noch immer nicht zurück,“ unterbrach die junge Dame das Stillschweigen, welches schon seit einiger Zeit eingetreten war. „Welch ein Einfall, bei solchem Wetter auszureiten!“

„Du weißt ja, daß er das täglich thut,“ erwiderte die Gräfin, ohne von ihrem Buche aufzusehen.

„Aber doch erst seit einiger Zeit. Früher war er sehr empfindlich gegen die Witterung, und ein Regen trieb ihn sofort nach Hause. Jetzt scheint er am liebsten in Sturm und Unwetter umherzujagen und bleibt stundenlang draußen im Freien.“

Die Worte klangen in unverkennbarer Besorgniß. Die Gräfin gab keine Antwort darauf; sie schlug die Blätter ihres Buches um, aber wer sie genauer beobachtet hätte, würde gesehen haben, daß sie auch nicht eine einzige Zeile las. Hedwig wandte sich jetzt in das Zimmer zurück und trat zu ihrer Schwiegermutter.

„Findest Du nicht, Mama, daß Edmund seit den letzten Monaten seltsam verändert ist?“

„Verändert? Worin?“

„In Allem.“

Die Gräfin stützte den Kopf in die Hand und schwieg auch diesmal. Sie wollte offenbar einer Erörterung über diesen Punkt ausweichen, aber das junge Mädchen hielt ihn trotzdem fest.

„Ich habe schon längst mit Dir darüber sprechen wollen, Mama. Ich kann es Dir nicht mehr verhehlen, daß Edmund's Wesen mich jetzt oft beunruhigt, ja geradezu erschreckt. Er ist so ganz anders als früher, so ungleich und wechselvoll in jeder Beziehung, sogar in seiner Zärtlichkeit. Er betreibt die Vorbereitungen zu unserer Hochzeit mit einem beinahe fieberhaften Eifer, und bisweilen ist er wieder so gleichgültig dagegen, so gänzlich theilnahmlos, daß mir schon der Gedanke gekommen ist, er wünsche sie aufgeschoben zu sehen.“

„Sei ruhig, mein Kind!“ sagte die Gräfin mit einem Tone, der beruhigend sein sollte, durch den aber doch eine tiefe Bitterkeit hindurchklang. „Du hast seine Liebe nicht verloren, Dich umfaßt er nach wie vor mit der gleichen Zärtlichkeit. Ich dächte, das müßtest Du empfinden. Edmund ist etwas überreizt, das gebe ich zu. Er hat sich in der letzten Zeit zu stürmisch der Geselligkeit hingegeben, der wir uns freilich Alle nicht entziehen können. Man kam ja kaum zu Athem bei all diesen Jagden, Diners und Soiréen. Du hast Dir in dieser Beziehung auch etwas zu viel zugemuthet, und es sollte mich nicht wundern, wenn Du gleichfalls nervös würdest bei diesem aufregenden Leben.“

„Ich hätte gern die Hälfte der Einladungen abgelehnt,“ sagte Hedwig gepreßt, „aber Edmund bestand ja darauf, daß wir sie annähmen. Seit dem September jagen wir förmlich von einer Festlichkeit in die andere, von einem Besuch zum anderen, und wenn wir wirklich einmal ausruhen wollen, so kommt Edmund schon wieder mit einem neuen Vorschlag oder bringt uns neue Gäste. Es ist, als könnte er auch nicht eine Stunde mehr allein hier oder in Brunneck aushalten, als würde ihm die Einsamkeit zur ärgsten Qual.“

Die Lippen der Gräfin zuckten, und sie wandte wie zufällig das Antlitz zur Seite, als sie scheinbar gelassen erwiderte:

„Thorheit! Was machst Du Dir für Gedanken! Edmund hat die Geselligkeit stets geliebt, und auch Du kanntest früher kein höheres Vergnügen, als ein glänzendes, reichbewegtes Gesellschaftsleben. Von Dir erwartete ich am wenigsten eine Klage darüber. Warum hast Du denn Deinen Geschmack auf einmal geändert?“

„Weil ich mich um Edmund ängstige,“ gestand das junge Mädchen, „und weil ich sehe, daß auch er keine Freude an diesem Treiben findet, so leidenschaftlich er es auch aufsucht. In seiner Heiterkeit liegt jetzt etwas so Wildes, so Krampfhaftes, daß es mir oft bis in die Seele hinein wehe thut. – Mama, versuche doch nicht, Dir und mir das abzuleugnen! Es ist ja unmöglich, daß Du diese Veränderungen nicht bemerkt hast. Ich fürchte, Du ängstigst Dich im Geheimen darüber nicht weniger, als ich.“

„Was hilft meine Angst?“ sagte die Gräfin in einem beinahe herben Tone. „Edmund fragt ja nichts darnach.“

Aber rasch einlenkend, als habe sie bereits zuviel gesagt, setzte sie mit erzwungener Kälte hinzu:

„Du wirst es wohl lernen müssen, mein Kind, allein mit dem Wesen und mit den Launen Deines künftigen Gatten fertig zu werden. Er ist nicht so leicht zu behandeln, wie Du Dir im Anfange Deiner Brautzeit vorgestellt haben magst. Doch er liebt Dich ja, also wird es Dir nicht schwer werden, den richtigen [498] Weg zu finden. Ich habe mir vorgenommen, niemals zwischen Euch zu treten; Du siehst ja, daß ich sogar den Gedanken an ein Zusammenleben mit Euch aufgegeben habe.“

Die Abweisung war deutlich genug. Hedwig fühlte sich bis in's Innerste erkältet, wie so oft schon, wenn sie es versucht hatte, der Schwiegermutter mit Herzlichkeit zu nahen. Sie wußte freilich seit jener Unterredung mit Oswald, welchen gefährlichen Gegner sie an der mütterlichen Eifersucht hatte, aber sie merkte doch, daß diese herbe Zurückweisung nicht blos in der Eifersucht wurzelte. Es lag irgend etwas zwischen Edmund und seiner Mutter – Hedwig hatte das längst bemerkt, so sehr die Beiden sich Mühe gaben, äußerlich das alte Verhältniß festzuhalten. Die Gräfin hatte in der ersten Zeit der Verlobung ihren Sohn noch so ganz für sich in Anspruch genommen, war so wenig geneigt gewesen, der Braut den ersten Platz einzuräumen – woher nun auf einmal dies Verzichten auf jeden Einfluß, das so gar nicht in ihrem Charakter lag?

Im Eifer der Unterredung hatten die beiden Damen den Galopp eines ansprengenden Pferdes überhört. Sie wandten sich erst um, als die Thür sich öffnete und der junge Graf erschien. Er hatte Hut und Ueberrock bereits abgelegt, aber in seinen dunklen Haaren hingen noch einzelne Schneeflocken, und sein erhitztes Gesicht verrieth, wie wild der Ritt gewesen war, den er soeben beendigt hatte. Er trat rasch ein und drückte hastig, beinahe stürmisch seine Lippen auf die Stirn seiner Braut, die ihm entgegengetreten war und jetzt vorwurfsvollen Tones sagte:

„Du bist zwei Stunden lang draußen gewesen, Edmund. Wäre das Schneetreiben schon früher eingetreten, so hätte ich Dich nicht fortgelassen.“

„Willst Du mich verweichlichen? Ich liebe nun einmal gerade dieses Wetter.“

„Seit wann? Sonst liebtest Du nur den Sonnenschein.“

Auf Edmund's Antlitz legte sich eine Wolke bei dieser Bemerkung, und er entgegnete kurz:

„Ja, sonst! Das ist eben anders geworden.“

Damit trat er zu der Gräfin und küßte ihr die Hand. Die Umarmung, mit der er in früherer Zeit die Mutter stets bei der Rückkehr begrüßte, unterblieb jetzt, und er vermied auch wie zufällig den Fauteuil zwischen den Plätzen der beiden Damen und warf sich in einen Sessel, der an der anderen Seite seiner Braut stand. Es lag eine nervöse Hast und Unruhe in all seinen Bewegungen, die ihm niemals eigen gewesen war, und dieselbe unruhige Hast verrieth sich auch in seiner Stimme und in der Art, wie er im Gespräche von einem Gegenstande zum anderen sprang, ohne einen einzigen festzuhalten.

„Hedwig hat sich bereits wegen Deines langen Ausbleibens geängstigt,“ warf die Gräfin hin.

„Geängstigt?“ wiederholte Edmund. „Was fällt Dir ein, Hedwig? Fürchtest Du etwa, daß ein harmloses Schneegestöber mich verschütten könne?“

„Nein, ich fürchte nur Dein wildes Reiten in solchem Wetter. Du bist seit einiger Zeit grenzenlos unvorsichtig darin.“

„Warum nicht gar! Du bist ja selbst eine leidenschaftliche Reiterin und zeigst niemals Aengstlichkeit bei unseren Spazierritten.“

„Wenn Du mich begleitest, bist Du auch vorsichtiger, aber allein giebst Du Dich immer wieder diesem tollkühnen Jagen hin, das doch wirklich gefährlich ist.“

„Pah, gefährlich! Mich trifft keine Gefahr, darauf kannst Du Dich verlassen.“

Die Worte hatten nichts von jenem heiteren, sorglosen Uebermuth, mit dem der junge Graf sich sonst auf sein Glück zu berufen pflegte, sie klangen im Gegentheil wie eine bittere Herausforderung des Schicksals, ja beinahe wie eine versteckte Anklage. Die Gräfin hob langsam das Auge, und ein düsterer, schwerer Blick fiel auf den Sohn, aber dieser schien das nicht zu bemerken, sondern fuhr in leichtem Tone fort:

„Hoffentlich haben wir morgen besseres Wetter zu unserer Jagd. Ich erwarte einige Herren, die wahrscheinlich schon heute Nachmittag eintreffen werden.“

„Du hast ja erst vorgestern die ganze Umgegend zur Jagd in Ettersberg versammelt,“ wandte Hedwig ein. „Und übermorgen steht uns das Gleiche in Brunneck bevor.“

„Ist Dir die Einladung nicht recht?“ scherzte Edmund. „Ja freilich, ich hätte erst die allergnädigste Erlaubniß der Damen einholen sollen und bin untröstlich, das versäumt zu haben.“

„Hedwig hat Recht,“ nahm die Gräfin das Wort. „Du muthest Dir und uns jetzt wirklich allzu viel zu. Seit Wochen haben wir keinen einzigen Tag gehabt ohne Gäste oder Ausfahrten. Ich will froh sein, wenn ich erst in meinem ruhigen Schönfeld bin und es Euch allein überlassen kann, dies aufreibende Gesellschaftsleben weiter zu führen.“

Noch vor wenigen Monaten würde eine solche Hindeutung auf die bevorstehende Trennung die leidenschaftlichsten Proteste und Bitten von Seiten Edmund's hervorgerufen haben, der ja stets behauptete, nicht ohne seine Mutter leben zu können – heute schwieg er. Er hatte nicht ein einziges Wort des Widerspruches, nicht einmal einen Vorwurf dafür, daß die Mutter sich sehnte, Ettersberg zu verlassen.

„Mein Gott, Ihr seht ja die Herren nur bei Tische!“ rief er, die letzte Bemerkung vollständig ignorirend. „Sie sind den ganzen Tag draußen im Walde.“

„Und Du mit ihnen,“ ergänzte Hedwig. „Wir hofften Dich morgen wenigstens für uns allein zu haben.“

Edmund lachte laut auf. „Wie schmeichelhaft für mich! Aber Du hast wirklich Deine ganze Natur geändert, Hedwig. Ich habe diese romantische Neigung zur Einsamkeit früher niemals an Dir bemerkt. Bist Du menschenfeindlich geworden?“

„Nein, ich bin nur müde,“ sagte das junge Mädchen leise, aber in einem Tone, der wirklich die tiefste Ermüdung verrieth.

„Wie kann man mit achtzehn Jahren müde sein, wenn es sich um ein Vergnügen handelt!“ spottete Edmund, und nun begann er, wie sonst, seine Braut mit Neckereien und Zärtlichkeiten zu überströmen. Es war ein förmliches Raketenfeuer von Scherzen, das da aufflammte, aber es war doch nicht die alte Weise, nicht jenes heitere, muthwillige Getändel, in dem der junge Graf so hinreißend liebenswürdig sein konnte. Hedwig hatte Recht, es lag jetzt etwas Wildes, Krampfhaftes in seiner Heiterkeit, die viel zu laut und stürmisch war, um natürlich zu erscheinen. Sein Scherz gestaltete sich zum Spott, sein Uebermuth zum Hohne. Dabei klang sein Lachen so grell und laut, und die Augen glänzten so fieberhaft, daß es beinahe wehe that, ihn zu sehen und zu hören.

Der alte Eberhard trat jetzt ein und meldete, daß der Bote, den man nach Brunneck senden wollte, draußen warte; das gnädige Fräulein habe noch eine Bestellung an den Herrn Oberamtsrath mitgeben wollen. Hedwig erhob sich und verließ den Salon. Fast gleichzeitig stand auch Edmund auf und machte Miene, ihr zu folgen, als ihn die Gräfin zurückrief.

„Willst Du auch den Boten sprechen?“

„Jawohl, Mama. Ich will in Brunneck sagen lassen, daß wir übermorgen zur Jagd bestimmt dort eintreffen.“

„Das war ja ohnehin ausgemacht, und überdies steht es in dem Billet Hedwig's an ihren Vater. Es ist nicht nöthig, daß Du es noch einmal wiederholst.“

„Wie Du befiehlst, Mama!“ Der junge Graf, der bereits an der Schwelle stand, schloß zögernd die Thür und schien unentschlossen, ob er wieder auf seinen Platz zurückkehren solle oder nicht.

„Ich befehle nichts,“ sagte die Gräfin. „Ich meine nur, daß Hedwig in fünf Minuten zurückkommen wird, und daß Du deshalb nicht so ängstlich nach einem Vorwande zu suchen brauchst, um das Alleinsein mit mir zu vermeiden.“

„Ich?“ fuhr Edmund auf. „Ich habe ja niemals –“ er verstummte mitten in der Rede, denn er begegnete wieder jenem düsteren, vorwurfsvollen Blicke, dem sich diesmal nicht ausweichen ließ.

„Du hast das niemals ausgesprochen,“ vollendete die Gräfin. „Nein, mein Sohn, aber ich sehe und fühle es doch, wie Du meine Nähe fliehst. Ich würde Dich auch jetzt nicht bei mir zurückhalten, wenn ich nicht eine Bitte an Dich richten müßte. Laß dieses wilde Jagen nach Zerstreuung, dieses stundenlange Umherstürmen im Freien! Du reibst Dich auf. Von meiner Angst spreche ich nicht, Du hörst ja längst nicht mehr darauf, aber auch Deine Braut täuschest Du nicht länger mit dieser erzwungenen Heiterkeit. Ich habe es vorhin während Deiner Abwesenheit hören müssen, wie sie sich um Deinetwillen ängstigt.“

Sie sprach in gedämpftem Tone. Ihre Stimme war matt und klanglos, und dennoch zitterte ein schmerzliches Weh hindurch. [499] Edmund war langsam näher gekommen und stand jetzt am Tische, der Mutter gegenüber, aber er hob den Blick nicht vom Boden als er erwiderte:

„Mir ist ja nichts! Ihr sorgt Euch ganz unnöthiger Weise um mich.“

Die Gräfin schwieg, aber dasselbe schmerzvolle Zucken der Lippen, mit dem sie vorhin Hedwig's Besorgnisse aufgenommen hatte, zeigte auch jetzt, wie viel ihr diese Versicherung galt.

„Unser Leben ist ja jetzt überhaupt so voll Unruhe und Aufregung,“ fuhr Edmund fort. „Es wird schon besser werden, wenn Hedwig nur erst dauernd in Ettersberg ist.“

„Und wenn ich in Schönfeld bin!“ ergänzte die Gräfin mit tiefster Bitterkeit. „Nun, das wird in wenigen Wochen geschehen.“

„Mama, Du bist ungerecht. Habe ich Dein Fortgehen verschuldet? Die Trennung war doch Dein ausdrücklicher Wunsch.“

„Weil ich sah, daß sie uns Beiden nothwendig ist, denn so können wir nicht neben einander hinleben, wie in diesen letzten zwei Monaten. Du bist furchtbar überreizt, Edmund, und ich weiß nicht, wie das enden soll, wenn Deine Vermählung nicht Deine Stimmung ändert. Vielleicht gelingt es Hedwig, Dich wieder ruhig und glücklich zu machen. Deine Liebe zu ihr ist jetzt noch meine einzige Hoffnung, denn ich – habe keine Macht mehr über Dich.“

Es mußte weit gekommen sein, wenn die stolze Frau, die stets so triumphirend und siegesgewiß die Liebe ihres Sohnes behauptet hatte, sich ein solches Geständniß entreißen ließ. Es lag keine Bitterkeit und kein Vorwurf mehr in den letzten Worten aber ihr Ton war so erschütternd, daß Edmund in aufwallender Reue herantrat und die Hand der Mutter ergriff.

„Verzeihe, Mama! Ich wollte Dich nicht kränken, gewiß, ich wollte das nicht. Du mußt Nachsicht mit mir haben.“

In seiner Stimme lag ein Anflug der alten Zärtlichkeit, und mehr bedurfte es nicht, um die Gräfin Alles vergessen zu lassen. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie den Sohn an ihre Brust ziehen, aber es kam nicht dazu. Edmund wich, wie einer unwillkürlichen Regung folgend, zurück, dann besann er sich plötzlich, und sich über die Hand der Mutter beugend, drückte er stumm seine Lippen darauf.

