Die Gartenlaube (1880)/Heft 43

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 43.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.




Schwester Carmen.
Aus dem Leben einer deutschen Herrnhuter-Colonie.
Von M. Corvus.
(Fortsetzung.)


Schwester Agathe eilte hinaus.

„Freue Dich, liebe Carmen!“ sagte sie draußen. „Ein Bruder ist angekommen, welcher Dir endlich Kunde bringt von Deinem Vater, der noch lebt,“ und sie hatte erregter, als sonst ihre Art war, Carmen nach der Thür des Sprechzimmers geführt.

Zitternd überschritt diese die Schwelle.

Dort sah sie im hellen Licht der Lampe einen alten gebeugten Mann, der sich von seinem Platze nicht zu erheben vermochte; denn jetzt versagten ihm die Füße den Dienst; die Arme nur streckten sich der geliebten Tochter entgegen, und im nächsten Augenblicke lag sie an des Greises Brust. Den Blick dieser Augen hatte das Kind nicht vergessen, und sie las aus dem lieben Antlitz die theuren Züge sogleich wieder heraus. „Vater, mein lieber Vater!“

Von seinen Augen thaute es herab auf die Stirn des Mädchens; wie liebevoll waren die Töne, mit denen er wieder und immer wieder „mein Kind, mein Liebling!“ stammelte. Er empfand nun wieder die lange, schwere Jahre entbehrte Seligkeit des Besitzes in des Mädchens Umarmung. Dann bog er sanft ihren Kopf zurück und suchte in ihren reinen Zügen zu lesen.

„Ganz wie Inez bist Du geworden, Zug um Zug die Mutter wieder, wie ich sie damals unter den Palmen sah und liebte. So habe ich in Dir Euch Beide wiedergefunden,“ sagte er, und seine Augen strahlten glückselig unter Thränen.

„Und Du bleibst nun bei mir, lieber Vater? Du verlässest mich nicht wieder?“ fragte sie ängstlich.

„Ja, ich bleibe bei Dir, Carmen, in der alten, lieben Heimath, wo mir müdem Pilger wohl endlich Ruhe werden wird.“

„Armer Vater, wie viel magst Du gelitten haben bei Deinem fernen, schweren Werke! Einsam, ohne Hülfe und Beistand bist Du gewesen. Keiner von denen, die Dich suchten, konnte Dich finden; Niemand wußte von Dir,“ sagte Carmen und strich liebevoll mit der Hand über die braune, gefurchte Wange hin. „So völlig verschwunden, wie Du warst, haben Alle Dich für todt gehalten; nur mein Herz wollte nicht daran glauben. Warum doch hast Du nie eine Kunde von Dir gegeben?“

„Wohl gab ich eine, aber sie drang nicht zu Euch, mein Kind,“ entgegnete er. „Sieh, ich war am Ganges; dann aber ging ich höher hinauf nach dem Norden, um durch die Schluchten des Himalaya zu dringen. Dort ergriffen mich die Heiden und hielten mich als Sclaven gefangen. Jahrelang habe ich ihnen dienen müssen in niedriger, knechtischer Arbeit, und mein müder Rücken, oft zerschlagen von ihren Streichen, hat nur die steinige Erde zum Pfühl gehabt. Endlich glückte es mir doch, auf einem Pferde zu entweichen und in die mongolischen Steppen zu gelangen. Dort bin ich zwei Jahre mit den Nomaden umhergezogen, habe ihr Wanderleben getheilt, mit ihnen ihre Heerden gehütet, ihre einfachen Arbeiten verrichtet und dabei versucht, das Evangelium in ihre Herzen einzuführen. Aber in mir wogte die Unruhe, und die Sehnsucht drängte mich heim. Da habe ich den Wanderstab ergriffen und bin durch Sibirien gezogen in das russische Reich, immer zu Fuß, arm und mich durchbettelnd von Ort zu Ort, ich, der ich Hunderttausende besitze – bis ich endlich, zum Tode erschöpft, mit zerfetztem Kleide und zerrissenen Schuhen Sarepta erreichte. Dort wollten mich die Brüder behalten und pflegen, bis ich mich wieder stark und kräftig fühlte. Doch die Sehnsucht litt mich nicht dort. Nachdem ich einmal Europa erreicht hatte, schien es mir, ich stehe an der Schwelle der Heimath, und es trieb mich rastlos dorthin. Ich erbat mir von den Brüdern ein Darlehn, damit ich nun weiter fahren könnte, und sie statteten mich mit neuer Kleidung aus. Aber ich erkrankte auf der Reise, mußte in einem polnischen Städtchen liegen bleiben, und da meine Baarschaft hierdurch erschöpft wurde, habe ich die letzte Strecke bis hierher wieder durchwandern müssen. Nun ist Alles gut, da ich doch endlich hier bin, und das Ruhen wird hier köstlich sein,“ schloß er, befriedigt lächelnd, seinen traurigen Bericht.

Agathe war inzwischen wieder hereingekommen und hatte Erfrischungen für den Erschöpften gebracht. Welch eine süße Lust für den Wandermüden, diese erste Mahlzeit unter den Augen der Tochter, in den traulichen Wänden des alten, geliebten Heims! Und wie viel wußte er noch zu erzählen, während er sich an Speis' und Trank labte, von den Abenteuern und Wundern der Ferne! Spät erst, gekräftigt durch das wohlschmeckende Mahl und die tröstliche Nähe seines theueren Kindes, sagte er Carmen und Schwester Agathe „Gute Nacht!“ und begab sich in's Gemeinlogis, um sein Lager aufzusuchen. – – –

„Weißt Du es schon? Der Todte, der Verschollene, Bruder Mauer ist wieder da.“ So fragte und tönte es am andern Morgen allerorten in der Colonie. Es war das große Ereigniß, das Alle beschäftigte und mit grenzenlosem Staunen erfüllte.

Gesehen hatte ihn aber heute noch Niemand außer Carmen. Er hatte bis nahe an den Mittag heran geschlafen, als müsse er [698] viele verlorene Ruhe nachholen, und die Tochter hatte den ganzen Morgen still an seinem Bett gesessen, damit beim Erwachen sein erster Blick auf sie fallen möge. Dann hatten sie gemeinschaftlich auf seinem Zimmer gespeist, sich vom Vergangenen erzählt und Pläne für die nun kommende glückliche Zeit entworfen. Er wollte sich hier ein Haus kaufen, in dem Carmen mit ihm wohnen werde; nichts sollte Vater und Kind wieder trennen.

Carmen's Herz klopfte so glücklich, so erleichtert, endlich den Vater wieder zu haben, eine Liebe, die ihr sicher gehörte und ihr immer Schutz gewährte. Auch gegen Jonathan's furchtbare Leidenschaft würde sie ihr ein Schirm sein. Sie ging im Stillen mit sich zu Rathe, ob sie dem Vater gleich von dem Geschehenen sagen dürfe; sie hatte zu schweigen gelobt, aber nahm der Vater nicht eine Ausnahmestellung ein? Sie konnte sich nicht klar darüber werden und vermied darum lieber ganz, Jonathan's zu erwähnen. Dieser war überdem seit einigen Tagen verreist, und sie hatte noch Zeit, zu überlegen und eine ruhigere Stunde abzuwarten, in welcher sie den Vater zum Vertrauten machen wollte.

Nachmittags gingen sie in die Andachtsstunde. Alle strömten in den Betsaal, Bruder Mauer dort zu sehen, von seiner Missionsarbeit, seinen Erlebnissen und seiner merkwürdigen Rückkehr zu hören. Dort saß er unter dem Wittwerchor, andächtig singend und die Augen gesenkt, als fühle er Aller Blicke, die sich nach ihm richteten, und wolle von ihnen in seiner Andacht sich nicht stören lassen.

Als der Gesang schwieg, gingen der Gemeinhelfer und der Lehrer auf Mauer zu. Sie begrüßten ihn mit herzlichem Händedruck, sprachen freundlich einige Worte zu ihm und führten ihn dann vor, damit er nun zu der Gemeine rede.

Er ging heute fester emporgerichtet, und das Stattliche seiner hohen Figur trat wieder mehr hervor als am Tage zuvor. Mit glücklichem Lächeln streiften jetzt seine Blicke über die Versammelten hin, als wolle er alle die Brüder und Schwestern begrüßen; viele unter ihnen waren ihm unbekannt, ja die meisten waren es wohl, aber Alle ihm doch lieb als Theile seiner Heimath und Gemeine.

So ging er zwischen seinen beiden Führern dahin, die Seele voll lang entbehrten Glückes – da öffnete sich noch einmal die Thür des Saales, und ein verspäteter Besuch trat ein – es war Bruder Jonathan Fricke. Er ging schneller als gewöhnlich, und seine Augen irrten suchend umher; vermuthlich hatte er schon von dem Wiedergekehrten gehört, und er eilte ihn zu sehen. In dem mittleren freien Raume des menschenerfüllten Saales stieß er auf die Drei; seine Blicke trafen auf die hohe Gestalt des alten Freundes; er streckte ihm die Hand entgegen und sagte mit gedämpfter Stimme:

„Stehen die Todten wieder auf, Bruder Michael?“

Mauer zuckte bei dem Tone dieser Stimme zusammen; seine Augen begegneten denen Jonathan's; sie weiteten sich wie in Entsetzen, Leichenblässe überzog sein Gesicht – er wankte.

„Du hier?“ stammelte er und – brach zusammen.

Eine allgemeine Aufregung folgte dieser Scene, aber man fand es recht begreiflich, daß die vielen Wiederbegrüßungen den Weitgewanderten und Erschöpften angreifen mußten; nun auch noch das so unvorbereitete Wiedersehen mit dem alten Freunde – es war wirklich zu viel für seine Kräfte gewesen. Man beklagte ihn lebhaft, und die Theilnahme für ihn wuchs nur um so höher.

Der Ohnmächtige mußte fortgeschafft werden, und Carmen folgte ihm in sein Zimmer im Gemeinlogis. Nach unausgesetzten Bemühungen schien er endlich wieder zur Besinnung zu kommen, und Carmen bat, daß man sie nun allein mit dem Vater lasse, damit er sich in Ruhe zu sammeln und zu erholen vermöge. Den Bruder Jonathan, der ihm seinen ärztlichen Beistand angedeihen lassen wollte, wies sie entschieden zurück.

Carmen setzte sich an das Lager des Vaters, und als er die Augen endlich wieder aufschlug und sich ängstlich im Zimmer umsah, flüsterte er:

„Kind, wer war das, den ich zuletzt im Betsaale gesehen und der zu mir sprach?“

„Beunruhige Dich nicht, lieber Vater! Es war ja Dein alter Freund, Jonathan Fricke,“ entgegnete Carmen, seine Hand wie beschwichtigend in der ihrigen haltend. Doch diese zuckte und fuhr zurück, als sie den Namen nannte.

„Ich wußte nicht, daß er wieder hier ist,“ sagte er fast stöhnend, als leide er sehr.

„Kann ich Dir mit nichts helfen, lieber Vater?“ fragte Carmen besorgt. „Hast Du Schmerzen?“

Er schüttelte verneinend den Kopf statt jeder Antwort und lag dann still da, die Augen geschlossen. Nach einer geraumen Weile sah er Carmen wieder an – trostlos und gramvoll. Er seufzte leise auf.

„Erzähle mir von ihm!“ bat er. „Er war doch in Bethlehem in Nordamerika – wie kommt er hierher, und seit wann ist er unter Euch?“

Sie erzählte lange und eingehend von Jonathan's Schicksalen, nur was sich zwischen ihm und ihr zugetragen, wagte sie bei der Erregung des Vaters nun gar nicht zu erwähnen. Als sie endlich schwieg, war es still geworden um die Beiden; nur eine Uhr tickte leise. Zuweilen drang ein tiefer Athemzug des Vaters an Carmen's Ohr; er hatte das Gesicht der Wand zugekehrt und lag regungslos da, sodaß sie meinte, er sei erschöpft eingeschlafen, und auch sie wagte nicht sich zu regen, um diesen wohlthätigen Schlummer nicht zu stören. Da seufzte er plötzlich leise auf und flüsterte vor sich hin:

„Die alte Geschichte, die immer noch nicht schlafen will! Liebe Heimath, mit Deiner süßen Ruhe war es nichts.“

„Was meinst Du, lieber Vater?“ fragte Carmen, sich über ihn beugend. Er hatte die Augen geschlossen. Lautlos sank sie auf den Stuhl neben dem Schlafenden zurück.




6.

Am andern Tage war Mauer noch so völlig erschöpft, so gebrochen von dem gehabten Anfall, daß er sich kaum von seinem Lager zu erheben vermochte. Und doch litt es ihn nicht dort; kein Zureden von Seiten Carmen's half; er stand auf und kleidete sich an, aber er vermochte nicht aus dem Hause zu gehen, und es war nöthig, daß er sich ruhig verhalte. Sie versuchte, so viel sie konnte, ihn durch heitere Gespräche von einer schweren, trübsinnigen Stimmung abzulenken, die ihn mit der Schwäche befallen hatte. Es tat ihr im Herzen weh, wenn sie heute in dieses unsagbar gramvolle Gesicht sah, das noch gestern so hell in süßer Freude geleuchtet hatte.

Um zehn Uhr am Morgen kam Jonathan, nach dem kranken Freunde zu sehen. Es war gut, daß Carmen am Fenster stand und ihn über die Straße herüber auf das Haus zuschreiten sah und dadurch den Vater auf den Besuch vorbereiten konnte; denn er schrak sichtlich zusammen, als sie ihm davon sagte. Aber er faßte sich bald und antwortete mit einem Lächeln der Ergebung:

„Laß ihn nur hereinkommen! Je früher ich all das Wiedersehen und Begrüßen abmache, um so eher gelange ich zur Ruhe. Ich muß mich doch wieder an das Frühere gewöhnen, was auch dazwischen liege, und es wird heute besser gehen, als gestern. Ich habe ihn nicht gesehen, seitdem Deine gute Mutter todt ist, Carmen, und es ist eine furchtbar schwere Zeit, die ich seitdem durchlebt habe.“

Sie wollte sich entfernen, um den Beiden das erste Beisammensein nicht zu stören; Mauer aber hielt sie zurück und bat: „Bleibe bei mir, Kind!“ als könne er ihrer Nähe nicht entbehren.

Jonathan trat ein. Er blieb einen Augenblick an der Thür stehen, und seine Augen flogen auf den Kranken hin, wie um dessen Gesichtsausdruck zu prüfen. Dieser saß erschöpft, in die Kissen des Sophas gedrückt und richtete die großen, eingesunkenen Augen fragend oder bittend auf den Eintretenden; es war, als wollten sie sagen: schone meiner!

„Guten Morgen, Bruder Michael,“ sagte Jonathan, „hast Du Dich wieder ein wenig erholt?“

Er hielt ihm die Hand hin, in welche der Andere die seinige zögernd legte, und als er sie dann wieder zurückzuziehen suchte, hielt Jonathan sie fest, indem er hinzufügte:

„Laß mich Dir gleich nach dem Pulse fühlen! Du siehst noch immer sehr angegriffen aus, und Deine Hand ist kalt wie Eis.“

„Ich danke Dir, Bruder Jonathan,“ sagte der Kranke, „ich denke, wenn ich nur ruhen kann, wird es am ehesten wieder gut mit mir werden. Ich habe Schweres getragen, lieber Bruder, und es hat mir die Schultern wund gedrückt; nun hat Gott mich doch wieder heimgeführt, und Euer Mitleid und Euer Erbarmen dürfte um das, was ich litt, wohl mit mir Aermstem sein.“

„Gewiß, lieber Bruder, es soll Dir auch werden. Freuen [699] wir uns doch Alle, daß der Herr Dich hat wieder heimkehren lassen, und preisen ihn dafür,“ antwortete Jonathan. „Aber ein Beruhigungsmittel werde ich Dir denn doch aufschreiben müssen, damit Du schneller wieder zu Kräften kommst. Und sprich heute nicht viel, berichte uns lieber später einmal von dem, was Du erlebt hast!“

Er kehrte sich bei diesen Worten nach dem jungen Mädchen um und blickte sie besorgt und forschend an, als wolle er ergründen, wie weit er ihrem Schweigen vertrauen könne. Sie hielt die Augen gesenkt und stand halb von ihm abgewendet da.

„Ich mache ihr den Vater wieder gesund, ja gewiß, wenn sie mich darum freundlich ansehen will,“ fügte er mit Betonung hinzu. Da schlug sie die Augen zu ihm auf; sie mußte ihn ansehen, obgleich sie nicht wollte; er beherrschte sie, trotz ihres Widerwillens.

