Die Gartenlaube (1888)/Heft 18
Alle Rechte vorbehalten.
Die Nachricht, daß die Herzogin krank, war bereits überall verbreitet.
„Sie sah so merkwürdig bleich zuletzt aus,“ bemerkte Prinzeß Thekla, als man beim Abendessen saß im Neuhäuser Speisesaal.
„Meine Kousine ist schon in aller Morgenfrühe hingeholt,“ erzählte Beate, der man keine Spur von Müdigkeit ansah, obgleich sie gar nicht zu Bette gegangen war, um unter ihrer Aufsicht die sämmtlichen Spuren des Festes beseitigen zu lassen. Da befand sich jede Silbergabel wieder an ihrem Platz, jede Tasse, jedes Möbel; nichts erinnerte mehr an das Feenmärchen der letzten Nacht, am allerwenigsten die Menschen selbst. „Sie schreibt mir soeben,“ fuhr Beate fort, „daß sie die Herzogin pflegt und ganz nach Altenstein übergesiedelt ist.“
„Welch rührende Freundschaft!“ rief die alte Prinzessin, die sehr schlechter Stimmung war; denn heute früh, als sie noch süß schlummerte, hatte Baron Lothar die Kinderfrau knall und fall entlassen; und Frau von Berg war schon in aller Morgenfrühe ein Billet an das Bett gebracht worden, das sie just in einem beglückenden Traum störte. Es enthielt die Entlassung von ihrer Stelle als Erzieherin „meiner Tochter“ in aller Form, zwar unendlich artig gehalten, aber es war so, wenn auch liebenswürdigerweise der Baron am Schlusse die gnädige Frau bat, sie möge über die Gastfreundschaft in seinem Hause verfügen.
Sie hatte nur ein Morgenkleid übergeworfen und war gegen alle Etikette in das Schlafzimmer der Prinzessin Helene gestürzt. Die kleine Durchlaucht hatte elend ausgesehen, mit dunklen Ringen um die Augen, als habe sie während der Nacht mehr geweint als geschlafen.
„Was ist da weiter?“ war der verdrießliche Trost gewesen. „Sie kommen dann zu Mama, Alice; ich werde mit ihr sprechen. Die Moorsleben geht ja ohnehin zu ihren Eltern zurück.“
Mama hatte dann auch wirklich sogleich die theure Alice aufgefordert, zu ihr zu kommen. Es war ja unerhört, einer „Dame“ zu kündigen, als sei sie eine Bonne; einer Dame, die sie eigens ausgesucht. Und sie hatte dennoch nicht gewagt, Gegenvorstellungen zu machen; der kurz angegebene Grund des Barons war allzu triftig; man mußte ihr, die beinahe die fahrlässige Tödtung des geliebten Enkelkindes verursacht hatte, sogar pro forma zürnen. Außerdem, noch hatte er nicht gesprochen, und leider konnte man ihn nicht zu einer Heirath „befehlen“, wie zu einem Walzer.
Der Frau von Berg war mit dem Arrangement so gar nicht gedient; sie saß, blaß wie ein unschuldig gekränkter Engel, in ihrem Gemach, äußerlich voll edler Fassung, innerlich vor Zorn „außer sich“. Das Kinderzimmer war urplötzlich nach unten verlegt, dicht neben die alte gemüthliche Schlafstube Beatens, nach dem weiten luftigen Hofe hinaus, wo es Pferdchen,
[294] Kühe und Hühner zu sehen gab – die nämliche Aussicht, die schon den Vater des Kindes und Tante Beate entzückt hatte. Und dieselbe treue Hand, die jene einst gehütet, hielt jetzt das Kindchen auf dem Arme, eine saubere, etwa fünfzigjährige Frau mit den freundlichsten Augen der Welt unter der schwarzen Bauernhaube. Lothar hatte sie heute früh persönlich aus dem schmucken Häuschen am Ende des Dorfes zu seinem Kinde geholt.
„Welch rührende Freundschaft!“ hatte die Prinzeß Thekla gerufen, aber Beate merkte den Sarkasmus nicht und Lothar wollte ihn wohl nicht bemerken. Er sah wie traumverloren in die immer finsterer werdende Wetternacht hinaus.
„Die Herzogin ist öfter leidend, wie wir alle wissen, Mama,“ sagte Prinzeß Helene, die Lothar nicht aus den Augen ließ.
„Natürlich! Vielleicht hat sie sich über irgend etwas alterirt,“ meinte die alte Prinzessin bedeutungsvoll. „Uebrigens, diese Schwüle ist erdrückend; ich hätte nie geglaubt, daß es in den Bergen hier so heiß sein kann; ich muß beständig an die kühle, wogende Nordsee denken. Herr von Pausewitz,“ wandte sie sich an den Kammerherrn, „haben Sie Nachricht aus Ostende, ob wir die Zimmer im Hôtel de l’Ocean bekommen werden?“
Beate schaute verwundert ihren Bruder an. Die ungeheuren Koffer, welche die durchlauchtigsten Damen nach Neuhaus gebracht, hätten auf einen längeren Aufenthalt schließen lassen.
Herr von Pausewitz machte eine bedauernde Bewegung. „Durchlaucht, der Wirth depeschirt, daß leider meine Bestellung zu spät kam, glaubt aber, in einem andern Hôtel –“
„Sie werden uns hoffentlich begleiten, lieber Lothar,“ unterbrach Prinzessin Thekla den alten freundlichen Herrn und wandte sich mit so liebenswürdiger Miene zu Baron Gerold, als sie noch je gezeigt. „Die Erinnerung an unsere theure Verewigte wird Sie ebenfalls dorthin ziehen, wo Sie die kurzen Wochen der Brautzeit mit einander verleben durften.“
Lothar verbeugte sich auffallend devot. „Verzeihung, Durchlaucht – ich sehe Plätze, an welche sich Erinnerungen knüpfen, die für mich so traurig sind, nicht gern zum zweiten Male; man läßt sich zu leicht hinreißen, der Vergangenheit ein allzu großes Recht einzuräumen, während es dem Manne obliegt, sich mit jedem zu Gebote stehenden Mittel innere und äußere Ruhe zu erkämpfen, um der Gegenwart, der Pflicht zu genügen. Aber abgesehen hiervon, ich habe in letzter Zeit bemerkt, daß meine Anwesenheit in Neuhaus mehr als nöthig ist; auch für meinen Besitz in Sachsen dürfte es gut sein, wenn das Auge des Herrn einmal wieder sorgend auf ihm ruht. Erst jetzt,“ sprach er weiter, indem er aufmerksam der Prinzeß Helene eine Kompotschale reichte, „erst nachdem ich so lange in südlichen Gegenden leben mußte, erst jetzt liebe ich meine Heimath so recht ehrlich, diese kleine Scholle, auf der ich groß geworden bin; ich möchte ihr wirklich nicht eine Stunde länger meine Gegenwart entziehen.“
Die Prinzeß warf einen verzweiflungsvollen Blick durch das Fenster; er konnte ebenso gut den drohenden Wolken da draußen gelten, als der Starrköpfigkeit ihres lieben Schwiegersohnes.
„Eine Frau, eine Mutter faßt das Angedenken an die Heimgegangene natürlich anders auf,“ sagte sie kühl, „weniger heroisch. Pardon, Baron!“
„Durchlaucht,“ erwiderte er mit Wärme, „es wäre schlimm, würde es anders sein! Die Frauen haben das holde Vorrecht, Kultus zu treiben mit den äußeren Zeichen der Trauer wie der Freude; sie sind es, welche Blumen streuen zum fröhlichen Fest, sie sind es, die das Grab bekränzen. Welcher Schimmer würde dem Leben fehlen, wenn sie ‚heroischer‘ wären!“
Prinzeß Helene ward dunkelroth. Wie kam ihre Mutter auf den Einfall, von hier fortzugehen – jetzt? Die Gabel in ihrer Hand zitterte, sie mußte sie hinlegen.
Komtesse Moorsleben rief: „Um Gott, sind Durchlaucht nicht wohl?“
„In der That – ich bin – mir ist so schwindelig plötzlich,“ stammelte die Prinzessin. „Verzeihung, wenn ich –“
Sie hatte sich erhoben und, das Tuch vor die Augen gedrückt, schritt sie, leicht grüßend, hinaus, der Komtesse winkend, zurückzubleiben. Sie flog die Treppe förmlich hinauf und in Frau von Bergs Zimmer.
„Alice!“ rief sie fassungslos, „Mama spricht vom Abreisen! Es ist schrecklich – es ist alles verloren!“
Frau von Berg, die im hellblauen Morgenkleide mit krêmefarbenem Spitzenbesatz im Zimmer auf- und abschritt und ihr englisches Riechsalz zuweilen mit halbgeschlossenen Augen an die Nase führte, wobei sie jedesmal leicht stöhnte, hielt inne und vergaß für einen Augenblick ihre Krankenrolle.
„Gerold hat Mama seine Begleitung abgeschlagen,“ fuhr die Prinzessin erregt fort, indem sie an ihrem Taschentuch zerrte, daß die feinen Valenciennes zerrissen. „Er schwärmt plötzlich von seinen deutschen Wäldern wie ein erbgesessener Bauernsohn, dem man zumuthet, nach Amerika auszuwandern. Was soll ich in Ostende? Und noch dazu, wenn ich weiß, Sie sind nicht mehr hier, Alice! Ich ertrage es nicht,“ betheuerte sie und warf sich auf das Sofa; „ich springe unterwegs aus dem Zuge, ich stürze mich von der Estacade in die See – ich –“
Das weiße Gesicht der Prinzessin leuchtete kaum noch kenntlich aus der schnell hereinbrechenden Dunkelheit herüber zu der unbeweglich dastehenden Frau.
„Ach Gott, es ist ja alles verloren!“ rief sie, als diese schwieg. „Ich gehe, und sie bleibt!“ Und sie begann leidenschaftlich zu weinen, indem sie aufs neue den Kopf in die Kissen barg. „Ich fühle es, Alice, ich fühle es, er liebt sie; er hat vorhin an sie gedacht!“ schluchzte sie.
Frau von Berg lächelte. Sie hatte keinen Grund mehr zur Schonung; sie haßte alle diese Menschen seit ihrer heutigen Niederlage und fühlte etwas von dem wonnigen Behagen, mit dem ein Anarchist daran denken mag, mittelst einer winzigen Dynamitpatrone eine ganze Gesellschaft in die Luft zu sprengen, Unschuldige und Schuldige.
„Prinzessin, jetzt keine unnöthigen Thränen,“ sagte sie kühl, „jetzt müssen Sie handeln. Vor allen Dingen, meine ich, müßte der Herzogin bewiesen werden, daß Durchlaucht keineswegs ‚im Fieber‘ gestern Abend redeten. Alles andere würde sich dann finden.“
Und Frau von Berg sah im Geiste schon die ganze Klique in die Luft fliegen; ihretwegen auch dieses kindische unentschlossene Geschöpf.
„Aber ich kann es ihr nicht sagen, ich kann es nicht!“ flüsterte die Prinzessin; „ich habe einmal sehen müssen, wie sie ein Reh krankgeschossen hatten, und ebenso blickte sie mich gestern an; ich kann es nicht! Ich habe die ganze Nacht deshalb nicht geschlafen.“
Frau von Berg zuckte die Achseln. „So gehen Durchlaucht nach Ostende; die Idylle hier wird sich um so ungestörter entwickeln.“
Draußen warf der Wirbelsturm, der vor dem Gewitter daherbrauste, Sand und Blätter gegen die Fenster und zerzauste wüthend die Aeste der Linden; dann fuhr der erste grelle Blitz hernieder und streifte das spöttisch verzogene Gesicht der schönen Frau, die am Fenster lehnte und in das Toben hinausschaute.