Die Gräfin war bleich geworden; und doch kannte sie längst dieses scheue Ausweichen, dieses Grauen vor ihrer Umarmung, das gewaltsam bezwungen wurde, um sie nicht zu beleidigen. Das war ja schon seit Monaten so gewesen, aber die Mutter konnte und wollte es noch immer nicht begreifen, daß sie die Liebe ihres Sohnes verloren hatte.

„Denke an meine Bitte!“ sagte sie, sich zusammenraffend. „Schone Dich, um Hedwig's willen! Du bist es ihr und Dir schuldig.“

Sie ging und zögerte doch noch einen Moment lang an der Schwelle. Vielleicht hoffte sie, zurückgehalten zu werden, aber vergebens. Edmund stand unbeweglich an seinem Platze und sah nicht auf, bis sie das Zimmer verlassen hatte.

Erst als er allein war, richtete sich der junge Graf empor. Sein Blick haftete einige Minuten lang unverwandt auf der Thür, hinter der seine Mutter verschwunden war, dann trat er an das Fenster und drückte die heiße Stirn gegen die Scheiben.

Jetzt, wo er sich unbeobachtet wußte, sank die Maske der Heiterkeit, mit der er seine Umgebung zu täuschen suchte, und an ihre Stelle trat ein Ausdruck so düsterer, so hoffnungsloser Verzweiflung, daß die Besorgnisse der Gräfin nur zu sehr gerechtfertigt erschienen. Es mußten finstere, unheimliche Gedanken sein, die in dem Inneren des jungen Mannes bohrten und wühlten, als er so starr in den immer dichter fallenden Schnee blickte. Sie beschäftigten ihn so völlig, daß er es nicht vernahm, wie seine Braut wieder eintrat. Erst als die Schleppe ihres Kleides dicht hinter ihm rauschte, fuhr er auf und wandte sich um.

„Ah, Du bist es! Hast Du dem Papa die Nachricht von unserem Kommen gesandt?“

Hedwig konnte beim Eintreten wohl kaum das Gesicht ihres Verlobten gesehen haben. Dennoch mußte sie etwas von jener Stimmung gewahr geworden sein, der er sich einen Augenblick überlassen; denn anstatt auf seine Frage zu antworten, legte sie ihre Hand auf die seinige und fragte leise:

„Was hast Du, Edmund?“

„Ich? Nichts! Ich ärgerte mich nur soeben über das Wetter, das auch für morgen nichts Gutes verspricht. Ich weiß, was dies Schneetreiben auf sich hat, wenn es sich erst einmal in unseren Bergen festsetzt. Möglicherweise können wir morgen vor Schnee und Nebel gar nicht in den Wald hinaus.“

„So gieb die Jagd auf! Du hast ja doch keine Freude an ihr.“

Edmund runzelte die Stirn. „Warum nicht?“ fragte er in gereiztem Tone.

„Die Frage möchte ich an Dich richten. Warum hast Du keine Freude mehr an Allem, was Dir sonst lieb war? Soll ich denn nie erfahren, was Dich quält und drückt? Ich habe doch wohl das erste Recht dazu.“

„Das ist ja eine förmliche Inquisition,“ rief Edmund lachend. „Wie kannst Du eine augenblickliche Laune und Verstimmung so ernst nehmen! Aber Du schlägst jetzt bei jeder Gelegenheit diesen elegischen Ton an. Wenn ich darauf eingehen wollte, würden wir ein recht sentimentales Brautpaar abgeben, und Sentimentalität ist immer gleichbedeutend mit Lächerlichkeit.“

Hedwig wandte sich tiefverletzt ab. Es war nicht das erste Mal, daß Edmund sie mit diesem herben Spott zurückscheuchte, wenn sie es versuchte, in die räthselhafte Veränderung seines Wesens einzudringen. Es schien, als müsse er dies Räthsel auf Leben und Tod vor aller Welt und auch vor ihr vertheidigen.

Was war überhaupt aus dem frohen, glückstrahlenden Brautpaar geworden, das es als selbstverständlich hinnahm, wenn Glück und Leben es mit all ihren Gaben überschütteten, das mit so sorglosem Uebermuthe der sonnigen Zukunft entgegeneilte, und in dessen spielendes Getändel sich kaum jemals ein Hauch von Ernst mischte! Sie hatten Beide nur zu bald den Ernst des Lebens kennen gelernt, und wenn er dem jungen Mädchen genaht war wie ein kalter dunkler Schatten, vor dem alles Sonnenlicht verschwand, so war in dem Inneren Edmund's dafür eine Flamme aufgeschlagen, welche ruhelos und verzehrend fortbrannte und sich oft gegen jene richtete, die ihm die Nächsten und Liebsten waren.

Hedwig hatte sich zum Gehen gewandt, aber sie hatte kaum einige Schritte gethan, als sie sich von Edmund's Armen umfaßt und zurückgehalten fühlte.

„Habe ich Dir wehe gethan?“ fragte er. „Schilt mich, Hedwig! mach' mir Vorwürfe – aber gehe nicht so von mir! Das ertrage ich nicht.“

Die Abbitte war so stürmisch und innig, daß das verletzte Gefühl der Braut davor nicht Stand hielt. Sie lehnte leise den Kopf an seine Schulter, als sie entgegnete:

„Ich fürchte, Du thust Dir selbst wehe mit diesem Spotte. Du weißt nicht, wie herb und bitter er oft klingt.“

„Ich bin wohl recht unleidlich gewesen in der letzten Zeit?“ sagte Edmund mit einem Versuche, zu scherzen. „Nach der Hochzeit werde ich um so liebenswürdiger sein. Dann werfen wir den ganzen Gesellschaftstrubel hinter uns und bleiben allein in unserem Schlosse. Nur jetzt – jetzt kann ich dieses Alleinsein nicht aushalten. Aber ich sehne mich unendlich nach dem Tage unserer Vereinigung.“

„Thust Du das wirklich?“ fragte Hedwig, den Blick fest auf sein Gesicht heftend. „Bisweilen ist es mir vorgekommen, als fürchtetest Du diesen Tag.“

Die flammende Röthe, welche in dem Antlitze des jungen Grafen aufschlug, schien diesen Worten Recht zu geben, und doch widersprach ihnen die leidenschaftliche Zärtlichkeit, mit der er seine Braut an sich preßte.

„Fürchten? Nein, Hedwig, wir lieben uns ja, und – nicht wahr, Deine Liebe gilt mir allein? Nicht dem Majoratsherrn, dem Grafen Ettersberg? Du hattest ja unter so Vielen zu wählen, die Dir Aehnliches bieten konnten, und Du hast mich gewählt – nicht so?“

„Um des Himmels willen, wie kommst Du auf solche Gedanken?“ rief Hedwig, halb erschreckt und halb beleidigt. „Wie kannst Du glauben, daß ich an dergleichen auch nur gedacht habe?“

„Ich thue es ja auch nicht,“ sagte Edmund mit einem tiefen Athemzuge. „Und darum halte ich fest, was mir allein gehört, und behaupte es, Allem zum Trotze. An Deine Liebe kann ich wenigstens noch glauben, sie ist doch wenigstens keine Lüge. Wenn auch das mich täuschte, wenn ich auch an Dir verzweifeln müßte, dann – machte ich je eher, je lieber ein Ende.“

„Edmund, Du ängstigst mich namenlos mit diesem wilden [500] Wesen!“ rief Hedwig, vor seiner Heftigkeit zurückschreckend. „Du bist krank, Du mußt es sein, sonst könntest Du nicht so sprechen.“

Der angstvolle Ruf brachte Edmund zur Besinnung. Er versuchte, sich zu fassen, und es gelang ihm sogar, ein Lächeln zu erzwingen, als er antwortete:

„Nun muß ich das auch von Dir hören! Die Mama hat es mir vorhin erst vorgehalten, wie nervös und überreizt ich bin. Weiter ist es auch in der That nichts; es wird vorübergehen – es geht ja Alles vorüber im Leben. Aengstige Dich nicht, Hedwig! – Und nun muß ich nachsehen, ob Eberhard Anstalten zur Aufnahme der Gäste getroffen hat. Ich vergaß, ihm specielle Befehle zu geben. Entschuldige mich nur für zehn Minuten! Ich bin sogleich wieder bei Dir.“

Er ließ seine Braut aus den Armen und ging wirklich. Es war wieder dieses jähe Abbrechen, diese förmliche Flucht vor jedem Aussprechen, jeder Erklärung. Es war nicht möglich, die Lösung des Räthsels zu finden; die Gräfin wie Edmund waren gleich unzugänglich in dieser Beziehung.

Hedwig kehrte zu ihrem früheren Platze zurück und stützte, in trübes Nachsinnen versunken, den Kopf in die Hand. Edmund verbarg ihr etwas, und doch hatte sie an seiner Liebe nichts verloren, das sagte ihr eigenes Gefühl ihr besser, als die Gräfin es vermochte. Er schien sie im Gegentheil weit leidenschaftlicher zu lieben, als früher, wo die Mutter noch so vollständig bei ihm im Vordergrunde stand, aber die junge Braut bebte oft unwillkürlich zurück vor der düsteren Gluth, die ihr entgegenschlug, wo sie sonst nur tändelnde Zärtlichkeit gefunden. Wie seltsam, wie beängstigend war Edmund’s Benehmen vorhin wieder gewesen! Weshalb forderte er so stürmisch die Gewißheit, daß ihre Liebe ihm allein gelte? Und womit wollte er „ein Ende machen“, wenn diese Gewißheit ihn täuschte? Eins war so räthselhaft wie das Andere.

Hedwig fühlte freilich, daß sie sich an die Brust ihres Verlobten hätte werfen und seine Offenheit erzwingen müssen. Wie hartnäckig er sich auch vor ihr verschließen mochte, er würde jetzt sicher nachgegeben haben, wenn sie mit der vollen Innigkeit der Liebe gebeten hätte – aber das eben konnte sie nicht. Es war etwas wie ein geheimes Schuldbewußtsein, das sie zurückhielt, ihre volle Macht zu gebrauchen, und sie hatte doch so tapfer gekämpft gegen die Träume, die ihr immer wieder die Gestalt eines Anderen zeigten, der jetzt so fern war und den sie vielleicht niemals wiedersah!

(Fortsetzung folgt.)




Goldgrube und Weltbad.
Ein geschichtlicher Rückblick zur zwölfhundertjährigen Jubiläumsfeier Gasteins.
Gastuna semper una. (Es giebt nur ein Gastein.)
Alter Spruch.

In den norischen Bergen, wo die Wasser von weißen Feldern in die Tiefe stäuben, zwischen den Gipfeln der Hohen Tauern, um welche sich Sage und Märchen weben, dringen um einen tosenden Strom, ja im Bette desselben heiße Quellen aus dem Erdinnern. Man nannte die Stätte und den Strom in alten Tagen Gastuna, Gastaun und Gastyn. Fern ab von den breiten Verkehrswegen der Menschen lag hier eine alte Ansiedelung in die Schlucht schneebedeckter Gneisfelsen eingebettet. Gleichwohl war sie, soweit das Andenken der Völker und die Aufzeichnungen der Geschichte reichen, immer im Munde der wechselnden Geschlechter, als wäre hier nicht eine Alpenwildniß, sondern eine Stadt voll von Leben und Denkmälern.

Jetzt führt die Salzachbahn alljährlich Tausende von Besuchern nach Lend im Pongau, welche das Weltbad Gastein aufsuchen wollen. Sie klettern zu Fuß oder zu Wagen von hier aus die schauerlich romantische Straße der Gasteiner Klamm hinauf und hinab, zur Seite tief unter sich die tosenden Fälle der Gasteiner Ache, welche durch die Pongauer Bergwand bei Lend in jähem Sturze zur Salzach niederbricht. Jenseits der Klamm erwartet sie „die Gastein“, ein liebliches Hochthal; dem hastig daherrinnenden Achenwasser entgegen führt der Weg über Mayerhofen, Dorf Gastein und Hof Gastein – und da ist man mit starkem Aufstieg in Wildbad Gastein, nicht mehr der spärlichen Ansiedelung, sondern dem – für moderne Bäderverhältnisse immerhin nicht prunkvollen – Weltbade, in der Nähe der heißen Wunderquellen (Hof Gastein bekommt das zwischen achtundzwanzig und neununddreißig Grad Réaumur warme Wasser wenig abgekühlt durch eine Röhrenleitung). Die Natur mag sich kaum verändert haben; noch immer steigen hinter dem Orte die Tauern in steilen Terrassen auf bis zu den Gletschern des Naßfeldes, von wo die Ache in prachtvollen Wasserfällen bis zur Thalsohle niederschäumt. Aber welche Wandlungen der heimischen Geschichte überblickt der Gasteiner im Jahre des Heils 1880, in welchem das Bad eine Vergangenheit von 1200 Jahren festlich zu begehen im Begriff steht!

Wer im Winter dort hinauf steigt und die hohen Dampfsäulen betrachtet, die sich aus der verschneiten Landschaft erheben, dem mögen die wandelnden Dünste, wie sie an den Eisorgeln des Wasserfalls emporschweben, sich zu Gestalten umwandeln, welche die Flucht der Erscheinung versinnbildlichen. Da wallen die „Wildfrauen“ und „enterischen (heidnischen) Leute“, an wilde Urbewohner mahnend, die hier hausten, bevor Kelten, Römer, Germanen, vom verhängnißvollen Verlangen nach Gold getrieben, über die Pongauischen Hochpässe stiegen. Die Vorstellungen von denselben, wie sie in den Köpfen des Volkes leben, mögen sich zu ihren Urbildern verhalten, wie Lindwürmer und Drachen der Sage zu den von der Oberfläche der Erde verschwundenen Thieren der Vorzeit. Jene Ur-Insassen vergossen kein Blut und bearbeiteten, von Krankheit nicht heimgesucht, die Erde mit einem goldenen Pflug, den sie vor ihrem Abzuge in den Schluchten des Bärnkogls versteckten. Der Aberglaube nimmt noch zu Zeiten die eine oder andere dieser Gestalten wahr. Manchmal hängen Wildfrauen auf Graten ihre Wäsche aus – das sind Nebelfetzen und Schneeflecke an Hochkaren – oder es fällt von unsichtbarem Baume, den sie unnahbar pflegen, ein Apfel in die Gasteiner Klamm hinunter. Ihre zwölf goldenen Götzen sind in der Klamm verborgen; jeder Reisende erspäht dort vom Eilwagen aus die Höhle, die „enterische Kirche“, in welcher die Götterbilder während der Johannisnacht so weit herauf kommen, daß derjenige sie erbeuten müßte, der im jähen Augenblick des Emportauchens das Bannwort zu sagen verstünde. Bis aus Böhmen kommen noch alljährlich Goldgierige in der Zaubernacht zum Heiligthum der in Märchen verwehten Urbewohner des Thals.

Ein Tauernwindstoß – die Wildfrauen verschwinden im Stäuben des Sturzes, und es erheben sich, in geschabte Felle gekleidet, mit Schlägeln in den Fäusten, Gestalten der Ambisonten und Ambidraven. Das sind Kelten. Von einer Sage gelockt, kamen die Stämme, deren Ahnen einst vielleicht in den taurischen Bergketten Hochasiens nach Gold geschürft hatten, auf ihrem Wanderzuge von Südost nach Nordwest zu den Geröll-Lagern beim Naßfeld und fanden gewiß schon die Spuren älterer Arbeiten im goldhaltigen Gestein. Den Fluß südlich der Berge nannten sie Drava (Drau), den nördlich derselben Isonta (Salzach); sie selbst wurden nach beiden Flüssen geheißen; von Ambisontes stammt das spätere deutsche Bisonz-Gawe, davon das heutige Wort Pinzgau. Gar nichts ist von diesen norischen Keltenstämmen erhalten; nur Spuren ihrer Sprache haften noch an den flüchtigen Wassern. Aber auch Vieles, was einheimische Geschichtsauffassung der Arbeit von „Römern“ zuschrieb, beispielsweise die Spuren „römischer“ Meißel an den Wänden über der benachbarten Kitzlochklamm, dürfte von Kelten vollbracht worden sein, unter deren beliebteste Thätigkeiten der Bergbau gehörte.

Im flüchtigen Tanze der Gestalten mag der Fremdling noch gar viele andere Aufzüge angedeutet sehen. Auf Maulthieren bringen – die Gastuna und ihre Berge sind längst von den römischen Soldaten dem Lande Noricum beigefügt worden – römische Söldlinge Salz von Juvavum (Salzburg) nach Aguntum (Innichen) oder Aquileja. Jahrhunderte vergehen, und andere Karawanen klingelnder Tragthiere schleppen die Ausbeute der Goldgruben über den Korntauern nach Venedig, oder Wein, Seide, Früchte aus wälschen Gauen den Kaufhäusern des Nordens zu. In einer Zeit, in welcher auch die „Straßen“ sich nicht von einem Saumpfad unterschieden, besann man sich nicht, nähere Pfade

[501]

Wildbad Gastein.
Originalzeichnung von Robert Aßmus.

[502] über höhere Pässe einzuschlagen. Dann tauchen die Paläste der „Gewerken“ auf, die reichen Wechselstuben der „Perkherren“, der Weitmooser und Rosenberg – dann die Knechte unduldsamer Erzbischöfe, wie sie die Fluthen der Salzach über den Friedhof der „Lutherischen“ leiten – endlich die Posthörner, die wehenden Schleier, die Landauer, die Oberkellner und die Eisenbahn-Fahrpläne.