„Wenn Du für das Wohlbefinden meines Vaters etwas thun kannst, so komme ich dabei gar nicht in Betracht, Bruder Jonathan; denn Du wirst es doch um Gottes- und um Deinetwillen thun,“ sagte sie ruhig.

Er setzte sich an den Tisch und zog ein Stück Papier hervor, worauf er ein Recept schrieb, und dieses Carmen hinreichte.

„Laß das bereiten, liebe Schwester,“ sagte er, „und gieb dem Vater nach Verordnung davon – es wird ihm wohlthun und ihn bald wieder kräftigen. Du weißt, Bruder Michael, meine Mittel sind wirksam.“

Ein eigenthümlicher Zug von Hohn zuckte um seinen Mund, als er so sprach, und Carmen, die das gewahrte, fragte sich erstaunt, wessen er wohl spotte? Ob ihrer Angst um den Vater, oder ob dessen Schwäche? Aber es war nur wie ein flüchtiger Blitz gewesen, und sein Gesicht hatte den gewohnten milden Ausdruck wieder angenommen, als er sich jetzt zum Gehen erhob und zu Mauer sagte:

„Adieu, Bruder Michael! Der Herr behüte Dich und gebe Dir baldige Genesung, damit Du Dich der Heimath erfreuen kannst.“

„Ich werde die Medicin gleich bereiten lassen lieber Vater,“ meinte Carmen erleichtert, als die Thür sich hinter dem Fortgegangenen wieder geschlossen hatte. Da gewahrte sie mit Schrecken, daß der Vater die Hände vor's Gesicht geschlagen hatte und daß große Thränen zwischen seinen Fingern hervorperlten. – – –

Tage waren seit jenem Besuche Jonathan's in's Land gegangen. Carmen's besänftigendem und erheiterndem Einflusse war es allmählich gelungen, das erregte Gemüth des Vaters zu beschwichtigen, so daß nach und nach eine ruhigere gleichmäßigere Stimmung über den Kranken kam und sein Befinden sich von Tag zu Tag besserte. Etwas Bedrücktes wich aber nie von ihm.

Dabei war seine Hand freigebig und immer gern bereit, mit seinen reichen Mitteln zu helfen und zu nützen, wo es in der Gemeine nöthig war. Für sich selbst bedurfte er außerordentlich wenig; die Entsagung aller Annehmlichkeiten und Genüsse des Lebens schien ihm zur andern Natur geworden zu sein – nur daß er Ruhe habe und ein Haus finde, in welchem er mit Carmen wohnen könne, war sein einziger Wunsch.

Es war gerade kein solches zum Vermiethen oder zum Verkauf in dem kleinen Orte frei, und so entschied er sich, nach seinen Wünschen selbst bauen zu lassen.

Inzwischen sah er sich nach einer vorläufigen Behausung um; denn er mochte nicht erst im Wittwerhaus Wohnung nehmen. Darum mietete er sich bei Andern in einem Zimmer ein; Carmen aber blieb noch wie bisher im Schwesternhaus, gab den Kindern einigen Unterricht und verbrachte den übrigen Theil des Tages bis zum Abend mit dem Vater.

Ihr hatte dieser die ganze alte Heiterkeit und Sicherheit zurückgegeben; denn in ihm sah sie ihren Schutz und ihre Stütze, ohne zu ahnen, daß eigentlich sie es war, welche den Vater stütze. Vor ihm wagte sie den natürlichen Frohsinn ihres Charakters ganz unbeschränkt hervorleuchten zu lassen, und er lächelte sie glücklich an, wenn ihre schöne Stimme einmal ein anderes als ein geistliches, ein lebensfrisches spanisches Lied trillerte, ihre Füße sich im Kreise zu drehen wagten und einen alten, halbvergessenen spanischen Tanz wieder versuchten, der wie ein Gruß aus tropischer Welt ihr aus Jamaica noch im Gedächtniß geblieben war. Oder sie liebkoste ihn mit ihrer herzgewinnenden, lebhaften Ausdrucksweise, als müsse sie die zurückgehaltene Zärtlichkeit der langen Jahre der Trennung nun über ihn ausschütten.

„Ganz wie Inez! Froh und heißblütig wie sie!“ konnte Mauer da bewegt ausrufen, und seine großen blauen Augen leuchteten in heller Freude über die Tochter hin. So gelang es ihr, die Wolken von seiner Stirn wenigstens momentan hinwegzuzaubern, und sie selbst war nie glücklicher, als wenn ihr dies gelang.

Aber seitdem Mauer wohler war, drängte sich Alles zu ihm. Die Jugendgenossen suchten den Zurückgekehrten auf; der Gemeinhelfer und die Vorsteher der Aeltesten-Conferenz wollten Bericht über sein Missionswerk bei den Mongolen haben, über den Cultus- und Religionszustand, den er bei den Heiden in Bengalen und am Himalaya gefunden hatte, und Mauer mußte in den Versammlungen öffentlich darüber sprechen.

Es konnte nicht fehlen, daß Mauer so zu einer gewissen Bedeutung in der Gemeine gelangte, und man sprach davon, ihm dieses oder jenes Amt übertragen zu wollen. Er aber bat mit eindringlichem Ernst, daß man daran nicht denken, vielmehr völlig von ihm absehen möge; er hatte eine wahrhafte Scheu, aus sich herauszutreten, und wo er genöthigt wurde, öffentlich zu sprechen, geschah es immer mit sichtlicher Selbstüberwindung.

Nicht einmal dem alten Freunde gegenüber wich dieses scheue Wesen von ihm.

„Eine sonderbare Freundschaft!“ konnte Carmen oftmals sich nicht enthalten zu denken, wenn sie die beiden Freunde beobachtete. Der Vater verlangte nie nach Jonathan, wie seine Sehnsucht überhaupt auf nichts als auf Carmen und auf Ruhe gerichtet war. In Jonathan's Gegenwart war er immer sehr erregt; etwas wie bittende Unterordnung sprach sich in seinem Verkehre mit dem Freunde aus, als sei er der Empfangende, Jonathan der Gewährende. Oft, wenn Jonathan mit ihm sprach, wechselte er plötzlich die Farbe, und dann lag es wie jäher Schreck auf seinem Gesichte. Oft klang es auch wie leiser Spott aus den Worten Jonathan's, und sofort senkte Mauer demüthig die Blicke.

Einige Tage nach seinem Ohnmachtsanfalle im Betsaale fragte ihn Jonathan, wie ihm die verordnete Medicin bekomme.

„Gut,“ entgegnete Mauer. „Ich fühle mich kräftiger.“

„Ich erwartete das,“ meinte Jonathan, freundlich lächelnd. „Fünfzehn Tropfen habe ich verordnet. Nun, auch zwanzig kannst Du davon nehmen – das wird nicht schaden – aber ja nicht mehr, lieber Bruder.“

Da sah Mauer bleich und verstört zu ihm auf und rang nach Athem, während Jener doch fortfuhr, ihn anzulächeln.

Und darum dachte Carmen: „Eine sonderbare Freundschaft!“ „Ich glaube, dem guten Vater geht es wie mir,“ sagte sie erklärend zu sich selbst; „er fühlt etwas wie den kalten Leib der Schlange an Jonathan, aber er wagt nicht, sich das einzugestehen oder sich dagegen zu wehren, da er ihn dennoch lieb hat – vielleicht auch das nur aus alter Gewohnheit von der Jugendzeit her.“

So gingen Wochen, Monate in's Land. Der Bau des Hauses war von Mauer in Angriff genommen worden; er trieb damit, denn es verlangte ihn, dasselbe möglichst bald beziehen zu können. Der Plan zu dem Hause war unter Anlehnung an den Stilgeschmack und die Raumverhältnisse der Hacienda auf Jamaica entworfen worden, in welcher einstmals Carmen's Mutter geschaltet hatte. Wie dort sollte das Haus von einer breiten Veranda rings umgeben werden, die in einen großen Garten hinabführt. Auf die Veranda sollten sich tiefgehende Fenster öffnen und an Stelle der Magnolien Platanen das Haus beschatten.

Aber von der Veranda mußten sie alsbald absehen; denn kaum war den Aeltesten der Plan zu Gehör gekommen, als der Gemeinhelfer bei Mauer erschien und ihm vorstellte, daß dies ein Abweichen von der Einfachheit ihrer Einrichtungen sei und der Colonie nur zu Aergerniß gereichen würde. Wer in der Colonie leben wolle, müsse schlicht und ohne alles Prunken an dem Hergebrachten halten und als ein demüthig Glied dem Ganzen sich fügen.

„Daß ich alter Mann doch mit thörichten Ideen Dir vorangehen mußte!“ sagte Mauer tief beschämt zu der Tochter. „Man bringt doch unbewußt viel von der Welt draußen mit heim, wenn man so lange fort war, wie ich es gewesen bin, und erst unter den Brüdern bemerkt man, wie viel davon Einem anhaftet. Das Aufgeben des eigenen Willens und Wünschens und das sich unterordnende Schicken in's Ganze, das vergißt sich so leicht und muß nun erst wieder gelernt werden.“

„Sie finden aber auch in so vielen Dingen hier ein Unrecht, [700] daß man es wirklich aufgeben muß, selbst zu denken, um nur in das Ganze zu passen,“ rief Carmen ungeduldig. „Den freien Geist schränken sie ein, und Jeder hört auf, er selbst zu sein. Gutsein, Vater, ist doch nicht ein automatenhaftes Nachahmen des Vorgeschriebenen, sondern ein freies Ergreifen des Rechten – erst wenn ich es selbst erwähle, mache ich es mir wahrhaft zu eigen.“

„Den freien Geist – was nennst Du so? Er ist doch so oft sein eigener Sclave, Sclave von Gelüsten, die den Begriff von Recht und Unrecht schwankend machen und uns oft genug das Heil der Seele kosten,“ entgegnete der Vater beunruhigt. „Darum verwirf nicht den Weg, den die Brüderkirche uns mit ihren Schranken vorzeichnet, und wandle ihn lieber still und ergeben, ohne zu grübeln oder Dich dagegen auflehnen zu wollen!“

So wurde aus dem mit so vieler Liebe geplanten Baue nichts als eines jener kleinen Häuser, wie sie hier die Reihen der Straßen bilden. Aber Carmen wurde das Aufgeben ihres mit so vieler Liebe und Freude entworfenen Planes nicht so leicht, wie dem Vater. Der Aufenthalt in Wollmershain hatte in ihr nicht neue Wünsche und Abneigung gegen das Althergebrachte erweckt, wohl aber hatte er in ihr vieles vertieft, was als heißes Verlangen oder als unwillkürliches Auflehnen gegen hier Bestehendes längst in ihr lag. Sie verehrte Frau von Trautenau außerordentlich, und alles in deren Art und dem Haushalte von Wollmershain war ihrer eigenen Natur ungemein sympathisch. So geschah es, daß, obschon sie nicht wieder nach Wollmershain gekommen war, sie doch viel in Gedanken daselbst verweilte und von Menschen und Dingen dort sprach.

Als sie so auch eines Tages von dem freien, ungebundenen und doch so harmonisch schönen Leben auf Wollmershain sprach, klangen durch die geöffneten Fenster Posaunentöne herein – man blies einen Choral.

„Wer ist denn gestorben, Carmen?“ fragte Mauer und horchte gespannt hinaus nach dem kleinen Platze vor dem Hause. „Ist das nicht das Sterbelied der ledigen Brüder? Ich erkenne den Choral wieder, wie ich mich aller unserer Sterbelieder erinnere. Wie oft doch, als ich unter dem Joche des Sclaven litt, habe ich gedacht, daß bei meinem Tode kein Sterbelied ertönen werde – nun werden die Posaunentöne doch auch den Brüdern es einmal sagen, wenn das Herz des alten Wittwer Mauer ausgeschlagen hat.“

„O Vater, daran darfst Du jetzt nicht denken!“ bat Carmen. „Der aber, für welchen das Lied ertönt, war der ledige Bruder Christoph Jäger, welcher gestern Abend gestorben ist. Er war unser Vertreter, der für uns ledige Schwestern im Gemeinrath spricht, und es muß nun ein neuer für uns gewählt werden.“

Diese Wahl erfolgte denn auch sofort. Die Aeltesten gaben ihre Stimmen ab über die, welche sie am geeignetsten für diese Stelle hielten. Die Meisten schlugen Bruder Jonathan Fricke vor, und als nun, wie üblich, über die Vorgeschlagenen geloost wurde, fiel auch, zu allgemeiner Freude, das gezogene Loos auf Bruder Jonathan. Niemand war dadurch befriedigter, als Schwester Agathe, die stets so gern auf Jonathan's Rath gehört hatte. Nun die Angelegenheiten ihres Chores nach außen hin seiner Umsicht und Weisheit, seiner Frömmigkeit und Bruderliebe anzuvertrauen, war ihr, als ob sie ihr Schiff der kundigen Hand eines sicheren Fährmannes übergebe.

Er selbst nahm das Amt demüthig und ergeben wie eine Pflicht an, welche der Herr ihm auferlege und welcher er auf dessen Geheiß sich unterziehen müsse, wenn er auch nicht würdig dazu sei und die Erfüllung ihm schwer werde. Aber bei aller Demuth seines gebeugten Hauptes hatte er doch etwas von einem Könige, dem man huldigt, als er von den versammelten Schwestern das Versprechen hinnahm: seiner Vertretung vertrauen und seiner Weisung folgen zu wollen.

(Fortsetzung folgt.)




Der Abschiedsabend Nordenskjöld's in Berlin.
Eine Plauderei von A. Woldt.


Selten wohl hat sich in der deutschen Gelehrtenwelt ein hervorragenderer Anlaß zur Versammlung wissenschaftlicher Capacitäten gefunden, als jene unvergeßlichen Tage des diesjährigen deutschen Anthropologen-Congresses zu Berlin vom 4. bis 12. August dieses Jahres ihn boten. Hunderte von Autoritäten auf den verschiedensten wissenschaftlichen Gebieten knüpften dort in persönlichem Gedankenaustausch dauernde Beziehungen des Geistes und des Herzens an. Von den beiden berühmtesten damaligen Gästen der deutschen Hauptstadt war der eine, Dr. Heinrich Schliemann, schon am zweiten Congreßtage, nachdem er in Gegenwart des Kronprinzen und der Kronprinzessin seinen von Begeisterung durchströmten Vortrag über Ilios gehalten hatte, wieder nach Leipzig zurückgefahren, um daselbst in täglich dreizehnstündiger Arbeit die letzte Feile an sein neues, mit zweitausend Illustrationen soeben erscheinendes großes Werk „Ilios“ zu legen; der andere, Baron von Nordenskjöld, verweilte in der behaglichen Gastfreundschaft des bekannten Mäcens Kaufmann William Schönlank volle acht Tage, vereint mit seinem berühmten Freunde und Lehrer, Professor O. Torell, dem schwedischen Geologen. Selbstverständlich beeilten sich die verschiedensten Kreise Berlins, den kühnen Polarforscher und Entdecker der nordöstlichen Durchfahrt zu feiern. Auf den feierlichen Empfang am ersten Tage im Festsaale des Berliner Rathhauses war das Schliemann-Nordenskjöld-Banket im Kaiserhof gefolgt; dann hatte das deutsche Kronprinzenpaar Nordenskjöld zur Tafel im Neuen Palais bei Potsdam eingeladen; weiterhin nahm er an verschiedenen Festen des Anthropologen-Congresses Theil, schließlich aber erhielt er vom Kaiser Wilhelm eine Einladung zum Diner in Babelsberg für Sonnabend den 14. August.

Somit sah es für Diejenigen, welche mit dem berühmten Erforscher der Polargegenden in engere, rein wissenschaftliche Beziehungen zu treten wünschten, nicht vielversprechend aus. Endlich bot aber doch der Abschiedsabend für derartige persönliche Anknüpfungen die erwünschte Gelegenheit.

Dr. G. Nachtigal, der berühmte Afrikareisende, ergriff mit einigen Freunden die Initiative, und Schönlank lud die gewünschte Anzahl von Herren zu einem – auf Wunsch der Betheiligten einfachen – Souper ein. Die Stunde vor diesem Feste hatte Nordenskjöld die große Güte gehabt mir zu einer Besprechung über die Polarfrage zu bewilligen, da es mir höchst wichtig erschien, die Ansicht dieses erfahrungsreichsten aller Polarforscher bei seiner Anwesenheit in Deutschland über diese auch unser Vaterland wie die ganze gebildete Welt in so hervorragender Weise interessirende Frage zu hören.