„Ich will ihr schreiben“ sagte jetzt die Prinzessin. „Sie würde mich ja so wie so gar nicht annehmen.“ Und nach einer Pause, während welcher ein Donnerschlag das Haus erbeben machte: „Ich bin es ihr schuldig – ja, ja, ich bin es ihr schuldig; Sie haben Recht, Alice. Kommen Sie in mein Zimmer, ich fürchte mich.“
Frau von Berg zündete eine Wachskerze auf dem Schreibtisch an und leuchtete der Prinzessin über den Korridor nach ihrem Zimmer. Auf dem weißen runden Frauengesicht lag ein Zug höchster Befriedigung. „Endlich!“ dachte sie und ballte heimlich die Faust; wenn noch eine Spur von Milde in ihr gewesen, der gestrige Abend hätte sie verlöscht. Wie hochmüthig sie an ihr vorübergeschritten war, als Baron Gerold sie – Frau von Berg, eine geborne Cornetzky – gemaßregelt; sie, deren Vorfahren mindestens so alt waren als ihre; sie stammten nachweisbar von den Sobieskis ab. In ihren Augen leuchtete es auf; der Herzog hatte sie gestern seit langer Zeit wieder einmal angesprochen und sie hatte resolut gewagt, ihn an schwüle vergangene Zeiten zu erinnern. Er war damals als junger Prinz blindlings in sie verliebt gewesen; und alte Liebe –
„Was meinen Sie, Alice,“ unterbrach die Prinzessin den kühnen Flug dieser Gedanken, „wie soll ich schreiben?“
Die graziöse Gestalt der kleinen Durchlaucht saß vor dem Rokokoschreibtischchen, vor sich ein wappengeschmücktes Briefblatt; vorläufig stand nichts weiter daraus als: „Geliebte Elisabeth!“
„Irgend so etwas, Durchlaucht, wie – daß die Sorge um das Glück Ihrer Hoheit Sie veranlasse, die gestern hingeworfene Bemerkung noch näher zu begründen; Durchlaucht könnten es vor [295] Ihrem Gewissen nicht verantworten und so weiter, und hier sei der Beweis –“
Die Prinzessin wandte den Kopf und schrieb. Draußen tobte das Wetter, und wenn ein Donnerschlag das Haus erschütterte, hielt die schreibende Mädchenhand inne. Zuweilen fuhr sich die Prinzessin ängstlich über die Stirn; dann flog die Feder aufs neue über das Papier, und endlich reichte das Mädchen der bewegungslos inmitten des Zimmers stehenden Frau das Schreiben.
Diese trat näher zu der kleinen Kerze und las. „Wie immer con passione,“ sagte sie, „rührend! Und nun das Briefchen Sr. Hoheit, Durchlaucht,“ und ihre Augen schimmerten wie die einer beutegierigen Katze.
Die Prinzessin zog das Kettchen unter ihrem weißen gestickten Kleide hervor; zögernd nahm sie den Brief aus der Kapsel und schloß dann die Hand zur Faust darum. Ein letzter Kampf rang in ihrem Herzen. Frau von Berg lehnte an der Wand neben dem Tische und spielte mit der Quaste ihres Kleides. „Uebrigens,“ sagte sie langsam, ohne aufzuschauen, „süperbe sah sie aus, gestern diese Claudine. Sie haben einen eigenen Reiz, diese blonden Frauen mit den feuchten blauen Augen –“ Aber sie bemerkte doch, daß die Prinzessin bereits mit zitternden Fingern das Kouvert schrieb.
In diesem Augenblick erschien die Komtesse, um ihre junge Gebieterin zu der Mutter zu rufen. Die alte Prinzessin hatte Nervenzufälle und war in jener krankhaften Verfassung, wo sie Sachen zerschlug, Stoffe zerriß und mit Schimpfwörtern verschwenderisch umging. Auch heute tobte sie wie das Wetter draußen. Mit verweinten Augen kam die Prinzessin nach einer halben Stunde zurück in ihr Gemach; sie hatte mit stummem Trotz die ganze Fluth der Vorwürfe hingenommen. Sie war doch wahrhaftig nicht schuld, daß ihre Mutter in dieser dumpfen Luft nicht länger athmen konnte, und daß die Herzogin-Mutter so kühl geantwortet auf das vertrauliche Schreiben Ihrer Durchlaucht! Warum schrieb sie an diese formenstrenge Dame mit ihren untadeligen Manieren, die ja stets eine Affenliebe für Claudine gezeigt hatte? – Auf dem Schreibtisch flackerte noch das Wachslicht im Verlöschen; die hastig hingeworfene Feder lag neben dem Schreibzeug, aber – die kleine Hand fuhr nach der Stirn – der Brief? Wo war der Brief?
Eine zitternde Angst überfiel sie; sie stürzte durch den Korridor nach Frau von Bergs Zimmer.
„Alice!“ schrie sie in die Dunkelheit hinein, „der Brief! Wo haben Sie den Brief? Ich will ihn noch einmal lesen!“
Keine Antwort.
„Alice!“ rief sie heftig und trat mit dem Fuße auf.
Alles blieb still.
Ohne an ihre verweinten Augen zu denken, lief sie die Treppe hinunter; durch die halb geöffnete Thür der Halle drang wundervoll erfrischende Luft herein, es hatte aufgehört zu regnen. Draußen auf den Steinfliesen glitt ein Schatten auf und ab.
„Alice!“ rief die Prinzessin zum dritten Male und eilte hinaus. „Der Brief? Wo ist der Brief?“
„Durchlaucht, ich habe ihn pünktlich besorgt.“
Ein halb erstickter Schrei kam aus dem Munde der erregten Prinzessin.
„Wer hat Ihnen befohlen, den Brief abgehen zu lassen?“ stammelte sie zornig und faßte die Schulter der Dame.
„Nun, Durchlaucht,“ erwiderte diese, nicht im mindesten aus der Fassung gebracht, „ich fand just Gelegenheit.“
Aber die Prinzessin beruhigte sich nicht. „Und was soll ich sagen, woher ich dieses entsetzliche Billet habe?“ fragte sie, die Hände in einander windend.
„Gefunden!“ erwiderte die Berg.
„Ich lüge nie!“ rief das fürstliche Mädchen und ihre zierliche Gestalt wuchs förmlich. „Von Ihnen wisse ich es, werde ich sagen, so wahr mir Gott helfe, und ich spreche die Wahrheit damit, Alice!“
„Wie Durchlaucht darüber denken – dann habe ich das Briefchen gefunden,“ erwiderte sie. „Ich gab es dem Reitknecht mit, den der Baron an Fräulein von Gerold noch Altenstein sandte; er soll es an Frau von Katzenstein abgeben; ich schrieb ihr ein paar Worte, daß sie das inliegende Billet Ew. Durchlaucht morgen früh Ihrer Hoheit überreichen solle.“
Die Prinzessin war still geworden; sie hielt sich an dem im blassen Mondlicht schimmernden Thürklopfer von Bronze, den der sterngeschmückte Hirsch krönte. Sie konnte nicht mehr klar denken, sie fühlte sich unsäglich elend.
Frau von Berg wußte ganz genau, daß es ein Brief Beatens war, den der Reitknecht forttrug; aber warum das sagen? So wurde das Feuer noch mehr geschürt.
Die Prinzessin wandte sich in die Halle zurück und dort stand sie still. Es war eine Furcht, ein unnennbares Grauen über sie gekommen.
Beate trat eben aus dem Zimmer Lothars, das Schlüsselkörbchen am Arm. „Prinzessin!“ rief sie erschreckt, „wie sehen Sie aus!“
Da kam es wie Leben über sie. Sie eilte die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, und da wühlte sie die Hände ins Haar und lag angekleidet auf ihrem Bette die Nacht hindurch, halb bewußtlos, und fürchtete, daß es Tag werden möchte.
Die Herzogin hatte beim Ausbruch des Wetters ihre Kinder holen lassen; das jüngste schmiegte sich an sie, die, von Kissen unterstützt, im Bette hoch saß; der Erbprinz stand muthig am Fenster und schaute in die blitzdurchzuckte Nacht hinaus, und den zweiten Prinzen hatte Claudine auf dem Schoß.
Neben dem Erbprinzen stand der Herzog und horchte auf das Prasseln des Hagels und betrachtete die Wassermassen, die der Sturm an die Scheiben warf; die Herzogin plauderte mit dem Baby; im Nebenzimmer befanden sich Frau von Katzenstein, die Gouvernante der Prinzen und die Kammerfrau.
Als der Donner sich entfernte und der Regen nachließ, wurden die fürstlichen Kinder in ihre Zimmer entlassen. Der Erbprinz sah Claudinen einen Augenblick in das Gesicht.
„Haben Sie sich gefürchtet?“ fragte er.
Sie schüttelte freundlich den schönen Kopf.
„Das gefällt mir,“ sagte der schlanke Junge, „Mama fürchtet sich immer gleich.“
Die Mutter zog ihr Kind an sich.
„Fräulein von Gerold gefällt Dir überhaupt?“ forschte sie mit trübem Lächeln.
„Ja, Mama,“ antwortete der Knabe, „wenn ich groß wäre, würde ich sie heirathen.“
Niemand lachte über dieses Kindeswort; der Herzog am Fenster rührte sich nicht und Claudine war verlegen. Die Herzogin nickte: „Schlaft wohl, Ihr lieben, lieben Kinder, Gott behüte Euch!“
Als das Getrappel der kleinen Füße verhallt war, sagte sie leise. „Ich bin recht müde, Adalbert.“
Auch der Herzog empfahl sich. Er küßte seine Gemahlin auf die Stirn und verließ das Gemach. „Erwache gesund morgen!“ sagte er noch.
„Ich verspreche es Dir!“ erwiderte sie freundlich.
Claudine wollte sich mit Frau von Katzenstein in die Nachtwache theilen. Sie ging in das Zimmer, das man ihr angewiesen, das nämliche, in dem sie geschlafen, als sie noch Kind dieses Hauses war, und zog sich ein bequemeres, wärmeres Kleid an. Dann kehrte sie zurück und saß neben dem Bette, still und geduldig.
Die Herzogin lag mit geschlossenen Augen. Die kleine Nachtuhr tickte leise; das Bildniß der Madonna leuchtete matt herüber, des Mädchens Augen blieben hängen an diesem holden Antlitze und wanderten dann zu dem bleichen der Kranken. Dann sank ihr Kopf an das Polster, sie schloß die Augen und dachte nach.
Sie war wohl müde von der gestrigen Nacht; ein leises traumhaftes Dämmern kam über sie; sie sah sich mit seinem Kinde aus dem Arme und fühlte seinen Dankeskuß auf der Hand und sie lächelte im Schlaf. Dann schreckte sie empor und saß wachend, und ein Grauen schlich durch ihren Körper. Sie sah in die Augen der Herzogin , die mit einem unheimlich forschenden Ausdruck auf sie gerichtet waren, so seltsam starr!
„Elisabeth,“ fragte sie unter leisem Frösteln, „kannst Du nicht schlafen?“
„Nein!“ war die kurze Antwort.
„Soll ich Dir vorlesen?“
„Nein, ich danke!“
„Willst Du plaudern? Soll ich Dir das Kopfkissen zurechtlegen?“
„Gieb mir die Hand, Claudine; war ich sehr unleidlich heute?“
„Ach, Elisabeth, das kannst Du gar nicht sein!“ rief das Mädchen und knieete neben ihr.
[296]
[297] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [298] „Doch, doch! Ich fühle es. Aber dann – dann ist mein Herz krank und Du mußt verzeihen.“
„Sag’, Elisabeth, geschah Dir ein Weh?“
„Nein; ich dachte nur ans Sterben, Claudine.“
„O, denke das doch nicht!“
„Du weißt ja, Claudine, daß wider die Liebe und den Tod kein Kraut gewachsen ist! Ich glaube, ich fürchte auch nicht den Tod, ich habe eher Angst vor dem Weiterleben.“
„Du bist überaus angegriffen, Elisabeth.“
„Ja, ja; und ich bin so müde. Du sollst auch schlafen, es ist besser, ich bleibe allein; bitte, geh’! Die Kammerfrau wacht nebenan; geh! Ich muß Dich immer ansehen, wenn Du hier sitzest.“
Claudine beugte sich betrübt über die fieberheiße Hand und zog sich zurück. Gegen Mitternacht schlich sie sich im Nachtkleide nach dem Krankenzimmer und lauschte hinter dem rothen seidenen Vorhang, ob die Herzogin wohl schlafe. Es war alles still; aber als durch ihre Bewegung die Falten leise rauschten, wandten sich langsam die großen dunklen Augen der Kranken mit dem nämlichen starren fragenden Ausdruck wie vorhin zu ihr herüber. „Was willst Du?“ fragte sie.