Das Gold und die heißen Quellen waren es, welche die Menschen in dieses Hochthal lockten. Längst aber hatte das Gold mit seiner Anziehungskraft gewirkt, bevor von den heißen Sprudeln irgendwo die Rede war. Die Anlage so mancher Grube, mag sie nun heute noch offen oder von Gletschern zugedeckt sein, reicht gewiß weit über den Beginn der christlichen Zeitrechnung hinauf. Auch die Sage gesteht ihnen dieses Alterthum zu, will aber mit der „Entdeckung“ der Quellen, welche doch sicherlich schon den allerersten Eindringlingen auffallen mußten, nicht über das siebente Jahrhundert wegrücken.

In diesem Säculum, nämlich 680, soll es, wie uns das Bild in der Vicariatscapelle belehrt, gewesen sein, daß zwei Jäger durch Zufall auf warme Wasser stießen. Es ist dies eine Geschichte, wie sie auch von Karlsbad und mehreren andern Thermen erzählt wird. Ohne Zweifelsucht kann man dieselbe, gestützt auf den Satz, daß eine in gleicher Weise an mehrere Oertlichkeiten angeknüpfte Anekdote überhaupt erdichtet sei, unter die Legenden verweisen; aber da kein früherer Zeitpunkt genannt ist, welcher die Gründung des „Bades“ Gastein bezeichnet, so mag man es den Gasteinern nicht verargen, wenn sie diese Gründung mit allen Jubiläen derselben an jene Zahl knüpfen.

Es ist hier nicht der Ort, uns in die Sagengeschichte von Gastein zu vertiefen. Sicherlich waren viele Jahrhunderte hindurch die Bade-Anstalten daselbst um Vieles einfacher, als sie heute in den bescheidensten „Bauern-Badln“ Tirols oder Kärntens sind.

Den rechten „Aufschwung“, wie man sich ausdrückt, nahm Gastein erst, nachdem Friedrich, Erzherzog von Oesterreich, als einundzwanzigjähriger Jüngling im Jahre 1436 in das stille Tauern-Hochthal gekommen, um dort, vom Heiligen Lande zurückgekehrt, seinen wunden Fuß zu baden. Es scheint in der That, als ob sich ihm die Geister des Wassers gütig gezeigt hätten; denn das beschädigte Bein brauchte er sich erst fünfzig Jahre später als römische Majestät abschneiden zu lassen. Seine Angst, er möchte von der Geschichte einst „der Einbeinige“ zubenannt werden, ist grundlos geblieben. Er war ein ruhiger, sanfter Herr, der sich nicht gern stören ließ und während dessen fünfundfünfzigjähriger Regierung das heilige römische Reich einen ausgiebigen Schritt zu seinem Grabe zurücklegte.

Wer nennt die Namen der Fürsten, Erzbischöfe, Ritter und edlen Herren, die entweder siechen Leibes, oder auch sommerlicher Kurzweil wegen während der folgenden Jahrhunderte in die Gastein pilgerten? In Muchar's „Gasteiner Geschichte“ kann eine Schaar dieser Namen aufgelesen werden. Inzwischen fingen die Heilquellen schon an, mit dem bedacht zu werden, was man heute „Reclame“ nennt. Insbesondere waren es zwei echte Kinder des sechszehnten Jahrhunderts, welche Wunder von den Gasteiner Wassern zu erzählen wußten: Paracelsus und Thurneiser – jene sonderbaren Heiligen, in deren Köpfen sich alchemistische Träume mit Ahnungen von späteren Errungenschaften des Wissens zusammenfanden. Sie glaubten an den Geist des Gestirns, an die unsichtbare Mumia, an den Spiritus vitae – aber unsere Gelehrten werden gern zugestehen, daß wir über die Gründe der Heilkraft jener Quellen heute nicht mehr wissen, als die genannten Kabbalisten.

Aus dem sechszehnten Jahrhundert wäre wohl auch noch das Auftauchen der Familie Straubinger zu vermelden. Einer ihrer Nachkommen kann sich heute noch den König von Gastein nennen und ihr Name ist mit der Geschichte der Gaststätten daselbst untrennbar verbunden.

Nachdem während des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts durch die Schriften jener Schwärmer sowohl, wie durch die eines Tabernämontanus (eines zu Bergzabern geborenen Wunderdoctors), dem als Arzt des Kurfürsten von der Pfalz, der freien Reichsstadt Worms, des Fürstbischofs von Speier viel Einfluß zukam und der in seinem Thesaurus aquarum Gastein unter die kräftigsten Heilmittel einrechnete – dann durch Günther von Andernach und zahlreiche Scribenten das Gasteiner Bad allenthalben bekannt gemacht worden war, fanden sich allmählich immer mehr fürstliche Personen ein. Namentlich waren es der prunkliebende geistliche Hof von Salzburg und die Herren des Hauses Oesterreich, welche durch ihre Anwesenheit und ihre Spenden die Bade-Ansiedelungen vermehrten und verschönerten. Es muß da, einigen Andeutungen der Chronisten zufolge, mitunter sehr lustig hergegangen sein. Abgesehen von gewissen fahrenden Gestalten, von denen die warmen Bäder in jenen Jahrhunderte schaarenweise heimgesucht wurden, wird da auf winterliche Episoden im Badeleben angespielt, welche denjenigen, die über eine immer mehr sich steigernde Sittenlosigkeit jammern, ein Kopfschütteln abnöthigen müsse. Gastein wurde übrigens noch in unserem Jahrhundert zeitweilig auch im Winter von Lebemännern besucht, und es scheint, als habe es früher hier auch, wie an anderen Orten, Vollbäder gegeben, die allerdings dem Badeleben in mancher Hinsicht eine andere Gestaltung ertheilen mußten, als sie die Einsamkeit der jetzt ausschließlich gebrauchten Wannenbäder bedingt.

Im sechszehnten Jahrhundert standen allenthalben in der Gastein Gewerkhäuser, welche, sammt dem Wohlstand der Thalbewohner, meist durch die Verfolgung der Protestanten verwüstet wurden. Wir verzichten darauf, hier auf jene Begebenheiten ausführlicher zurückzukommen. Die meisten Spuren jenes Wohlstandes bewahrt Hof Gastein. Das Moser'sche Haus mit seinen Bogengängen und der Kirchhof mit seinen Denkmälern verdienen auch jetzt einen Besuch. Auch die Rosenbergs, welche drüben im Markte Rauris sich einen erkerreichen Palast erbauten, sind mit der Geschichte dieses Marktfleckens eng verwebt. Es war die Zeit des Goldsegens, wo das Volk von Gastein noch an die „schwarze Schule“ von Venedig, an wunderwirkende Goldsucher und schatzhütende Gnomen der Wildniß glaubte, wie ich diese Zeit in den „Denkwürdigkeiten eines armen Goldsuchers“ in meinen „Gasteiner Novellen“ geschildert habe.

Wie Gastein sich allgemach umwandelte, davon legt so recht der Wechsel der Wege Zeugniß ab, auf denen seine Gäste ihm zustrebten. So lange nicht ein Saumweg durch die Klamm gebrochen war, mußten die Reisenden einen ganzen Berg an- und absteigen, bevor sie die ebene Flur des Gasteiner Thalbodens erreichten. War es doch mit dem Zugange zu den beiden Nachbarthälern Großarl und Rauris bis vor wenigen Jahren gerade so bestellt. Denn alle diese Thäler enden von Haus aus in unzugänglichen, von ihrer Ache durchtosten Schluchten, welche über die Höhe hinweg umgangen werden müssen. So klommen denn während des Mittelalters die Leute, welche nach der Gastein wanderten, die vielblumigen Anger, die mit Alpenrosen, Lärchen und Ahornbäumen bedeckten Matten hinan, jenseits deren die heutige Straubinger Alp liegt. Alsdann kamen sie zum Joch, wo sich ein schöner Blick in das grüne Thal Gastein bis hinüber zu den weißen Tauern-Wällen aufthut. Auch den Hochkönig mit seiner Capelle erblickten die Wanderer, dazu die Uebergossene Alm und den Dachstein. Dort oben auf dem Joche fanden die Reisenden eine in der Gastein vielverehrte Heilige, Solängia, welche den eigenen Kopf in ihren Händen trägt – so steht ihr Bildniß noch heute in der Capelle des Joches. Dort läßt die Legende ein oft erzähltes Wunder geschehen. In alten Zeiten, so heißt es, befanden sich drei Gasteiner auf einer Pilgerfahrt im Gelobten Lande, wo sie viel von Sonnenhitze und von Unbilden seitens der Türken zu leiden hatten. Da flehten sie zu Gott und sagten, sie wollten gerne sterben, wenn sie nur noch einmal ihre Gastein sehen könnten. Sie kehrten glücklich zurück, und als sie zu diesem Joche kamen und den schönen Thalboden mit den Fernern vor sich liegen sahen, starben sie. Noch sind die Spuren ihrer Tritte, vom Volke emsig besucht, auf den großen Felsblöcken sichtbar, und die Stätte auf der Höhe des alten Saumweges heißt „Zu den drei Wallern“; jene Trittfurchen aber können wohl als Spuren der Eiszeit, als Gletscherschliffe am wandernden Geschiebe gelten.

Einen weiteren Fortschritt für Gastein bedeutete die Anlegung des älteren Weges durch die Klamm. Das war, im Vergleich zur jetzigen Straße, eine wirkliche Via Mala, doch immerhin gegen die Nöthigung, zuerst ein Joch anzusteigen, ein erheblicher Fortschritt. Sie zog durch Holzgallerien hin, hing da und dort an Ketten und würde wohl manchen unserer modernen nervösen Reisenden zur sofortigen Umkehr veranlaßt haben.

Endlich kommt das neunzehnte Jahrhundert, die Aera der Verkehrserleichterungen im großen Stil. Zunächst wird eine gute und sichere, großen Fuhrwerken zugängliche Straße an den Wänden

[503] des linken Achenufers hin eingesprengt. Nebenbei errichten Menschenfreunde allenthalben Unterkunftshäuser auch für Solche, die außer dem Elend des Siechthums noch andere Noth des Daseins drückt. Der Kaiser Franz von Oesterreich hat sich durch solche Schöpfungen in unseren Augen vielleicht ein würdigeres Denkmal gesetzt, als es dasjenige ist, welches man ihm auf dem inneren Burgplatze zu Wien aufgerichtet hat, und auch was der Erzbischof Pyrker hier für kranke Soldaten gethan wird den Ruhm seiner Epopöen überdauern. Den Beschluß macht die Anlegung der reizvollen Salzachthal-Bahn, welche die Gasteiner Klamm mit der Tiroler Linie, mit Salzburg, mit dem Südosten Oesterreichs verbindet.

Gastein ist jetzt ein modisches Bad mit allen Einrichtungen, ohne welche der Stadtmensch unserer Tage nicht auszukommen vermeint. Es wäre eine Therme, wie viele andere, ständen die Eckpfeiler der stillen Eiswelt nicht da, flammten nicht die Regenbogen im Sturme der Schaumwolken seiner Wasserstürze und wehte nicht jene Luft aus den hohen Einöden herab, die in Blut und Nerven des Ankömmlings gewiß nicht minder segensvoll eingreift, als die Brunnen der Tiefe. Dies ist es, was die alte Gastuna zu einer in ihrer Weise einzigen Heilstätte macht. –

Zum Schlusse noch zwei Anmerkungen.

Wie drüben im grünen Thalboden und an den Hängen der Rauris, liegt auch in der Gastein viel Geschiebe aus der Eiszeit. Die verschiedenen Stufen des Gesammtthales, Naßfeld, Böcksteiner Thal und die eigentliche Gastein stellten damals Terrassen eines und des nämlichen Gletschers dar, den an den jähen Absturzbruchstellen gewiß breite, blauende Klüfte durchzogen. Nach dem Hinschwinden desselben entstanden zwei Seen: der eine füllte das Böcksteiner Thal, der andere die tiefere Gastein aus. Der obere See stürzte in die Gastein, der untere in die Salzach ab; als Andeutung daran ist der Fall im Wildbad und der von Lend geblieben.

Vorahnend wirft die Einbildungskraft der Thalbewohner ein anderes Gemälde von Gastein auf fernen Hintergrund. Dort – so heißt es – wo jetzt das Patschker-Gütl neben dem Böcksteiner Wege steht, wird sich einst der letzte „Käskessel“ (Sennhütte) befinden. Es ist dies ein Bild wiederkehrender Eiszeit. Mag ein solches in entlegenen Jahrtausenden verwirklicht werden oder nicht – wir und unsere spätesten Nachkommen werden uns stets erfreuen an Gastein und an der Pracht der hohen Tauern. Ueber der Kräftigung des Körpers dürfen wir nicht vergessen, daß inmitten solcher Herrlichkeit auch unser Sinn erstarkt und sich gern vom Wuste des Alltäglichen Dingen zuwendet, welche die Selbstsucht abschwächen und den Willen veredeln.
Heinrich Noë.




Zur Geschichte der Socialdemokratie.
Von Franz Mehring.
8. Die höchste Blüthe der deutschen Socialdemokratie.

Die socialdemokratische Agitation im deutschen Reiche bietet während des dreijährigen Zeitraums, der sich vom Gothaer Vereinigungscongresse bis zu den Attentaten von Hödel und Nobiling erstreckt, in ihrer Art ein nicht minder fesselndes und merkwürdiges Bild, als die Pariser Commune. Wenn hier das aufrührerische Proletariat mit Feuer und Schwert die verrottete Welt umzuwälzen gedachte, so zeigte sich dort, was es mit seinem „friedlichen“ und „gesetzmäßigen“ Wirken auf sich hat. Es ist schwer zu sagen, welche von beiden Methoden furchtbarer und verhängnißvoller in ihren Folgen ist; alle Schrecken der blutigen Maiwoche verbleichen fast vor der langsamen und tödtlichen Vergiftung des nationalen Geistes, welche die deutschen Demagogen zu erreichen verstanden.

Die Entwickelung der Partei während dieser Zeit in allen Einzelnheiten zu verfolgen, würde an dieser Stelle zu weit führen; es muß genügen, die eigenthümlichsten und lehrreichsten Momente in einem allgemeinen Bilde zu sammeln. Glänzend bewährte sich die Hoffnung der einsichtigeren Agitatoren, daß die Vereinigung der beiden Fractionen die Kraft und Wucht der ganzen Bewegung nicht blos verdoppeln, sondern selbst verzwanzigfachen würde. Ein flüchtiger Umblick in dem Rüst- und Zeughause der Partei liefert hierfür schlagende Beweise.

Die Parteicasse balancirte hinfort jährlich in Einnahme und Ausgabe mit durchschnittlich 60,000 Mark, einer Summe, welche nur den geringsten Theil der von armen Arbeitern für diese Agitation aufgebrachten Opfer enthält, selbst wenn man blos die Aufwendungen an baarem Gelde erwägt. Ungleich mehr verschlangen Gewerkschafts-, Local-, Wahlzwecke. Die Berliner Reichstagswahlen von 1877 kosteten allein 16,000 Mark. Davon wurden unter Anderem 1,400,000 Exemplare von Drucksachen hergestellt, deren Verbreitung unentgeltlich durch Parteigenossen bewirkt wurde. Man vermag schon aus diesem Beispiele zu erkennen, wie gering noch die Einbußen an Geld im Verhältnisse zu den Opfern an Kraft und Zeit waren, die von den bethörten Anhängern der socialen Revolution gebracht wurden.

Die Hauptarmee des Umsturzes bildeten Agitatoren, Vereine, Zeitungen; man kann die ersten als die leichten Truppen, die zweiten als die Heersäulen des Fußvolkes, die dritten als die schweren Geschütze in der streitenden Armee des Zukunftsstaates bezeichnen. Am wenigsten ausgebildet war die erste Truppengattung; gewerbsmäßige Agitatoren wurden von der Parteicasse verhältnißmäßig wenige besoldet; man hatte die Zweischneidigkeit dieser Waffe erkannt. Diese Gevatter Schneider und Handschuhmacher, die „predigend reisten“ und von dem conservativen Socialpolitiker Rudolph Meyer sogar mit den Aposteln verglichen worden sind, boten in ihrem albernen Hochmuth und ihrer banausischen Unwissenheit den Gegnern zu starke Blößen, wurden auch den einsichtigeren Arbeitern nur zu bald verächtlich. Die klügeren Führer suchten sie mehr und mehr zurückzudrängen zu Gunsten der Parteipresse. Freilich darf dabei nicht übersehen werden, daß die Beamten und Vertreter der Partei, Abgeordnete, Redacteure, Expedienten etc., verpflichtet waren, wo und wie sie immer konnten, sich an der mündlichen Agitation zu betheiligen, ja daß in gewissem Sinne jedes gewandtere Mitglied der Partei ihr geborener Agitator war. Im Ganzen verfügte die Agitation über einige Hunderte geschulter Redner, die mit allen Wassern der Dialektik eines Lassalle und Marx gewaschen waren.

Wichtiger war das Vereinswesen der Partei. Sie hatte zuletzt 26 größere Gewerkschaftsverbindungen geschaffen, welche etwa 50,000 Mitglieder an mehr als 1200 Orten zählten. Die jährliche Einnahme dieser Verbände belief sich auf 400,000, ihre jährliche Ausgabe auf 320,000 Mark. Nur die einfachste Gerechtigkeit gebietet, anzuerkennen, daß diese Vereine, nachdem der dauernde Nothstand ihr Strikefieber gründlich erstickt hatte, auch mannigfach nützlich und segensreich gewirkt haben. Von ihren Ueberschüssen wurden ihre Invaliden-, Kranken-, Reiseunterstützungscassen unterhalten. So besaßen die Gewerkschaften der Goldarbeiter und Buchdrucker ein Vermögen von 18,000, beziehungsweise 52,000 Mark in ihren Invalidencassen. Hier hat das Socialistengesetz leider auch manche fruchtbare Keime zerstört.