Es war kurz nach halb acht Uhr Abends, als Nordenskjöld am gedachten Tage von dem Kaiserdiner in Babelsberg nach Hause zurückkehrte. Obgleich sonst schweigsam, strömte unser nordischer Gast, noch voll von den Eindrücken, die er an der kaiserlichen Tafel erhalten hatte, doch über in Worte hoher Bewunderung für unseren greisen Monarchen, dessen imponirende Haltung, dessen in Folge der Reise gebräunte, blühende Gesichtsfarbe, sowie dessen Freundlichkeit und große Leutseligkeit er wiederholt hervorhob:

„Ihr Kaiser Wilhelm ist wahrlich ein großer Mann voll echter Majestät!“ rief er aus.

Uebergehend auf das Thema der Polarforschung betonte er zunächst, daß die Erreichung des Nordpols auf einem der bisher gewählten Wege unmöglich zu sein scheine. Hiermit documentirte er zugleich, daß ihm die Entdeckung des Poles selbst als das Endziel der Forschung gelte.

„Aber wie wird man denn einst den Pol erreichen?“

Nordenskjöld war aufgestanden und durchmaß das Zimmer.

„Man muß,“ sagte er, „der Erfüllung dieser Aufgabe ein ganzes Leben widmen. Wer dieses Ziel erreichen will, muß schon in seinen Jugendjahren sich an die Polarnatur und an körperliche Strapazen jeder Art gewöhnen. Eisern und kernfest muß seine Gesundheit sein; keine körperliche Anstrengung darf ihn so leicht erschüttern; er muß selbst jede Arbeit, die für den hohen Norden nöthig ist, gelernt haben und ausführen; er muß persönlich mit Hand anlegen, wo es Noth thut. Er mag zuerst Jahre lang in den arktischen Gegenden fischen und jagen, sammeln und forschen; das Leben in eisiger Polarnacht und hellem Polarsommer muß

[701]

Ein Abschiedsabend zu Ehren Nordenskjöld’s in Berlin. Originalzeichnung von C. Koch.

[702] ihm zur zweiten Natur geworden sein. Allmählich vorschreitend, überall die Terrainverhältnisse studirend, jedes Mittel der Wissenschaft, jede Erfindung der Technik und Industrie benutzend, so weit es angeht, wird ein solcher Polarforscher sicherlich zum Ziele gelangen; rechnen wir zur Lösung der Aufgabe auch ein volles Menschenalter – mit einer Schaar ähnlich geschulter Mannschaften wird ein solcher Führer nach dreißig Jahren der ernsthaftesten Vorbereitungen bestimmt den Nordpol erreichen.“

Nordenskjöld war wieder stehen geblieben.

„Ja, er wird ihn erreichen,“ wiederholte er noch einmal.

Es lag in diesen Worten des gefeierten Forschers eine rückhaltlose, umfassende Anerkennung der riesengroßen Erhabenheit der hocharktischen Natur und das Bekenntniß unserer eigenen bisherigen Schwäche, zugleich aber auch die feste, absolute Zuversicht, daß endlich doch des Menschen Geist und Energie alle diese sich ihm entgegenthürmenden Hindernisse der Natur überwinden werde. Mir fielen hierbei unwillkürlich die Worte ein, mit denen Virchow wenige Tage vorher in einer Congreßsitzung den Forscher begrüßt hatte: „Nordenskjöld ist jetzt Freiherr geworden, äußerlich; innerlich war er es schon lange.“

Die Idee, den Nordpol wirklich zu erstreben, ist bekanntlich in den letzten Jahren mehr in den Hintergrund gedrängt worden, und die gegenwärtig geplante neue Polarforschung stellt als Hauptaufgabe die Erforschung der physikalischen Verhältnisse der Polargebiete an bestimmten arktischen Stationen und nach einem gemeinsamen durch internationale Uebereinkunft festzusetzenden Plane aus. Natürlich steht Nordenskjöld vollständig auf dem Standpunkte dieser neuen Idee, wie er ausdrücklich bemerkte, als ich das Gespräch darauf lenkte. Aber seinem kühnen Muthe, der es so oft gewagt hat, mitten in die starren Eislabyrinthe des Nordens einzudringen, scheint es wenig zu entsprechen, wenn man von vornherein auf die Erreichung des höchsten Zieles, das der Nordpol immer bleiben wird, verzichtet.

Wir sprachen über den Antheil, welchen Deutschland bisher, dank der Opferwilligkeit seiner Bevölkerung, an der Lösung der Polarfrage genommen hat. Der Führer der beiden deutschen Nordpolexpeditionen, Capitain Koldewey, lebt bekanntlich gegenwärtig in Hamburg in der sehr geachteten Stellung eines Abtheilungsvorstehers der deutschen Seewarte. Auf ihn hinweisend, sagte Nordenskjöld:

„Ich liebe Koldewey sehr.“ Dann fuhr er fort: „Machen Sie immerhin von Deutschland aus noch eine Polarexpedition! Der Plan dazu muß gut ausgearbeitet werden.“

Das Gespräch wendete sich jetzt auf das schon seit Jahren von dem Capitain Cheyne in England geplante Unternehmen – das schon im vorigen, spätestens aber in diesem Jahre ausgeführt werden sollte – vermittelst dreier zusammengekoppelter Ballons den Nordpol zu erreichen und alsdann einige Tage weiter zu fliegen und in Petersburg zu landen. Wiederholt hatte ich in verschiedenen Zeitungsartikeln auf das Abenteuerliche dieses Planes, den unbegreiflicher Weise selbst Coxwell für ausführbar hält, hingewiesen. Nordenskjöld hält Cheyne für einen ehrlichen Mann, der wohl nicht die Absicht habe, zu täuschen, der sich aber vielleicht in seinen Voraussetzungen irre. Indessen – meinte er – könne man in einem Ballon immerhin große Strecken überfliegen, wohin man aber gelange und ob man landen könne, das hänge vom Winde und den localen Verhältnissen ab. Mittlerweile war die Zeit herangekommen, wo die Theilnehmer des Festes sich allmählich einfanden. Der freundliche Wirth, Herr Schönlank, und Professor Torell erschienen; ein Diener brachte einen Stoß Briefe, welche Nordenskjöld sofort durchflog; eine Dame, Frau Lina Morgenstern, gab für den gefeierten Forscher ein prächtiges Rosenbouquet nebst einem Verschen ab. Gegen neun Uhr waren die Gäste versammelt, die Einen in Frack und weißer Binde, die Anderen in einfachem Anzuge.

Von den Anthropologen sah man Virchow (vergl. das umstehende Bild; 6), ferner den verdienstvollen und liebenswürdigen Generalsecretär der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft, Prof. Johannes Ranke aus München (4), und den Reisenden Dr. Jagor aus Berlin (8); von den Geologen, welche in den letzten Tagen gleichfalls ihre Jahresversammlung gehabt hatten, war außer Professor Torell (9) und dem jungen Baron De Geer (14) vom Geologischen Bureau in Stockholm (Sohn des bisherigen schwedischen Staatsministers) noch der Director der Geologischen Landesuntersuchung des Königreichs Sachsen, Prof. Hermann Credner (5), von den Geographen Dr. G. Nachtigal (2), Präsident der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin, Dr. von Boguslawski (3), Sectionsvorstand der kaiserlichen Admiralität, und Dr. Güßfeldt (1), der Führer der Loango-Expedition, vom Centralverein für Handelsgeographie außer William Schönlank (12) noch Dr. Henry Lange (11) und Capitain-Lieutenant Darmer (10) erschienen; außerdem sind zu nennen ein in Berlin lebender Vetter des gefeierten Reisenden, Gerichtsrath von Nordenskjöld (13) und Herr F. d'Adelborg (15) von der skandinavischen Gesandtschaft. Einige Herren waren leider am Erscheinen verhindert worden, so Director A. Bastian vom königlichen Museum in Berlin, der erst einige Tage vorher von seiner so und sovielten ethnologischen Reise um die Welt zurückgekehrt war, und Andere. Die Unterhaltung nahm sofort jenen ungezwungenen feinen Ton an, der den deutschen Gelehrten so sehr auszeichnet; die Thüren zu den im prächtigsten Blumenschmuck prangenden Speisezimmern öffneten sich; ein kaltes Buffet, mit einfachen, schmackhaften Speisen besetzt, spendete Jedem seine Gaben, und bald saßen oder standen wir gruppenweise an besonders aufgestellten Tischen.

Welch eine kolossale Summe des Wissens und der Erfahrungen war in diesen wenigen Männern, die hier im lebhaften Gespräche ihre Ansichten über die verschiedenartigsten Dinge austauschten, verkörpert, und wie abwechselungsreich waren die Themata der einzelnen Unterhaltungen!

Hier berichtete Professor H. Credner über den Verlauf der an demselben Tage von der Geologenversammlung nach den Gletscherspuren in den Rüdersdorfer Kalkbergen bei Berlin unternommenen Excursionen, worauf Torell mittheilte, daß er in den nächsten Wochen seine im Jahre 1865 begonnenen Untersuchungen über die bei Rüdersdorf vorkommenden Gletscherspuren beendigen werde; dort theilte Virchow Einiges aber seine seitdem ausgeführte Reise durch Spanien zum internationalen Anthropologen-Congreß in Lissabon mit; hier wurde Nachtigal über die Fortsetzung seines Riesenwerkes „Sudan“ gefragt; dort gab Dr. Jagor aus dem unerschöpflichen Schatze seiner ethnologischen Studien und Erfahrungen eine Reminiscenz zum Besten, während Lange und Darmer im eifrigen Zwiegespräch handelsgeographische Angelegenheiten erörterten und J. Ranke einigen wißbegierigen Zuhörern Näheres über seine diesjährigen interessanten Höhlenuntersuchungen mittheilte.

Nordenskjöld war überall. Bald erzählte er Virchow, daß er am heutigen Tage die königliche Bibliothek in Berlin besucht habe, um die ältesten Ausgaben des Ptolemäus (des bekannten alexandrinischen Geographen und Astronomen im zweiten Jahrhundert nach Christo) kennen zu lernen; bald vertiefte er sich mit Boguslawski, Credner und Güßfeldt in die Theorie über die Entstehung der Erde. Er ist ein Anhänger jener Ansicht, nach welcher unser Planet im Laufe der seit seinem Entstehen vergangenen, unzählbaren Jahr-Billionen fort und fort durch zahllose feine Theilchen kosmischen Staubes an Größe zugenommen hat. Er erklärt diesen kosmischen Staub, von welchem man in den Polarländern und in Nordschweden auf dem Schnee wiederholt Spuren beobachtet haben will, für Verbrennungsproducte der Sternschnuppen und Meteore. Auch die Entstehung gewisser local beschränkter Gesteinsarten können vielleicht auf die Aufspeicherung solchen kosmischen Staubes zurückgeführt werden.

Weiterhin wendete sich das Gespräch auf die Frage der Veränderung der Lage vieler Gesteinsschichten. In Bezug hierauf erklärte Nordenskjöld gewisse complicirte Schichtenbiegungen, wie sie z. B. auf Spitzbergen vorkommen, als Resultat der Zusammenziehung der Schichten in Folge starken Temperaturwechsels.

Während dieses Gespräches war Dr. Jagor zufällig an denselben Tisch herangetreten. Nordenskjöld, welcher während seines Berliner Aufenthaltes für diesen ihm von früher her befreundeten Gelehrten die größte Hochachtung an den Tag gelegt und die berühmte „Indische Sammlung“ Dr. Jagor's im königlichen Museum studirt hatte, erhob sich sofort, holte selbst einen Stuhl herbei und offerirte ihm denselben. Die Unterhaltung wandte sich auch auf das neueste demnächst erscheinende Werk Nordenskjöld's über die Reise der „Vega“. Begreiflicher Weise ist die ganze gebildete Welt auf den Inhalt des Werkes höchst gespannt. Doch möchten sich Diejenigen, welche eine romanhafte Beschreibung erwarten, [703] etwas getäuscht sehen: „Ich bin zu alt, um Abenteuer zu beschreiben,“ sagte Nordenskjöld.

In dieser Weise zog sich die Unterhaltung hin, und die Diener hatten nach dem äußerst vortrefflichen Roth- und Weißwein Bier und schwedischen Punsch servirt. Da erhob sich der Gerichtsrath von Nordenskjöld aus Berlin und versammelte die Anwesenden um den großen Büffettisch, indem er auf den Gastgeber, Herrn Schönlank, einen Toast ausbrachte, den dieser mit einem solchen auf Nordenskjöld erwiderte.

Unter dem lauten Jubel der Anwesenden stand Nordenskjöld auf: „Ich danke Ihnen, meine Herren, für die großartige Art des Empfanges, den Sie mir bereitet haben, ebenso für Alles, was man hier in Berlin für uns gethan hat. Ich bin hier außerordentlich gut aufgenommen worden; die Behörden und Privatleute haben mir viel Ehre erwiesen; das Kronprinzen-Paar hat mich empfangen und heute auch der große Kaiser des Reiches. Die Berliner Tage werde ich nie vergessen; sie sind mir eine der schönsten Erinnerungen seit meiner Rückkehr von den arktischen Gegenden. Ich danke auch meinem Wirth, Herrn Schönlank, für seine zarte und unermüdliche Gastfreundschaft. Von Ihnen aber, meine Herren, trenne ich mich nicht für immer. So bald wie möglich werde ich zurückkommen, und hier in Berlin will ich dann längere Zeit ein ruhiges Leben mit meinen alten Freunden führen. Ein volles Glas unserm Wirthe Herrn Schönlank!“[1]

Mit großer Freude wurde dieses Hoch und diese unerwartete Nachricht aufgenommen. Dann erhob sich zu einem Schlußworte im Namen des Centralvereins für Handelsgeographie Herr Capitain-Lieutenant Darmer und sprach den innigsten Dank des Vereins dafür aus, daß Baron von Nordenskjöld die Bitte, Ehrenmitglied des Vereins zu werden, so bereitwillig erfüllt habe. Er erinnerte daran, daß Nordenskjöld nicht nur ein großer Entdecker, sondern auch ein Mann von bedeutendem praktischem Blick sei, der dem Handel bereits den Seeweg nach Sibirien eröffnet habe. In erster Linie haben die Hansastädte Deutschlands nicht gezögert, Schiffe und Producte nach Sibirien auszuschicken. „Herr Baron von Nordenskjöld wird in unserer Mitte stets Leute finden, welche nach Kräften seine Pläne zu fördern bereit sind.“

Hiermit waren die Reden beendet; die Mitternachtsstunde näherte sich; die Detailunterhaltung kam nicht wieder in Fluß. Jeder hatte dem berühmten Gast noch ein besonderes Abschiedswort zu sagen. „Schonen Sie sich! Sie sind es sich und der Welt schuldig!“ sagte Virchow mit ernster Stimme im Hinblick auf die neue Polarexpedition, welche Nordenskjöld in wenigen Jahren anzutreten gedenkt.

Bald darauf verließen wir das gastliche Haus; bereits nach wenigen Stunden aber, am frühen Morgen, fand sich ein kleinerer Kreis von uns wieder am Nordbahnhofe in Berlin zusammen. Nordenskjöld war ernst beim Abschiede; er unterhielt sich mit einigen Herren über Fritz Reuter, seine Lebensgeschichte, seine Festungshaft und seine Werke, indem er viele Fragen stellte. Dann brach er ab und in die Worte aus: „Es war doch wunderschön gestern Abend, meine Herren!“ – und damit erfolgte der Abschied.




Der Dom zu Köln.
Zum Weihefest eines deutschen Nationalbaues.
Von Dr. L. Ennen.
(Schluß.)