Claudine trat vor. „Ich ängstige mich um Dich,“ sagte sie, „verzeihe!“
„Sage mir,“ sprach die Herzogin völlig unvermittelt, „warum wolltest Du gestern anfänglich nicht nach Neuhaus?“
Claudine war betroffen. Sie trat näher. „Warum ich nicht nach Neuhaus wollte?“ wiederholte sie erglühend. Dann schwieg sie. Es war ihr nicht möglich zu sagen: weil ich Lothar liebe, und weil er mich kränkt, wo er mich sieht – weil er mir mißtraut, weil –
Die Herzogin wandte sich plötzlich um. „Laß, laß, ich will keine Antwort. Geh’, geh’!“
Rathlos wandte sich das Mädchen der Thür zu.
„Claudine! Claudine!“ scholl es hinter ihr, herzzerreißend und bang. Die Kranke saß im Bette hoch und breitete die Arme nach ihr; angstvoll hingen die flehenden Augen an den ihren.
Sie kam zurück, setzte sich auf das Bett und nahm die zarte bebende Gestalt in die Arme.
„Elisabeth,“ sagte sie innig, „laß mich bei Dir bleiben!“
„Verzeihe mir, ach, verzeihe!“ schluchzte die Herzogin, das Mädchen küssend, ihr Kleid, das lange blonde Haar, das lose auf den Rücken herniederfiel, und ihre Augen. „Sage mir,“ flüsterte sie, „sage es ganz laut, daß Du mich lieb hast!“
„Ich habe Dich sehr lieb, Elisabeth,“ sprach Claudine und trocknete die großen Tropfen, die über das heiße erregte Gesicht der Kranken liefen, wie eine Mutter ihrem Kinde thut. „Du weißt überhaupt nicht, wie sehr, Elisabeth.“
Erschöpft sank die Herzogin zurück „Ich danke Dir – ich bin so müde!“
Claudine saß noch ein Weilchen; dann, als sie glaubte, die Kranke schlafe, wand sie leise ihre Hand aus derjenigen der Freundin und verließ auf den Zehen das Gemach. Ein seltsames Grauen schlich ihr nach. Was war es mit der Herzogin? Dieses Anstarren, diese Kälte, diese leidenschaftliche Zärtlichkeit?
„Sie ist krank!“ sagte sie sich.
Sie stand vor dem Spiegel, um das gelöste Haar zu befestigen – ein mißtrauischer Gedanke kam ihr; die Hand, welche die Schildpattnadel hielt, sank herunter. Dann schüttelte sie stolz die goldene Fluth in den Nacken zurück. Weder sie, noch die Herzogin waren kleinlich genug, an Klatsch zu glauben.
Eine jener ahnungsvollen unbegreiflichen Ideenverbindungen ließ blitzgleich die Erinnerung an das verschwundene Billet auftauchen. Ein dumpfes ängstliches Herzklopfen überfiel sie im Augenblick. Dann lächelte sie – wer konnte wissen, in welchem Waldeckchen es vermodert im Regen und Thau?
Sie nahm das kleine Gebetbuch, aus dem ihre Mutter schon allabendlich ihr Sprüchlein gelesen und schlug irgend eine Seite auf:
„Behüte mich, Herr, vor böser Nachrede und wehre meinen Feinden! Laß kein Uebel mir und den Meinen begegnen und keine Plage unserer Wohnung sich nahen –“ las sie und ihre Gedanken flogen nach dem friedlichen Hause, aus dessen Thurmgemach die Studirlampe des Bruders in den Wald hinaus schimmerte. Und von dort wanderten sie an das Bettchen des mutterlosen Kindes in Neuhaus. „Beschirme es auch ferner, lieber Gott, wie Du es gestern behütet hast!“ flüsterte sie und senkte die Augen wieder aus das Buch. „Erbarme Dich der Kranken, die schlaflos auf ihrem Lager nach Linderung schmachten,“ las sie weiter. „und aller Sterbenden, denen diese Nacht die letzte sein soll.“
Das Buch entglitt ihren Händen, eine eiskalte Furcht erfaßte sie – das entstellte Antlitz der Herzogin schaute sie plötzlich an. Sie barg den Kopf in die Kissen – wie kam sie auf so Schreckliches?
Erst nach einer langen Weile richtete sie sich auf und hüllte sich fröstelnd in die Decken. Und sie ließ die Lampe brennen auf dem Tischchen, sie mochte nicht im Dunkeln bleiben.
Der andere Morgen war so golden, so klar, von so köstlicher Frische. Die Sonne funkelte in Millionen Thautropfen auf den weiten Rasenflächen des Altensteiner Parkes, wo eine Schar Arbeiter die Vorbereitungen zu einem Feste traf; wie lustig und bunt das Alles erschien! Eine Stange hatten sie errichtet mit einem buntgemalten Vogel daran, ein Karoussel aufgestellt, dessen Pferdchen purpurrote Decken trugen, ein Kasperletheater und ein roth und weiß gestreiftes Zelt, von dessen Dache lustig eine Menge Purpurfähnchen und Wimpel wehten. Im Schatten der Bäume befand sich eine Tribüne für die Musikanten und ein gedielter Platz zum Tanz, alles für kleine Leute berechnet.
Der Erbprinz feierte heute seinen Geburtstag, und dies war die Ueberraschung seiner Großmama väterlicherseits, außer dem reizenden kleinen Schimmel, der gestern Abend heimlich in den Pferdestall geführt war und sich dort an der Krippe wohl sein ließ, obwohl er kaum recht hinaufreichen konnte.
Die Herzogin-Mutter wurde gegen Mittag erwartet laut einer Depesche, die in aller Morgenfrühe eingetroffen war. Um zwei Uhr sollte die Familientafel stattfinden, und zum Nachmittag war eine Menge Einladungen ergangen, besonders Kindereinladungen. Selbst die kleine Elisabeth aus dem Eulenhause und Leonie, Baronesse von Gerold, waren mittelst großer feierlicher Karten befohlen.
Das Unwohlsein der Herzogin, dazu das gestrige Unwetter, hatte mancherlei Bedenken erregt. Würde das Fest stattfinden können? Aber, Gott sei Dank, die gefürchtete Absage war nicht erfolgt, Ihre Hoheit befanden sich wohler und das Wetter war unvergleichlich. Man durfte ungetrübt sich auf den interessanten Nachmittag freuen als auf eine Fortsetzung von neulich. Es war ja da in Neuhaus einfach „göttlich“ gewesen, „pikant wie ein Kapitel von Daudet,“ sagte Excellenz Plassen zur Gräfin Lilienstein, als sie ihre Morgenpromenade im Walde machten, und dann wisperten sie sich geheimnißvoll in die Ohren und Ihre Excellenz verdrehte die Augen.
„Wenn sie nur schlau genug ist, heirathet er sie auch noch einmal, die Nachfolge ist ja gesichert,“ meinte die Dame endlich.
„Keine Sorge, meine liebe Gräfin, die Gerolds verstehen alle ihren Vortheil. Der Baron bekommt auch noch die zweite Prinzessin – er thut zwar gewaltig spröde –“
„Schlauheit, liebste Gräfin.“
„Ah! Sie verkehren ja schon wie intime Familien; der Herzog nennt ihn verschiedentlich ‚Vetter‘“
„Kann er auch – doppelte Verwandtschaft!“ Und sie lachte über ihren Witz.
„Ahnt die Herzogin wirklich nichts?“ fragte einer der Herren in der Kegelbahn zur „Forelle“, wo man eine kleine Partie zum Frühschoppen machte, „oder übersieht sie es geflissentlich?“
„Möglich, sie ist eine gescheite Frau,“ meinte Baron Elbenstein und wog eine Kugel in der Hand.
„Warum nicht gar!“ widersprach der dicke Major Baumberg; „die arme Frau sieht, was ihren Gemahl anlangt, in einen goldenen Becher – sie hat keine Ahnung – sie vergöttert so den Herzog.“
„Eben deshalb – sie gönnt ihm sein Glück!“
„Verteufelt hübsches Weib, die Gerold!“
„Reizend!“
„Ueber alles erhaben!“
„Und grundkokett!“
„Und schlau, schlau! Welch ein feiner Schachzug – läuft aus der Hofdamenstellung in diese Wildniß gerade in dem Augenblick, wo das väterliche Gut subhastirt wird. Famos, nicht? “ „Und er biß an!“ sagte ein melancholischer Herr von der Gesandtschaft.
[299] Die alte Excellenz mit dem ehrwürdigen weißen Haupt zog mißbilligend die struppigen Augenbrauen in die Höhe. „Ihre Hoheit ist eine feinfühlende Dame,“ sagte er mit seiner vor permanenter Heiserkeit kaum vernehmbaren Stimme. „Meine Herren, ich muß bitten!“
Er wurde nicht gehört.
„Alles schon dagewesen!“ rief einer, der eben „Acht um den König“ geworfen.
Noch einmal trat Seine Excellenz für die so hart Verurteilte ein und suchte zu beweisen, daß es eine ganz nichtswürdige Klatscherei sei, aber mitten darin schnappte ihm die krähende Stimme über, er pustete noch ein paarmal, trocknete sein dunkelrothes feuchtes Antlitz ab, trank zornig sein Bier aus und verließ die Lästermäuler.
„Unglaublich! Unglaublich!“ murmelte er vor sich hin. Und als er einem Paar junger Damen begegnete, die leise plaudernd an ihm vorbeischritten, schaute er den hübschen Gestalten ingrimmig nach. „Wette, die flüstern auch von dem Skandal; grüne Dinger, die noch gar kein Urtheil haben. Ei, so wollte ich doch, daß –“ Aber die gute Excellenz vermochte dem Raunen und Wispern auch mit den kräftigsten Verwünschungen keinen Einhalt zu thun. Leise, leise flüsterte es weiter. So wie der Sommerwind rauschte in den Waldbäumen von Wipfel zu Wipfel, ging es von Ohr zu Ohr; sogar die Dienerschaft steckte die Köpfe zusammen, und immer weiter abwärts war es bereits gedrungen; die Schwalben zwitscherten es in den Nestern der Dorfhütten, und eine Nachbarin erzählte es der andern. Und in einer der ärmlichsten kleinen Hütten saß eine alte Bäuerin und schrieb mit kindlicher Begeisterung an das gnädige Fräulein von Gerold und bat dieselbe, sie möge dem Herrn Herzog sagen, er solle ihren Sohn vom Militär freimachen, wenn sie das thäte, würde es gewiß helfen.
Im Schlosse war es heute schon früh lautlos lebendig. Das zierliche Stubenmädchen, das auf einen Druck der elektrischen Klingel in Claudinens Zimmer trat, brachte einige Briefe mit.
„Weiß man schon, wie Ihre Hoheit sich befinden?“ fragte Claudine.
„O, außerordentlich gut! Hoheit sollen so schön geschlafen haben und wollen um elf Uhr dem Erbprinzen im rothen Salon einbescheren.“
„Gott sei Dank!“
Claudine sandte das Mädchen an die Kammerfrau und ließ durch sie um weitere Befehle bitten. Als sie Toilette gemacht hatte, erbrach sie die Briefe; einer war von Beate, die ihr versprach, sich um die kleine Elisabeth zu bekümmern und das Kind heute zu dem Feste abzuholen.
„Ich komme mit zwei Nichten zum Hofball,“ schrieb sie, „wie klingt das ehrwürdig – und wie drollig ist es in Wirklichkeit. Die Würmer! Gott gebe, daß Hoheit wohler, wenn Du diese Zeilen erhältst. Lothar ist bereits mit den Durchlauchtigsten zur Tafel befohlen. Ich wollte, Claudine, wenn er denn einmal durchaus eine Prinzessin freien will, er machte die Sache klar. Dies lange Schmachten ist mir fremd an ihm, er ist doch sonst ein so resoluter Mensch. Vielleicht jetzt, wo die alte Durchlaucht abreisen will? Ach, Claudine, ich hatte mir meine Schwägerin einmal anders vorgestellt. Auf Wiedersehen!“
Trüben Auges legte Claudine den Brief bei Seite und öffnete mechanisch den zweiten. Welch eine grobe ungelenke Hand, und welche Idee! Claudine lächelte; sie sollte vom Herzoge erbitten, daß er einer armen Mutter den Sohn vom Militär freigebe? – Und auf einmal wurde sie leichenblaß. Mein Gott, was für ein Zeichen! Wie kam die alte Bäuerin auf sie?