Aber noch in anderer Weise wußte die deutsche Socialdemokratie das Vereinswesen für ihre Zwecke auszunützen. Nicht weniger als 20 Druckereien befaßten sich mit der Herstellung ihrer Literatur in periodischen und nichtperiodischen Druckschriften; darunter befanden sich 16 Genossenschaftsbuchdruckereien, an denen über 2500 Arbeiter und Kleinbürger mit ihren kleinen Ersparnissen betheiligt waren; sie beschäftigten ungefähr 400 Personen als Redacteure, Expedienten, Setzer, Drucker, und sie setzten jährlich in runder Summe über 800,000 Mark um. Schier unzählbar waren dann die sonstigen Vereine, in denen der Geist der Partei lebte. Bildungs-, Gesang-, Lese-, Theater-, Zeitungs-, Consum-, Unterstützungs-, Wahlvereine und wie sie sich sonst nennen mochten; ihre Namen wechselten tausendfach; in der Sache waren sie alle über denselben Kamm geschoren; in ihnen wurden die Rekruten geübt und geworben. Niemals noch hatte es eine andere Partei verstanden, so den ganzen Menschen zu erfassen, ihn mit seinen alltäglichsten Gewohnheiten unlöslich an sich zu ketten.

Das schwere Geschütz endlich in dem communistischen Arsenale bildeten die bleiernen Lettern Gutenberg’s. Mit fabelhaftester Schnelle wuchs eine kleine Bibliothek socialdemokratischer Flugschriften und Bücher an; sie zählte einige hundert Nummern und

[504] vermehrte sich noch von Woche zu Woche. Vieles, das Meiste darunter ist reiner Schund, Manches passables Mittelgut, Einzelnes, wie die Schriften von Engels, Lassalle, Marx, Lange, Jacoby etc., gehört zu den namhaftesten Werken unserer politischen und socialen Literatur.

Alle diese Erscheinungen fanden eine aufmerksame und weite Lesewelt im deutschen Arbeiterstande; in einer Berliner Volksversammlung rühmte sich einmal ein einfacher Arbeiter, daß er eine Broschüre Lassalle’s achtmal habe Zeile für Zeile durchackern müssen, um sie zu verstehen, aber nun habe er sie auch gründlich verstanden, und keine Macht der Welt könne ihn mehr dieses geistige Eigenthum entreißen. Der kleine Zug kennzeichnet treffend, mit welcher hartnäckigen Leidenschaft die Arbeiter darnach rangen, diese Nahrung völlig in ihr Fleisch und Blut aufzunehmen. Ein beiläufiger, aber deshalb nicht minder willkommener Erfolg dieses Büchervertriebes war, daß er der Partei einen namhaften Ueberschuß abwarf.

Noch ausgebreiteter und wirkungsvoller war die periodische Literatur der Socialdemokratie, welche vom eintägigen Wahlflugblatte bis zum jährlich erscheinenden Kalender alle denkbaren Formen dieser Art Druckschriften umfaßte. Am zahlreichsten in ihr war natürlich die politische Tagespresse vertreten. Viele dieser Blätter gingen so schnell, wie sie kamen, sodaß eine völlig sichere Statistik über sie nicht aufzustellen ist.

Um die Jahreswende von 1877 auf 1878 erschienen etwa fünfzig socialdemokratische Zeitungen, von denen ungefähr der dritte Theil sechsmal, die übrigen ein-, zwei- und dreimal in der Woche herausgegeben wurden. Dazu kamen je ein Witzblatt in Braunschweig und Chemnitz und vierzehn Gewerkschaftsorgane, die neben ihren Fachinteressen auch für die Ausbreitung der communistischen Grundsätze sorgten. Im Ganzen und Großen waren all diese Blätter vollkommen werthlos; ihre geistige Habe, ihre politische Wehr und Waffen waren einzig unverdaute Phrasen aus den Broschüren von Lassalle und Marx. Abgesehen von einigen catilinarischen Existenzen, die sich mit größerem oder geringerem Rechte einer „akademischen Bildung“ rühmten, wurden die Redactionsgeschäfte von Arbeitern erledigt, Böttchern, Lohgerbern, Maurern, Schlossern, Schneidern, Schriftsetzern und andern Handwerkern, bei denen von einer publicistischen Befähigung nicht wohl die Rede sein konnte.

Höher standen der „Vorwärts“ in Leipzig, das amtliche Blatt der Partei, die „Neue Gesellschaft“ und die „Zukunft“, ihre wissenschaftlichen Zeitschriften, endlich die „Neue Welt“, ihr Unterhaltungsblatt, die socialdemokratische „Gartenlaube“, wie sie von ihren Lesern stolz genannt wurde. Der „Vorwärts“ sollte vornehmlich einen geistig ebenbürtigen Kampf mit den Gegnern der Partei führen; er hat sich dieser Ausgabe zeitweise nicht ohne Erfolg, Geschick und Glück entledigt, eine ganze Reihe socialpolitisch bemerkenswerter Aufsätze gebracht, aber er selbst verscherzte meist die errungenen Vortheile durch eine rohe und wüste Sprache, durch wüthende Verleumdungen des persönlichen Charakters seiner Widersacher, durch halbe Unzurechnungsfähigkeit in Beurtheilung der politische Tagesfrage. Eine durchaus anständige Form bewahrten die wissenschaftlichen Zeitschriften, welche die besitzenden und gebildeten Classen mit den Zielen der Socialdemokratie befreunden sollten; inhaltlich brachten sie in bunter Mischung dürftige und gehaltvolle Artikel. Die „Neue Welt“ sollte die Frauen und Kinder der Arbeiter gewinnen; sie stieg bald auf vierzigtausend Abonnenten, ein nicht unverdienter Erfolg; denn geschickt und maßvoll geschrieben, durfte sie wohl den ersten Platz unter den periodischen Preßerzeugnissen der Partei beanspruchen.

Wenn diese Organe höhere Zwecke verfolgten, so waren umgekehrt die socialdemokratische Kalender bestimmt, tagaus tagein als Brander auf der weiten See der arbeitenden Bevölkerung zu kreuzen und in jene entlegenen Buchten und Winkel zu dringen, in welche selbst der leichtest beschwingte Nachen der Tagespresse noch nicht zu gelangen vermag. Der „Arme Conrad“ war mehr auf die städtische, der „Volkskalender“ mehr auf die ländliche Arbeiterbevölkerung berechnet; jener setzte etwa sechszigtausend, dieser erheblich weniger Exemplare ab. Ihr literarischer Werth fiel unter Null; sie entbehrten namentlich, was überaus bezeichnend ist, jeder Spur volksthümlichen Humors. Bemerkenswerth an ihnen war nur die Geschicklichkeit, mit welcher die von ihnen verfochtene Weltanschauung jeden Stoff bis in die innerste Faser und bis zum obersten Rande zu sättigen und zu tränken wußte. Diese Pandorabüchsen waren voll gerüttelt und geschüttelt von Haß, Neid, Zorn, Unzufriedenheit, Wuth, von allen wilden und zügellosen Leidenschaften der menschlichen Brust.

So etwa stellt sich nach ihren allgemeinsten Umrissen die waffenklirrende Rüstung dar, welche die deutsche Socialdemokratie in den Tagen ihrer höchsten Blüthe trug. Darnach kann man einigermaßen abwägen, welches Maß von Geld, Kraft und Zeit sie verschlungen, welche Unsummen von Opfern, die von blutarmen Arbeitern gebracht wurden, sie erheischt hat. Rechnet man nun gar noch die riesigen Verluste hinzu, welche die zahllosen socialdemokratischen Strikes in der ersten Hälfte der siebenziger Jahre dem nationalen Wohlstande zugefügt haben, so ergiebt sich, daß dieser „Militäretat“ so kostspielig gewesen ist, wie nur irgend ein anderer – so kostspielig, aber nicht entfernt so notwendig und nützlich. Blickt man nämlich auf die Kehrseite der Medaille, erwägt man, ob diese gewaltigen Aufwendungen den Arbeitern irgend welchen nennenswerten Nutzen gebracht haben, so wird das dunkle Bild nur um so viel dunkler; Schlagschatten auf Schlagschatten fällt hinein, kaum hier und da ein leiser Lichtstreif.

Verhältnißmäßig die größten Erfolge wurden in Wahlkämpfen errungen; bei den Reichstagswahlen von 1877 gewann die Partei beinahe eine halbe Million Stimmen, fast den zehnten Theil der gesammten gültigen Stimmenzahl. Sie erwies sich als die viertstärkste Partei im deutschen Reiche – gewiß ein staunenswerther Erfolg, welcher sie mit lebhafter Genugthuung erfüllen durfte, aber im Wesen der Sache doch nur eine moralische Eroberung. Die Zahl der Abgeordneten entsprach keineswegs der Zahl der Stimmen; es gelang nicht mehr als zwölf socialdemokratische Mandate zu erobern. Und auch dieses Maß gesetzgeberischen Einflusses wurde in schmählicher Weise von denen verzettelt, in deren Hände es gelegt worden war.

Gewiß ist die Vertretung der Arbeiterinteressen ein berechtigter und erwünschter Factor im großen Rathe der Nation, wenn aber diese Anschauung noch vielfach verkannt wird, so haben es die Arbeiter allein dem parlamentarischen Treiben der socialdemokratischen Abgeordneten zu danken. Niemals haben dieselben auch nur versucht, mit Eifer und Ernst sich an den Geschäften des Reichstages zu betheiligen; meist wohnten sie den Sitzungen gar nicht bei; hielten sie es gelegentlich der Mühe werth, zu kommen, dann war ihre einzige Leistung die Wiederholung einer und derselben Drohrede, bald in halbwegs anständiger Form, bald so stark gepfeffert, daß ein Petroleumdunst durch das ganze Haus zog. Daneben benutzten sie höchstens, wie es noch in der diesjährigen Frühjahrssession des Reichstages geschah, die Redefreiheit der parlamentarischen Tribüne, um aus diesem sicheren Hinterhalte wehrlose Privatpersonen zu verleumden, die ihr Mißfallen erregt hatten.

Sie betheiligten sich selbst nicht, wenn andere Parteien sich bemühten, das bestehende Arbeiterrecht zu erweitern; ihre Abwesenheit verschuldete, daß bei der Berathung der Gewerbe-Ordnungsreform in der endgültigen Abstimmung die strengeren Bestimmungen über die Sonntagsruhe fielen, die bei der vorläufigen Abstimmung im Interesse der arbeitenden Classen angenommen worden waren.

Einmal zwar schien die socialdemokratische Reichstagsfraction einen sachlichen Zweck zu verfolgen; sie brachte ein Arbeiterschutzgesetz ein, aber auch damit war es eitel Schwindel. Die Einzelnheiten dieses Entwurfs waren sinnlos, ohne jede Rücksicht auf die concreten Verhältnisse der deutschen Industrie aus der englischen und schweizerischen Gesetzgebung ausgeschrieben; es lag auf der Hand, daß der Reichstag ein so form- und gedankenloses Machwerk nicht annehmen konnte und würde; darüber waren sich seine Urheber auch vollkommen klar und gestanden auf ihrem Parteicongresse mit preiswürdiger Offenheit, daß sie an diesem Antrage nur eine scharfe Agitationswaffe hätten schleifen wollen für Gegenden, in denen andere Parteien starke Anhang unter den Arbeitern hätten.

Entsprechend dieser Haltung hat die socialdemokratische Agitation auch außerhalb des Reichstages gar nichts gethan, die sachlichen Interessen der Arbeiter zu fördern. Sicherlich ist noch viel zu wenig geschehen, den gerechte Beschwerden unserer niederen Volksschichten abzuhelfen, aber ebenso unbestreitbar ist, daß noch jede andere Partei mehr auf diesem Gebiete geleistet [505] hat, als die Socialdemokratie. Selbst wenn ohne ihr Zuthun arbeiterfreundliche Einrichtungen in’s Leben traten, stand sie denselben feindlich oder mindestens gleichgültig gegenüber, so beispielsweise den Fabrikinspectoren; „ihre Blätter,“ schreibt klagend einer dieser Beamten, „haben ihre Leser über die hauptsächlich zum Besten der Arbeiter getroffene Einrichtung zu belehren nicht für nöthig oder zweckmäßig gehalten.“ Einzig die von der Partei gegründeten Gewerkschaften haben den Arbeitern nicht blos faule, sondern auch gesunde Früchte gespendet, allein einerseits wurden diese Vortheile wieder aufgewogen durch die unnützen Strikes, die von denselben Vereinen angezettelt wurden, und andererseits haben dieselben das, was sie leisten, nicht geleistet, weil, sondern obgleich sie socialdemokratischen Ursprungs waren. Nicht die Socialdemokratie schuf eine gesunde Einrichtung, sondern eine gesunde Einrichtung war selbst durch die Socialdemokratie nicht völlig zu verderben.

Was hat sie nun aber in Wahrheit den Arbeitern geboten? Nichts als eine wahrhaft hündische Schmeichelei, wie sie nicht leicht verhängnißvoller von kriechenden Höflingen gegen bethörte Fürsten geübt werden mag; nichts als im besten Falle die flachsten Eitelkeiten der Welt, die unfruchtbarsten Lärm- und Spectakelscenen. Straßenkundgebungen, wie der große Leichenzug bei dem Tode des Arbeiters Heinsch in Berlin, lächerlich-widerwärtige Ketzergerichte, wie sie vor einem Tribunale von ungebildeten Handarbeitern über Mommsen’s römische Geschichte gehalten wurden, tosende Volksversammlungen, wie diejenigen etwa, in denen Herr Most und Herr Stöcker – ein edles Brüderpaar – in rüstigen Fäusten das Banner der geflissentlichen Volksverdummung schwangen – das waren die Steine, welche die socialdemokratische Agitation den Arbeitern statt des Brodes gab.

Doch diese Dinge, so schlimm sie erscheinen, waren nicht das Schlimmste. Ungleich verderblicher wirkte die gänzliche Verrohung und Verrottung, die man in den Gemüthern der Arbeiter hervorzurufen suchte, um sie fähig und willig für eine gewaltsame Revolution zu machen. Denn hierauf und auf nichts Anderes lief die ganze Agitation hinaus.

Heutzutage faseln die Demagogen zwar viel von ihren „friedlichen“ und „gesetzmäßigen“ Absichten, während noch vor wenigen Jahren der „Volksstaat“ das Streben nach einer „ruhigen Entwickelung des Staatslebens“ als einen „offenen Verrath an der Arbeitersache“ vervehmte. Nichts scheint rührender, als wenn die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten mit einer zitternden Thräne an der Wimper sich als Opfer der gräulichsten Verleumdung hinstellen, weil man sie geplanter Gewalt beschuldigt, aber tatsächlich ist nichts komischer. Ihnen mag es gestattet sein, heute zu leugnen, was sie gestern behauptet haben, aber einstweilen sind sie die Werkzeuge von Marx, der sein ganzes System wie seine ganze Taktik auf den gewaltsamen Umsturz berechnet und seit mehr als dreißig Jahren keine passende oder unpassende Gelegenheit versäumt hat, diese Thatsache mit dem ganzen Nachdrucke seines unfehlbaren Prophetenthums hervorzuheben.

Für solchen Zweck nun wurde, um die arbeitende Bevölkerung in gewissenlos-schlauester Weise vorzubereiten, jeder schwächste Faden zu zerstören gesucht, der sie mit ihrem Vaterlande und ihrem Volke verband. Hörte man die socialdemokratischen Redner und Zeitungen, so war nicht nur die heutige Wirthschaftsordnung auf Betrug und Raub gegründet, sondern die ganze deutsche Geschichte eine albern-boshafte Intrigue von Betrügern und Narren, Luther ein „bornirter Pfaff“, Melanchthon ein „fistelnder Schleicher“, Schiller ein „reactionärer Phrasendrescher“, Goethe ein „serviler Hofpoet“, die großen Feldherren unserer Geschichte „Gurgelabschneider“ und „Landsknechte“, ganz zu geschweigen der niederträchtigen Beschimpfungen, mit denen die großen Heerführer und Staatsmänner unserer Tage überschüttet wurden. Unter Strömen von Koth sollte Alles begraben werden, woran sich die Ehre des deutschen Namens knüpft, um jede Spur menschlicher Scheu aus den Herzen der Arbeiter zu reißen.

In ähnlicher Weise wurden die sittlichen Grundlagen der modernen Cultur zu untergraben gesucht. Die Religion war ein leerer Humbug, erfunden von Betrügern, um Narren zu bethören, die Vaterlandsliebe ein verhüllender Schleier für Raub und Mord, die Ehe eine staatlich concessionirte Prostitution, die Wissenschaft eine feile Dirne des Volksverraths, die Schule eine Verdummungsanstalt im „Dienste gegen die Freiheit“, die Presse ein einziger Reptiliensumpf der Verderbniß, der Reichstag – nach einem anmuthigen Ausdrucke Liebknecht’s – ein Haufe von Junkern, Apostaten und Nullen, der als Puppe am Drahte eines Menschen und Recht verachtenden Staatsmanns tanzt. Jeder Gegner der Partei war ein Narr oder Schuft; wagte irgend ein Bürger, in einer Versammlung oder einer Zeitung gegen die Socialdemokratie zu sprechen, so wurde er alsbald in seiner privaten Ehre und Stellung böswillig und verleumderisch angegriffen; man erfand ein förmliches System des Terrorismus, um jeden Widersacher von vornherein abzuschrecken.