Die Stadt Köln konnte nicht zurück bleiben, wo es galt, den Ausbau des Gotteshauses zu fördern, in welchem die städtischen Schutzheiligen ruhten, und sich an der Ausschmückung und Vollendung der Perle aller deutschen Kirchen, des edelsten Kleinods deutscher Baukunst, zu betheiligen. Nachdem sie durch Stiftung eines eigenen Fensters, durch Erlaß eines großen Theiles der jährlichen Hafengebühren, durch bedeutende Beiträge zum Ankauf des im Interesse des Domes niedergelegten Lagerhauses auf dem Domhofe und des Krakamp'schen Hauses am Domkloster, durch Schenkungen von 15,000 Thaler für die Blei-Bedachung und durch bedeutende Zuschüsse zu den einzelnen Dombaufenstern von ihrem lebhaften Interesse für die Sache des Dombaues rühmliches Zeugniß abgelegt hatte, entschloß sie sich noch in jüngster Zeit zu einem Opfer von mehr als 50,000 Thaler, um die allseitige Freistellung des Domes zu ermöglichen. Schon in den vierziger Jahren war damit begonnen worden, die An- und Einbauten, welche den Dom einengten und verunstalteten, niederzureißen. So waren namentlich an der Nordseite unter anderm das Capitelhaus, neben und in dem Nordthurm die Küsterwohnungen, an der Südseite die Seminar-Kirche, das ehemalige Hohe Gericht, zwei Vicarhäuser, ein Zins- und ein Lagerhaus abgebrochen worden. Es erübrigte noch, an der Nordseite das alte Dompastorat, das Verwaltungsgebäude der Colonia, ein der Köln-Mindener Eisenbahn gehöriges Gebäude und endlich auf dem Domhofe das Local der Schulverwaltung niederzulegen. Dem Ernst und Tact des Ober-Bürgermeisters, Geheimen Regierungsrathes Stupp, gelang es, die desfalligen schwierigen Unterhandlungen zum glücklichen Ziele zu führen, und nachdem die Colonia, die Köln-Mindener Eisenbahn und das Domcapitel ihre Realitäten an die Stadt abgetreten, wurde von dieser Seite das Schulverwaltungsgebäude zum Abbruch käuflich erworben. Binnen Kurzem wird nun von allen Seiten ein freier, ungehinderter Anblick der herrlichen Domkirche ermöglicht sein.

Bei solcher allseitigen regen Betheiligung an dem großen Werke konnten die Arbeiten ungestört nach dem von dem Könige genehmigten Plane gefördert werden. Bis zum Jahre 1845 wurden die zerstörten Gewölbepfeiler und andere Mauerreste der Seitenschiffe in Stand gesetzt, die neuen Gewölbe in diesen Hallen eingezogen und die äußeren Umfassungsmauern so weit aufgebaut, daß die Bedachungen über den neuen Gewölben aufgelegt werden konnten. Drei Jahre später waren beide Portale sowie die Umfassungsmauern des Lang- und Querschiffes bis zur Höhe des ebenfalls eingespannten Nothdaches aufgebaut, sodaß am 14. August 1848, beim sechshundertjährigen Jubiläum der ersten Grundsteinlegung, die weiten Hallen des Langschiffes dem Gottesdienste geweiht werden konnten.

Nur mit unsäglicher Mühe gelang es, die Gefahr, welche der Fortführung des Baues durch die traurigen verwirrten Zeitverhältnisse im Jahre 1848 drohte, glücklich abzuwenden und die Bauhütte in Thätigkeit zu erhalten. Allmählich regte sich die Begeisterung wieder. So war es dem Meister möglich, den Bau so weit zu fördern, daß im Jahre 1854 sämmtliche kunstreiche Umfassungsmauern in Lang- und Querschiff vollendet dastanden und am 3. October des folgenden Jahres der Dachgiebel des neuen Südportals in Gegenwart des königlichen Protectors mit der Kreuzblume geschlossen werden konnte.

Von außen wurde der eigentliche Rumpf der Kirche durch die Eindeckung des eisernen Dachgerüstes über dem Lang- und Querschiffe des Domes vollendet. Die zusammen eine Länge von 720 Fuß messenden Dachflächen des Langschiffes und der beiden Querschiffe erhielten eine Bleideckung von circa 37,000 Quadrat-Fuß, deren Kosten größtentheils aus dem seitens der Stadt geleisteten außerordentlichen Beitrage von 15,000 Thalern bestritten wurden. Am 15. October 1860 setzte der Baumeister den goldenen Morgenstern auf der Spitze des 360 Fuß hohen kühnen eisernen Mittelthurmes auf. Es war dies das letzte Mal, daß Zwirner das Werk, dessen Vollendung der sehnlichste Wunsch seines Lebens gewesen, überschauen sollte. Am 22. September 1861 wurde er von dem Werke, an dem er achtundzwanzig Jahre lang mit so bewundernswerther Energie und Genialität gearbeitet, durch den Tod abberufen. An seiner Stelle übernahm sein langjähriger Gehülfe, Herr Landbaumeister Voigtel, die Leitung des Dombaues.

[704] Unter derselben wurden nach Vollendung der Strebesysteme und Gratbogen das Langschiff und die Querschiffe eingewölbt, das große Transept (Kreuzflügel) fertig gebaut, die Fenster des Langschiffes und der Querschiffe verglast, das Nothdach und die anderen Hülfsconstructionen entfernt, die Scheidemauer vor dem Hochchore niedergelegt und der ganze gewaltige, imposante innere Kirchenraum bis zur Thurmhalle völlig fertig gestellt. Hiermit war ein Hauptabschnitt in der Geschichte des Kölner Dombaues abgeschlossen. Die bis dahin aufgewendeten Kosten, von denen mehr als die Hälfte auf königliche, der Rest auf Dombauvereinsrechnung kam, beliefen sich seit Beginn der Thätigkeit des Dombauvereins auf 2,220,000 Thaler.

Der 15. October des Jahres 1863, der Geburtstag des ersten Protectors, Königs Friedrich Wilhelm des Vierten, wurde gewählt, um in einer würdigen Feier die Freude über die Erreichung dieses so lange und heiß ersehnten Zieles kund zu geben, und die überraschenden Ergebnisse, welche eine einundzwanzigjährige Bauthätigkeit geliefert, gaben der Ausdauer, Energie und Opferwilligkeit, mit welchen die Sache des Dombaues betrieben worden, das glänzendste Zeugniß. Diese Ergebnisse trugen in sich selbst die Bürgschaft, daß im Verlaufe von weniger als zwei Decennien der herrliche Wunderbau mit den Schlußblumen auf den beiden Thurmspitzen werde gekrönt werden, und daß der Dom in seiner ganzen Vollendung strahlen werde, wenn nur der Eifer und die Opferwilligkeit nicht erkalten und keine unvorhergesehenen Störungen dem Weiterbau hemmend in den Weg treten.

König Wilhelm der Erste zeigte sich nicht weniger als sein verstorbener Bruder für den Dombau günstig gestimmt. Unter dem 20. Februar 1861 nahm er das Protectorat über den Dombauverein bereitwilligst an. Noch zu Lebzeiten Friedrich Wilhelm's des Vierten bewährte er sich durch die That als ein freigebiger Dombaufreund. Auf seine Kosten ließ er von der Künstlerhand des Dombildhauers Professor Christian Mohr die plastische Ausschmückung des Südportals ausführen. Im Jahre 1863 ertheilte er bei seiner Anwesenheit in Köln seine Genehmigung zur Veranstaltung einer lotterieartigen Collecte zur Vollendung der beiden Thürme, und nachdem der erste Versuch solcher Collecte günstig ausgefallen war, wurde die Genehmigung der Dombaulotterie auf weitere acht Jahre ertheilt und hierdurch die Möglichkeit geboten, den Riesenbau der beiden Thürme bis zu den Kreuzblumen in einem möglichst kurzen Zeitraume auszuführen. Am 4. September 1867 konnte in Gegenwart des Kronprinzen die Schlußfiale auf den großen Wimperg über dem Haupteingange der Westfaçade gesetzt werden, und es erhielt hiermit das Hauptportal der Domkirche, dessen Gewölbeschlußstein König Friedrich Wilhelm der Vierte am 15. Juni 1852 eingefügt hatte, seinen architektonischen Abschluß. Bis zu dieser Zeit berechnete sich die Gesammteinnahme des Dombauvereins auf die Summe von 1,081,686 Thalern 16 Silbergroschen 2 Pfennigen, und der Zuschuß des Staats auf 1,250,000 Thaler. Es kam demnach durchschnittlich auf das Jahr eine Verwendung von 93,000 Thalern.

Im Jahre 1868 wurde bei einem Arbeiterpersonal von 520 Werkleuten die Summe von 180,000 Thalern, im Jahre 1869 von 244,566 Thalern verausgabt, während die Zahl der in den Bauhütten beschäftigten Steinmetzen etwa 330 Mann betrug. Die Hauptthätigkeit war auf den Aufbau des nördlichen Thurmes gerichtet, und kamen namentlich die Wölbungen der acht Fenster der zweiten Thurmetage, die Wimpergsanfänge daselbst und der Blumenfries unter dem großen Hauptgesimse, dann die reich verzierten Fensterwimperge des ersten Thurmgeschosses, die Gallerien und Fiale zur Vollendung. Bis zum Anfange des Jahres 1869 war der Nordthurm bis zu einer Höhe von 47,07 Meter allseitig vollendet.

Die Vorbereitungen zum Weiterbau des Südthurmes, der in seinen Umfassungsmauern bis zu 50,21 Meter und in einem Eckpfeiler bis zu 56,49 Meter aufgeführt war, bedingten die Niederlegung des seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts auf diesem Mauertorso stehenden Krahnens, aber ehe der Fortbau in Angriff genommen werden konnte, mußte der obere stark verwitterte Theil bis zum zweiten Hauptgesims abgetragen werden, und nachdem dies geschehen, wurden die massiven Umfassungswände bis zu der Höhe der Fensterverdachung wieder aufgeführt.

Im Laufe des Jahres 1869 förderte man den Bau des Nordthurmes bis zu einer Höhe von 54,92 Meter, und im Frühjahr 1870 wurden die Fensterwimperge der dritten Etage an der Nord- und Westseite aufgesetzt. Von 1864 bis 1870 kamen für den Ausbau der Thürme 752,249 Thaler 18 Silbergroschen 1 Pfennig zur Verwendung.

Der französisch-deutsche Krieg des Jahres 1870 äußerte, wie auf alle Privat- und öffentliche Bauthätigkeit, so auch auf den Betrieb des Dombaues seine hemmende Wirkung. Wegen der Verkehrsstockung auf den Eisenbahnen war eine Ergänzung des Steinmaterials aus den Brüchen in Hannover, Württemberg und im Nahethal unmöglich. Es gelang aber der Bauverwaltung, den Betrieb in leidlichem Gange zu halten, so daß der Nordthurm um ungefähr 4,7 Meter und der Südthurm um 5,3 Meter gefördert werden konnte. Im Ganzen wurden 177,927 Thaler für den Fortbau verwendet.

Die Bauthätigkeit der Jahre 1871 und 1872 wendete sich vorzüglich der Weiterführung des südlichen Thurmes zu und förderte denselben bis 10,98 Meter über der zweiten Verdachung.

Die Einwölbung des Westportalfensters sowie die Ausführung des Fensterwimperges, der Gallerie und des Dachgiebels mit der großen Kreuzblume kam 1873 zur Vollendung, und waren inzwischen auch zahlreiche Restaurationsarbeiten an Ornamenten etc. vorgenommen worden. Nachdem der Raum zwischen den Thürmen durch Einfügung der achtundvierzig Meter hohen Portalwand innerhalb weniger Monate ausgefüllt worden war, gelangte die im Plane des Kölner Domes so formenschön und harmonisch angeordnete Westportalfaçade zur überraschenden Totalwirkung und verlieh der Domkirche das Gepräge der allseitigen Vollendung. Auch brachte die Einfügung des großen Sterngewölbes als erster massiver Abschluß der Thürme im Inneren die großen Hallen des dritten Geschosses zur vollen Geltung. Dieses Gewölbe, aus reich profilirten Rippen von Haustein und sorgfältig ausgeführten Kappen von behauenem Tuffsteine construirt, überdeckt bei einer diagonalen Spannweite von fünfzehn Metern einen Flächenraum von fünfzig Quadratmetern.

Während die Thürme bis zur Höhe von circa siebenzig Metern außen und innen viereckig emporsteigen, beginnt mit dem dritten Hauptgesimse das Oktogon, welches, bis zur Höhe von circa vierundneunzig Metern hinaufreichend, aus dem Achteck construirt ist. Auf den durch die Achteckslösung freigewordenen vier Ecken der Thürme erheben sich vom dritten Hauptgesims ab die vom Oktogonbau völlig abgelösten Eckfialen, die, bei kleineren Kirchen aus einzelnen Fialenschäften bestehend, am Kölner Dome zu Thürmen von dreiunddreißig Metern Höhe und sechs Metern Durchmesser heranwachsen.

Während im Inneren des Domes das Kirchenschiff, das Domdach zwischen den Thürmen und der eiserne Glockenstuhl vollendet wurden, begann man im Jahre 1874 mit der Aufführung des Oktogons an beiden Thürmen.

Die Steinhelme beider Thürme wurden im Herbst 1879 bis zum Beginn der Kreuzblumen ausgeführt und diese Kreuzblumen, welche in einer Höhe von acht Metern die Gallerie krönen, im Frühjahr 1880 aufgesetzt.

Im Anfang des Jahres 1879 begann die Einwölbung der Thurmhalle im Erdgeschoß des südlichen Thurmes mit der Construction des für den Durchzug der Glocken bestimmten Kreuzgewölbes, und nun konnte auch die Aufstellung der neuen Thurmuhr im ersten Stockwerk des südlichen Thurmes erfolgen, während das Aufziehen der sämmtlichen Domglocken mittels hydraulischer Presse vom 13. Juli bis zum 7. August 1878 zur Ausführung kam. Die Kaiserglocke, um dies nebenbei zu bemerken, wiegt 540 Centner; die Pretiosa 200 Centner, die Speciosa 120 Centner.

Wir verdanken es vor allem der Thatkraft und Opferwilligkeit des kunstliebenden deutschen Volkes, dann aber auch der werkthätigen Begeisterung deutscher Fürsten und einflußreicher Männer, daß der Torso des Domes, dieser stumme und zugleich beredte Ankläger der durch innere Zerrissenheit und äußere Drangsale geschwächten deutschen Nation, vor völligem Verfalle bewahrt, und das Ganze in der Weise ausgebaut worden ist, wie es dem genialen Gedanken der ersten Dombaumeister vorgeschwebt hat. Alle Freunde und Förderer des Dombaues reichten einander die Hand, um in edlem Wettkampfe die alte Rheinmetropole mit einem Wunderbau zu schmücken, der sowohl an Großartigkeit des ganzen Werkes, wie an künstlerischer Vollendung der Einzelheiten wohl auch [705] die gepriesensten kirchlichen Bauwerke des ganzen Erdenrundes hinter sich zurückläßt. Der Dom in seiner jetzigen Vollendung ruft dem staunenden Geschlechte in überzeugender Weise zu, wie das unmöglich Scheinende erreicht werden kann, wenn die Bevölkerung eines mächtigen Staatswesens in dem Streben nach einem großen Ziele von einer kräftigen Regierung unterstützt wird, wenn Fürst und Volk vereint der Verwirklichung eines großen Gedankens zustreben, wenn jede politische, confessionelle und gesellschaftliche Meinungsverschiedenheit vor der Gewalt einer großen Idee in den Hintergrund tritt.




Unsere Todten um Metz.
Zum zehnten Jahrestage der Capitulation (27. October).

Es war ein grauenvolles Bild, das die Sonne des 19. August 1870 auf der Höhe von Gravelotte beleuchtete. Soweit das Auge reichte, nichts als Tod und Zerstörung! Des Himmels Wolken schauten hoch hinein in Hunderte von leergebrannten, rauchenden Ruinen, deren Besitzer jammernd das Grab ihrer Habe umstanden. Sonst alles still und stumm; dem geräuschvollen Toben der Schlacht war Stille, die Stille des Kirchhofes gefolgt. Kein Vogel unterbrach dieselbe. Die gefiederten Sänger waren durch den Schlachtenlärm verscheucht worden, um sich wochenlang von den blutgetränkten Gefilden fernzuhalten.

Groß war zwar der Sieg in dem gewaltigen, wohl einzig in der Geschichte dastehenden dreitägigen Schlachtendrama, das mit Einschließung und Gefangennahme der französischen Hauptarmee endigte; groß und schmerzlich waren aber auch die Opfer, die deutscherseits gebracht werden mußten, um dieses Ziel zu erreichen; zahlreich, wie zur Erntezeit die Garben, war die Wahlstatt mit Todten bedeckt; in langen, langen Reihen wurden sie zusammengetragen, und immer noch nahm es kein Ende. Tausende und aber Tausende von Verwundeten lagen noch auf den Feldern umher oder waren in den von der Kriegsfurie verschont gebliebenen Gehöften untergebracht worden, in denen die Aerzte ihre Thätigkeit entfalteten.