Das war einer der Briefe, wie sie sonst an die Herzogin gelangten.
Sie warf stolz den schönen Kopf zurück. Lächerlich! Im Gehirn solcher Leute steigen mitunter wunderliche Blasen auf. Sie beschloß, den Brief der Herzogin zu zeigen; sie würde sich amüsiren.
Es lag doch wie ein schwerer Druck auf ihrer Brust; der dumme Brief war ihr wie ein feiner haarscharfer Nadelstich ins Herz gefahren.
Weshalb rief man sie denn nicht zu Ihrer Hoheit?
Wie gewöhnlich, werden die Nützlichsten am meisten verhöhnt und verspottet. „Sie armes deutsches Huhn!“ sagte einer meiner Bekannten einem norddeutschen Fräulein, das uns sein ungemessenes Leiden als Gouvernante mit bewegten Worten schilderte. – Wenn mein Onkel Forstrath die höchste Stufe einer verdatterten, verirrten und niemals sich zurechtfindenden Person bezeichnen wollte, sagte er. „Sie ist ein blindes Schneehuhn!“
Und erst die Gans! Der Typus der unbeholfenen, täppischen, gackernden Dummheit, zu dem wir, beiläufig sei es gesagt, die Gans durch ihre Zähmung erzogen haben; denn die wilde Gans ist ein intelligenter, schlauer und vorsichtiger Vogel, wie alle Jäger wissen.
Man hat gesagt, die Hühnervögel gehörten den Oelländern, die Gänse den Butterländern an. Es ist etwas Wahres daran, obgleich die Grenzen zwischen beiden Gebieten weit in einander übergreifen und sich gegenseitig durchdringen. Das Hühnergeschlecht hat das größte Gebiet und herrscht in den Tropenländern ausschließlich; die Gänse wiegen nur in der kälteren gemäßigten Zone bis zu dem Polarkreise hin vor. Bis dorthin folgt ihnen freilich das Haushuhn und darüber hinaus das nordische Schneehuhn, die Rype, aber das Haushuhn verkümmert in der Kälte, und schon in Norddeutschland lassen dort geborene und aufgefütterte Hühner oder gar Truthähne alles zu wünschen übrig, was der verwöhnte Gaumen an einem in der Bresse[1] gezüchteten Hühnervogel Vorzügliches zu finden gewohnt ist.
Als Haus- und Jagdthiere stehen die beiden Familien der Hühnervögel einerseits, die zahnschnäbligen Schwimmvögel, Gänse und Enten andererseits, um so mehr allen übrigen Vögeln zusammen voran für die menschliche Oekonomie, als Eier, Leber, Brüste und so manche andere Theile die Grundlage einer Menge von Speisen und Leckerbissen bilden. Der internationale Handel mit Hühnereiern allein setzt jährlich mehr Millionen Mark um, als der Handel mit Gänseleberpasteten und geräucherten Gänsebrüsten Hunderttausende. In der Hühnerfamilie wurzelt die koloniale Zukunft Deutschlands. Wo Kolonisten sich ansiedeln, hört die Jagd bald auf, und dann bleibt kein anderes Fleisch, als dasjenige der Hausthiere, in Afrika speziell der Hühner. Ich kannte einen Kaufmann, der fünfzehn Jahre am Senegal zugebracht hatte, wo Huhn mit Reis und Reis mit Huhn ohne Unterbrechung in angenehmer Weise abwechselte. Er konnte kein Hühnerfleisch mehr genießen. Die Perlhühner sind die nationalen Hühnervögel des dunkeln Weltteils. Deutschlands Kolonisten in Ostafrika, Kamerun und Angra Pequena werden die französischen und steyrischen Hühner- und Kapaunenzüchter auf dem Weltmarkt schlagen, wenn sie Perlhühner züchten und mästen. Namentlich im Lüderitzlande dürfte das Geschäft vorteilhaft sein, weil es dort an Sand nicht fehlt, in dem die Perlhühner sich puddeln und ihre nackten Köpfe vor den glühenden Sonnenstrahlen bergen können. Die Errichtung eines kolonialen Reichshühnerzuchtamtes scheint mir ein dringendes Bedürfniß!
Ich will jedoch weder von Hühnern und Gänsen überhaupt, noch von den verschiedenen gastronomischen Fragen sprechen, welche sich an das zahme und wilde Federvieh knüpfen, und auch von den Kibitzeiern will ich schweigen, obgleich dieselben zu meinem Gegenstande hinüberleiten und sie außerdem noch dadurch interessant sind, daß ihre Erstlinge bekanntlich alljährlich dem Fürsten Bismarck eingesendet werden und Brehm, trotz dieser patriotischen Beziehung, in seinem „Thierleben“ sie gänzlich als Nährgegenstand zu erwähnen vergessen hat. Es wird Brehm wohl so gegangen sein wie mir: er wird den öligen Dingern keinen rechten Geschmack haben abgewinnen können.
Recht wohlschmeckend sind aber die Eier der zahllosen nordischen Schwimm- und Tauchvögel, der Enten, Möven, Seeschwalben,
[300] Seepapageien, Lummen, Alke und wie sie alle heißen mögen. Besonders jenseit des Polarkreises, wo keine andern Eier zu haben sind, lernt man sie schätzen, trotz ihres oft hochrothen Dotters. Meist kümmern sich diese Vögel wenig um den Nestbau, sie legen die Eier auf den kurzen Rasen, in kleine Vertiefungen im Sand, auf die nackten Felsen und scharren höchstens einige Strohhalme oder auch einige Federn hinzu. Nur die Eidergans, die wohl gehütet und gehegt wird, füttert ihre Nester mit den so hochgeschätzten Dunen aus. Ueberall sieht man die Strandbewohner während des endlosen Tages auf den Uferklippen und an den Buchten umher suchen und die frisch gelegten Eier einheimsen; die Kinder und jungen Mädchen sind besonders mit dieser Suche betraut.
Wo aber die Uferklippen sich fast senkrecht aus dem Meere aufschwingen und durch Bildung von schmalen Terrassen und Gesimsen und Zwischenlagerung weicher Schiefer und Thone zwischen die härteren Gesteinsschichten den Vögeln bequeme und gesicherte Brutplätze herstellen, an den sogenannten Vogelbergen, da gestaltet sich die Eiersuche anders; da wird sie zuweilen lebensgefährliche Männerarbeit und verbindet sich mit der Jagd nach den noch nicht flüggen Jungen, welche wahre Fettklumpen sind und sogar im südlichen Norwegen, ja in Kopenhagen als Leckerbissen gelten sollen, und mit dem Fange der alten Vögel, welche um ihrer Dunen willen ergattert werden. Die Gneiße und Glimmerschiefer der Inseln Nordlands, die Basalte der Färöer und Islands sind die geeignetsten Gesteine für solche Vogelberge, deren ich mehrere besucht und in meiner „Nordfahrt“ beschrieben habe. Einige Vogelarten wie die kleinen Sturmtaucher und die Seepapageien graben klaftertiefe Röhren in die Erde, in welche sie ein, höchstens zwei Eier legen, auf denen stets ein alter Vogel sitzt, selbst wenn das Junge längst ausgekrochen ist.
Bischof Erich Pontoppidan, auf dessen „Natürliche Historie von Norwegen“ man stets zurückgreifen muß, obgleich sie schon vor 130 Jahren verfaßt wurde, giebt eine sehr anschauliche, mit einer Abbildung gezierte Beschreibung des Gebahrens der „Fugle-Mänd“ (Vogelmänner), das sich schließlich nicht allzusehr von den Gepflogenheiten der Alpenfexe, wie die Oesterreicher sie nennen, unterscheidet.
„Sie gebrauchen vornehmlich zwo Arten, die Vögel aufzusuchen. Entweder klettern sie von unten hinauf auf diese hohen Vorgebirge, die so jähe sind, wie eine Wand; oder sie lassen sich an einem dicken Stricke von Hanf von oben herunter in den Berg.
Wenn sie von unten hinaufklettern, so haben sie eine Stange, die 11 bis 12 Ellen lang und woran an dem einen Ende ein eiserner Haken ist, bei sich; diese machen diejenigen, die unten im Boote oder auf der Klippe sind, an einem an den Beinkleidern befindlichen Strick oder an einem andern Strick fest, den der erste, der hinaufsteigt, sich um den Leib gebunden hat; und so helfen sie ihm hinauf bis auf die oberste Höhe, wo er zuerst festen Fuß fassen kann; dann helfen sie auf eben diese Art noch einem andern Mann zu ihm hinauf. Und wenn nun solchergestalt zweene etwas hinauf gekommen sind und sie ihre Vogelstangen in den Händen haben und zwischen sich ein langes Seil, dessen beyde Enden ihnen um den Leib gebunden sind, so klettern sie immer höher und so gut sie können. Stößet ihnen eine Beschwerlichkeit auf, so schiebet einer den andern hinauf, indem er seine Vogelstange dem andern unter den Hintern setzet. Ist nun der erste auf eine Felsenhöhe gekommen, so hilft er dem andern mit dem Seile zu sich hinauf. Und auf diese Art fahren sie fort, bis sie so hoch sind, wo der Vogel sich aufhält.
Dieses ist die andere Art des Fanges, welche auf diese Art geschiehet. Sie nehmen ein langes Seil, das 80 bis 100 Klaftern lang und drei Daumen dicke ist. Das Ende davon bindet der Vogler um seinen Leib, da wo der Gürtel sitzt und unten zwischen den Beinen ganz fest, also daß er darin sitzen kann, und solchergestalt lässet er sich an seinem Seile herab, indem er seine Vogelstange bei sich hat. Sechs Männer halten das Seil oben und lassen das Seil nach und nach sinken. Sie legen aber einen großen Baumklotz auf das Aeußerste der Seite des Berges, aus welchem das Seil herabgehet, damit es nicht durch die harten und scharfen Steinspitzen zerbrechen oder zerreißen soll. Ueber dieses haben sie auch ein dünnes Zugseil dabey, welches ebenfalls um den Leib des Voglers befestigt ist, womit er dann Zeichen geben kann.
Auf diese Art,“ fügt Pontoppidan hinzu, „kommen in jedem Jahr einige ums Leben. Vorzeiten sei in Norwegen ein Gesetz in Kraft gewesen, wonach der nächste Freund eines Abgestürzten denselben Weg hätte gehen sollen; wo aber dieser solches weder könnte noch dürfte thun, so sollte der Todte auf keinem Kirchhof begraben werden, als einer, der zu vermessen gewesen und sein eigener Mörder geworden. Doch anitzt findet man keine Spur von diesem Gesetze.“
In Norwegen huldigt man auch zuweilen dem Fortschritt. An einigen Orten hat man Winden angebracht, an welchen zwei Mann sicherer und mit weniger Anstrengung dasselbe leisten wie früher sechs. Auf Loppen fängt man die Vögel in sehr einfacher Weise. Man breitet am Fuße des Felsens große, schwimmende Netze aus und feuert dann einige Schüsse ab. Alle Tauchvögel, Alke, Lumme etc., welche die besten Dunen bringen, stürzen sich zur Flucht in das Meer und fangen sich in den Netzen. Wir haben mit Erlaubniß des Besitzers der Insel einige Schüsse abgefeuert; es war, als stürzte der Fels herab in die See. Aber es ist klar, daß eine solche Jagd nur bei ganz ruhigem Wasser betrieben werden und daß sie nur alte Vögel zu Dunen liefern kann.
Nicht nur zu Federn, sondern auch zur Nahrung. „Sie verzehren einen Theil derselben frisch, einen andern Theil, zumal wenn der Fang reichlich gewesen, hängen sie auf und trocknen sie zum Wintervorrath,“ sagt Pontoppidan. Eine fürchterlich thraurige Speise! An einigen Orten Islands, wo die Leute nichts anderem haben, als Fische und Seevögel, können die Frauen ihre Kinder nicht selbst nähren: so schlecht wird ihre Milch durch diese Nahrung. Die meisten Eier werden an zugänglichen Orten gesammelt; mit Lebensgefahr erbeutet man thranige Fettklumpen von Jungen, thranige, zähe alte Vögel und Federn. Ist die Beute der Mühe und Gefahr werth?