Dies etwa waren nach ihren allgemeinsten Umrissen die Gegenleistungen der socialdemokratischen Agitation für die großen Opfer, welche der deutsche Arbeiterstand ihr brachte. Es kam darnach, was kommen mußte. Die mit vollen Händen den Wind säeten, ernteten den Sturm, früher, weit früher, als die von ihnen geplagte Welt hoffte, und als sie selbst fürchteten.




Der Burschenschafter auf dem theologischen Lehrstuhl.
(Schluß.)

Röhr, das „sichtbare Oberhaupt des Rationalismus", wie er damals genannt wurde, konnte mit dem derben Bauernverstand, der ihm eigen war, Hase’s Eigenthümlichkeit am wenigsten begreifen. Einer felsenfesten Abgeschlossenheit in freisinnigen Grund- und Glaubenssätzen, die alles Gefühlsmäßige, nicht vor dem Verstand zu Rechtfertigende von sich stieß, stand hier ein feiner, milder Sinn gegenüber, der jeder religiösen Ueberzeugung gerecht würde und selbst in religiösen Verirrungen gern den edlen Kern erkannte. Besonders ärgerte den alten Herrn eine von Hase in Pelt’s und Mau’s Studien gebrauchte Bezeichnung: Rationalismus vulgaris (gemeiner Rationalismus). Aber die Hase’sche Totalauffassung der Kirchengeschichte überhaupt, die milde Beurtheilung oder halbe Vertheidigung aller kirchengeschichtlichen Erscheinungen, welche Röhr verabscheute, veranlaßten den Weimarischen Generalsuperintendenten, in seiner kritischen Predigerbibliothek den jungen Professor ernstlich zu rüffeln, ja ihm mit schlimmeren Censuren zu drohen. Dem setzte Hase eines seiner glanzvollsten Werke, den „Anti-Röhr“ gegenüber, einen Protest religiösen Gefühlslebens und wissenschaftlichen Freisinnes gegen das Flachverstandesmäßige und Unwissenschaftliche des Rationalismus, welcher sich geschichtlich abgewirthschaftet habe.

Dies zeigte sich gerade damals. Denn ein Jahr nach dem Erscheinen der Kirchengeschichte (1835) brach der Geistersturm los, auf den Hase’s Auftreten die Weissagung gewesen war. Gerade aus der gläubigen Facultät Tübingen, die einst Hase verübelt, daß er nur die menschliche und nicht auch die göttliche Natur Christi in Betracht ziehe, ging David Friedrich Strauß hervor, der, was Hase einst in zarter Scheu nur angedeutet, mit dem ganzen Rüstzeug Niebuhr’scher Kritik und Hegel’scher Logik bewaffnet, schonungslos durchführte, indem er die neutestamentliche Lebensgeschichte Jesu fast ganz als Mythe darstellte. Im selben Jahre begann der Tübinger Lehrer von Strauß, der große Dogmenhistoriker Baur, welcher erst nach Hase’s Abgang an die Schwaben-Universität gekommen war, seine Kritik der Echtheit der neutestamentlichen Schriften und erwies zunächst die Unechtheit der Pastoralbriefe. Und doch war bis dahin Baur’s Gläubigkeit, mindestens in Tübingen, nie bezweifelt worden, und Justinus Kerner’s Seherin in Weinsberg hatte Strauß geweissagt, daß er nie ungläubig werden könne! Gleichzeitig gingen aus dem unmittelbaren Kreise Hegel’s das bahnbrechende Werk Vatke’s, der das ganze alte Testament als unhistorisch oder nur sehr zweifelhaft historisch verkündete, und die Untersuchungen Benary’s, welche die Siegel von der Offenbarung Johannis lösten, hervor. Den „Gläubigen“ stand der Verstand still. Die „Ungläubigen“ aber – vornehmlich das junge Deutschland – jubelten. Gutzkow nannte bereits die Evangelien abgestandene Fischersagen. Die Junghegelianer betrachteten [506] den Bruch mit aller positiven Religion und die Wiedereinsetzung der nackten Sinnlichkeit in ihre Rechte als das eigentliche Werk des Protestantismus, den sie auf ihre Fahne schrieben. Heine sagte geradezu: „Das blühende Fleisch auf den Lenden der Titianischen Venus, das ist alles Protestantismus.“ Tausende riefen dieser Gesinnung Beifall zu.

Dahin war es gekommen durch die Prüderie der Regierungen, die Aengstlichkeit der Theologen, daß im Volke jede religiöse Kundgebung mit um so größerer Freude aufgenommen wurde, je weiter sie entfernt war von der von oben beschützten Gläubigkeit. Hase wendete sich 1838 als Prorector in einer herrlichen Rede vom „jungen Deutschland“ an die deutsche Jugend; er wies auf die Gefahren der Frivolität hin, er beschwor Lessing’s unsterblichen Geist, ermahnte, mit rückhaltlosem Freimuth dem Banner der Forschung, aber der echten Forschung, zu folgen, erkannte auch den Verfasser des „Lebens Jesu“ in Schwaben an, wie frühreif ihm seine Resultate däuchten, Heine aber – „der größte Lyriker einer, das ist sein Recht von Gottes Gnaden“ – und Gutzkow wies er weit von sich hinweg. Und eben hatte er Gelegenheit, auch nach einer andern Seite hin Gerechtigkeit zu üben. Der Bruch der Erzbischöfe Droste in Köln und Dunin in Posen mit der preußischen Regierung war vollbracht, die Frucht des unseligen Pactirens mit Rom, welches immer nur den Hochmuth der Klerisei geschwellt hat. Die Verhaftung der Erzbischöfe rief in allen katholischen Landen ungeheuere Aufregung hervor; Papst Gregor hielt seine berühmte Allocution; Görres fiel in seinem „Athanasius“ den preußischen Staat an. Wohl eiferte Röhr in Weimar in seiner dreizehnmal aufgelegten Reformationspredigt gegen den „priesterlichen Gaukler“ in Rom – die preußische Regierung fand doch so gut wie gar keine Vertheidiger; Heinrich Leo, ein alter Freund und Gegner Hase’s, erklärte in seinem „Sendschreiben“ offen, daß er die katholische Kirche bewundere ob ihrer Einmüthigkeit und sich „schäme, Protestant zu sein“. Hier trat Hase ein mit seiner Schrift „Die zwei Erzbischöfe“ (1839), wohl der schwerwiegendsten kirchenpolitischen Publikation vormärzlicher Zeit, voll sibyllinischer Weissagungen auf die nachmärzliche. Von entschieden protestantischem Standpunkt enthüllt er die ganze Gefahr der Hierarchie, wie sich diese in den letzten Jahrzehnten von Neuem befestigt hatte, aber er deckt auch alle Sünden der preußischen Kirchenpolitik auf und zeigt ihr wie im Spiegel ihre Ohnmacht, nicht ohne nebenbei auf die einstigen Aufgaben des Thronfolgers hinzuweisen, von dem man so viel erwartete.

Man weiß, wie diese Hoffnungen umschlugen. Das Ministerium Eichhorn tauchte empor, über Bunsen, Radowitz und Schelling kam man auf – Stahl. Nur noch mehr spitzten sich die Gegensätze zu. Die kirchliche Reaction wurde übermächtig, während in der Nation eine schwungvolle hochgespannte Zeit anhob, die unter den patriotischen Idealen auch die Befreiung des Glaubens von der Beeinflussung der Höfe und Regierungen auf ihr Schild schrieb. Vor Allem in der Provinz Sachsen gährte es seit den „Hallischen Jahrbüchern“ gewaltig. In Weimar war nur die politische Seite der zur Herrschaft gekommenen Romantik zu empfinden, welche aber bei dem Schielen des Cultusministers Schweitzer nach dem Hofe doch wenigstens hier und da auch auf das theologisch-kirchliche Gebiet einwirkte. Schweitzer gegenüber war Hase der entschiedene Patriot. Als die „Sieben“ in Göttingen entsetzt worden waren, stand er unter den Ersten, die für sie sammelten, und als Dahlmann nach Jena übersiedelte, ward er dessen treufester Freund und ermüdete nicht in dem vergeblichen Bemühen, ihn den Erhaltern der Universität für eine Professur zu empfehlen. Als sich dann der Gustav-Adolf-Verein begründete, war Hase, im Gegensatz zu Röhr, unter denen, die ihm im Weimarischen die Stätte zu bereiten suchten; auch hier scheiterten er und sein Freund Schwarz bis die Uebernahme der Protection durch Friedrich Wilhelm den Vierten den Angstminister Schweitzer umstimmte. Hase hat dann den Hauptversammlungen mehrfach beigewohnt, immer das Recht aller kirchlichen Richtungen im Verein betonend. Inzwischen begann die deutsch-katholische Bewegung; Ronge kam auch nach Weimar, wurde als der „Luther des neunzehnten Jahrhunderts“ auch hier gefeiert und von Röhr eingeladen, der in einer Schrift die gute Sache der Deutsch-Katholiken vertheidigte. Hase erkannte auf den ersten Blick die Unbedeutendheit der Führer, die „bei Kalbsbraten, Wein und Forellen Weltgeschichte machten“; er glaubte nicht an die Zukunft der Bewegung, doch erachtete er diese für ein bedeutsames Zeichen der Zeit, verlangte, daß man sie sich ausleben lasse, und besprach gemeinsam mit seinem Collegen Dr. Schwarz in der „Neuen Jenaer Literaturzeitung“, die er eine Zeitlang mitredigirte, sämmtliche über die Bewegung geschriebene Broschüren und Flugblätter. Auch die lichtfreundliche Bewegung, gleichfalls von Röhr willkommen geheißen, nahm, wenn auch in anderem Sinne, Hase’s Theilnahme in Anspruch. Er erkannte in ihr nur einen Act der Nothwehr, der zwar nicht weit führen werde, aber doch gebieterisch dazu auffordere, endlich das protestantische Kirchenthum neu zu gestalten. Seine Prorectoratsrede „Das gute alte Recht der Kirche“ führte dies aus, und weitere Schriften in gleichem Sinne folgten. Aufhebung des landesherrlichen Summepiskopats, eine bischöflich verfaßte evangelisch-deutsche Kirche mit Freigebung des Bekenntnißstandes, ein ganz allgemein gehaltenes Ordinationsformular für die Geistlichen, dazu Presbyterien und Synoden in aufsteigenden Kreisen, Befreiung der Kirche vom Staat, doch festes Bündniß mit dem Staate – das sind seine Forderungen. Die theologische Facultät in Jena, zumal Schwarz und der seit 1844 berufene unerschrockene Rückert, theilten dieselben. Sonst blieb Hase damit vereinsamt.

Auf einem Rosenballe in Jena überraschte die Universitätsangehörigen die Nachricht von der Pariser Februar-Revolution. Wenige Tage – und die Flamme durchzuckte ganz Deutschland. Ministerium auf Ministerium fiel; am 11. März stürzten Studenten und Bauern das Ministerium Schweitzer in Weimar. Allerwärts in Deutschland sanken mit den verhaßten Staatsmännern auch die verhaßtesten Männer der Kirchenleitung. In dem Völkerfrühling, der nun anhob, wurden auch in Hase die alten patriotischen Ideale, denen er stets angehangen, mit neuer Macht lebendig, und er hat unter dem alten Namen „Karl von Steinbach“ seine Hoffnungen für des Vaterlandes Zukunft ausgesprochen, auch die Kirche des neuen deutschen Reiches in einem Werke der Nation an’s Herz zu legen versucht. In der That war die Bewegung im mittleren Deutschland zum guten Theil religiösen Charakters, wie fast alle Wahlen Thüringens und der Provinz Sachsen nach Frankfurt und Berlin bewiesen, es waren fast durchweg die Matadore der antistaatskirchlichen Bewegung der vierziger Jahre, welche man dorthin sandte. Man hätte erwarten sollen, Hase in erster Reihe in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt zu finden. Aber die Volksstimmung der Thüringer Wahlkreise, zumal des Jenaischen, war damals zu antipreußisch und darum zu antikaiserlich – die Universität hatte zu viel von Preußen erlitten und die kirchliche Richtung des Berliner Hofes war zu sehr verhaßt als daß ein Mann, der ein erbliches Kaiserthum über Deutschland erstrebte und auf Preußen zählte, durchzudringen vermocht hätte. Er stand in diesem Jahre, wenn auch mit dem größeren Theile seiner Collegen, der thüringischen Demokratie gegenüber in entschiedener Minorität.

Hase hat einen Theil des Sommers in Frankfurt verlebt, begrüßte seine alten Freunde Eisenmann, Rotenhan, Wurm, Rödinger, Tafel in der Nationalversammlung und überstand in dieser Umgebung den 18. September. Er hat später nach der Kaiserwahl eine schwarz-roth-goldene Fahne auf seinem Hause aufgehißt, was doch Niemand in Jena nachahmte. Er hat schmerzbewegt alle seine Hoffnungen scheitern sehen, entschloß sich, gut großdeutsch wie er war, nur schwer zum Dreikönigsbündniß und sah gelegentlich des Erfurter Parlaments seinen alten Freund Stahl auf Wegen, welche himmelweit von den seinen verschieden waren. Immer trüber gestalteten sich die Dinge, auch die kirchlichen.

Nach Neander’s Tode wurde er von der Berliner Facultät als Professor der Kirchengeschichte vorgeschlagen, doch war an seine Berufung unter dem Minister Raumer nicht zu denken. Zur Erholung und um die neuen Bahnen der Zeit kennen zu lernen, besuchte er die Londoner Industrie-Ausstellung. So hatte sich die Lage verändert, daß im Hôtel der preußischen Gesandtschaft, in deren Kanzlei er eingetreten war, ihm Bunsen mit den Worten um den Hals fiel: „Wir müssen zusammenhalten gegen das frommthuende Gesindel, das uns Staat und Kirche verdirbt,“ und daß bald darauf Radowitz einen seiner Schüler in Jena, freisinnigster Richtung, zum Hauslehrer engagirte. Und das waren die Männer, welche an der Wiege der kirchlichen Romantik in Preußen Gevatter gestanden hatten!

Die nächste Zeit fand Hase – Röhr war inzwischen gestorben – mit der Jenaer Facultät auf der entschiedenen kirchlichen [507] Linken. Es gehörte Muth dazu, um diese Position zu behaupten. Alle deutschen Kirchenregimente wurden mehr oder weniger orthodox besetzt, alle Hoffnung auf eine evangelische Kirchenverfassung lag in Trümmern; dahingegen erhob der Ultramontanismus sein Haupt, selbst Döllinger fing an beargwöhnt zu werden. Ketteler als Bischof von Mainz war mit Hülfe der mit Polypenarmen um sich greifenden Jesuiten der hierarchische Agitator geworden. Hase bekannte, als er sein Werk über die deutsche Kirche 1852 neu auflegte, „vordem mehr Achtung vor seinem Volke gehabt zu haben“. Aus dem Zeitalter der Revolution ward das Zeitalter der Concordate.

Eine Einladung zu dem Kirchentage, dem Sammelpunkt der modernsten Orthodoxie, hatte er 1848 unbeantwortet gelassen; jeder Versuch, ihn der neugläubigen Richtung geneigter zu machen, scheiterte. Als Hengstenberg drohte, der Kirchentag werde sein Anathem gegen die Facultäten in Jena und Gießen schleudern, gründete Hase mit den Freunden dort und in Berlin die „Protestantische Kirchenzeitung“ (seit 1854), die unter der unerschrockenen Leitung Heinrich Krause’s die Zerstreuten sammelte, und in ihr hat Hase so oft mit köstlicher Ironie die Kleingläubigkeit jener Starkgläubigen und das ganze Gewebe ihrer Machinationen aufgedeckt. Ohne Umschweife hielt er ihnen vor, daß der Rationalismus, den sie für immer beseitigt wähnten, nicht nur nicht todt, sondern sogar noch eine ungeheure Macht in den Gemüthern sei. Er vertrat den Geist schrankenlosen Denkens und Forschens, wie er in den Tagen Goethe’s und Schiller’s geherrscht habe; er erklärte unumwunden, die theologische Facultät Jena’s werde selbst einen David Friedrich Strauß, wenn er sich bei ihr habilitiren wolle, willkommen heißen, und hat den jungen Theologen Hilgenfeld, einen Geistesverwandten der Tübinger Schule, der in Jena aufgetreten war, treu beschützt. Mit dieser Schule, deren Methode ihm zweifelhaft, deren Ergebnisse ihm unsicher erschienen, hat er in der Schrift „Die Tübinger Schule“ (1854) Abrechnung gehalten, in vollster Anerkennung ihrer Berechtigung. Was er selbst als die wesentliche Aufgabe der Zeit erkannte, hat er in seiner kühnen Rede über die „Entwickelung des deutschen Protestantismus“ ausgesprochen.