Seitdem sind zehn Jahre vorüber gegangen. Wie ganz anders ist das Bild, das sich heute dem Beschauer bietet, wenn er von Metz aus den Abhang des Moselthales ersteigt und das Plateau von Gravelotte betritt! Reges, munteres Leben pulsirt auf allen Landstraßen; üppiges, frisches Grün bedeckt die sorgfältig angebauten Fluren, auf denen die Landleute ihren friedlichen Beschäftigungen obliegen, während die Lerchen in die frische Morgenluft hineintrillern. Die zerstörten Kirchen und Häuser sind längst wieder aus dem Schutte erstanden, und zwar – dank den ausreichend bemessenen Entschädigungen – stattlicher, als sie zuvor waren. Aus der Ferne tönt liebliches Glockengeläute herüber; dasselbe Erz, das vor einem Jahrzehnt Tod und Verderben in die Reihen der Streitenden sandte, schickt heute seine Frieden verkündenden Klänge in das Land hinaus.[2]

Die Straße wird durch prächtig gedeihende Baum-Anpflanzungen geschmückt. Aus dem Hintergrunde schaut der rebenbepflanzte St. Quentin herüber, einem schlafenden Löwen ähnlich, während sich tief unten im Thale die Mosel, welche kurz vorher deutschen Boden betreten hat, gleich einem Silberfaden an dem Vororte Montigny mit seinen rauchenden Kaminschlöten vorbeischlängelt, um dann in vielen Armen das alte, undeutlich im Nebel verschwimmende Metz zu durchfließen. Das Ganze vereinigt sich zu einem wunderschönen Gesammtbilde von überaus friedlichem Charakter.

Man braucht aber nur wenige Schritte weiter zu gehen und den Blick links und rechts in die Felder zu werfen, um tausendfach an den Krieg erinnert zu werden. Zuerst zeigen sich nur vereinzelte Gräber, je mehr man sich aber der oft genannten Ferme St. Hubert und der dahinter gelegenen Schlucht von Gravelotte nähert, desto dichter liegen sie neben einander. So weit das Auge sehen kann, blinken die weißen Kreuze aus den Getreidefeldern hervor, und immer wieder entdeckt das Auge neue Grabhügel. Fürwahr, eine blutige Saat, die hier ausgesäet!

Zur Beruhigung für alle diejenigen, von denen Angehörige [706] bei Metz fielen, heben wir gleich an dieser Stelle hervor, daß denselben ohne Ausnahme würdige Grabstätten bereitet worden sind. Es bildet dies einen erfreulichen Fortschritt zu dem in früheren Feldzügen üblichen Verfahren und verdient um so mehr Anerkennung, als sich wohl kaum irgendwo so viele Gräber auf verhältnißmäßig kleinem Raume zusammengedrängt finden werden, wie in der Umgegend von Metz, welches innerhalb weniger Wochen drei große Schlachten, zwei größere Ausfallgefechte und zahlreiche kleinere Scharmützel sah. Zählt doch die Gräberliste nicht weniger als 1808 Nummern von Einzel- und Massengräbern auf, letztere bis zu 2000 Mann und darüber enthaltend, mit 492 größeren und kleineren Steindenkmälern; – kein Wunder, wenn Touristen, welche die Umgebung der alten Moselveste besuchen, den Eindruck empfangen, einen kolossalen Kirchhof zu durchwandeln. Die Herrichtung der Gräber ist das Werk der Pioniere der Metzer Garnison. Diese legten im Sommer 1871 die mehrfach nur leicht mit Erde bedeckten Leichen tiefer, und zwar wurden diese viel persönliche Selbstverleugnung erfordernden Arbeiten mit solcher Umsicht ausgeführt, daß nicht nur der von den Aerzten allgemein befürchtete Ausbruch von Epidemien unterblieb, sondern sogar der Gesundheitszustand in den folgenden Jahren in der Nähe der Schlachtfelder ein auffallend günstiger war.

Gleichzeitig mit der Tieferlegung der Gräber wurden auf diesen die früheren provisorischen und zum Theil durch den Einfluß der Witterung bereits unkenntlich gewordenen Erdaufwürfe durch regelmäßige, festgeschichtete Grabhügel ersetzt. Letztere wechseln an Größe je nach der Anzahl der Leichen, die unter denselben ruhen. Während die größeren Massengräber zehn Meter und darüber lang und mehrere Meter breit sind, haben die Einzelgräber bei einer Höhe von etwa einem halben Meter eine Länge von zwei und einem halben Meter und eine Breite von etwas über einen Meter. Ohne Ausnahme sind sie mit Epheu oder grünem Rasen überzogen und gewähren, im Schmucke des bunten Feldblumenflors prangend, einen so freundlichen Anblick, daß man fast zu vergessen versucht ist, wie manche Hoffnung ein solcher Hügel deckt, wie viel Thränen, wie viel Leid er im fernen Deutschland hervorgerufen.

Jeder Hügel trägt ein einfaches weißes Holzkreuz mit der schlichten Inschrift: „Hier ruhen tapfere Krieger, gefallen am 18. August 1870.“ Manchmal ist auch noch die Zahl der Leichen, welche das Grab enthält, angegeben. Bisweilen findet man die Inschrift: „Hier ruhen tapfere Preußen und Franzosen.“ Die im Leben sich erbittert bekämpften, ruhen im Tode friedlich in einem Grabe beisammen, und nicht selten konnte man in den ersten Jahren nach dem Kriege schwarzgekleidete Frauengestalten deutscher und französischer Nationalität gleichzeitig an einem und demselben Grabe knieen und den erlittenen Verlust beweinen sehen.

Als besonders sinnige Idee muß es bezeichnet werden, daß überall, wo die Bodenbeschaffenheit es gestattete, auf den Gräbern Bäume angepflanzt wurden, welche meist schon eine stattliche Höhe erreicht haben und noch nach Jahrzehnten, wenn Kreuze und Hügel vielleicht verschwunden sind, die Stätte bezeichnen werden, wo tapfere Kämpfer die letzte Ruhe gefunden haben. Bei den Denkmälern und da, wo größere Gruppen von Gräbern beisammen liegen, sind freundliche, zum Theil mit künstlerischem Geschmacke ausgeführte, gut gehaltene Gartenanlagen angebracht.

Ein großer Theil der gewiß allen Hinterbliebenen zum Troste gereichenden liebevollen Fürsorge für die Unterhaltung der Gräber und Denkmäler ist neben der Militärverwaltung dem allen Schlachtfeldbesuchern als kundiger Führer und lebendige Schlachtfeldchronik bekannten „Vater Rösl“ zuzuschreiben, einem Invaliden, der in der Eigenschaft als Gräberwärter „seine“ Gräber wie seinen eigenen Augapfel hütet und mit rührender Sorge und unermüdlichem Eifer auch das abgelegenste derselben nicht vergißt. Daß er dabei in dem todten Feind keinen Feind mehr erblickt und deshalb keinen Unterschied macht, ob es sich um ein französisches oder deutsches Grab handelt, hat den „Vater Rösl“ sogar bei der einheimischen, sowie der Bevölkerung der französischen Grenzorte zu einer populären Persönlichkeit gemacht. Vielleicht trägt diese Pietät mit dazu bei, daß seit längerer Zeit Verunehrungen der Gräber, Verstümmelungen von Kreuzen und Denkmälern nicht mehr vorgekommen sind.

Bei St. Hubert, einem Hauptkampfobjecte am 18. August, erhebt sich eine Anzahl von größeren Monumenten, meist in den Jahren 1871 bis 1873 von den betreffenden Regimentern zum ehrenden Andenken der gefallenen Cameraden gesetzt. Links vom Wege stehen die Denkmäler des 33. und 29. Regiments, weiterhin in dichten Gruppen von Massengräbern die der pommerschen Regimenter Nr. 14, 54 und 42, hinter St. Hubert die Monumente der an dieser Stelle hervorragend betheiligt gewesenen rheinischen Infanterie-Regimenter Nr. 28 und 69, sowie das des magdeburgischen Infanterie-Regiments Nr. 67, letzteres auf der Höhe der Steinbrüche am Randes der Schlucht, an einer Stelle befindlich, von der aus man eine vollständige Uebersicht über das Gefechtsfeld des rechten Flügels der deutschen Aufstellung genießt. Sämmtliche Denkmäler sind von edler Einfachheit und tragen als Inschrift meist nur die Namen der Regimenter und der Gefallenen; ihre Thaten aufzuzählen hat man unterlassen. Zeugen doch die vielen Gräber laut genug davon, und wenn der Zahn der Zeit den letzten Stein der Monumente zerbröckelt haben wird, so wird noch die Geschichte das Andenken der auf dem Felde der Ehre Gebliebenen mit unverwelklichen Lorbeeren geschmückt der Nachwelt überliefern.

An der Ferme St. Hubert haben sich noch manche Spuren der hier stattgefundenen erbitterten Kämpfe erhalten. Der Besitzer hat nämlich die an der Straße entlang laufende Gartenmauer ganz im gleichen Zustand belassen, wie sie nach der Schlacht war. Daß das tödtliche Blei häufig genug sein Ziel erreicht hat, beweisen die vielen von alten Nußbäumen beschatteten Einzel- und Massengräber in dem ausgedehnten parkartig angelegten, jetzt aber größtentheils verwilderten Garten. Am Hause selbst, das nur unbedeutende Beschädigungen erlitt, sind noch die Schießscharten sichtbar, aus welchen den von der Schlucht herauf und aus dem angrenzenden Wäldchen vordringenden deutschen Truppen ein Hagel von Kugeln entgegenflog, bis der blockhausähnliche Bau endlich von stürmender Hand genommen wurde.

Hinter St. Hubert fällt links von den Steinbrüchen die Straße plötzlich steil ab, um als hoher, von Pappeln eingefaßter Damm die wild eingerissene „Schlucht von Gravelotte“ zu überschreiten und als allmählich ansteigender düsterer Hohlweg in die gegenüber liegende Höhe einzuschneiden.

Wie heftig der Geschützkampf an diesem von den Franzosen für uneinnehmbar gehaltenen Defilé wüthete, ist heute noch daran ersichtlich, daß manche Bäume förmlich mit Flintenkugeln gespickt wurden; auf diese Erinnerungszeichen aus einer stürmischen Zeit treibt die heutige Jugend mit Messer und Bohrer Jagd.

Die ganze Oertlichkeit macht auf den Beschauer den Eindruck des Düstern und Schauerlichen, wozu noch die nur durch das Rauschen der wenigen verschont gebliebenen Pappeln unterbrochene unheimliche Stille kommt. Am linken Abhange der Schlucht heben sich drei große durch dunkleren Pflanzenwuchs gebildete Kreise ab, eine Erscheinung, welche uralt sein soll, deren Ursache aber bis jetzt noch nicht aufgeklärt ist. Der Volksmund nennt sie Hexenringe und verlegt hierher den Schauplatz der Zusammenkunft nächtlicher Unholdinnen. Neuerdings will man in bestimmten Nächten die Schlucht auch mit luftigen den Gräbern entstiegenen Gestalten bevölkert gesehen haben, welche lautlose Kämpfe ausführen. In der That ist die ganze Umgebung dazu angethan, die Phantasie zu ungebundenem Schaffen anzuregen.

An den in stiller Waldeinsamkeit im blumenübersäeten Grunde der Schlucht liegenden Gräbern vorbei, in denen mehrere Officiere des achten Jägerbataillons den ewigen Schlaf schlafen, erreicht man in einer starken Viertelstunde das oft genannte Gravelotte, dessen Name in unsere abgelegensten Hütten gedrungen ist und in allen deutschen Herzen ein stolzes, in vielen aber auch ein nur allzu wehmüthiges Echo weckt.

Das Dorf, das der Schlacht vom 18. August den Namen gegeben, war kein eigentliches Kampfobject, und hat daher fast gar nicht gelitten; einige vom Fort St. Quentin herübergeworfene Granaten haben nur unbedeutende längst ausgebesserte Beschädigungen verursacht. Aeußerlich erinnern an den Krieg nur noch verschiedene an den Häusern des Dorfes stehen gebliebene Inschriften, mit denen die während der Belagerung hier einquartierten Truppen ihre Magazine bezeichneten. In den Häusern dagegen findet man noch zahlreiche auf den Schlachtfeldern aufgelesene Gegenstände, wie Flinten- und Mitrailleusenkugeln, Granatsplitter, Epauletten, Uniformknöpfe, Feldflaschen und ähnliche Gegenstände, welche von Fremden (die Zahl derselben belief sich in der ersten Zeit täglich [707] auf Tausende) sehr gesucht waren und mit denen deshalb ein ebenso schwunghafter wie einträglicher Handel getrieben wurde.

Wie dicht der Geschoßhagel an einzelnen Stellen war, ergiebt sich daraus, daß in der ersten Zeit in wenigen Stunden ganze Körbe voll Granatsplitter und Kugeln gesammelt werden konnten. Selbst heute noch fördern Pflug und Spaten einzelne Kugeln aus dem Schooße der Erde. Ohne Zweifel liegen auch noch viele Granaten in dem weichen Ackerboden, in den sie sich hineingewühlt haben. Die von der Bevölkerung gehegte Befürchtung, dieselben könnten durch die Berührung beim Pflügen oder Graben platzen und Verheerungen anrichten, hat sich glücklicher Weise nicht bestätigt; vielmehr ist constatirt worden, daß die Pulverfüllung schon wenige Monate nach der Schlacht vom eindringenden Wasser so durchnäßt war, daß sie die Explosionsfähigkeit vollständig verloren hatte.

Am Eingang des Dorfes befindet sich der Militärkirchhof, auf welchem meist solche Opfer der Schlacht ruhen, welche kürzere oder längere Zeit nach dem Kampfe ihren Wunden erlagen. Im ganzen Dorfe war damals wohl kein Haus, das nicht bis unter das Dach mit Verwundeten angefüllt gewesen wäre. Eines der Hauptlazarethe bildete die an der Straße nach Rezonville gelegene, etwas isolirte Ferrne; in Folge der massenhaften Amputationen waren die Fußböden der Gebäude so mit Blut getränkt, daß ein Decennium nicht genügt hat, die Spuren zu verwischen.

Was die gegenwärtige Stimmung der Bevölkerung in Gravelotte wie auch in der ganzen Umgegend betrifft, so kann dieselbe als verhältnißmäßig günstig bezeichnet werden. Der französisch sprechende Lothringer unterscheidet sich durch sein ganzes schwerfälliges Auftreten, besonders aber durch sein eigenthümliches Platt wesentlich von dem eigentlichen Franzosen, der in ihm ebenso den Querkopf erblickt, wie in dem Elsässer. Dabei ist er eine knorrige, durchaus praktische Natur, die schnell herausfand, daß sie sich unter der deutschen Regierung besser befinde als unter der französischen. Der Lothringer hat sich daher, besonders auf dem flachen Lande, mit den neuen Verhältnissen so ziemlich ausgesöhnt, was auch daraus hervorgeht, daß neuerdings die Militärpflichtigen nahezu vollständig vor der Musterungscommission erscheinen.

Im Allgemeinen scheint es sich nach den bisherigen Erfahrungen zu bestätigen, daß der Lothringer schneller als der Elsässer für Deutschland zu gewinnen sei, da er weit weniger conservativ ist und nicht so zäh am Althergebrachten hängt wie Letzterer. Das tritt z. B. auch bei der Kleidung zu Tage. Während man im Elsaß noch häufig die alten, kleidsamen Trachten sieht, sind dieselben in Lothringen längst verschwunden. Selbst das hübsche, weiße, gefältelte Lothringer Häubchen, das einzige Ueberbleibsel aus früherer Zeit, ist auf den Aussterbe-Etat gesetzt.