Im Süden wagt man das Leben an scheinbar noch werthlosere Produkte der Vogelwelt, die sogenannten indischen Vogelnester. Man schneide ein Entenei mittelst eines Längsschnittes durch die Axe in zwei Hälften und jede Hälfte mittelst einen Querschnittes in zwei Theile, so hat man in jedem dieser Viertel nach Größe und Gestalt ein Modell eines indianischen Vogelnestes, das aber glasartig durchsichtig, wie Leim ist und zuweilen kleine Federchen oder auch rothe Blutströpfchen in seiner Masse zeigt. Mit den dem Längsschnitte entsprechenden Rändern, die oft flügelartig ausgebogen sind, war es an den Felsen angeklebt, der so die Rückwand des kleinen Nestes bildet, in welches das Vögelchen, die Salangane, zwei Eier legt. Abwechselnde Wellenstreifen zeigen, daß das papierdünne, elastische Nestchen nach und nach aus Querlagen aufgebaut wurde.
Die Salangane bewohnt die Sundainseln. Sie ist unserem Mauersegler, der Thurmschwalbe, sehr nahe verwandt, schwalbenähnlich mit sehr langen, spitzen und säbelartig gekrümmten Flügeln und äußerst kurzen Füßen, an welchen zwei Zehen nach vorn, zwei nach hinten gerichtet sind. Alle Segler besitzen eigenthümliche Drüsen unter der Zunge, die zur Nistungszeit stark anschwellen und einen klebrigen Saft absondern, der sich in Fäden zieht. Sie kitten damit ihre Nestmaterialien zusammen. Die Salangane allein benutzt nur diesen zähen Leim zum Bau ihres Nestleins.
Wie man darauf gekommen ist, diese absolut geschmacklose, arabischem Gummi ähnliche Masse, die erst nach langem Kochen in eine Brühe zergeht, welche wie Leimwasser aussieht und schmeckt, als Nahrungsmittel und zwar oft mit Lebensgefahr aufzusuchen, ist unerfindlich. Trotzdem wird vielleicht für eine Million Gulden in dieser Waare jährlich umgesetzt.
Die Salanganen wohnen mit unzähligen Fledermäusen zusammen in Felsenhöhlen am Meeresstrande, die oft nur bei Ebbe durch enge Mündungen zugänglich sind, welche bei der Fluth geschlossen werden. Die Nester hängen an den Wänden und den Decken der Ausweitungen dieser Höhlen; dort klettern die Nesterpflücker herum, indem sie Rotangseile benutzen, aus welchen sie schwebende Gerüste bilden. Die Salanganen fliegen morgens zum Insektenfang aus und kehren abends heim, wenn die Fledermäuse ausfliegen; der Nesterpflücker wird oft durch die steigende Fluth im Innern der Höhle eingeschlossen, erstickt oder ersäuft. Es ist ja nur ein Javanese, der durch einen anderen ersetzt wird, welcher vielleicht glücklicher ist!
[301]Bilder von der Ostseeküste.
Die nordöstliche Grenzmark des Deutschen Reiches wird noch viel zu selten von Vergnügungsreisenden aufgesucht. Masuren mit seinen blinkenden Seespiegeln, nicht mit Unrecht die ostpreußische Schweiz genannt, die tiefen, sumpfigen Wälder an dem majestätisch dahinrauschenden Memelstrome, in denen noch das Elenthier haust, entbehren keineswegs fesselnder, landschaftlicher Schönheiten. Und nähert man sich erst der Seeküste, da werden die Formen interessanter, malerischer, da buchtet das Meer sich zu herrlich geschwungenen Golfen; da springen Steilhöhen weit hinaus in die Fluth, da schieben Haffbildungen, Süßwasserbecken, welche ein schmaler Dünengrat von der offenen See scheidet, sich zwischen diese und das hohe, lebhaft gegliederte Land. Der baltische Küstensaum der altpreußischen Stammprovinz bietet landschaftliche Schönheiten in Fülle.
Die Weichselmündungen bei Danzig, umrandet von bewaldeten Bergzügen, die einen weiten, herrlich profilirten Golf bilden, gehören zu den erhabensten Naturscenerien Mitteleuropas. Kaum minder schön sind die Uferlandschaften Elbings. Weiter nordostwärts leuchtet ein Wasserspiegel in grüner Landschaft auf. Das ist das Kurische Haff, von einer gewaltigen Düne umschlossen. Ein Dampfer trägt uns hinüber nach derselben zu dem Stranddörfchen Schwarzort, unserem Ziel. Nordischer, ernster, aber weit gewaltiger wirkt hier die ganze Umgebung; die liebliche Anmuth, die uns an den Elbinger Ufergeländen des Frischen Haffs entzückt, weicht hier einer an diesen Küsten kaum erwarteten Großartigkeit. Keine Uferberge, kein malerischer Abschluß liegen vor unseren Blicken, wenn wir von dem Dünendorfe Schwarzort aus mit Hilfe eines Fernrohrs über den Spiegel des Haff zum festen Lande hinschauen, grüner Frucht- und Wiesenboden, mit Bäumen und Häusern freundlich staffirt, breitet sich dort aus bis zum flachen Horizonte hin.
Hier zeigt die Landschaft ihr freundliches Gesicht. Eine heitere Kolonie, liegt Schwarzort am Haffufer, gelehnt an kräftigen Hochwald mit prachtvollen Tannen, Fichten und dichtem Wachholdergebüsch. Ein gothisches Kirchlein in rothem Backsteinbau hebt sich schmuck hervor auf dem grünen Hintergrunde; Fischerwohnungen, Bauernhäuser gruppiren sich um die Kirche; weiter verstreut im Grünen, auf kleinen Hügelrücken, inmitten zierlicher Gärtchen liegen Landhäuser, Villen idealisirte Schweizerhäuser, und überall ziehen während der Sommermonate Gäste hier ein, die sich an der milden, würzigen Fichtennadelluft erfreuen oder Bäder nehmen wollen im nahen Meere, von dem uns ein nur viertelstündiger Weg über die Düne trennt. In der nicht kleinen Zahl derartiger preußischer Sommerkolonien längs des baltischen Gestades ist Schwarzort wohl eine der jüngsten; es gehört aber zu den in klimatischer Hinsicht äußerst günstig gelegenen, zu den interessantesten und eigenartigsten; seine Reize lassen sich nicht mit denen irgend einer anderen vergleichen. Erst der Wald und die Düne erschließen uns dieselben.
Anderswo kennen wir die Düne als einen fest hingelagerten Wall von Sandbergen, der vor langen Jahrhunderten von den noch im Kampfe befindlichen Elementen zu ihrer eigenen Wehr aufgeworfen ist. Hier aber lebt und wandelt die Düne noch, und wo sie sich zur Ruhe begeben, da zeugen noch deutliche Spuren von der Heftigkeit des kaum beendeten elementaren Kampfes. Seestürme jagen Wolken der kleinen scharfen krystallischen Quarzkörner, aus denen der Dünensand besteht, durch die Atmosphäre. Hier finden diese Sandwolken irgend ein Hinderniß, eine Ablenkung von ihrer Bahn; es brechen sich die Wirbel, tiefe Trichter entstehen mit hohen schroffen Wänden, die cirkusartig in fast gänzlich geschlossenem Rund emporsteigen, einen Wiesenplan, eine mit saftigen Laubbäumen, oder eine mit den üppigsten Farren bedeckte Oase bildend. Hier wächst noch das seltene Kind der nordischen Flora, die Linea borealis, deren Ranken aus unserer Anfangsvignette dargestellt sind.
Dann aber wieder jagt die wandernde Düne über das Land und begräbt, was ihr in den Weg kommt. Immer weitere Strecken verschwinden unter ihren gierigen Angriffen, und wenn auch durch Anpflanzungen und andere Schutzwehren dem Verderben Einhalt geboten wird, so läßt es sich doch nicht gänzlich bezwingen. Die scharfen feinen Quarzkörner, die der Sturm mit wüthender Gewalt daherbläst, nagen, reiben, fressen an dem Baumstamm, den sie gänzlich tödten und begraben. Uebrigens soll man nicht annehmen, daß die ganze Düne, der hohe Sandwall also vorrückt. Der Grund liegt fest und schwer, nur die obere Decke vermag den Stürmen nicht zu widerstehen und fliegt verheerend durch die Luft. Die Cirkusbildungen, die wir aufsuchen entstammen natürlich früherer Zeit.
Die Dünenbildung auf der Kurischen Nehrung, dem schmalen Landrücken, der das Haff von der See trennt, ist von erhabener Schönheit. Einige Kämme und Kuppen in der Nähe Schwarzorts sind durch bequeme Pfade der Besteigung zugänglich gemacht. Von hier oben erst überschaut man das Chaos der Dünenwelt vollständig, blickt tief hinein in die seltsamen Formationen, die hier Sandmassen, Stürme und plötzlich hereinbrechende Naturereignisse geschaffen haben. Abgründe und wasserlose Schluchten, jene erwähnten arenaförmigen Kesseltrichter, geben den eigenthümlichsten Vordergrund. Kahle bleiche Sandwände, tiefer grüner Wald, der sich um Schwarzort am Haff ausbreitet, bringen einen Wechsel in die Farbentöne der Landschaft, der nach vermehrt wird durch einzelne röthlich schimmernde Sandfelder, die von feinen Porphyrkörnchen gebildet werden, und durch die Ausblicke über das weite Meer, auf den ruhigen Spiegel des Haff, auf das saftig grüne feste Land, auf die in der Sonne leuchtenden Thürme von Memel. Dieses heitere Panorama bekommt durch den Vordergrund allein seinen ernsten, wilden Charakter. Denn aus den chaotisch durch einander geworfenen Bergen und Thälern, Schluchten und Trichtern ragen noch gespenstig einzelne Baumleichen hervor, die starren Aeste emporstreckend, manche halb umgesunken, manche noch im Tode aufrechtstehend, den abgezehrten, der Rinde beraubten Körper von Luft und Sonne gebleicht, fast schreckhaft anzuschauen. Dieser landschaftliche Vordergrund giebt uns ein Neues, Ungeahntes, ein Stück wildester Romantik, mit dem die schmucke, von Hochwald und Wasser umgebene Strandkolonie Schwarzort mit ihren einladenden Häuschen anmuthig kontrastirt.
Von der Höhe haben wir schon einen Blick auf eine andere Ansiedelung geworfen, welche eines der großartigsten und eigenthümlichsten Industriewerke in diese idyllische Einsamkeit stellt. Drüben jenseit des Haffs hat man vor länger als einem Vierteljahrhundert Bernstein gefunden, langgestreckte Schichten, die, wie Untersuchungen ergaben, sich unter dem Grunde des Haffbodens fortsetzten. Man hat damals durch Baggerungen versucht, die Reichhaltigkeit des Lagers wie die Qualität des fossilen Harzes festzustellen. Zuerst wurde wenig gefunden; bald aber war das Ergebniß der Baggerei so ergiebig, daß aus den Versuchen ein festes industrielles Unternehmen wurde. Nun belebten Bagger den Spiegel des Kurischen Haffs, deren Zahl bis auf neunzehn gestiegen ist,
[302] alle für Dampfbetrieb konstruirt. Man sieht, wie die Reihe der Eimer sich in die Tiefe senkt, wie jeder den Haffgrund lossticht, an die Oberfläche befördert und sein Inhalt der Prüfung unterworfen wird. Immer tiefer stellt man die Eimerreihe, so daß der Boden bis zu zehn Metern Tiefe ausgehoben wird. Die dadurch entstehende Rinne wird im Laufe der Jahre wieder zugeschlämmt und auch der dadurch neu entstehende Grund führt wieder Bernstein. So sieht man die Schornsteine rauchen, die Eimerreihen sich in die Fluth senken vom Morgen bis zum Abend, ja Tag und Nacht mit einziger Ausnahme des Sonntags; nur der Winterfrost gebietet Ruhe. Dampfer vermitteln den Dienst zwischen dem Lande und den Baggerstellen.