Die Jenaer theologische Facultät war in dieser Epoche eine einzigartige Erscheinung. Der feindiplomatische Hase mit dem großartigen Blick in die Zukunft, der felsenfeste Rückert mit dem Fichte’schen Motto: „Du sollst nicht lügen, und wenn die Welt darüber in Trümmer gehen sollte“, und mitteninne der gewaltige Prediger Schwarz mit dem Eliaseifer gegen die Verlogenheit der Zeit – sie ergänzten einander vortrefflich. Das trat hervor in den Tagen des Jenaer Universitätsjubiläums: da empfingen aus ihren Händen, wie früher schon Sydow, so nun Ketzer wie Karl Schwarz, Zittel, Hilgenfeld, Lipsius theologische Doctordiplome. Das schöne Fest erschien als die Morgenröthe einer bessern Zeit. Hatten doch der Prinz und die Prinzessin von Preußen der Universität zu ihrer Jubelfeier die Büsten Fichte’s, Schelling’s und Hegel’s verehrt, in Tagen, wo in Preußen an Fichte und Hegel nicht erinnert werden durfte! Die „Kreuzzeitung“ druckte bei ihrer Mittheilung über die Schenkung die Worte: „der Prinz von Preußen“ gesperrt.

Wenige Wochen später, und die Regentschaft des Prinzen begann, sein Wort von der „heuchlerischen Orthodoxie“ fand tausendfachen Wiederhall. Die „neue Aera“, die man jubelnd begrüßte, schien auch dem Kirchenwesen einen neuen Geist einhauchen zu sollen. Zum Unglück war Bethmann-Hollweg, der Präsident des Kirchentags, der erwählte Cultusminister, und Bunsen ein zu nachgiebiger Rathgeber. Hase hatte dessen „Zeichen der Zeit“ als eine Frühlingslerche begrüßt und ihm im Streit wider Stahl durch Beiträge beigestanden; dennoch, als es nun galt, die theologischen Lehrstühle in Preußen anders zu besetzen, hielt Bunsen dafür, Hase sei „stehen geblieben“! Bald stellte es sich heraus, daß die kirchlichen Hoffnungen auf die neue Aera eitel waren: der Generalsuperintendent Hoffmann und später Bethmann-Hollweg’s Nachfolger von Mühler wußten den Regenten, dann den König umzustimmen und hatten es in der Conflictszeit leicht. Aber das wiedererwachende Nationalgefühl sträubte sich gegen die kirchliche Bevormundung; hier und da, am siegreichsten in Baden, kam es zu kirchlichen Agitationen. Dann suchte der Protestantenverein, durch den geisteskühnen Richard Rothe zu Bedeutung gelangt, ein kirchliches Verfassungsleben durchzusetzen, endlich ergaben sich, oft aus sehr materiellen Gründen – um Kirchensteuern durchsetzen zu können – die meisten evangelischen Regierungm darein, Synodalverfassungen zuzugestehen. An diesen Agitationen nahm Hase nicht Theil. Er erkannte, daß der Schade unendlich tiefer liege. So lange der landesherrliche Summepiskopat bestehe, so lange die bisherigen Landeskirchen fortdauerten, dazu die Angst, mit Bekenntnissen zu brechen, die keine mehr sind, und dem gegenüber der ungeheuere Indifferentismus der Massen, so lange sah er in den Synodalverfassungen modernsten Datums kein Heil.

Aber auch auf die katholische Kirche wirkte die neue Aera zurück. Oesterreich, seit dem Costcordat von 1855 ihr Bollwerk, unterlag im italienischen Krieg; Napoleon der Dritte vermochte, obwohl Sieger, nicht, die italienische Einheitsbewegung zu meistern. Die Unterthanen des Papstes fielen von diesem ab und der Kirchenstaat ging aus den Fugen. Hase, der seit 1852 einen Theil fast jeden Jahres in Italien zubrachte, um die neuen Phasen des Katholicismus an Ort und Stelle zu studiren, hatte selbst diese Bewegung dort werden und wachsen sehen, und obwohl er dem von Haus aus so menschenfreundlichen Papste kein Dorf mißgönnte, täuschte er sich doch nicht darüber, daß es mit der weltlichen Herrschaft desselben zu Ende gehe. Auch die Katholiken, soweit sie freieren Blick besaßen, begriffen das. Ihr größter Kirchenlehrer, Ignaz Döllinger, schrieb sein berühmtes Werk: „Kirche und Kirchen“, das der eigenen Kirche unter dem Pontificat Pius’ des Neunten und der Herrschaft der Jesuiten ein langes Sündenregister nachwies, freilich zugleich das protestantische Kirchenwesen als ein durchaus hoffnungsloses schilderte. Da konnte Hase nicht länger schweigen. Und so entstand, zumeist in Rom selbst, sein „Handbuch der protestantischen Polemik gegen die römisch-katholische Kirche“ (1862), das in Anerkennung alles Großen und Schönen, das diese Kirche über die Völker gebracht hat, doch die tief innere Unwahrheit und die Gefahren des hierarchisch-jesuitischen Wesens für die Cultur in einer unendlichen Fülle von Thatsachen schonend und doch schlagend nachweist.

Einer von den Convertiten des Bischofs Ketteler, Regierungsrath Volck in Erfurt, veröffentlichte unter dem Namen Ludwig Clarus als „literarische Hasenjagd“ ein scheußliches Pamphlet dagegen. Aber das Buch machte die Runde durch Europa, und da der Verfasser in Italien so gut wie heimisch geworden war und dort die Entstehung der Encyclica des Syllabus, die Vorbereitungen zum vaticanischen Concil verfolgen konnte, dann dieses selbst zum Theil in Rom erlebte, da er ferner warm befreundet wurde mit Augustin Theiner, der die archivalischen Schätze des Vatikans verwaltete und nicht viel anders über das, was um ihn vorging, dachte, als Hase, so wurde das Werk in zweiter, noch mehr in dritter Auflage die Fundgrube eines Wissens, das nur einmal in dieser Weise vorhanden war.

Die Entscheidung von 1866 verhieß und das Jahr 1870 zeitigte die Erfüllung der nationalen Sehnsucht, wenngleich der alte Burschenschafter nicht verwinden konnte, daß es nicht die Farben Schwarz-Roth-Gold waren, die auf dem Siegesbanner prangten. Er sah seine drei Söhne in den Kampf ziehen und glücklich wiederkehren, er sah das deutsche Kaiserreich sich erheben. Gleichzeitig fiel der letzte Rest der weltlichen Macht des Papstthums, und in die katholische Kirche kam mit dem Dogma der Infallibilität ein tiefer Riß. An der Spitze der Gegner desselben stand nun Döllinger, und die „Altkatholiken“ protestirten gegen den Neukatholicismus des Papstes. Andererseits erhob sich eine starke ultramontane Partei im deutschen Reichstag, und bald stellte sich’s heraus, daß hinter ihr die ungeheuere Mehrheit des katholischen Volks, seine Bischöfe an der Spitze, stand; sie bot der Reichsregierung kühnlich die Stirn – und empfing zur Antwort die Maigesetzgebung von 1873. Wie Hase geartet war, konnte er nur ungern den Namen „Culturkampf“ für die Phase des Conflicts zwischen Staat und Kirche acceptiren, die zum guten Theil durch die frühere Politik der Regierungen, die Roms zu bedürfen meinten, heraufbeschworen worden war. Der mild urtheilende Historiker, der mehr von der Vergangenheit als von der Zukunft aus die Dinge beurtheilte, fand die Maigesetzgebung von 1873 in manchen Punkten drakonisch. Ein Todfeind der Jesuiten und Redemptoristen und völlig einverstanden mit deren Ausweisung, ist er doch der Ansicht, daß das Brodkorbgesetz, daß die sogenannte Anzeigepflicht, daß das weltliche Examen der katholischen Priester nicht durchaus nothwendige Maßregeln seien, und vor Allem konnte [508] er erinnern, wie vieles sich in her Praxis besonders verschärft habe. In diesem Sinne hat er in seiner Schrift „Des Culturkampfs Ende“ die Präliminarien aufzuzeichnen versucht, auf denen der Staat, ohne sich etwas zu vergeben, mit der Kirche Frieden schließen könne. An die Möglichkeit des gegenwärtig eingetretenen Vorganges, an ein einseitiges, durch kein Entgegenkommen der römischen Curie bewirktes Zurückweichen des Staates hat er dabei wohl nicht gedacht. Das System Puttkammer lag damals noch in weiter Ferne.

Ein glückliches Alter ist dem verehrten Manne beschieden worden. 1873 erlebte er sein fünfzigjähriges Doctor- und Docentenjubiläum, an welchem Ehrentage seine Freunde und Schüler eine Hase-Stiftung gründeten. Im Jahre 1877 war er der Vertreter der Universität Jena beim Jubiläum der Universität Tübingen – neben Eduard Zeller der gefeiertste Gast des Festes, an dessen Tafel Beiden die Plätze gegenüber dem König angewiesen wurden. Hase's Werke blühen noch – die Zeit, für welche er seiner Kirchengeschichte das Verstauben in Bibliotheken geweissagt, ist noch nicht gekommen. Die Niederschrift seiner Jugenderinnerungen, unter dem Titel „Ideale und Irrthümer“, wurde von den Händen der Gebildeten begierig aufgegriffen, und das größere Werk über das „Leben Jesu“, das er 1829 begann, erblickte nach länger als einem halben Jahrhundert doch noch das Licht. So trifft denn auch das Jubiläum des Antrittes seiner Jenaer Professur, in welches diese Darlegung seines Lebens und Wirkens hineinklingt, den wackeren Patrioten und Lehrer aller menschlichen Voraussicht nach im glücklichsten Familienkreise, in jener Frische und Rüstigkeit, welche bei dem Greise fast rührend anmuthet und welche noch heute die Ueberschrift rechtfertigt, die wir diesen Zeilen gegeben haben.




Thierbilder von nah und fern.
2. Nasenbären.
Von Gustav Mützel.


Bevorzugte Lieblinge des Publicums, welches die Besucher der zoologischen Gärten bildet, sind ohne Zweifel die Bären. Wer hätte nicht schon in früher Kindheit diesen komischen Gesellen seine Zuneigung geschenkt, wenn sie, vom vagirenden Zigeuner oder Slovaken geführt, zu Trommel und Querpfeife ihre täppischen Tänze ausführen, Purzelbäume schlugen oder gar im Verein mit Affe, Kameel oder Pudel ein drolliges Quatuor leisteten? Wer hätte nicht an den weiten Zwingern der zoologischen Gärten mit herzlichem Vergnügen die immer begehrlichen, kläglich brodheischenden, gravitätischen und doch im gegebenen Falle so flinken Pelzträger belacht, wie sie aufrecht sitzend wackeln oder auf den Hinterfüßen umherschwanken, den lüsternen Blick fragend nach oben gerichtet, ob ihnen Jemand etwas zuwerfe? Wer hätte nicht die ungemeine Gewandtheit bewundert, mit welcher der hochragende Kletterbaum bestiegen, auf ihm der zugeworfene Bissen gefangen und von ihm rücklings wieder hinabgerutscht wurde? Das sind die Hauptkünste dieser Gesellschaft – Grunzkämpfe um das eine oder andere entgangene Stück Brodes bringen aufregende Abwechslung in die Geschichte, und stundenlang sieht sich der harmlose Beobachter durch den Reichthum der wechselnden Scenen gefesselt. Diese Beobachtungen sind allbekannt und können gleichmäßig bei allen großen Arten der Bären gemacht werden. Weniger in’s Auge fallend und daher auch weniger beachtet ist das Leben und Treiben der kleineren Bärenarten, von denen der Waschbär und der Nasenbär oder Coati häufiger, andere, wie Winkelbär, Marderbär und Katzenbär, seltener zu Gesicht gebracht werden.

Die „Kleinbären“ theilen völlig diejenigen Eigenthümlichkeiten der „Großbären“, welche diese von den übrigen Raubthieren trennen. Kräftiger, gedrungener Körperbau, kurzer, dicker Hals, kurze Ohren, kleine Augen, nicht zu lange Beine mit fünfzehigen, kräftig bekrallten Füßen und nackten Sohlen, die in ihrer ganzen Länge beim Gehen benutzt werden, sind die gemeinschaftlichen äußern Merkmale der Familie; gegen den stummelhaften Schwanz der Großen ergiebt jedoch ein langer, buschiger Schweif auf Seiten der Kleinen einen bezeichnenden Unterschied. Hierzu kommt, daß die allgemeine Körpergestalt weniger formlos ist und sich bei einigen sogar zu großer Schlankheit umbildet.

Die Nasenbären, deren besonderer Betrachtung wir uns hier zuwenden, zeichnet vor ihren Sippschaftsgenossen der verlängerte spitze Kopf aus, an dem eine rüsselartige, über die Mundspalte verlängerte Nase mit fast platter Vorderfläche auffällt und den Namen des Thieres veranlaßt hat. Das beigegebene Bild überhebt mich der Nothwendigkeit, eine in’s Einzelne gehende Beschreibung hier folgen zu lassen; bezüglich der Färbung ist nur zu bemerken, daß ein Gemisch von Dunkelbraun, Grau und Schmutziggelbweiß am Körper vorherrscht, welches nach Kopf und Füßen zu in’s Schwarzbraune übergeht, während der Schwanz auf dunkel-rothgelbem Grunde schwarze Ringe und eine schwarze Spitze zeigt. Die Flecke neben Augen, Nase und Lippen sowie die Ränder der Ohren sind weiß.

Die hiermit im Allgemeinen beschriebene Art ist der Weißrüsselbär (Nasua leucorhyncha), welcher im Verein mit dem roth-braunen, dunkelgesichtigen Nasenbären (Nasua narica) in dem größten Theile Brasiliens heimisch ist. Farbenspielarten, vielleicht auch Uebergänge beider in einander, sind überall verbreitet, und so bewohnen Nasenbären das ganze Gebiet innerhalb der Wendekreise von Mexico an durch Mittel- und Südamerika, ja noch über den Wendekreis des Steinbocks hinaus bis südlich von Buenos-Ayres, die Ost- wie die Westküste berührend. An den meisten Oertlichkeiten sind sie so zahlreich vertreten, daß kaum einem Farbigen oder Weißen das Thier unbekannt ist, ja, daß man über seine Naturgeschichte allerseits wohl unterrichtet ist. Früher hielt man sich berechtigt, zwei Arten in anderer Weise zu unterscheiden, nämlich den geselligen Nasenbären (Nasua socialis) vom einsamen (Nasua solitaria Coati). Man fühlte sich dazu veranlaßt dadurch, daß neben Gesellschaften meist kleinerer Thiere einzeln lebende, bedeutend größere Exemplare angetroffen wurden. Es hat sich jedoch durch strenge Forschung herausgestellt, daß die Einsiedler nur alte Männchen sind, welche, an den Wanderungen des jungen Corps keinen Geschmack mehr findend, sich griesgrämig von der Familie trennen und ein einsames Leben führen, bis der anbrechende Liebesfrühling sie veranlaßt, sich mit dem Stamme wieder zu vereinigen.

Kaum ist das Frühroth am Himmel aufgestiegen, eben röthen sich die höchsten Gipfel der riesigen lianendurchschlungenen Morabäume, aus denen der Schmied und der Hämmerling mit weitschallenden, metallreinen Glockentönen die ersten Strahlen der Sonne begrüßen, so beginnen auch unsere Nasenbären ihr Tagewerk. Als echte Zigeuner haben sie keine stehenden Quartiere – wo die Nacht sie überfiel, gaben sie sich gestern Abend der Ruhe hin, und Baumhöhlen, unter Wurzeln vorgefundene Erdlöcher oder von Aesten gebildete Gabelungen dienten ihnen als ihren Bedürfnissen völlig entsprechende Lagerstätten. Durch akustische Signale wird die Vollzähligkeit der Truppe nachgewiesen und alsdann sofort die durch die Nacht unterbrochene Thätigkeit wieder aufgenommen. Es sind Trupps bis zu zwanzig Stück, die gesellig ihren Geschäften obliegen, ohne indeß Jagdzüge nach einhelligem Plane auszuführen: jeder arbeitet vielmehr auf eigene Rechnung. Grunzend, quiekend, schnarrend verfolgen sie ihre Straße, hier einen Wurm, eine Käferlarve, eine Schnecke, da Früchte oder Beeren irgend welcher Art auflesend. Mit Beharrlichkeit wird darangesetzt, die gewitterte Beute zu erlangen; die scharfen Krallen sind wohl geeignet, morsches Holz zu zerkratzen, um der Larve beizukommen, und Wurzeln zu unterwühlen, um den Wurm zu fangen. So wird denn gekratzt, gebohrt, gegraben, ab und zu in das erzielte Loch die lange Nase gesenkt und schließlich der erhaschte Wurm oder Tausendfuß mit lautem Schmatzen verzehrt, falls nicht etwa die Begehrlichkeit eines benachbarten Jagdcumpans einen Zweikampf um der Arbeit Lohn hervorruft. Das geht so den Vormittag hindurch. Endlich dringt der Mittag mit seiner Gluth auch durch das reichverfilzte, in schwindelnder Höhe wuchernde Laub hindurch, obschon dieses den Sonnenstrahlen selbst jeden Zugang zum feucht-warmen Urwaldsboden verwehrt. Da hält man’s denn an der Zeit, sich Ruhe zu gönnen. Die Bande sammelt sich mehr und mehr, passende Bäume und Bäumchen werden gewählt, und Jeder findet in kürzester Zeit ein wohliges Astplätzchen und überläßt sich nun dem süßen Nichtsthun.

[509]

Nasenbären-Familie.
Nach dem Leben gezeichnet von G. Mützel.