Von eigentlichem Patriotismus ist selbstverständlich im großen Ganzen vorläufig auch in Lothringen noch keine Rede. Daß aber wenigstens Anfänge dazu bereits vorhanden sind, war bei der letzten Anwesenheit des Kaisers, der beim Besuche der Schlachtfelder durch die ihn umjubelnde Bevölkerung mehrfach von seinem Gefolge abgedrängt und auf's Herzlichste bewillkommnet wurde, zu bemerken. Der Zeit und der langsam, aber sicher wirkenden Thätigkeit der Schule muß es überlassen bleiben, das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem deutschen Reiche wieder zu wecken und zu beleben. Die vollständig neu organisirte Schule legt das Hauptgewicht auf Erlernung der deutschen Sprache, und hat damit ihre Aufgabe wohl richtig erfaßt; denn so viel steht jedenfalls fest, daß das Volk erst dann wieder deutsch fühlen und denken wird, wenn es deutsch sprechen gelernt hat. Bis dahin wird allerdings noch manches Jahrzehnt vergehen. Doch ist jetzt schon ein tüchtiger Anfang gemacht worden; fast jedes Kind versteht etwas Deutsch. Auch das deutsche Volkslied wird sorgfältig gepflegt, und einen merkwürdigen Eindruck macht es auf den Fremden, wenn er Lieder wie: „Ich hatt’ einen Cameraden“ oder: „Morgenroth, Morgenroth, leuchtest mir zum frühen Tod“ in einem der Schlachtorte von der heranwachsenden Jugend, und zwar mit großer Vorliebe, singen hört. Man glaubt sich um zehn Jahre zurückversetzt, wo diese Lieder in denselben Dörfern begeistert aus deutschen Soldatenkehlen ertönten.

In einer starken halben Stande erreicht man, auf gut erhaltener Chaussee Rezonville. Hier war es, wo die französischen Truppen am 16. August durch die in unerwarteter Weise auf der Höhe von Gorze erscheinende fünfte Cavalleriedivision im Bivouak überrascht wurden. Die gegenwärtig noch zahlreich herumliegenden Ueberbleibsel von Kochgeschirren und blechernen Feldflaschen, an denen man theilweise noch die betreffenden Regiments- und Compagnienummern sehen kann, sind Zeugen der damals eingerissenen heillosen Panik.

Links von der Straße gegen das Ende des Dorfes zu liegt eine kleine, nicht gerade durch Sauberkeit sich auszeichnende Herberge, das „Hôtel Bismarck“, von der Bevölkerung allgemein so genannt, weil Bismarck, nachdem er vergeblich in den mit Verwundeten angefüllten Häusern Unterkunft gesucht hatte, trotz der Proteste des Besitzers mit dem Erbgroßherzog von Mecklenburg und dem amerikanischen General Sheridan in einer unbesetzt gefundenen, allerdings mehr als bescheidenen Kammer nach der Schlacht von Gravelotte sein Nachtquartier aufschlug.

Diese Kammer ist für den Besitzer eine wahre Goldgrube geworden. Viele Tausende von Fremden sind zur Besichtigung derselben in die unscheinbare Wirthschaft eingetreten und haben dabei den übrigens ganz trinkbaren Wein mit in Kauf genommen. Raritätensüchtige Engländer haben es sich nicht nehmen lassen, alles, was in der Kammer nicht niet- und nagelfest war, für hohe Preise zu erstehen. Hätte man sie gewähren lassen, so würde von dem ganzen Häuslein kein Stein auf dem andern geblieben sein, ebenso wenig wie von dem unweit davon am Ausgange des Dorfes gelegenen „Kaiserhaus“.

Ueber der Thür dieses einfachen, zweistöckigen Bauernhauses hat der Kriegerverein in Metz eine Marmortafel anbringen lassen, welche besagt, daß der Kaiser hier die Nacht vom 18. auf den 19. August 1870 zugebracht habe. Ueber eine steile, finstere Treppe gelangt man in eine Art Vorzimmer und durch dieses in das eigentliche Kaiserzimmer. Von diesem unscheinbaren Raume aus ging am 19. August die bekannte große Siegesdepesche an die Königin ab. Der Hausbesitzer, welcher rührende Züge von der Anspruchslosigkeit seines ehemaligen hohen Gastes zu erzählen weiß, hat die ganze Einrichtung so gelassen, wie sie vor zehn Jahren war. Ein großes Himmelbett, zu dessen Vervollständigung Kissen aus einem Krankenwagen herbeigeschafft werden mußten, eine Kommode und ein Paar Strohstühle bildeten die ganze Einrichtung des Zimmers, welches der Kaiser bei seinem am 25. September vorigen Jahres ausgeführten Besuche der Schlachtfelder wieder betrat und in der Erinnerung an die damalige schwere Zeit mit sichtlicher Rührung verließ.

Hinter Rezonville befindet sich das Terrain, auf welchem am 16. August der von Freiligrath in seinem herrlichen Gedichte besungene Todesritt der Brigade Bredow dahinbrauste. Es wird auf der einen Seite durch die nach Mars-la-Tour führende Straße begrenzt, während sich auf der andern in einer Entfernung von etwa einem Kilometer ein Wäldchen erhebt, an dessen Rande sich die alte, streckenweise noch gut erhaltene Römerstraße hinzieht, um sich in dem Tronviller Gebüsche zu verlieren.

Es gehört nur eine geringe Erregung der Einbildungskraft dazu, um sich das hier abgespielte Drama zu vergegenwärtigen und die schwarz-weißen Lanzenfähnchen der altmärkischen Ulanen im Verein mit den weißen Waffenröcken der Halberstädter Kürassiere in dem welligen Terrain aus den Getreidefeldern, in denen zahlreiche Klatschrosen wie große Blutstropfen hervorleuchten, auftauchen und gegen den übermächtigen Feind und dessen todbringende Batterien anstürmen zu sehen, alles vor sich niederwerfend, bis das todesmuthige Häufchen, von allen Seiten bedrängt, sich unter den entsetzlichsten Verlusten wieder rückwärts durchschlagen muß.

Doch was ist das? In Frankreich hat
Es im August geschneit;
Da liegt das halbe Halberstadt
Im weißen Waffenkleid.

Eine lange Reihe von Soldaten- und Pferdegräbern bezeichnet den blutigen Weg, den die tapferen Reiter genommen. An der Stelle, wo der Sturm endigte, erhebt sich ein weithin sichtbares Denkmal. Schöner und unvergänglicher ist das Denkmal, das die Geschichte den Helden des Todesrittes gesetzt hat.

Bei dem nun folgenden, ungefähr im Mittelpunkte des Schlachtfeldes vom 16. August gelegenen freundlichen Dorfe Vionville steht das in massenhaften Verhältnissen aufgeführte, thurmartige Denkmal des Brandenburgischen Infanterie-Regiments Nr. 20, an derselben Stelle, von welcher aus eine französische Batterie [708] den aus dem Moselthal heraufkommenden deutschen Truppen ihren ehernen Todesgruß entgegensandte. Im Hintergrunde hebt sich in dominirender Lage das Denkmal der 5. Division ab, eine gewaltige, aus Felsblöcken hergestellte Pyramide, welche einen kolossalen fliegenden Adler trägt, genau an dem Platze errichtet, wo der von Pont-à-Mousson herbeigeeilte Prinz Friedrich Karl am 16. August Nachmittags 3¾ Uhr den General von Stülpnagel begrüßte und sodann das Commando übernahm. In der Nähe befinden sich die Denkmäler der Artillerie des 3. Corps und des Ostfriesischen Infanterie-Regiments Nr. 78 mitten in einem ungeheuren Gräberfelde.

Bei Vionville, in dessen Gebäuden noch viele Granaten stecken, erblickt man dicht an der Straße das Monument des Infanterie-Regiments Nr. 35. An zahlreichen Gräbern und den Denkmälern des Oldenburgischen Regiments Nr. 91 und der 12. Infanterie-Brigade (24. und 64. Regiment) vorbei, gelangen wir an die französische Grenze, letztere nur durch einen kleinen, leicht zu übersehenden Stein bezeichnet. Von hier ab, die Ruinen eines am 16. August in Flammen aufgegangenen Gehöftes abgerechnet, erinnert nichts mehr an die blutigen Kämpfe, deren Schauplatz die Umgegend von Mars-la-Tour war. Die Hunderte von Kreuzen und Grabhügeln sind etwa seit Jahresfrist verschwunden. Die französische Regierung hat nämlich, um den Besitzern der Grundstücke, auf welchen sich Gräber befanden, nicht länger Entschädigungen zahlen zu müssen, sämmtliche Soldatengräber öffnen und die darin vorgefundenen Ueberreste in einer bei Mars-la-Tour gelegenen großen Gruft vereinigen lassen. Nur einige wenige Begräbnißstätten, welche von Angehörigen oder einzelnen Truppentheilen käuflich erworben wurden, sind erhalten geblieben. Auch deutscherseits war ursprünglich nur eine zehnjährige Unterhaltung der Gräber in Aussicht genommen. Nach Ablauf dieser Frist sollten die Gebeine ebenfalls an gemeinschaftlichen Begräbnißplätzen beigesetzt werden. Wie es scheint, hat man aber, um den Grabfrieden der für's Vaterland Gefallenen nicht zu stören, einstweilen davon Abstand genommen, die Ausgrabung, welche gewiß den Gefühlen eines großen Theils der deutschen Nation widerstreben würde, ausführen zu lassen. Vielmehr wurde in letzter Zeit eine Anzahl von Grundstücken, auf denen sich Denkmäler und Gräber befinden, angekauft, um sie für immer als Begräbnißstätten zu erhalten; für die übrigen Gräber wird den Inhabern der betreffenden Felder bis auf Weiteres eine entsprechende jährliche Entschädigung ausbezahlt.

Ueber der bei Mars-la-Tour befindlichen oben erwähnten Gruft, welche im Ganzen etwa 6000 Leichen enthält, erhebt sich auf einem mit zwei Reliefs geschmückten Sockel eine in Erz ausgeführte Kolossalgruppe: Frankreich, in Gestalt einer weiblichen Figur, setzt einem tödtlich verwundeten Krieger einen Lorbeerkranz auf das Haupt. Die dem Sterbenden entfallenden Waffen werden von zwei Kindern, welche die heranwachsende Generation darstellen, aufgenommen. Das Ganze ist offenbar nichts anderes als die Verkörperung der Revanche-Idee. Die Tactlosigkeit, ein solches Standbild in unmittelbarer Nähe der deutschen Grenze und dieser zugewandt, auf einer Franzosen und Deutsche als Friedhof umschließenden Gruft aufzustellen, ist theilweise selbst von der französischen Presse gerügt worden. Auch über den Kunstwerth des von einem Pariser Künstler ausgeführten Denkmals gehen die Ansichten weit aus einander.

Hinter Mars-la-Tour erhebt sich die ausgedehnte Hochfläche, von Ville-sur-Yron, auf welcher sich die großartigste Reiterschlacht des ganzen Feldzuges abspielte. In der Nähe befinden sich die Denkmäler des 2. Gardedragoner-Regiments und des Infanterie-Regiments Nr. 16. Hier in der tief eingeschnittenen Schlucht war es auch, wo das von erdrückender Uebermacht fast aufgeriebene 2. Bataillon des letztern Regiments die von einer Granate abgeschossene Fahnenspitze, welche in dem grausigen Getümmel unbeachtet liegen blieb, verlor. Von den Franzosen aufgefunden, wurde sie nach Metz gebracht, gelangte jedoch bei der Uebergabe der Festung nicht wieder in den Besitz der Deutschen. Bekanntlich ist dieser Fund in letzter Zeit von der französischen Presse als „Eroberung einer preußischen Regimentsfahne“ aufgebauscht worden.

Die Bevölkerung in Mars-la-Tour, ebenso auch in den übrigen französischen Grenzorten, ist gegen die aus Deutschland kommenden Touristen äußerst zuvorkommend. Unfreundlichkeiten oder gar Mißhandlungen kamen überhaupt nur unmittelbar nach dem Kriege vor. Seitdem haben sich die Gemüther so weit beruhigt, daß man ungehindert überall verkehren kann; höchstens daß noch hier und da der unter der Asche fortglimmende Haß sich durch einen feindseligen Blick verräth.

Die in den letzten Jahren hauptsächlich aus strategischen Gründen erbaute, in die Linie Verdun-Metz einmündende französische Grenzbahn bringt uns in kürzester Zeit auf das Schlachtfeld von St. Privat. Das düster daliegende, von Massengräbern eingefaßte Amanweiler, wo wir den Zug verlassen, war bis 1870 ein unbedeutendes Dörflein. Zur Grenzstation erhoben, ist es aber in raschem Aufschwunge begriffen. Hinter dem Bahnhofe und den ausgedehnten Lagerräumen zieht sich eine Reihe neuer, von Gärten umgebener Häuser hin; es sind dies die Wohnungen, welche für die hier angesiedelte zahlreiche Beamtencolonie errichtet werden mußten.

An denselben vorbei erreicht man auf der mit Pappeln begrenzten Straße in etwa einer halben Stunde St. Privat, unter den Schlachtorten um Metz wohl denjenigen, der am meisten gelitten hat. Die Kirche sowie eine Reihe von Privathäusern ging bei der dem Sturme vorausgegangenen Beschießung in Flammen auf. Gegenwärtig ist jedoch von der damaligen Zerstörung, einige nicht wieder aufgebaute Gartenmauern und verschiedene von den Granaten gerissene Löcher abgerechnet, nichts mehr zu bemerken. Die frühere kleine Kirche ist durch einen stolzen, geräumigen Bau, der an einer anderen geeigneten Stelle errichtet wurde, ersetzt worden. Auch die neu aufgebauten Häuser haben ein äußerst stattliches Aussehen, wie überhaupt das ganze Dorf den Eindruck der Wohlhabenheit macht.

Hinter St. Privat gewahrt man auf den sanft gegen das Dorf Roncourt ansteigenden Feldern eine breite Bahn von Gräbern; es ist dies der Schritt für Schritt mit Blut getränkte Weg, den das zwölfte (sächsische) Corps bei dem Sturme auf St. Privat einschlug. Dicht beim Dorfe, wo die Anstürmenden von dem hinter den Mauern verschanzten unsichtbaren Feinde mit einem wahren Kugelregen überschüttet wurden, zeugen die dicht nebenanliegenden Grabhügel von den entsetzlichen Verlusten der Sachsen. An dieser allen Mitkämpfern gewiß unvergeßlichen Stelle erhebt sich das Denkmal des zwölften Corps, ein großer auf entsprechendem Sockel stehender Marmorblock, mit dem sächsischen Wappen geschmückt und einen mit Lorbeer bekränzten Helm tragend (vergl. Seite 705).

Wenige Schritte von St. Privat befindet sich, umgeben von einem durch neun französische Kanonen schwersten Kalibers gestützten Eisengitter, das Denkmal des Gardecorps, das hier seinen blutigsten Tag sah, aber auch sich die unvergänglichsten Lorbeeren erkämpft hat. Das Denkmal besteht aus einem auf gewaltigem Unterbaue ruhenden Thurme, auf dessen durch eine im Innern angebrachte Wendeltreppe zu ersteigender Plattform man eine gute Uebersicht über das Schlachtfeld des linken Flügels genießt. Das festungsähnliche Amanweiler, ferner Verneville mit dem Denkmale der achtzehnten Division, das jenseits der mitten durch einen Wall von Gräbern gehenden Grenze befindliche Habonville, in dessen Nähe das schleswig-holsteinische Regiment Nr. 84 und das Kaiser Alexander-Garde-Grenadierregiment ihren in französischer Erde ruhenden Waffenbrüdern Denkmäler gesetzt haben, weiterhin St. Ail, St. Marie-aux-Chênes und Roncourt – lauter Namen, die in den Kämpfen vom 18. August eine hervorragende Rolle spielten und welche die Geschichte der Nachwelt aufbewahren wird – liegen im großen Bogen um das auf der Höhe gelegene citadellen-ähnliche St. Privat, während im Hintergrunde die lange Reihe der Maasberge auftaucht. Gleichzeitig gewährt unser Standort ein anschauliches Bild der Hindernisse, welche zu überwinden waren, ehe es gelang, St. Privat zu nehmen und damit das Schicksal des Tages zu entscheiden. Glatt, einem Glacis gleichend, steigt das Terrain an, ohne die geringste Deckung zu gewähren. Offen, die Brust dem feindlichen Blei preisgegeben, müssen die Tapfern vorwärts stürmen, ohne dem Gegner etwas anhaben zu können, ja sogar ohne ihn zu sehen. Ueber die Gefallenen weg, gelangen die gelichteten Bataillone bis an die Stelle, auf der das Gardedenkmal steht. Hier kommt der Ansturm zum Stillstande; bald darauf unter Beihülfe des zwölften Corps wird der Versuch wiederholt, der dann auch gelingt, freilich nicht ohne entsetzliche Opfer: die großen Massengräber bei St. Privat wissen davon zu erzählen.

[709]

Die Denkmäler von Metz. Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

Zwölfte Infanterie-Brigade. Garde-Regiment
„Kaiser Alexander“.
Achtzehnte Division.
Achtes ostpreußisches Infanterie-Regiment Nr. 45.
Vierundachtzigstes Infanterie-Regiment. Fünfte Division. Garde-Corps.