Da schwimmen dann breite flache Prähme heran, legen sich an die Seite der Bagger und empfangen den Inhalt der Eimer, schlammige Sandmassen, die auf große Siebe gestürzt werden, welche Sand und Schlamm durchlassen, grobe Stoffe aber zurückbehalten. Aus diesen sucht man dann den Bernstein heraus, der fest verpackt und verschlossen ans Land gebracht wird, um allwöchentlich mittels Dampfer nach Königsberg an das Hauptkomptoir gesandt zu werden, von wo er in alle Welttheile geht, zumeist nach Asien, Afrika und Amerika. Für Persien, Armenien, die Türkei und Innerrußland bildet Moskau den Stapelplatz. Der Stoff ist gar kostbar, deshalb hält man die Arbeiter unter strenger Kontrolle, damit sie nicht einzelne Stücke in den Kleidern verbergen. Die starken Sandmassen, welche aus dem Haffgrunde gehoben werden, führt man an das Ufer von Schwarzort, hebt sie mittels Dampfpumpen ans Land und schafft hier neuen Boden, der, kultivirt, mit Bäumen und Nutzgewächsen bepflanzt, ein hübsches, täglich sich vergrößerndes Vorland bildet. Abends strahlt elektrisches Licht über die ganze Kolonie auf das Getriebe , das keine Nachtruhe kennt und bei dieser Beleuchtung sich ungemein malerisch ausnimmt. – Wenn man als Laie die allwöchentlichen Bernsteinsendungen nach Königsberg betrachtet, so scheint die Ausbeute der Schwarzorter Baggerei ungemein ergiebig. Verglichen mit dem bergmännischen Betriebe und seinen Ergebnissen bei Palmniken soll sie verschwindend klein sein. Zwei große Bernsteingebiete werden an der baltischen Küste industriell ausgebeutet, beide von der Königsberger Firma Stantin und Becker, der größten Bernsteinproduzentin der Welt. Hier in Schwarzort hebt man die Schätze, die sich in einem ausgedehnten Lager auf dem Grunde des Haffs finden, mittels Baggerung. An der samländischen Küste ziehen sich weit umfangreichere und ergiebigere Schichten von blauem Thon weit ins Innere des Landes, die dicht mit Bernstein und zwar in großen Stücken besetzt sind. Dort wird bergmännisch gearbeitet; Stollen und Schachte werden in den Boden getrieben, der ganz ungeheure Massen dieses duftenden fossilen Harzes herausgiebt.
Nun wenden wir uns noch einen Augenblick nach der „Kolonie“, die in den letzten Jahrzehnten wie aus dem Nichts entstanden ist! Sie steht fast ganz auf dem neuen, durch den Baggersand geschaffenen Boden, eine ganze Welt voll Betriebsamkeit, Arbeit und wohlorganisirter Geschäftigkeit. Da erheben sich eine Dampfkesselschmiede, eine Schmiede mit sechzehn Essen, Dampfhämmer, Walzwerk, dann Maschinenwerkstätten vollständig eingerichtet und mit Dampf betrieben, dazu Gelbgießerei, Eisengießerei, Stahlgießerei, Tischlerei, Reparaturwerkstätten, sowie die Anlagen für elektrische Beleuchtung, welche den Hafen erhellt, und für Gaserzeugung zur Erleuchtung aller Fabriken und Werkstätten. Ebenso muß für Unterbringung und Verpflegung der Arbeiter Sorge getragen werden, die in dem nahen Schwarzort schwerlich Unterkommen finden würden. Dazu sind drei Arbeiterhäuser, für 600 Menschen berechnet, erforderlich, eine ungeheure Arbeiterküche mit 12 Herden, jeder für 16 Arbeiter ausreichend, ein Speisesaal, in dem auch die durchnäßten Kleider getrocknet werden können. Dazu kommen noch verschiedene Beamtenhäuser, Komptoir und ein Wohnhaus, in dem 16 Familien Unterkommen finden können.
Diese Kolonie, in der Hunderte von Arbeitern, so und so viele Techniker und Beamte verkehren, in deren Hafen 230 schwimmende Fahrzeuge, Dampfer, Bagger, Prähme, Transportschiffe, Segel- und Revisionsboote aus- und eingehen, in der es kaum jemals Nacht wird, gehört zu den großartigsten und am vielseitigsten arbeitenden Industrieanlagen des gesammten baltischen Ostens; sie findet nicht ihresgleichen in der Eigenartigkeit ihrer Lage mitten auf dem einsamen Dünenstreifen und in der Weise ihres Betriebes.
Wenn die Winterstürme losbrechen, und das geschieht sehr zeitig hier im Norden, dann ruht die Arbeit, dann sucht man alles Rüstzeug schleunig vor ihrer Wuth zu bergen. Die Bagger wie die Schiffe der ganzen Flottille suchen eilig den Hafen, damit nicht durch Reißen der Ketten, Verlust der Anker, Forttreiben der Schiffe große Verluste erwachsen. Aber man feiert während des Winters nicht gänzlich in der Kolonie von Schwarzort. Die Essen glühen, die Hämmer poltern, die Maschinen rasseln; denn nun hat man Muße genug, alle Schäden auszubessern, neue Bagger, Dampfer, Prähme zu bauen, da Schwarzort alle seine Betriebsmittel selbst fertigstellt.
Ueberall regt sich hier neues Leben und doch deutet manches darauf hin, daß die Kultur auf der kurischen Nehrung eine uralte sein müsse. Unter den vom Grunde des Haff hervorgeholten Bernsteinstücken finden wir einzelne roh bearbeitete aus der fernen Steinzeit, und zwar kommen diese Funde hier in einer Mannigfaltigkeit der Formen und der Arbeit vor, wie fast nirgends. Darum zieht Schwarzort die Erforscher der vorgeschichtlichen Zeit ganz besonders an. Wie mag seit jener Periode der Boden sich hier verwandelt haben! Damals sind wahrscheinlich weder diese Berge, noch die Abgründe, Trichterbildungen, Steilwände vorhanden gewesen. Seit jener Zeit hat der werdende und vermehrte Dünensand alles umgeschaffen. Aber auch seiner wird man von Jahr zu Jahr mehr Herr. Gleichzeitig mit der Befestigung des waldigen Ufers durch die Andämmung der Baggererde wird auch der fliegende Dünensand mehr und mehr zum Stillstehen gezwungen. Die Forstverwaltung ist zuerst mit dem Ziehen von Strauchzäunen und der Anpflanzung bestimmter Gräser vorgegangen; darauf hat sie Kiefernschonungen angelegt; die Gemeinden der Dünenlandschaften gehen mit gleicher Energie vor, und so läßt sich sicher hoffen, daß innerhalb weniger Jahrzehnte wieder ausgedehnte Waldungen die bleichen Dünenberge um Schwarzort bedecken und den Sand fest an den Boden bannen werden.
Fritz Wernick.
Alle Rechte vorbehalten.
Florian war in Karlsbad der Inhaber von zwanzig Wägzetteln geworden, die gleichlautend waren, und von weiteren zehn, welche je eine Abnahme von etlichen Dekagramm aufwiesen, der letzte zeigte den erhebenden Unterschied von vier Kilogramm gegen den ersten. Das war das Endergebniß seiner Kur; dasselbe erschien ihm so gewichtig, daß er vermeinte, es fehlten ihm bloß die Flügel, um mit seinen übrigen hundertsechs Kilogramm wie eine Schwalbe die Lust zu durchsegeln.
Während Florian vier von hundertzehn subtrahirte, dividirte Fräulein Nina die Gesammtsumme der Karlsbader Ausgaben durch diesen bedeutungsschweren Vierer, um zu berechnen, wie hoch daselbst ein Kilogramm Gewichtsverlust zu stehen komme. Der Quotient gestaltete sich so abschreckend groß, daß die Gute schnell die vier Kilogramm in Deka verwandelte und dann durch die Anzahl der Deka dividirte. Ja, sie stieg in heftigem Reduciren bis zu Gramm herab; aber sie kam zu der Ueberzeugung, daß es ein kostspieliges Unternehmen sei, sogar nur ein Gramm Fettschicht in Karlsbad zu verlieren.
Jakobäa verschwand fast in der Waggonecke. Sie hatte weder zu subtrahiren noch zu dividiren, leider auch nicht zu addiren; sie war nicht schwerer, nicht stattlicher, nicht größer geworden. Aber man hatte immer und überall viel mehr Gewicht
[303] gelegt auf die Nachwirkungen als auf die Wirkungen der Kur, und das war doch noch ein Trost oder wenigstens, wie Walther von der Vogelweide sagt. „ein kleines Troestelin“. Und die Eiche sammt der Gedenktafel mahnte wieder und wieder: Beharrlichkeit führt zum Sieg.
In Wien entspann sich das gewohnte Leben. Endlich war auch die Zeit vorübergestrichen, welche die gepriesenen Nachwirkungen der Karlsbader Kur bringen sollte. Fräulein Nina verspürte dieselben zuerst in unwiderleglicher Weise: sie mußte etwas Goldrente verkaufen, um die Kluft zu überbrücken, welche jene vier Kilogramm in die sonst so eben verlaufende Finanzgebarung des Hauses gerissen hatten. An Florian traten die Nachwirkungen in der Form zu Tage, daß er genau um die kostbaren verlorenen vier Kilogramm wieder zugenommen hatte. Er stellte dies auf seiner eigenen Dezimalwage fest und ließ es sich noch am selben Tage auf den Wagen zweier Kaufleute in der Nachbarschaft bestätigen.
An Jakobäa zeigten sich die Nachwirkungen nicht äußerlich. Selbst dieses „Troestelin“ ging ihr verloren; sie war auch hinterdrein nicht „stattlicher“ geworden. So kam es, daß sich dieselben dafür innerlich bemerkbar machten. Ihr Wesen vertiefte sich von dieser Zeit an zu einer beständigen stillen Schwermuth. Man merkte, wie sie sich gewaltsam aufstacheln mußte, mit an den Vorgängen und Reden um sich her überhaupt einen Antheil zu nehmen. Jene Hoffnungsfreudigkeit, welche sich ehedem hier und da in heftigen Ergießungen Luft gemacht hatte, war nun ganz versiegt. Selbst das Interesse an der künstlerischen Umwandlung des herrlichen großen Menschen war auf einmal spurlos versickert wie ein Wüstenquell im Sande.
Und doch hätte sie eben jetzt triftige Ursache gehabt, sich ihrer Erfolge zu freuen. Der gutmüthige Florian nahm sich das trübselige theilnahmslose Dahinstarren Jakobäas ernstlich zu Herzen und that nun manches aus eigenem Antrieb, wozu ihn früher selbst Jakobäa nicht hatte bewegen können. Der Ohrring war verschwunden; die starren Stoppeln auf seinem Haupte hatten sich zu blonden Locken ausgewachsen; der Bart war wohl gepflegt und an den Enden genau so flockig gekräuselt, wie Florian dies auf einem Selbstporträt von Rubens gesehen hatte. Die Löckchen unter dem Künstlerhut, der kecklich nur so darüber hingeworfen war, schwankten bei jedem Schritte , die Bartspitzen vibrirten leise, die Halstuchenden flatterten wie Fähnlein, der Flaus warf nachlässig großartige Falten. Aber es fruchtete nichts. Jakobäa ließ sich hierdurch weder begeistern noch rühren, noch auch fand sie ein Wort der Anerkennung dafür. Er setzte sich dicht vor sie hin in das volle Licht, er schritt sehr langsam vor ihr auf und ab – sie schien es gar nicht zu bemerken. Und sie mit einem Scherzwort wie ehedem anzureden, um sie aufmerksam zu machen, das wagte er jetzt nicht mehr; es war in neuerer Zeit etwas Unnahbares an ihr, was ihm hierzu alle Luft benahm.
Eines Tages faßte er sich endlich ein Herz, stellte sich knapp vor sie hin und sagte: „ Fräulein Aea, brauchen Sie mich denn jetzt gar nicht mehr? Ich meine, des Stichwortes halber … wenn es Ihnen recht ist, so lerne ich den Ingomar auswendig. Etwas kann ich schon.“
Er steckte die rechte Hand in die Weste, so daß sie gerade über das aufgeregt klopfende Herz zu liegen kam, und stellte den linken Fuß beträchtlich vor. Dann begann er zu deklamiren.