[510] In lang ausgedehnter Siesta läßt die Gesellschaft des Tages Hitze über sich hinwegziehen, bis der vorwärtstreibende, alle Welt bewegende Magen auch diese Schläfer wieder aufrüttelt und sie zur Weiterjagd und Weiterwanderung zwingt. Plötzlich tönt von der Spitze des Zuges her ängstliches, lautes Pfeifen. Ein Feind – ein Ocelot, eine Tigerkatze oder auch ein menschlicher Jäger ist gewittert, und sofort, in rasender Eile, stürmt die ganze Gesellschaft die zunächst stehenden Bäume hinan und zerstreut sich auf die weitausgreifenden Aeste, – von Baum zu Baum geht die Flucht weiter. Bei Verfolgung durch Thier oder Menschen springen die Coatis, falls die Noth sie zwingt, von den Endspitzen solcher Zweige, die keine weitere Verbindung zu anderen Bäumen haben, auf den Boden herab, hier kräftigst Reißaus nehmend. Dergleichen Sprünge werden aber nur in Verzweiflungsfällen gewagt; gewöhnlich bewegen die Thiere sich auf den Aesten mit großer Vorsicht, obwohl sie, wie man bei ihren Spielen im Gezweige bemerken kann, an Gewandtheit den Affen, Mardern und Katzen kaum nachstehen; sie klettern bedächtig kopfunten stammabwärts, um nach Bedürfniß einen andern Baum zu besteigen. Am Boden erscheinen ihre Bewegungen in der Ruhe schwerfällig und unbehülflich. Der hocherhobene, kaum mit der Spitze übergebogene Ringelschwanz giebt diesen Geschöpfen aber etwas unendlich Possirliches.

Unter den Feinden der Nasenbären ist der Mensch nicht zum wenigsten gefürchtet. Weiße und Farbige stellen dem Coati mit gleichem Eifer nach. Erstere betreiben seine Jagd mit der Meute hauptsächlich als unterhaltenden Sport, obgleich nebenbei der Braten, welchen das Wildpret gewährt, vorzüglich der der jungen Thiere, ein ausgezeichneter ist, auch das Fleisch der Alten noch als sehr wohlschmeckend gerühmt wird.

Da es verhältnißmäßig leicht ist, in den Besitz lebender Nasenbären zu gelangen, sind sie häufig angetroffene Hausfreunde bei Weißen und Indianern, welche Letztere ja große Thierliebhaber sind. Die Anspruchslosigkeit des Coati unterstützt diese Liebhaberei ausnehmend. Milch, Früchte und Fleischabgänge sind ihm angenehme Nahrung. Man hält ihn nicht im Käfige, sondern mittelst Halsbandes und Riemens an einen Pfosten gebunden; niemals versucht er, die Fessel zu durchbeißen, und fügt sich überhaupt willig in jede Veränderung seiner Lage. Wiewohl er einen hohen Grad von Zahmheit erlangt, ja über ihm gewährte Liebkosungen die lebhafteste Freude äußert und seine menschlichen Freunde zum Streicheln und Ohrenkrauen zudringlich auffordert, wahrt er dennoch ganz entschieden seine Selbstständigkeit. Er spielt und tändelt nur, wenn es ihm genehm ist; er läßt sich hudeln und selbst am Schwanze ziehen, solange er dazu aufgelegt ist, empört sich jedoch offen mit kräftigem Gebiß und scharfen Krallen gegen jeden Zwang und schont selbst nicht im mindesten seine vertrauten Freunde. Hunde sind ihm sehr unsympathisch; meist schreitet er sofort ohne allen Grund zum Angriffe gegen solche, die sich in seinem Bereiche zeigen.

Wenn die alten Herren, die Einsiedler, sich wieder zum befreundeten Familienstamme begeben haben, kommt ein reges Leben in die ganze Genossenschaft. Nicht so leicht ist es, aus den Herzen der Weibchen die Neigung zu den auf langer Wanderschaft freundgewordenen jüngeren Männchen zu reißen; noch weniger wollen diese ihr wohlerworbenes Recht durch den alten Isegrimm, der sich so lange Zeit nicht um das Wohl und Wehe seiner Angehörigen gekümmert hat, beeinträchtigen lassen; da setzt es blutige Köpfe und Bälge. Ernsthafte Raufereien sind an der Tagesordnung, mit den ansehnlichen, keilförmigen, meißelscharfen Eckzähnen bringen sich die Kämpfer tiefe, klaffende Wunden bei, und lange schwankt der Kampf. Alle Gewandtheit, Kraft und Geschmeidigkeit wird aufgeboten, bis der Besiegte das Feld zu räumen gezwungen ist und der Triumphator die Vortheile des mühsam erworbenen Lorbeers genießt.

Mit dem October, der in Südamerika unserm gefeierten „wunderschönen Monat Mai“, dem Frühlingsideale, entspricht, erblicken die Jungen das Licht der Welt. In recht heimlichem Verstecke hat die Mutter eine Höhlung im modernden Baumstamm oder unter Wurzelwerk hergerichtet, wo ihre Kinder die erste Lebenszeit zubringen. Rasch erstarken sie und verlassen bald mit Mama den gastlichen Schlupfwinkel, ja so eilig haben sie's, sich dem Corps der älteren anzuschließen, daß manche, die man als Glieder des größeren Verbandes antraf, kaum ihre Schneidezähne erhalten hatten. Auch in der Gefangenschaft in Europa hat man öfter die Freude gehabt, junge Coatis zu züchten, doch sind dies nur sehr vereinzelte Fälle.

Besonders glücklich war der zoologische Garten in Breslau, dessen ausgezeichneter Leiter Dr. Schlegel wiederholt das Glück hatte, von seinen Pfleglingen Junge zu erzielen, die er auch glücklich auferzog. Er war es, der mich rief, an seiner Freude theilzunehmen, und reich lohnte das sich bietende Schauspiel den Ausflug. Im Angesichte der Familie schrieb ich meine Beobachtungen über sie für „Brehm's Thierleben“ nieder, an welche Darstellung ich mich im Nachfolgenden wesentlich halte.

Zehn Wochen waren die jungen Thiere alt, als ich sie besuchte; sie bewohnten einen geräumigen Käfig, der am Boden theilweise mit Stroh bedeckt war und einen reichgegliederten Kletterbaum enthielt. Die Alte ruhte auf der Fläche des Kreuzbeines, Rücken und Schultern in eine Ecke gelehnt, Beine und Schwanz mir entgegengestreckt. Lebhaft beschäftigte sie sich mit der Toilette ihrer fünf Kleinen, die, an ihren Zitzen hängend, sich dem behaglichen Genusse des Frühstücks hingaben. Fünf braungraue, birnenförmige Haarballen mit je einem hell und dunkel geringelten Schwänzchen, die strahlenartig von der Mutter als Mittelpunkt ausgingen, bildeten für Letztere ein so eigenartiges Geschmeide, daß es kaum noch des leise bewegten mütterlichen Hauptes bedurfte, um einen hochkomischen Eindruck zu erzielen. Mein Hinzutreten brachte bald Wechsel in das Bild; denn die Aufmerksamkeit der menschengewöhnten, spielgeübten Alten wandte sich mir zu. Neugierig erhob sie sich vom Lager und versuchte ihre Jungen abzustreifen. Die aber hielten fest bis auf eines, welches, da es noch schlaftrunken ihr vor den Füßen umhertaumelte, beiseite geschoben wurde; die anderen Beharrlichen schleifte Mütterchen unverdrossen auf dem Boden entlang bis zum Gitter des Käfigs. Erst nach längerer Zeit, als Mama schon längst angelegentlich meine Bekanntschaft gemacht und sich meiner Freundschaft versichert hatte, ließen die Kleinen von ihr ab, und da sie sofort in kindliche Schäkerspiele eintraten, gaben sie mir Gelegenheit zu umfassender Musterung. Von den Alten unterscheiden sie sich nur durch die Kinderformen der runden Köpfe mit den großen Augen und noch sehr kurzen Schnauzen, sowie durch kleine Füße und Schwänze; in der Farbe stimmen sie fast völlig mit jenen überein. Dennoch ist der Gesammteindruck ein durchaus anderer, und in einer Gruppe von fünf gleichgezeichneten, koboldartig sich tummelnden kleinen runden Gestalten wirkt die zierliche Farbenvertheilung im höchsten Grade komisch. Die glänzend schwarze Nase, welche fortwährend in schnüffelnder Bewegung ist, das verlängerte Gesicht, die von mehreren verschieden geformten weißen Flecken umgebenen, harmlos dummblickenden, glänzend schwarzen Perlaugen, die zackig braun und weiß gezeichneten Wangen, der hochgewölbte Schädel mit den vielbewegten Ohren, dazu der bärenartig rundliche Körper mit dem immer aufrecht getragenen Ringelschwanze bilden ein so absonderlich belustigendes Ganze, daß ich mich nicht erinnere, jemals drolligere Erscheinungen gesehen zu haben.

Um unserer neuen Freundschaft eine solide Basis zu verschaffen, hielt ich es für an der Zeit, Futter zu reichen. Eine todte Maus und bald darauf eine Ratte wurden von der Alten schleunigst acceptirt, in den Kopf gebissen, als sollte die Todte noch mehr getödtet werden, und vom Schwanz-Ende an verzehrt. Letztere Eigenthümlichkeit – andere Thiere beschließen gewöhnlich mit dem Verspeisen des Schwanzes ihrer Beute das Mahl – wurde mir vom Wärter der Thiere als constant bezeichnet. Daß die Alte die prächtigen Bissen für sich allein in Besitz nahm, war eigentlich ganz gegen meinen Wunsch und Willen, sowie auch gegen die lebhaft ausgedrückte Begierde der Kleinen. Wahrscheinlich wußte aber Mama besser, als ich, was ihren Kindern gut sei; denn energisch verweigerte sie ihnen Alles, schnarrte ärgerlich auf, stieß nach rechts und links die Jungen weg und schleuderte sie, als sie in ihrer Zudringlichkeit nicht nachließen, mit den Vorderfüßen seitwärts und hinter sich. Die Jungen rafften sich flink auf, umstanden die schmausende Alte voller Theilnahme und Begierde, die schnüffelnde Nase in ewiger Bewegung, sämmtliche fünf Schwänze in die Höhe gereckt und nur zuweilen mit deren Spitzen nach Katzenart kleine Kreise beschreibend – ein köstliches Bild jugendlicher Begehrlichkeit. Endlich war der saftige Braten verzehrt bis auf ein kleines Stück, das jedoch, um es den Kleinen vorzuenthalten, in einem diesen unerreichbaren Loche, einen halben Meter über dem Boden, niedergelegt und mittelst der langen beweglichen Nase

[511] in seinem tiefsten Grunde geborgen wurde. Darauf überließ die würdige Mama sich einer genußreichen Siesta, die auch von ihren Kindern nicht beeinträchtigt wurde, da diese durch einen andern Gegenstand vollauf beschäftigt waren.

Unbeachtet von der Alten, waren zwei Stückchen Rattenhaut übriggeblieben, und über diese dürftigen Reste der Mahlzeit fielen die Kleinen mit einem Eifer und einer Gier her, wie ich etwas Aehnliches nie gesehen. Es gab eine Balgerei, welche mir Lachthränen in die Augen lockte. Die fünf bunten Gesichter, die fünf wolligen Körper, die fünf ragenden Schwänze verwirren, überkugeln, verwickeln sich; die tölpelhaften Gesellen laufen, fallen purzeln über und durch einander, kollern auf den Dielen dahin, überklettern die geduldige Alte, steigen an dem Kletterbaume auf und nieder, und das Alles mit solcher Eilfertigkeit, daß man die größte Mühe hat, einen von ihnen bestimmt mit den Augen zu verfolgen. Einmal in Bewegung, versuchen sie sich auch in Künsten, denen sie unbedingt nicht gewachsen sind, klettern an dem Mittelstamme ihres Käfigs empor, fallen schwerfällig herab, versuchen es von Neuem, laufen auf wagerechten Aesten hinaus, kippen um, kommen nochmals in Gefahr, herabzufallen, halten sich mühsam an der Unterseite des Astes fest und setzen von hier den Weg bis zum Ende des Astes fort. Hier ist guter Rath theuer. Auf dem schmalen Steige umzukehren, erlaubt die Ungeschicklichkeit noch nicht – verschiedene Versuche fallen äußerst unbefriedigend aus – und so bleibt nichts anderes übrig, als zu springen: der kühne Kletterer läßt also die Vorderfüße los; er angelt mit ihnen nach dem Boden – endlich wagt er den Sprung. In demselben Augenblicke rennt aber zufällig einer der Brüder unter ihm hin, er fällt diesem auf den Rücken und schreit auf; ein dritter, welcher jenen verfolgt, bleibt erschreckt zurück, und die beiden durch Zufall Verbundenen setzen nun die Hetze ihrerseits fort. Am Ende blieben die beiden flinksten der Geschwister im Besitze der Hautstückchen. Die andern gingen bei Frau Mutter zu Tische und gewährten mir durch wechselnde Gruppirungen eine Reihe reizender Familienbilder.

Herrschen keine aufregenden Verhältnisse, so treiben es die Jungen durchaus wie die Alten. Bedächtig, wie alle Sohlengänger, schreiten sie im Käfige umher, untersuchen jedes tausendmal ausgekratzte Loch auf das Gewissenhafteste, sondern sich in Paare, spielen in lustiger Weise mit einander, rennen in einem drolligen Galopp hinter einander her, klettern am Baume in die Höhe oder steigen auf der Alten umher, welche ihrerseits mit unzerstörbarem Gleichmuthe alle Unbequemlichkeiten duldet und sich, obgleich sie nur selten zärtlich wird, dem Willen der Kinder unterwirft. Der Abend vereinigt das Völkchen im Schooße der Mutter, und das zuerst gezeichnete Bild gestaltet sich von Neuem, bis endlich die Alte, nachdem die Jungen ihrer Meinung nach sich gesättigt, auf die Seite sinkt und einnickt, gleichviel ob das kleine Volk noch an ihren Zitzen haftet oder nicht.




Blätter und Blüthen.


Ein Werk deutscher Kaufleute. Aus dem großen „Germanischen Nationalmuseum“ in Nürnberg, dieser allmählich so stolz erblühten Schöpfung des wissenschaftlichen und patriotischen Geistes, wird hoffentlich binnen Kurzem ein neuer Zweig sich hervorgebildet haben, eine Fach- und Specialsammlung von großem Interesse und unleugbarer Wichtigkeit für die Kenntniß unserer Cultur und ihrer Entwickelungsgeschichte: ein deutsches Handelsmuseum. Der Wunsch, dieser bisher nur schwach vertretenen Abtheilung des Instituts die ihr gebührende Vollständigkeit und Selbstständigkeit zu geben, war natürlich längst vorhanden, mußte aber einstweilen hinter andern Zwecken zurücktreten, besonders da Geldmittel dafür aus dem eigenen Besitze des Germanischen Museums nicht verfügbar waren. Erst im Herbste 1877 war man so weit, die Angelegenheit in Angriff zu nehmen. Ein Prospect, welcher nach mannigfachen Vorbesprechungen damals von der Leitung der Nürnberger Gesammtanstalt verfaßt, aber in Rücksicht auf die trüben Geschäftsverhälnisse erst im Frühjahre 1878 nach einzelnen Orten ausgesandt worden war, wendete sich zur Anregung der Theilnahme für das Vorhaben an die kaufmännischen Kreise, und es wurde diese vertrauensvolle Erwartung auch nicht getäuscht. Der Aufruf fand in den betreffenden Kreisen so schnelles Verständniß, so ermunternden Anklang, daß schon am 23. Januar 1879 im Saale der Nürnberger Handelskammer eine Versammlung stattfinden, auf gesicherten materiellen Grundlagen die sofortige Constituirung beschlossen und zur weiteren Organisation und Führung der Sache ein Comité erwählt werden konnte.

Dieses aus hervorragenden Kaufleuten und Industriellen bestehende Comité hat nun am Jahrestage seiner Begründung, unter dem 23. Januar 1880, seinen ersten Rechenschaftsbericht veröffentlicht, der einen glücklichen Fortgang des Unternehmens zeigt und das Zustandekommen desselben durch den rege sich bethätigenden Gemeinsinn des deutschen Handelsstandes kaum noch bezweifeln läßt. Es haben die Handelskammern und die diesen entsprechenden Collegien in Berlin, Bochum, Bremen, Düsseldorf, Fürth, Hamburg, Heilbronn, Köln, Königsberg, Leipzig, Lübeck, Magdeburg, Mainz, Mannheim, Nürnberg, Rastatt, Reutlingen, Ulm und Würzburg sich alsbald des Planes durch Uebernahme von Anteilscheinen an genommen, und es sind überhaupt von diesen Anteilscheinen à 50 Mark, welche die Stiftung ermöglichen sollen, bis jetzt schon 500 untergebracht worden, hauptsächlich in Berlin, Bremen, Frankfurt am Main, Fürth, München, Norden, Nürnberg, Prag, Stuttgart und Ulm. Das angesammelte Vermögen belief sich bei Abschluß der ersten Rechnung auf 19,631 Mark. Auch an mannigfach interessanten Geschenken – Werken für die Bibliothek, Geschäftsbüchern, Acten Tabellen, Formularen, Preiscouranten, bildlichen Darstellungen, Münzen, Maßen, Gewichten, Einrichtungen und Comptoirutensilien aus alter Zeit etc. – ist aus allen Gegenden Deutschlands für die projectirten Sammlungen schon eine erhebliche Anzahl eingelaufen, sodaß sich diese Gegenstände mit Einschluß der durch Ankauf erworbenen bereits auf tausend Nummern belaufen.