[710] Werfen wir noch einen letzten Blick auf das weite Schlachtfeld! Acht Kilometer östlich von Metz erhebt sich bei Noisseville das Denkmal des 1. Armeecorps. Ein schlafender Löwe ruht auf einem breiten mit sechs Reliefsäulen verzierten Sockel. (Vergl. unser Bild auf Seite 705.) Durch dieses Denkmal werden wir an die blutige Schlacht vor der Capitulation erinnert, an den ersten und letzten Durchbruchsversuch der französischen Rheinarmee am 31. August und 1. September 1870. Während die deutsche Hauptarmee in einer Reihe von siegreichen Gefechten gegen Sedan vordrang, versuchte gleichzeitig Bazaine mit 120,000 Mann und 600 Geschützen den Einschließungsgürtel der Deutschen zu sprengen, von Metz abzurücken und sich mit Mac Mahon zu vereinigen. Aber 60,000 Deutsche mit 300 Geschützen zwangen die doppelte Uebermacht des Feindes zum Rückzuge. In den zweitägigen Kämpfen betrugen die Verluste der Deutschen 128 Officiere und 2358 Mann an Todten und Verwundeten. Das war die letzte größere Schlacht bei Metz.

Hier nehmen wir von den Schlachtfeldern und unsern seit zehn Jahren in wiedererkämpfter deutscher Erde schlafenden Tapfern Abschied. Wir verlassen die blutgetränkten Gefilde mit der stolzen Ueberzeugung: So lange in deutschen Gauen noch Männer geboren werden, wie die Helden von Vionville, Gravelotte und St. Privat, so lange wird kein Feind, woher er auch kommen mag, dem deutschen Vaterlande je wieder einen Stein rauben können.

     Metz.
Löhle.




Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf von Gottschall.
XXIII.


Die Lesesaison hat begonnen, verehrte Freundin; in eintöniges Grau kleidet sich der Himmel, der über dem baltischen Meere ruht, und eintönig an den langen düsteren Abenden rollen und branden die Wogen an’s Gestade. Ich weiß es, daß Sie nie das Gefühl der Einsamkeit überkommt, auch wenn kein willkommener Besuch auf Ihrem Schlosse eingekehrt ist, auch wenn Sie wochenlang nicht zu Gesellschaften bei Ihren Gutsnachbarn eingeladen worden sind. Sie sind nicht einsam; denn Sie leben im Verkehr mit den großen Geistern aller Zeiten. Glauben Sie nicht, daß ich Sie für eine Spiritistin und Geisterklopferin halte; die durch ein Medium herbeibeschworenen großen Geister haben sich des Ruhmes, den sie auf Erden sich erworben, niemals würdig gezeigt, sondern auf alle Fragen, die man an sie richtete, eine so hülflos gestammelte Auskunft ertheilt, in Vers und Prosa sich so überaus trivial ausgedrückt, daß man befürchten müßte, in geistiger Hinsicht nach dem Tode einige Bänke herabgesetzt zu werden, wenn sich diese Bewohner der Schattenwelt wirklich durch richtige Pässe als die Träger jener großen Namen legitimiren könnten. Nein, Sie verkehren nur mit den Geistern Ihrer Bibliothek, wozu es keines Mediums bedarf, aber auch keiner Legitimation; denn jedes Wort, das diese Unsterblichen sprechen, ist eine Bürgschaft ihrer Unsterblichkeit. Wie können Sie einsam sein, wenn Shakespeare und Dante, Schiller und Goethe Ihre geistigen Genossen sind?

Doch auch der mitlebenden Dichter und Schriftsteller bleiben sie eingedenk; Sie prüfen und wählen unter den Werken der Zeitgenossen, und Ihre Lieblinge sind nicht immer diejenigen der Mode. Mancher große Erfolg, von dem die Zeitungen berichten, befremdet Sie; manches dichterische Werk, über welches die Journale zur Tagesordnung übergehen, erregt Ihren Antheil; sie wundern sich über den Widerspruch zwischen Ihrem eigenen Geschmack und der allgemeinen Schätzung und bitten mich um Erklärung dieser räthselhaften Erscheinung.

So folgen Sie mir einmal auf den Büchermarkt, verehrte Freundin! Nicht zu den einzelnen Schriftstellern und ihren neuesten Erzeugnissen will ich Sie diesmal führen; wir wollen uns nur nach den Sorten erkundigen, welche der Buchhandel auf Lager hat, und nach ihrem Absatz. Ich bin nicht so ungalant, Sie dorthin zu führen, wo die gestrengen Facultäten ihre Bücherbuden aufgeschlagen haben und ihre dicken Bände zur Schau stellen. Gehen wir an ihnen vorüber, und geben wir uns den Anschein, so geringschätzig von ihnen zu denken wie Faust, der doch auch ein großer Gelehrter war, freilich nur hinter den Prosceniumslampen! Sie selbst sind zwar eine wohlunterrichtete und geistreiche Dame, aber die Facultäten haben keine Ehren auf Ihren Scheitel gehäuft, wie auf denjenigen der mehrfach promovirten Doctorin, deren Name im innern Hof der Universität von Padua mit unverlöschbaren Zügen in eine Gedenktafel eingegraben ist; Sie sprechen weder Griechisch noch Lateinisch, wie Göttinger Professorentöchter; ja, Sie sind nicht einmal eine moderne Studentin, und ich bezweifle, daß Sie jemals in Ihrem Leben einen Commers mitgemacht haben, sei es ein Commers beiderlei Geschlechtes oder ein solcher, wo das genus femininum allein die Farben und die Kosten trägt. Gehen wir vorüber! Sie ahnen vielleicht nicht, wie viele Seiten des Meßkatalogs wir damit überschlagen; denn von den mehr als zehntausend Werken, die er leider! alljährlich zu verzeichnen hat, gehört bei weitem mehr als die Hälfte den eigentlichen Fachwissenschaften an. Die deutschen Fachgelehrten sind fleißig wie die Seidenwürmer; manche von ihnen spinnen Fäden von tausendachthundert Ellen Länge aus sich heraus und verwandeln sie in einen Cocon, in den sie sich einpuppen, um von hier aus dann in freiem Fluge zur Unsterblichkeit sich aufzuschwingen– es ist freilich nicht Alles Seide, was sie spinnen.

Jetzt treten wir in den Kreis, welcher der großen Leserwelt geöffnet ist; da begegnen wir zuerst den Lyrikern. Sie haben so oft vom deutschen Dichterwalde gelesen, in welchem es von allen Zweigen singt; an Gesang fehlt es nicht, aber wie Wenige wollen noch in diesem Dichterwalde spazieren gehen! Der Lyriker ist für sich, für seine Freunde und besonders für seine Geliebte die geborene Nachtigall, für den Buchhändler aber ist er der geborene „Krebs“ – seine Werke kehren nach der Messe in dicken Ballen wieder dorthin, von wo sie ausgegangen sind. Es ist wahr, viele zwitschern gar zu nichtssagend, und auch manche der besseren haben wie naßgewordene Canarienvögel ihre Stimme verloren und ihren schmetternden Gesang verlernt; auch hat sich der deutsche Dichterwald nur zu oft in einen Vogelladen verwandelt, wo sich Amaranthfinken und Paradieswittwen und alle möglichen, oft etwas verfärbten ausländischen Prachtvögel tummeln: ich meine die zahllosen Nachdichtungen, Aneignungen, Uebersetzungen fremder Dichtungen. Dennoch bleibt es ein bedenkliches Zeichen der Zeit, daß der Sinn für Lyrik von Jahr zu Jahr mehr erlischt; die Lyrik ist aus der Mode gekommen, und das sieht bei der heutigen Zeitrichtung fast einem Todesurtheil ähnlich; denn noch nie hat in der Literatur die Mode eine größere Rolle gespielt. Wer unterhält sich in den Salons heutzutage noch von lyrischen Dichtern? Höchstens geschieht dies am Pianoforte, beim Hervorsuchen der Notenblätter, wenn es sich um das neucomponirte Lied eines Poeten handelt. Doch auch dann sind es Heine, Geibel und andere Dichter einer früheren Zeit oder Dichter, die wenigstens in einer früheren Zeit sich einen Namen erworben haben.

Einige Günstlinge des Glückes haben es sogar zu einer diamantenen Jubelfeier gebracht, wie Bodenstedt mit den Auflagen seines Mirza-Schaffy. Andern wiederum ist das Glück nicht treugeblieben, und der Beifall, den ihre ersten Gedichtsammlungen fanden, ist den späteren gegenüber erlahmt, wie dies bei Hermann Lingg der Fall ist. Wenn einige Sänger sich neuerdings ein größeres Publicum erwarben, so waren es die Vertreter einer poetischen Jovialität und lebensfrischen Munterkeit wie Victor von Scheffel und Julius Wolff, der Dichter des „Rattenfänger von Hameln“, aber alle jungen Talente, die, von höherem Schwung getragen, den classischen Idealen des Gedankenreichthums und der Formenschönheit nachstreben, werden kaum ein Echo finden in dieser von tausend Geräuschen betäubten Zeit. Und doch sollte unsere Schulbildung, welche den Geist der Jugend am Studium der classischen Muster nährt, diese gerade darauf hinführen, daß sie dem verwandten Streben der Gegenwart eine begeisterte Theilnahme entgegenbrächte.

Hier ist aber eine große Lücke in unserer Erziehung: es fehlt jede Nutzanwendung auf die Gegenwart. Die classische Epoche [711] wird von den Lehrern als etwas Abgeschlossenes hingestellt, was durch eine nicht zu überbrückende Kluft von der Neuzeit geschieden ist. Und auf den Universitäten gilt es kaum für gelehrt genug, über neuere und neueste deutsche Literatur zu lesen. Dazu kommt die wachsende Beschränkung auf Fächer und Specialitäten, welche so himmelweit verschieden ist von der schönen Allgemeinheit humaner Bildung, welche die Gelehrten unseres classischen Zeitalters, die Humboldt und ihre Gesinnungsgenossen vertraten. Der handwerksmäßige Zug der Zunftgelehrsamkeit kann den Musen kein Asyl gründen. Die Zöglinge aber jener weiblichen Erziehungsanstalten, an denen die neuere Literatur noch am meisten gepflegt wird, begnügen sich meistens mit den Anthologien, wo sie alle Dichter hübsch beisammen finden; auch fehlt es ja an den Vätern, Brüdern und Schwägern, die ihnen einen neuen Lyriker in geschmackvoller Gewandung unter den Christbaum legen.

So bleibt die Lyrik das Stiefkind der Gegenwart; ihre Erzeugnisse sind die Ladenhüter des Buchhandels. Und doch wird sich das echte dichterische Talent vorzugsweise in der Lyrik bewähren müssen, in welcher die angeborene Poesie ihr seelenvolles Auge aufschlägt: von den alten Tragikern bis zu Shakespeare, Goethe, Schiller und Victor Hugo sind die großen Dichter, auf wie vielen Gebieten sie sich auch Lorbeeren erringen mochten, große Lyriker gewesen, und ich halte nicht viel von den neuen lorbeergekrönten Größen des Parnasses, die nie vermocht haben, in weihevollem Gesang ihre innersten Gefühle auszuströmen und ihnen dabei eine schöne Kunstform von dauerndem Gepräge zu geben; mir ist, wenn ich mich durch manche Bände dieser Prosaiker hindurchgewunden, zu Muthe, als müßte ich die Worte des Mephistopheles wiederholen: „ich bin des trock'nen Tons nun satt.“

Noch schlimmer als den Lyrikern ergeht es auf den Buchhändler-Messen den Dramatikern; was auf den Bühnen ihr Loos ist, davon will ich Ihnen nächstens berichten, verehrte Freundin. Ein dramatischer Dichter, dessen Dichtung nicht zur Aufführung gekommen ist, schläft einen bleischweren Schlaf in den Fächern der Sortimentsbuchhändler, und wenn einmal eine mitleidige Seele, vielleicht ein entfernter Vetter, oder eine verlassene Geliebte, sich seiner annimmt und erbarmt, so muß erst der Staub von dem Umschlage seines Werkes geblasen werden. Es ist vielleicht unsterblich; wer kann es wissen? Wir Alle nicht, verehrte Freundin, auch die Kritik nicht; nur ist dem Dichter zu wünschen, daß seine Schöpfung auf dauerhafteres Papier gedruckt würde, als z. B. jetzt für die meisten Standesregister verwendet wird; sonst würde sein Trauschein mit der Muse schon nach zwei Jahrzehnten verloren gehen. Wird aber ein Stück aufgeführt, so finden sich doch wenigstens einige Liebhaber, die es zur Erinnerung an den Theaterabend ihrer Bibliothek einverleiben. Freilich ist die Zahl derselben keine große, und die zweiten Auflagen dramatischer Werke lassen meistens lange auf sich warten; es müßten denn ein- oder zweiactige Stücke für Haustheater und Liebhaberbühnen sein; da ist viel Begehr und Nachfrage; denn wer spielte heutigen Tages nicht Komödie? An den Pariser Bühnen wird in den Zwischenacten das Stück – „la pièce“ – als gedrucktes Exemplar ausgerufen und feilgeboten; in Deutschland ist dies nirgends der Fall. Kauft aber ein eifriger Theaterfreund eins der heutigen Zug- und Modestücke im Buchladen und vertieft er sich dann in die einsame Lectüre desselben, so wird er allzu oft einer schmerzlichen Enttäuschung preisgegeben sein und sich fragen: wie, dies geist- und witzlose Product konnte mir auf der Bühne gefallen? Das sind die Täuschungen der Prosceniumslampen!

Besser sieht es mit den Romanen aus: sie haben ein Publicum; in der Regel erscheint aber der Roman im Buchhandel erst, wenn er bereits durch die Spalten verschiedener Zeitungen und Journale die Runde gemacht hat. Mancher Leser derselben hat sich durch den stückweisen Genuß bereits den Geschmack daran verdorben; doch es bleiben als sichere Abnehmer immer die Leihbibliotheken, die keinem Romane von gutem Klang aus dem Wege gehen dürfen. Aus diesen Reservoirs der Lectüre führen dann die Canäle überall hin, wo unterhaltungsbedürftige Herzen schlagen, in die Schnittwaaren- und Fleischerläden, wie in die Boudoirs der eleganten Damen. Es ist so eine oft wiederholte Klage in Deutschland, daß auch in den vornehmsten Kreisen der Lesebedarf mit Hülfe der Leihbibliotheken bestritten wird, daß es noch nicht Mode ist, durch eine geschmackvoll ausgewählte Privatbibliothek die eigene Bildung und die Kenntniß der Classiker sowohl wie der neuesten Literatur zu bekunden. Und wenn es sich nur um die schönen Einbände handelte – der Literatur wäre jedenfalls damit geholfen.

Freilich giebt es auch Ausnahmen von dieser Regel; es giebt Autoren, die solch eine Dictatur der Mode ausüben, daß der Privatbesitz ihrer Werke unerläßlich ist und zum guten Ton gehört. Man könnte sich anständiger Weise in keinem Salon mehr sehen lassen, wenn man nicht über den Inhalt jener Werke genaue Auskunft zu ertheilen vermöchte. Dazu aber muß man sie in seinem Schranke stehen haben, um gelegentlich immer wieder nachschlagen zu können und besonders nicht die Namen zu verwechseln; die oft einen seltsam fremdartigen Klang haben; denn Mode ist vorzugsweise jetzt das Alterthümliche. Die Werke dieser beliebten Autoren haben einen buchhändlerischen Absatz, mit welchem sich der Absatz unserer classischen Werke bei Lebzeiten der Autoren nicht entfernt messen konnte, ja der selbst den Absatz früherer Moderomane aus der Feder eines Lafontaine, Vulpius und Clauren weit hinter sich läßt.