Es war dieselbe Art kindlichen Fibelrecitirens wie damals; nur klang das Hochdeutsche jetzt etwas selbstbewußter und noch gespreizter. Vergebens wartete er darauf, daß sie wieder sagen würde: „Mein Gott, was wären Sie für ein wunderbarer Herodes … u. s. w.“
Sie hörte zerstreut zu und unterbrach ihn plötzlich ganz kühl. „Aber, Herr Haushuber, wozu denn diese große unnütze Mühe? Das Auswendiglernen ist ja ganz überflüssig, das Lesen würde da vollständig genügen. Aber auch dafür muß ich Ihnen herzlich danken, ich studire derzeit andere Dinge.“
Fräulein Nina saß ganz erstarrt da und blickte regungslos gen Himmel, wo wieder einmal Monsieur Demarre verwundert niederblickte. Dann stand sie mit Mühe auf, sank aber sogleich wieder auf den Stuhl zurück, weil die Kniee unter ihr zusammenknickten und die Füße den Dienst versagten. Endlich erhob sie sich mit einem gewaltsamen Rucke, schlich in die Küche hinaus und betrachtete dort eine kupferne Gugelhupfform mit einem Interesse, als ob sie dergleichen noch nie gesehen hätte und der Zweck dieses seltsamen Apparates in der Schöpfung ihr ganz unerfindlich wäre. Schließlich löste sich die Spannung in den Worten: „Den Ingomar auswendig! Der Florian! – Ganz wie der arme selige Monsieur Demarre, welcher am Ende auch ein französisches Gedicht mir auswendig vordeklamirte, als ihm das Herz schon zu voll war! Der Mensch erlebt viel, wenn er alt wird. Du guter Gott, der arme Junge ist ja zum Sterben verliebt!“
Das war Florian auch in der That; aber er selbst wußte nichts davon, und für andere merkbar wurde es erst, seit sich Jakobäa nicht mehr um ihn kümmerte. Da er unmittelbar durch seine Persönlichkeit ihr auch nicht das unbedeutendste Zeichen von Theilnahme entlocken konnte, so gerieth er auf den Gedanken, daß er dies vielleicht mittelbar durch seine Kunstwerke erreichen könne. Seitdem hockte er wie angekettet im Atelier und malte an einer Landschaft. Es war die Eiche unter dem Hirschensprung in Karlsbad sammt der Bank in ihrem Schattenbereich, dem Lieblingsplätzchen Jakobäas. Vorher hatte sich das Unerhörte ereignet, daß Florian eine Reise auf das Land antrat; dort hatte er sich in Begleitung eines Waldhegers in die Wälder hineingewagt, um sich ein entsprechendes Modell persönlich zu suchen. Der so mühselig gefundene und theuer erkaufte junge Eichenbaum ward dann bei Nacht und Herbstnebel auf einem Fuhrwerk geheimnißvoll in das Atelier emporgeschmuggelt. Beim Morgengrauen saß Florian bereits vor seinem Modell und begann es zu kopiren. Jede seine Unebenheit, jeder Riß, jede Rauhheit der Rinde wurde mit verzweifeltem Ringen nach Treue zur Geltung gebracht, jede winzige Ausschürfung deutlich und bestimmt angebracht, als ob er mit einem Vergrößerungsglas vor den Augen dasäße. Die kleinsten Knötchen und Anschwellungen der Aeste wurden haarscharf wiedergegeben, jedes Zweiglein des Hintergrundes bis in das feinste Detail abgemalt, wie es ein Durchschnittsauge nur mit einem Opernglas wahrnehmen kann. Die Blätter wurden abgezählt, und jegliches Blatt war ein Porträt. Das Ganze war getreuer als eine Photographie, und Florian hätte damit auch nie ein Ende gefunden, wenn nicht der Baum in der Temperatur des Ateliers welk geworden wäre. So sah schließlich die Krone auf dem Bilde wohl ziemlich gelichtet aus, aber die Wurzeln umfaßten und umklammerten gleichwohl, wie bei dem Karlsbader Urbild, den Felsen, welcher ebenfalls mit den unwesentlichsten Einzelnheiten nachgeahmt erschien. Unten auf dem Wege vor der Bank lagen drei wohl porträtirte Kieselsteine und ringsherum, in erstaunlicher Nachbildung der Natur, der Sand und die zerkrümelte Erde. An der Felswand glänzte die Tafel mit der Inschrift: Beharrlichkeit führt zum Sieg!
Als er fertig war und Jakobäa das Bild schenkte, da fing sie plötzlich zu weinen an und drückte ihm schluchzend die Hand.
„Aber … Fräulein Aea …?“ rief er ganz bestürzt.
„Dank, tausend Dank, Herr Haushuber! Sie sind so gut gegen mich! Sie wissen ja nicht …“ und dabei wandte sie sich und eilte hinaus.
Nein, er wußte wirklich nicht und blickte ihr verstört nach. Aber er besaß einen unerschöpflichen Grundstock von Zähigkeit, die sich nicht abschrecken ließ. Den ganzen Winter hindurch malte er nichts mehr; wenn man ihn nach seinen Arbeiten fragte, murmelte er etwas von Kartons. Als die ersten Frühlingstage hereinzogen, ließ er ein Gerüst um sein Haus schlagen und kroch dann langsam hinauf. Bange knarrte die Leiter unter der wuchtvollen Last, aber er machte sich nichts daraus: er kam sich vor wie Michel Angelo, der zu der Wand der Sixtina emporklettert, oder wie Tizian an der Hausfront des Fondaco dei Tedeschi in Venedig. Und nun malte er die Wände vom Dach bis an den Erdboden voll, zwar nicht al fresco, wie jene zwei großen Vorbilder, sondern in Oelfarben, aber erstaunlich rasch nach den im Winter ausgeführten geheimnißvollen Kartons.
Als das Gerüst beseitigt worden war, sah man zu unterst die allegorischen Figuren des Fleißes, der Sparsamkeit, der Häuslichkeit prangen, darüber die neun Musen, oben die Medaillonbildnisse von Dürer, Raphael, Lionardo, Correggio, Tizian, Rubens. Dazwischen spreizte sich ein offener Riesenfächer, auf dessen einzelnen Theilen die Werke, die Florian bisher geschaffen, zu sehen waren: ein Trafiktürke, ein schön frisirter Herrenkopf, ein Löwe mit dem Kerzenbündel, ein blauer Adler u. s. w. Die eine freie [304] Seitenwand füllten Buchstaben jeglicher Schriftart, Größe und Farbe, bald stramm wie Soldaten neben einander in Reih und Glied marschirend, bald wie Betrunkene durch einander taumelnd, während ein Apollo sie von oben wehmüthig betrachtete.
Die ganze Vorstadt unternahm an Sonn- und Feiertagen mit Kind und Kegel förmliche Wallfahrten zu dem Haushuberhause. Wenn sich gegen Abend der staunende Haufen verlaufen hatte, ging Florian hinunter. Aber er schöpfte nicht mehr wie ehedem unter seiner Hausthür Luft, sondern durchschritt die Gasse und lehnte sich an die Ecke des gegenüberstehenden Hauses. Dort schaute er zu seinem Werke empor und zupfte sich dabei aus alter Gewohnheit an dem linken Ohre, obzwar der Ohrring längst befestigt und das Löchlein im Läppchen schon verwachsen war.
Es hauste in der Nachbarschaft ein demokratischer Schuster, welcher kecklich die Behauptung aufstellte, daß die Köpfe in den Medaillons Karikaturen der Minister seien. Es gab ferner bösartige Naturen, welche versicherten, Apollo sehe ganz wie eine Vogelscheuche aus, die Allegorien seien eine wohlbezahlte Reklame für die Pfefferkuchenmännlein des benachbarten Lebzelters, und unter den neun Musen fänden sich acht Porträts der Damenkapelle im nächsten Kaffeehaus vor. Jene neunte Muse, welche nach Abrechnung der acht Porträts der Damenkapelle übrigblieb, trug in einer Hand die tragische Larve, in der anderen einen Dolch und stand auf einem so hohen Kothurn, daß sie, obzwar kleiner als ihre Schwestern, dieselben doch überragte. Diese neunte Muse kannten bloß die nächsten Nachbarn, welche das Urbild täglich mit der Mappe unter dem Arm durch das Thor des Haushuberhauses aus- und einschlüpfen sahen.
Jakobäa hatte alle die Herrlichkeiten einmal angesehen und seither nicht wieder: jene Melpomene hatte ihr ebenso die Thränen in die Augen getrieben wie das Bildchen der beharrlichen Eiche. Kopfschüttelnd blickte ihr Florian nach, wenn sie gesenkten Hauptes dahinging, und sagte sich ihre Worte vor: „Sie wissen ja nicht …!“
Nein, er wußte nicht, daß Theateragenten, Direktoren, Intendanten den zweiten Jahrgang der Schauspielschule besucht hatten, wo sie alljährlich gleich den Schwalben im Frühling wiederkehren. Es gilt, sich bei Zeiten eines hervorstechenden oder für den Augenblick eben notwendigen Talentes zu bemächtigen. Dabei war der Mehrzahl von Jakobäas Genossinnen bereits die nächste Zukunft gesichert worden; sie selbst staunte man an, man pries ihre Begabung, ihr außerordentliches Darstellungsvermögen, jedoch selbst von dem unbedeutendsten Provinzstädtchen erhielt sie keinen Antrag.
Der Frühling war vorübergegangen, die heiße Zeit kam und mit ihr die heiße Zeit der Prüfungen. Jakobäa errang dabei in allen Haupt- und Nebenfächern die Note „ausgezeichnet“. Sie zählte infolge dessen zu den wenigen, welche sich um einen Preis bewerben durften.
Das gegenseitige Verhältniß der auserlesenen Zöglinge, welche zu diesem „Konkurse für dramatische Darstellung“ zugelassen werden, ist in der Regel ein sehr gespanntes und gestaltet sich desto gereizter, je näher der Zeitpunkt der Entscheidung heranrückt. Der Kampf ums Dasein wird hier zum Kampf um die Rolle. So viele Mädchen da sind, so viele wollen das Gretchen spielen; jeder der jungen Männer will Faust sein. Es ist eine schwere Zeit für die Professoren, und dreifach gepanzert muß die Brust des Direktors der Anstalt sein: es wird zart oder deutlich angespielt, geschmeichelt , gebeten, gefleht, geweint, geschluchzt; es werden alte Onkel und noch ältere Großväter als Fürbitter aus Rumpelkammern hervorgezerrt – Kinder wimmern, Mütter irren! Ja, man zieht es sogar vor, gänzlich auszutreten, als in einer unbedeutenderen Rolle das vermeintliche Licht unter den Scheffel zu stellen. Dabei lehrt eine alte und jedes Jahr neu bewährte Erfahrung, daß dieser hartnäckige Kampf regelmäßig einer Rolle gilt, welche für den betreffenden Zögling am wenigsten taugt. Endlich beschließt all dies nervenauszehrende Ringen die Preisbewerbung in einer öffentlichen Vorstellung. Neben dem Publikum, das sich für die Sache interessirt, findet sich zu solchen Konkursvorstellungen auch ein merkwürdiges Häuflein zusammen, welches nur der Personen wegen da ist. Dasselbe bildet sich freiwillig oder gezwungen aus den Verwandten der Zöglinge und aus den Verwandten dieser Verwandten in ungezählten Seitenlinien. Ja, Kousins und Kousinen, deren Vorhandensein und Zweck auf dieser Erde sonst gar nicht in Betracht gekommen ist, gewinnen hier eine gewisse Berechtigung für ihr Dasein und einen Lebensberuf. Alles das hat nun, wie jener Römerlegat in der Mantelfalte, Krieg und Frieden im Salonrock oder im Seidenkleid beisammen: Frieden für die Ihrigen, Krieg für die Anderen, unbarmherzige Härte gegen fremdes Blut, zerfließende Nachsicht für das ihre.
Als Jakobäa auftrat, da war es ganz wie bei jener Talentprüfung: erst das Lächeln auf allen Gesichtern, das Kopfschütteln, Achselzucken, ja selbst das Wort von der „Kinderkomödie“ und die „zu starke Zumuthung“ blieben nicht aus. Dann dasselbe Verstummen, Starren, Hangen und Bangen, und endlich das Mitgerissenwerden trotz Kousin und Kousine, Tante, Onkel und Schwager. Jakobäa ward einstimmig der erste Preis zuerkannt; außerdem erhielt sie die höchste Auszeichnung, welche das Wiener Konservatorium zu vergeben hat, die silberne Medaille.