Dies Alles ergiebt einen Anfang, wie er im Verhältniß zu der überaus kurzen Zeit seit dem Erlaß der Aufforderung nicht besser gewünscht werden kann. Das vorgesteckte Ziel ist kein geringes: in einem eigenen Gebäude soll zum ersten Male eine möglichst vollständige Sammlung von Originaldenkmalen und Documenten zur Geschichte des deutschen Handels nebst Copien, Modellen und der entsprechenden Literatur vereinigt werden. Um dies in einer der Würde der Wissenschaft und der Ehre unseres Vaterlandes angemessenen Weise zu erreichen, bleibt im Laufe dieses Jahres noch Vieles zu thun. Gleichwohl ist im Grunde eine ausgebreitete Agitation für die Sache noch nicht in Gang gebracht worden, und noch sind deshalb in den Reihen der bisherigen Subscribenten sehr viele bedeutende Handelsplätze gar nicht vertreten. Das ist der Punkt, auf den wir hiermit unter Verweisung auf den oben genannten, jedenfalls durch das „Germanische Nationalmuseum“ zu beziehenden Jahresbericht die Aufmerksamkeit lenken wollen. Möchten bald allenthalben alle Kaufleute dem hier und dort von ihren Berufsgenossen gegebenen schönen Beispiele folgen, und möchten dabei auch namentlich die Inhaber „alter“ Geschäfte es nicht versäumen, manchen bei ihnen unbeachtet in Winkeln vermodernden Gegenständen einen Ehrenplatz da zu verschaffen, wo sie, mit ähnlichem Material vereint, Tausenden als Anregung, Belehrung und Unterstützung bei ihren Studien und Forschungen auf historischem und wirthschaftlichem Gebiete dienen können! Wird nach allen diesen Seiten hin von Einzelnen wie von Corporationen der Sache die erforderliche Bereitwilligkeit entgegengebracht, so darf man mit Sicherheit auf die Verwirklichung des Gedankens hoffen, daß das deutsche Handelsmuseum in einer unserer Nation würdigen Gestaltung an das Licht treten werde, nicht allein als ein Denkmal der früheren Größe und heutigen Blüthe des deutschen Handels, sondern auch als eine Schöpfung, die Zeugniß giebt von der Empfänglichkeit des gegenwärtigen deutschen Handelsstandes für eine tiefere Erfassung seiner Berufsthätigkeit und ihrer idealen Zusammenhänge. Daß auch dem Buch- und Kunsthandel mit allen seinen Zweigen in dem neuen Museum ein hervorragender Platz angewiesen ist, versteht sich von selbst.




Ein absterbender Gebrauch. Bekanntlich gabt es auch in Deutschland „Saisons“ für Badereisen, Sommerfrischen, Theaterbesuch, Bälle etc. Des Landmanns „Ballsaison“ liegt zwischen beendeter Ernte und beginnendem Winter und heißt – Kirchweihzeit (rheinisch: Kerrwĕzeit; „Kerrwĕ“ Mehrzahl von „Kerrb“).

Etwa bis zum Jahre 1848, das den Landmann modernisirte, war am Mittelrheine die Kirchweih das einzige Vergnügen in großem Stile, das jener sich das Jahr über erlaubte; denn da sah er „Fremde“, das heißt außerhalb des Dorfes wohnende Verwandte und Freunde bei sich. Wehe ihm, wenn er Einen oder gar Eine zu laden vergaß! Das geschah jedoch schon aus Klugheit nicht leicht; denn waren viele Freunde geladen, so war auch sichere Aussicht vorhanden, wieder an viele Orte geladen zu werden, so zwar, daß die Einladung zur heimischen Kirchweih unter Umständen Einladungen zu allen Kirchweihen in mehrstündigem Umkreise zur Folge hatte. – Die Freunde kamen am Kirchweihsonntagmorgen auf zweirädrigen Karren; großstreifige, mächtige Bettkissen lagen auf den Sitzen, um die gewaltigen Stöße des sprungfederlosen Gefährts einigermaßen zu brechen.

Das Kirchweihfest war (und ist vielfach noch) zusammengesetzt aus der „Vorkerrb“ und der acht Tage später folgenden „Nachkerrb“; die erstere währt drei volle Tage und – nicht zu vergessen – Nächte, vom Sonntag ab gerechnet, die letztere nur einen Tag und eine Nacht.

Während der „Kerrwĕwoch“ hatten die Häuser innen und außen einen neuen Anstrich in meist augenfälliger Farbenzusammenstellung erhalten. Kirchweihsamstag war der bewegteste Tag. Er gehörte durchaus dem weiblichen Theile. Dieser putzte im ganzen Hause unter vieler Wasserverschwendung; das Geschirr ward blank gerieben und in der Küche geordnet, Alles ward zu unterst und oberst gekehrt, daneben aber wurden Kuchen gebacken, eine unendliche Zahl, zwanzig bis fünfzig Stück je nach der Stärke der Haushaltung und des geladenen Besuches, die meisten von Quadratmetergröße. Oft kam man erst spät in der Nacht damit zu Ende. Dann ward noch der Fußboden gescheuert und mit Sand bestreut, dieser auch in schöne Muster gestrichen.

Samstags war zu Hause nicht gut sein. Deshalb zog sich der [512] männliche Theil des Nachmittags in die Wirthshäuser zurück, um Kegel zu schieben und den Wein zu probiren.

Der junge Theil männlicher Einwohnerschaft hatte daneben noch eine besondere Aufgabe: er mußte die „Kerrb“ vergraben. So hieß bildlich eine Flasche Wein, die man an verborgenem Ort in die Erde grub, in der Nähe des Dorfes, vorsichtig, heimlich, damit nicht Schalk und Dieb sie des Nachts auffinden und leeren konnten. Kirchweihsonntagnachmittags um drei Uhr feierte sie schon lustige Auferstehung; früher soll sie von einer Kirchweih zur andern haben warten müssen.

Abgeholt ward die „Kerrb“ unter Vorantritt der Musik, welche bei dieser Gelegenheit „besonders gut“ spielte, weil blos Blechinstrumente thätig waren. Ein Bursche folgte ihr – oder vielmehr: er hüpfte hinter ihr im Tacte, von einem Bein auf das andere springend und unter zeitweiliger vollständiger Drehung um die Längsachse seines Körpers und beständigem Jauchzen; seine Hände bewegten eine Stange im Tacte auf und ab, an deren Spitze ein bändergeschmückter Kranz befestigt war. Vor lauter Lustigkeit war der Träger alsbald heiser. Das schadete aber nicht; denn große Heiserkeit galt als Zeichen größter Heiterkeit, nicht allein beim Kranzträger. Diesem folgten die Burschen in Reih und Glied nach, unter weniger anhaltendem Jauchzen, weil sie doch von Zeit zu Zeit aus dem nebenher getragenen Viertelkruge die Gläser sich füllen lassen und sie dann austrinken mußten, wodurch jedesmal eine Pause entstand. Dem Zuge schloß sich die Jugend, schrillstimmig und vielstimmig, an. War man am Orte, wo die „Kerrb“ vergraben lag, angekommen, so ward diese unter passenden Reden dem kühlen Schooße der Erde entnommen und an die Spitze der Kranzstange erhöht. Darauf kehrte der Zug in umgekehrter Ordnung und noch lauter seiner Freude Ausdruck gebend zum Wirthshause zurück, der Bursche mit der „Kerrb“ voran, dann die Andern, zuletzt die Musik und die Schuljugend.

Zum Schlusse der symbolischen Handlung ward der Kranz mit der Flasche an der Tanzsaaldecke befestigt, worauf die Muse Terpsichore erst ihre Herrschaft antreten durfte. Und über's Jahr ließ man sie wieder auferstehen. Bis dahin aber zählte man die Wochen, die noch verfließen mußten, ehe ihre Herrschaft wieder begann.

Das war „dazumalen“, als auf dem Lande nur auf Kirchweihe getanzt ward. Heute giebt es auch hier, öfters als gut, Sängerbälle, Kriegerbälle, Fahnenweihbälle und „abonnirte“ Bälle nach Belieben. Die „Kerrb“ wird am Rhein aber bald weder mehr vergraben noch abgeholt werden.
Dr. J. Herm. Baas.




Es ist ein räthselhaftes Leid – –


Es ist ein räthselhaftes Leid –
Vielleicht empfindet's ähnlich so
Der Vogel, der zur Ferne weit
Aus seinem Heimathswalde floh

5
Und der zum Ort, der ihn geboren,

Auf irrem Flug die Spur verloren.

Mir ist, als sei im Weltenraum
Noch eine andre Heimath mein;
Sie spinnt mich heimlich oft im Traum

10
In ihre fremden Wunder ein,

Läßt mich der Götter Antlitz schauen
Und stirbt dahin im Morgengrauen.

Wer hat aus jenem Himmelsland,
Dem Land des Glückes und der Ruh,

15
Mich fort in diese Welt gebannt?

Wer schloß mir jene grausam zu?
Waldvöglein du, das sich verflogen,
Wir haben gleiches Loos gezogen.

Du singst das Herz mir seltsam weich;

20
Ich fühl's – es wohnt mein eig'ner Geist

Im Liede, das dein Himmelsreich
Halb jubelnd und halb schluchzend preist.
Des heimwehkranken Sängers Schmerzen –
Sie nisten auch in deinem Herzen.

25
Ich weiß, ich sang gar manches Jahr

Kein Lied aus frischer, freier Brust,
Und heute bricht es wunderbar
Sich wieder Bahn in Schmerz und Lust.
Ich sing' empor – du singst hernieder;

30
Gott Lob: Wir haben beide Lieder.
Helene von Götzendorff-Grabowski.




„Die lichten Nächte.“ Ein Freund der „Gartenlaube“ in Waltershausen theilt uns seine Beobachtungen über eine seltene Erscheinung bei Nacht leuchtender Nebel mit, die wir im Folgenden wiedergeben. Derselbe schreibt:

„Ist wohl einem der wissenschaftlichen Naturfreunde die eigenthümliche Erscheinung aufgefallen, welche ich, um derselben nur überhaupt einen Namen zu geben, 'die lichten Nächte' nennen möchte? Ich meine nicht die bekannten hellen Nächte vor und nach der Sommer-Sonnenwende, in welchen einige den Rand unserer Atmosphäre noch erreichende Sonnenstrahlen einen schwachen Reflex bis zur Erdoberfläche gelangen lassen und bei hellem Himmel selbst der Mitternachtsstunde einen schwachen Dämmerungsschimmer verleihen; ich meine eine andere Erscheinung, welche ich, unterstützt durch meinen seit Jahren sehr unvollkommenen Schlaf, von Zeit zu Zeit, wenngleich nicht gerade häufig, beobachtet habe. Es sind dies Nächte (respective Nachtstunden), in welchen jede Quelle von atmosphärischer Beleuchtung (als Mondschein, Sonnendämmerung, Sternenlicht, Nordlicht etc.) ausgeschlossen und dennoch eine eigenthümliche, mir in ihrem Ursprunge nicht erklärliche Helligkeit über Himmelsgewölbe und Erdoberfläche verbreitet ist. – Ich will als Beispiel die letzte meiner diesfälligen Beobachtungen anführen.

Es war in der Nacht vom 6. zum 7. November 1877. Etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht erwachend, nahm ich sofort das Vorhandensein der erwähnten abnormen Nachthelligkeit wahr, stand auf, um mich über die allgemeinen atmosphärischen Verhältnisse zu orientiren, und fand Folgendes: Temperatur: + 9½° Réaumur, Barometer = 766,0 Mm., Wind: lebhafter, jedoch nicht stürmischer WSW., Himmelsbedeckung: eine allgemeine, ununterbrochene, nebelähnliche Verschleierung ohne Wolkenformen, welche nicht allzu dicht zu sein schien, jedoch keinen einzigen Stern durchscheinen ließ. Der Feuchtigkeitsgehalt der Luft schien (ich habe kein hygroskopisches Instrument) nicht mehr als ein mittlerer zu sein. Regen hatte in den vorhergehenden wie nachfolgenden Tagen nur wenig stattgefunden. Der Mond, ohnehin eine kaum sichtbare Sichel, war seit 6 bis 7 Stunden untergegangen. (Neumond war am 5. November Vormittags 9 Uhr 30 Minuten gewesen.) Es waren demnach alle Verhältnisse gegeben, um eine sogenannte 'rabenschwarze' Nacht zu schaffen. Trotzdem war das ganze Himmelsgewölbe von einer eintönigen, blassen, an Phosphorescenz erinnernden Helligkeit in allen Richtungen und Höhen gleichmäßig bedeckt, sodaß erhabene Gegenstände, besonders Dachfirsten, in mäßigen Entfernungen, in welchen von denselben Gegenständen bei wirklich dunkeln Nächten keine Spur von Umrissen sich erkennen ließ, sich mit einer unverhältnißmäßigen Deutlichkeit hervorhoben.

Hier würde, unter den oben angeführten Verhältnissen, nur noch das Nordlicht als die etwaige Quelle der sonderbaren Nachthelligkeit anzunehmen sein, aber ich kann daran nicht glauben wegen der, wie erwähnt, nach allen Richtungen und Höhen hin vollkommen homogenen, dabei gänzlich farblosen Helligkeit. Ich beobachtete in genannter Nacht die geschilderte Erscheinung etwa zwei Stunden lang, worauf ich, da sich keine merkliche Aenderung zeigte, mich dem Schlafe überließ.

Auf Erscheinungen, wie die hier geschilderte, bin ich seit etwa fünfzehn Jahren aufmerksam geworden. Es mögen in diesem Zeitraume mir dergleichen ungefähr fünf bis sechs vorgekommen sein. Doch hat erst diese zuletzt beobachtete meine Aufmerksamkeit so weit gespannt, daß ich das Betreffende zu notiren für gut fand, was ich bei den früheren Fällen leider nicht gethan hatte.

Eine genügende Erklärung der besprochenen Erscheinung vermag ich nicht zu finden. Vielleicht zieht dieselbe das Interesse der Naturforscher auf sich.“

Wir können Obigem einstweilen nur die Bemerkung hinzufügen, daß dieselbe Erscheinung auch von Anderen bereits beobachtet worden ist, so z. B. 1743 mitten in einer Neumondnacht, wo man Gegenstände in 600 Fuß Entfernung deutlich erkennen konnte. (Humboldt's „Kosmos“ I., Seite 146.) Die Ursache ist noch, wie Plinius sehr schön von einem anderen Phänomene sagt, „in der Majestät der Natur verborgen“.




Verschwunden! Ein Secundaner der Realschule zu Düsseldorf, Eduard Daelen, 17 Jahre alt, ist seit Sonnabend den 14. April nirgends zu finden, trotz der rastlosesten Nachforschungen der trostlosen Eltern und der Behörden. Der Vermißte hat eine Größe von 1,83 bis 1,84 Meter, blondes Haar, blaue Augen, frische Gesichtsfarbe, etwas starke Nase, trägt eine dunkelgraue Jacke, braungestreifte Hose, ein schwarzes Hütchen und in der Weste eine silberne Ankeruhr mit Stahlkette. In einem solchen Falle ist auch die schlimmste Nachricht besser, als gar keine.



Kleiner Briefkasten.

A. Br. in L. und Andere. Auf Ihre Anfrage, wie man in den in Nr. 26 dieses Jahrganges geschilderten Hasbruch gelange, erwidert Ihnen der Verfasser des betreffenden Aufsatzes, Herr F. Lindner, Folgendes: Ausgangspunkt ist Bremen; die Tour selbst ist eine Tagespartie und zwar entweder von Bremen ab per Wagen über Delmenhorst nach Falkenburg, wo man einen Führer nimmt, oder von Bremen per Eisenbahn bis zum Haltepunkt Gruppenbühren (Oldenburger Bahn), von da zu Fuß durch den Wald nach Falkenburg; der Rückweg ist am besten nicht wieder nach Gruppenbühren, sondern nach Hude einzuschlagen, wo man die interessante Klosterruine in Augenschein nehmen und per Bahn nach Bremen zurückkehren kann. Bei der letzteren Tour muß man allerdings von Falkenburg aus wieder zurück nach dem Hasbruche, den man zum Theil auf dem Heimwege durchschneidet, aber es ist theils wegen eines leicht möglichen Verirrens zu bedenklich, theils wegen der Unkenntniß der schönsten Stellen zu undankbar, den Wald ohne Führer zu betreten. Bei der Wahl des letzteren muß man sich auch zuvor versichern, daß er das Terrain genau kenne.

R. P. in Metz. Geben Sie Ihrer Melancholie keinen Raum! In Arbeit und heiterm Lebensgenuß bietet sich Ihnen ein Mittel zur Bekämpfung trüber Stimmungen von dem Sie ohne Zweifel sehr bald sagen werden: Probatum est. Wozu all den trüben Möglichkeiten, welche uns das Gebiet erblicher Krankheiten erschließt, nachhängen? Es giebt kein thörichteres Thun; denn – wir können es Ihnen zur Beruhigung sagen – trotz der Behauptungen Ihres leichtfertigen Zeitungscorrespondenten ist nichts so willkürlich, so trügerisch, wie diese sogenannten Wahrscheinlichkeitsrechnungen in Betreff erblicher Krankheiten.

Alter Abonnent in T. b. L. Nach Auskunft von Fachmännern giebt es für Fälle, wo der Betreffende schon so weit über die Zeit der Erziehungsfähigkeit hinaus ist, auch keine Erziehungsanstalten, sondern nur öffentliche „Besserungshäuser“, weshalb sechs Jahre früher das Leipziger Pestalozzi-Stift für den Betreffenden zu empfehlen gewesen wäre; jetzt ist's dazu zu spät. Doch ist auf eine Anfrage dort ein guter Rath sicher.

Filomene in Wien. Wegen mangelnden Raumes leider unmöglich.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.