Was unsere Classiker betrifft, so war es mit ihren buchhändlerischen Erfolgen nicht sonderlich bestellt, ehe der Glorienschein der Classicität ihre Häupter umstrahlte. Goethe veranstaltete bei der großen Leipziger Firma Göschen die erste Gesammtausgabe seiner Werke; dies geschah im Jahre des Herrn 1786, und es fanden sich in dieser Ausgabe „Götz“ und „Werther“, „Tasso“, „Iphigenie“, „Egmont“ und der „Faust“ in seiner ersten fragmentarischen Gestalt, also die werthvollsten Geschenke, die der Genius des Dichters seiner Nation gemacht. Und diese Ausgabe lag wie Blei in den Buchläden fest. Goethe selbst sagt, sie sei in eine Zeit gefallen, wo Deutschland nichts mehr von ihm wußte noch wissen wollte. Hatte Göschen, als er diese unsterblichen Werke wie taube Körner in die Furchen des deutschen Buchhandels streute, eine Ahnung davon, welche goldene Ernte einst Cotta mit ihnen einheimsen würde? Wann aber wird ein Dichter ein Classiker? Ueber diesem Mysterium schwebt ein heiliges Dunkel, das noch keine kritische Forschung gelichtet hat; keinesfalls haben die Lieblinge des Tages die Bürgschaft der Unsterblichkeit für sich – sonst wäre Kotzebue ein Classiker geworden und nicht Goethe.

Sie lächeln, verehrte Freundin? Sie zucken mit den Achseln? Uns freilich ist Kotzebue nur ein gewandter und veralteter Bühnendichter, und die großen Literarhistoriker haben alles gethan, ihn fast über Gebühr in Verruf zu bringen; doch wenn Sie zur Zeit, als „Menschenhaß und Reue“ erschienen war und Goethe's Werke noch immer zu den unverkäuflichen Ladenhütern gehörten, die Zeitgenossen gefragt hätten, wie sie über diese beiden Dichter dächten, Sie würden eine Antwort erhalten haben, die sich mit unseren heutigen Anschauungen über Beide gar nicht in Einklang setzen läßt: die Höfe, der Adel, die höheren Beamten, die Modedamen, das große Publicum, ja selbst die Gelehrten (denn Kotzebue wurde Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, eine Ehre, die weder Schiller noch Goethe zu Theil wurde) – sie hätten alle Kotzebue für eine mindestens so bedeutende literarische Größe erklärt, wie Goethe, und besonders die Berliner hätten über den Weimarischen Hofpoeten, der an der Spree auch später nur in kleinen Kreisen gefeiert wurde, wie über einen beiseitegeschobenen literarischen Posten geurtheilt.

Erfreulich ist es immerhin, daß die heutigen Mode-Autoren mit Talent ein literarisch berechtigtes Genre anbauen und nicht wie viele Vorgänger in der Gunst des Publicums auf den schlechten Geschmack desselben speculiren. Merkwürdiger Weise sind es gleichzeitig der urgeschichtliche archäologische und der zeitgeschichtliche Roman, welche die meiste Verbreitung finden. Was den letzteren betrifft, so hat schon vor zwei Jahrzehnten John Retcliff mit seinen Zeitungsromanen einen Erfolg davongetragen, den sein Nachfolger auf diesem Gebiete, Gregor Samarow, kaum erreichen konnte. Daneben blüht allerdings, während die Dorfgeschichte ziemlich aus der Mode gekommen ist, der modern-sociale Roman in geistvoller Vertretung. Dazwischen weht ein ganzer Staubwirbel von Novellen, Novelletten, Humoresken, doch das findet Alles seine Leser.

Am meisten bevorzugt ist die Literaturgeschichte: der Deutsche liest lieber Werke über die Dichter, als die Werke der Dichter selbst. Es zeugt dies für seine reflectirende Natur: er liebt die [712] Spiegelung. Alljährlich erscheinen neue, besonders deutsche Literaturgeschichten, und wenn sie mit Bildern und Bildchen, mit Autographen, mit dem Abdruck alter Handschriften und ähnlichem Krimskrams reichlich versehen sind, so erleben sie zahlreiche Auflagen. Unerschöpflich aber ist die Literatur über unsere Classiker und über Shakespeare; hier trifft man neben manchen werthvollen Enthüllungen und wohlbegründeten Urtheilen auf eine solche Menge Vergötterungen, auf einen solchen widerwärtigen Zettelkram, auf eine solche Wichtigthuerei mit den gleichgültigsten Daten und Reliquien, die nur in den Papierkorb gehören, daß dies sich breitmachende Epigonenthum geradezu ein Hemmniß für die Fortentwickelung unserer Literatur ist.

So sieht es, verehrte Freundin, auf unserem Büchermarkte aus. Bedeutendes erscheint nicht in jedem Jahr, nicht einmal in jedem Jahrzehnt; es wäre unbillig, dies zu erwarten; aber zur Sonderung des Echten und Werthvollen von dem bestechenden Flitterkram des Tages hat die vielbewegte Gegenwart nicht Zeit; das ist Sache der Zukunft, welche nicht das Urtheil der Menge, sondern das der feinfühligen Geister adoptiren wird, zu denen ich seit lange Sie, verehrte Freundin, rechne.




Blätter und Blüthen.

Robert Wilms todt! Im rüstigen Mannesalter ist Robert Wilms, seit Albrecht von Gräfe’s Dahinscheiden der populärste Arzt Berlins, durch den Tod dahingerafft worden. Die deutsche Reichshauptstadt zählt unter ihren Mitbürgern die glänzendsten Namen der modernen medicinischen Wissenschaft, allein Keiner dieser kühnen Forscher, dieser genialen „Mehrer des Reiches“ der Wissenschaft dürfte sich auch nur entfernt einer solch allgemeinen Verehrung in der gesammten Bevölkerung rühmen können wie sie dem Verblichenen entgegengebracht wurde. Keine irgendwie bedeutsame Entdeckung, auch nicht einmal die Erweiterung der chirurgischen Technik, wird den Namen des Verewigten auf die Nachwelt bringen, aber die herzlichste Anerkennung und Dankbarkeit Unzähliger ist ihm zu Theil geworden. Wilms’ Wirken war ein unmittelbar persönliches; es verschwand mit ihm; denn er starb ohne eine literarische Nachkommenschaft. Und dennoch dürfte er den Berufensten in seinem Fache beigezählt werden. Von Anfang seiner Laufbahn an betrachtete er sich ausschließlich als im Dienste der Leidenden stehend, und um dieser seiner Auffassung von dem ärztlichen Berufe voll entsprechen zu können, begnügte er sich mit der einfachen Lebensstellung eines ausübenden Chirurgen.

Jede naturwissenschaftliche Entdeckung, mochte dieselbe in einer Vermehrung des vorhandenen Arzneischatzes oder in der Anwendung eines folgenreichen Princips auf einzelne Fälle bestehen, gewann für ihn eine sofortige Beziehung zu seinem selbsterwählten Berufe, und nur in sofern galt sie ihm etwas, als er in ihr ein weiteres und gesicherteres Hülfsmittel erblicken durfte – das nicht etwa, weil er den Selbstzweck einer wissenschaftlichen Arbeit nicht zu schätzen verstanden, nein, weil ihm in erster Linie die Frage stand, ob die neu entdeckte Methode geeignet wäre, irgendwie die vorhandenen Leiden seiner Mitmenschen zu lindern oder etwaige drohende zu beschwören. Denn vor allem Anderen wollte Wilms ein ärztlicher Helfer sein. Der ausschließlich dialektische Scharfsinn, der mit dem Aufgebot des vielschichtigen Rüstzeuges unserer modernen naturwissenschaftlichen Forschung die Diagnose der Erkrankung sichert, war für Wilms stets nur Mittel zum Zweck, dem betreffenden Kranken Linderung, womöglich Heilung, bringen zu können.

Was die Chemiker in ihren Laboratorien an neuen Stoffen zusammensetzten, was die Physiologen sodann in ihren Thierversuchen von der Wirksamkeit jener Stoffe sicher zu stellen bemüht waren, das sollte nunmehr unter der erfahrenen Leitung des ausübenden Arztes und Chirurgen seine Probe bestehen. In diesem Gedanken lebte Wilms ausschließlich; von diesem Gedanken wurde sein rastloses Wirken vollständig beherrscht. Zwischen der theoretischen Wissenschaft und dem leidenden Menschen versah er unverdrossen seine vermittelnden Dienste. Aber wie entledigte er sich dieses Berufes! Er brachte fürwahr in jedem Augenblicke seiner ausübenden Wirksamkeit die ganze Summe des zur Verfügung gestellten wissenschaftlichen Apparates zur Anwendung. Dadurch allein würde er jedoch nicht so berühmt und beliebt geworden sein, denn großes Wissen und chirurgische Virtuosität vermag sich Jeder bis zu einem gewissen Grade durch unverdrossen fortgesetzte Arbeit anzueignen, und jeder Arzt muß dies auch; – allein wie der geschickteste Marmorarbeiter durch Beharrlichkeit nicht zum Künstler, der tüchtigste Maschinenzeichner nicht zum James Watt wird, ebenso wenig machen bloße Kenntnisse und chirurgische Geschicklichkeit einen Wilms.

Sein Genie war seine Persönlichkeit, und hierzu gesellte sich sein nicht ermüdender Fleiß, seine nicht nachlassende Sorge, seine gewinnende Herzensgüte. Die Kranken glaubten an ihn; die Hülfesuchenden blickten mit einem unerschütterlichen Vertrauen zu ihm auf. Und wahrlich, sie durften es. Denn nicht blos der kundige Arzt, der unerschrockene, kaltblütige Chirurg stand vor dem Krankenbette oder am Operationstische, sondern der herrliche, fühlende Mensch war es, in dessen ruhig freundlichen Augen eine edle, theilnahmvolle Seele sich abzuspiegeln schien. Darum war Wilms ein Freund und Helfer vornehmlich der Mühseligen und Bedrückten. Und diese waren es zuvörderst, welche seinen Namen und seine Güte in die weitesten Kreise hinaustrugen, und in dieser Hinsicht hat er unter den zahlreichen Berufsgenossen nicht sobald seines Gleichen. Die wissenschaftliche Objectivität, welche gar viele unserer berühmten medicinischen Geheimräthe bis an das Krankenbett bringen, hat in ihrer Gefühlsleerheit für den Kranken etwas Furchterregendes. Wilms wußte jener wissenschaftlichen Objectivität ihre Herbigkeit dadurch zu benehmen, daß er ihr von seinem eigenen subjectiven Empfinden so viel hinzufügte, wie nöthig war, um dem Leidenden seine Lage zu erleichtern. Die praktische Heilkunde verfährt ja stets in ihren Arzneiverordnungen nach dem bewährten Grundsatze, die bitteren Mittel durch Corrigentia, durch Zusätze annehmbarer zu machen. Es giebt auch derartige psychische Corrigentia, und auf die Anwendung dieser Mittel, zu deren Abwägung freilich noch kein ziffermäßiges Formular aufgefunden werden konnte, verstand sich der verstorbene Wilms in beneidenswerther Weise.

An Anerkennungen, an äußerlichen Ehrenbezeigungen hat es dem seltenen Manne nicht gefehlt. Aber seine Seele war zu rein, sein Sinn zu vornehm, sein Denken zu stolz, um nach jenen vielbegehrten Auszeichnungen zu streben, und die edle Unabhängigkeit seiner Gesinnung ließ es nicht zu, daß er um solcher Kleinigkeiten willen sich irgendwie bemühen sollte. Fürwahr, in unserer nur allzu sehr auf den äußerlichen Erfolg gerichteten Zeit soll man einen Mann doppelt hoch halten, der es sich an dem stolzen Gefühl genug sein läßt, seine Pflicht zu erfüllen, welche ihm die Wahl seines edlen, menschenfreundlichen Berufs auferlegt hat. Und weil der Verstorbene groß dachte von den Aufgaben seines Standes, weil ihm vor allen Dingen die Persönlichkeit des Arztes viel galt, deshalb war er Freund jener offenen rückhaltslosen Männlichkeit, jener Ueberzeugungstreue, die, wenn es sein muß, auch vor unliebsamen Bekenntnissen nicht zurückschreckt. Da Jedermann von der Uneigennützigkeit der Bestrebungen Wilms’ durchdrungen war, halte sein Dazwischentreten Bedeutung und Wirkung. Er hat manch schweren Kampf gegen hochmütige Bornirtheit, die ihm in seinem Wirken entgegentrat, zu bestehen gehabt, aber er hat ihn stets mit der ihm eigenen Unbefangenheit durchgeführt, die ihm wirklich etwas echt Heldenhaftes verlieh.

Ganz und voll lebte er in den Ansichten einer wahrhaft erleuchteten und aufgeklärten Weltanschauung; er war ein in jeder Beziehung frei und groß denkender Mann, an den sich selbst der Hochmuth gewisser einflußreicher geistlicher Kreise nur äußerst selten heranwagte. Manch schönes Wort wurde an Wilms’ Bahre gesprochen, wenn dort aber die Frage nach dem Christenthum des Verstorbenen laut wurde mit der Bemerkung: gehandelt hätte er sein Leben lang christlich, so fügen wir hinzu, daß doch wohl Eines das Andere mit Nothwendigkeit fördert: Wilms hat stets als ein edler Mensch gehandelt und gedacht.[3]
J. K.



Kleiner Briefkasten.

Hubert B-g. in Ghergani bei Bukarest wird in betreff seines am 13. Januar dieses Jahres an uns gerichteten Briefes um Angabe seiner Adresse gebeten.

B. R. Ueber die belgischen Festtage haben wir bereits in Nr. 40 und 41 einen Aufsatz gebracht.

J. K. L. O. Geben Sie uns Ihre volle Adresse an, damit wir Ihnen das Gewünschte zugehen lassen können!


Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Gerade diesen Augenblick bringt unser wohlgelungenes Bild zur Anschauung. Nordenskjöld (7), in der Mitte der Gesellschaft stehend, trinkt auf das Wohl des Herrn Schönlank, während A. Woldt, an der Ecke des Tisches sitzend, für die „Gartenlaube“ den Wortlaut des Toastes in der Eile stenographirt.
    D. Red.
  2. Die Glocken von Rezonville und St. Privat sind aus Kanonen gegossen, welche der Kaiser diesen Gemeinden zum Geschenk machte.
  3. Ueber die Todesursache und die letzte Krankheit Wilms' noch Folgendes: Im Juni dieses Jahres erlitt er bei einer Operation eine leichte Stichverletzung am Finger, welche er wenig beachtete und mit der er mehrere andere Operationen vollzog. Nach einigen Tagen nahm die Wunde einen bösartigen Charakter an, und bald zeigten sich auch die Symptome einer Blutvergiftung. Trotzdem trat Besserung ein; Wilms glaubte die Krankheit überstanden zu haben und begab sich auf eine Erholungsreise, auf welcher sich leider sein Gesundheitszustand erheblich verschlechterte. Nach einer vergeblich angewandten Cur kehrte er nach Berlin zurück und begann hier am 23. September nach langer Pause wieder Sprechstunden zu halten. Aber schon am 24., früh 10 Uhr, trat plötzlich ein Blutsturz ein, der den sofortigen Tod des berühmten Mannes zur Folge hatte. Wilms starb in einem Alter von 56 Jahren. Ueber den Lebenslauf des zu früh Daheimgegangenen dürften die nachfolgenden Mittheilungen unsern Lesern nicht unwillkommen sein. Im Jahre 1824 in Arnswalde geboren, besuchte er das Gymnasium zu Stargard und bezog zu Michaelis 1842 die Berliner Universität, um Medicin zu studiren. Hier war er Assistent und Liebling von Johannes Müller und wurde später in Wien Schüler und eifriger Verehrer Oppolzer’s. Im Jahre 1848 trat er als Assistenzarzt des Geheimraths Bartels in das Krankenhaus Bethanien in Berlin ein und widmete sich von dieser Zeit an ausschließlich der Chirurgie. 1852 wurde er zum ordinirenden und 1862 zum dirigirenden Arzt der chirurgischen Station desselben Krankenhauses ernannt, in welcher Stellung er bis zu seinem Tode verblieb. Die Resultate seiner verdienstvollen Thätigkeit pflegte er in den „Jahresberichten“ von Bethanien zu veröffentlichen, welche in der medicinischen Welt sehr hoch geschätzt wurden. Seine großen Verdienste um das kaiserliche Haus, seine segensreiche Wirksamkeit als Generalarzt in den Kriegen von 1866, 1870 und 1871 sind allgemein bekannt. – Ein langjähriger Freund des Verstorbenen, Eugen Hahn, hebt in der „Berliner Klinischen Wochenschrift“ hervor, daß das Gedächtniß Wilms’ für seine Kranken so ausgezeichnet war, daß er sie selbst nach langen Jahren zu ihrem größten Erstaunen auf den ersten Blick wieder erkannte. Seine Mußestunden füllte Wilms am liebsten mit dem Studium der Mathematik, Physik und der deutschen Literatur aus. Lessing und Platen waren seine bevorzugten Lieblinge, und auf seinen Reisen trug er stets ein Werk des ersteren bei sich.
    D. Red.