Die Anderen zogen dann mit ihren zweiten Preisen oder ohne Preise nach Berlin, Dresden, Hannover oder auch nach Iglau, Hollabrunn und Mödling. Jakobäa allein blieb in Wien und saß mit ihrem ersten Preis und der silbernen Medaille daheim in ihrem Stübchen. Man suchte ihr von seiten des Konservatoriums unter die Arme zu greifen. Sie sollte trotz ihrer ausgezeichneten Studien noch ein Jahr im Konservatorium verbleiben; man wollte den Versuch machen, sie in andere Rollen zu drängen. Vielleicht war späterhin, wenn sie doch noch ein wenig wuchs, eher eine Thätigkeit auf der Bühne für sie denkbar, etwa als naiver Backfisch oder als halbflügges schnippisches Kammerkätzchen. Aber es war umsonst: es stak nur eine Klangfarbe in ihrem Organ, nur eine Darstellungsform in ihrem Wesen – die tragische. Der Versuch zum Gegentheil machte sich gerade so, als ob man einen im Gewölke kreisenden Adler hätte so zähmen wollen, daß er als niedliche Bachstelze mit Trillern, Schwirren, Balanciren schnippisch oder kokett an Vergißmeinnichtufern hin- und hertripple. Dann tauchte von der Seite eines Gönners und Förderers der Vorschlag auf, ihr ein Wartegehalt auszusetzen, damit man sie nach einigen Jahren, wenn sie gesetzter geworden wäre und an pädagogischem Ansehen gewonnen hätte, als Vortragsmeisterin, als Lehrerin des dramatischen Vortrages für die weiblichen Zöglinge anstelle. Es war dies eine Neuerung; aber alle maßgebenden Persönlichkeiten sprachen sich sofort einstimmig dafür aus in Anbetracht dieser genialen Begabung, um die es jammerschade wäre, wenn sie gänzlich brachliegen sollte. So konnte sie gleichsam als Propfreis auf geringeres Gewächs gepflanzt, doch wenigstens an anderen eine veredelte Frucht hervorbringen. Aber Jakobäa wollte davon nichts hören; sie mochte sich nicht binden; noch war nicht jede Hoffnung in ihr erstorben. Sie schickte ihre Konservatoriumszeugnisse und ihr Diplom an den Direktor des Theaters in Baden bei Wien. Sie wußte, daß er sie nicht spielen lassen würde, wenn sie sich persönlich vorstellen würde; aber die Feder in der Hand giebt wie der Säbel auch dem Verzagten Muth.
Die Antwort kam telegraphisch und lautete: „Heute noch kommen, spielen, Tragödin erkrankt, Direktor.“
Jakobäa fuhr sogleich nach Baden. Als der Direktor sie sah, bekam er bei seiner ohnedies verzweifelten Stimmung Lust, in die weite Welt davonzulaufen. Aber die Mittagszeit war vorüber, das Auftreten des Gastes bereits angezeigt; es ließ sich nichts mehr ändern – er ließ dem Verhängniß freien Lauf.
Am nächsten Morgen redete man in sämmtlichen Schwefelwasserbädern und Kaffeehäusern Badens von dem gestrigen Theaterskandal. Ueber die Rücksichtslosigkeit des Direktors gab es nur eine Stimme: ein kleines Mädchen, das vielleicht in einigen Kinderkomödien mitgewirkt, dem Badener Kurpublikum als Gast in einer Hauptrolle vorzuführen und überdies eine Klaque dafür zu bezahlen daß sie jedes Zeichen des Mißfallens mit Thätlichkeiten verstummen mache – es war unerhört!
Diese sofort in Tätlichkeiten ausartende Klaque bestand aus Herrn Florian Haushuber, welcher dreißig Minuten nach Jakobäa vom Südbahnhof nach Baden gefahren war, obzwar sich dieselbe die Begleitung von Fräulein und Herrn Haushuber dringend verbeten hatte. Aber den früher so ruhigen Florian quälte eine seltsame Unruhe, die ihn jetzt regelmäßig hinter Jakobäa einhertrieb, so oft sie ausging. Im Sommertheater des Badener Kurparkes hatte er sich, um von Jakobäa nicht bemerkt zu werden,
[305][306] auf die Galerie gestellt. Er hatte überlaut bei Jakobäas Auftreten applaudirt und war in der That handgreiflich geworden, als Gelächter, Zischen und Stampfen gegen den Gast losbrach. Wie der Applaus mit so wuchtigen Händen etwas besonders Nachdrucksvolles hatte, so auch die Thätlichkeiten; er dagegen bedauerte bloß, daß er seinen Ingrimm nur den nächsten Nachbarn zu kosten geben und nicht mit einer Riesenhand diesem ganzen Publikum auf einmal einen einzigen ungeheueren Backenstreich verabreichen konnte. Das Haus mit den neun Musen blieb eine Macht und einen Tag lang seines Herrn beraubt; dieser war in Baden sehr beschäftigt und konnte nicht abkommen. Denn das Publikum war höchst entrüstet und Polizei und Bezirksgericht waren deshalb höchst neugierig geworden. Am zweiten Tage gelangte von Baden ein Telegramm an Fräulein Nina, worauf von dieser sofort eine telegraphische Geldanweisung an Herrn Florian Haushuber in Baden erging; darauf erlebte die Strafgelderabtheilung der Badener Armenkaste eine ansehnliche Bereicherung und Herr Haushuber durfte heimkehren. Fräulein Nina empfing ihn wie einen siegreichen Helden, der seinen Triumphzug hält, und Jakobäa stand harrend an der Thürschwelle, um ihm die Hand zu drücken. Sie war bleich wie nie, dunkle Ringe umschatteten ihre Augen. Florian wurde ganz roth bei ihrem Händedruck und ging eilig in sein Atelier.
Dort lag ein Haufen inzwischen angelangter Briefe aufgestapelt. Er sah sich das ganze Päckchen bloß von oben hin mit einem verächtlichen Blick an – wußte er doch, was darin stand. Er war in der neuesten Zeit eine Art künstlerischen Beiraths des ganzen Stadtviertels geworden; seitdem er sich mit Künstlerhut und Flaus, mit flatternden Halstuchzipfeln und Locken in den Straßen zeigte, galt er als ein Universalgenie, wie etwa Lionardo und Michel Angelo, der Mann mit den vier Seelen. Die krausesten Bestellungen kamen ihm infolge dessen von selbst hereingeweht. Endlich riß er doch den ersten Brief auf; der reichste Selcher des Viertels bestellte für sein Auslegefenster wörtlich: „ein Donauweibchen, ganz so wie das im Stadtparke von Hans Gasser, aber in Schweinefett auszuführen.“ – In dem zweiten Brief forderte ein Zuckerbäcker eine Gefrorenesform für den Kopf der Lucca, indem er unter anderem erwähnte. „… man ißt das reizende Näschen, dann – kurz es soll die Lucca sein, wie sie auch sonst ist: zum Ansehen herzig, nur hier buchstäblich. Das ist einmal eine Aufgabe für Sie, Herr Haushuber …“
Nein, der Mann des Zuckers täuschte sich wie der Mann des Fettes: das waren keine Aufgaben mehr für Herrn Florian Haushuber, auch nicht alle ähnlichen Rohheiten und Greuel eines verirrten oder verkommenen Geschmackes – wenn sie es auch einmal gewesen waren. Von heute an nicht mehr!
Er packte plötzlich alle übrigen noch uneröffneten Briefe mit einem Griff, knüllte sie mit einem zweiten zusammen und warf sie in den Ofen. Als er dabei an den Fuß der Staffelei gerieth, schleuderte er ihn fort, so daß sie sammt dem Bilde mit dröhnendem Gepolter hinfiel. Dann warf er sich in den Lehnstuhl und stieß mit dem Fuße verächtlich alles weit von sich, was da unten in dessen Bereiche lag.
„Kunst!“ brummte er ingrimmig. „Gerümpel, ja! Diese Maulaffen in Baden! Wie sie blökten und zischten … eine Herde von Schafen und Gänsen! Und das will etwas von Kunst verstehen! Das will die Aea begreifen! Vor dergleichen soll sich die Aea jeden Abend hinstellen, um sich begaffen, mustern, bekritteln, bespötteln zu lassen? Aber ich, freilich ich gelte diesen Herden für einen Künstler. Ich! … es wäre so ungeheuer lächerlich, wenn es nicht so erbärmlich dumm wäre und wenn ich mich nicht selbst dafür gehalten hätte. Natürlich! Weil ich mit Flaus und Schattenspenderhut herumgerannt bin wie ein rechter Narr, darum bin ich ein Künstler … nun so, ganz so, wie die Holzpuppe mit dem Wachskopf in dem Ladenfenster einer Kleiderhandlung ein Mensch ist. Was ich da auf mein Haus hingekleckst habe, das ist für sie Kunst, das bewundern diese Schwachköpfe … nun ja, wie oft stellte ich mich dort gegenüber hin und habe es selber mit angestaunt … natürlich, weil ich just so viel von der wahren Kunst verstehe, weiß und kann wie die Anderen. Da haben sie freilich die Aea als Melpomene nicht ausgezischt, sondern mit offenen Mäulern diese jämmerliche Karikatur angestaunt, die ich an die Wand geschmiert habe … ich auch, ich bin so förmlich auf mein Werk stolz gewesen! Es ist mir gerade, als ob ich diese Zeit über betrunken oder verrückt gewesen wäre! Vielleicht ganz hirnlos!“
Er sprang auf und begann in dem Atelier alles klein zu schlagen. Er that das mit einer gewissen wohlbedachten Ruhe, ohne Uebereilung und nach einer strengen Ordnung: es blieb auch nicht ein Gegenstand ganz oder heil.
Fräulein Nina stand in der Thür und rang die Hände, aber sie wagte sich nicht hinein. Dergleichen hatte man an dem friedlichen, stillen, beharrlich lächelnden Florian nie erlebt; es wäre ihr auch ganz undenkbar erschienen, wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Das war offenbar eine entsetzliche Krise: entweder nachtwandelte er, oder er befand sich in einem Delirium, oder war tobsüchtig. Sie schickte sogleich nach dem Hausarzt, welcher jedoch in diesem Augenblicke leider nicht daheim war.
Als Florian mit seinem großen Zerstörungswerke fertig war, warf er den Flaus ab und schürzte die Hemdärmel hinauf wie in den guten alten Zeiten, da er noch kein Kunstmaler war. Hierauf riß er einen Riesentopf aus dem Kasten hervor, und alsbald entwickelte sich ein eifriges hastiges Schaffen, ein Herbeiholen, Hineinschütten, Uebergießen, Umrühren, schließlich ein endloses Durchwühlen und Stampfen, als ob er buttern würde. Als er einmal anhielt, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, stand Fräulein Nina vor ihm.
„Was machst Du denn da, Florian?“ sagte sie in jenem behutsam sanften Tone, in dem man schwer Erkrankte mit reizbaren Nerven anredet.
„Aschgraue Oelfarbe.“
„So viel? Wozu denn so schrecklich viel, Florian?“
„Für unser Haus. Morgen wird es angestrichen.“
„Was? Die schönen Malereien …“
„Werden morgen aschgrau überstrichen. Ja, Tante, morgen, und grau, asch – grau, wie es sich für einen Bürger und Schildermaler schickt.“
Fräulein Nina zog sich entsetzt aus den Trümmern des Ateliers zurück; der Ton, in welchem Florian redete, war so nachdrücklich, daß er nicht einmal den Gedanken an eine Widerrede aufkommen ließ. Man hatte ihr den armen Jungen in Baden umgetauscht: ein Lamm hatte sie aus ihrer Obhut entlassen, ein Tiger war heimgekehrt.
Florian aber wühlte und rührte unverdrossen weiter, er stampfte alle seine aschgrauen Gedanken in das Aschgrau des Riesentopfes hinein. Dann blickte er mit Befriedigung auf die abschreckende Farbe, die er endlich zu Stande gebracht hatte, und auf den Greuel der Verwüstung, welchen er um sich geschaffen. Hierdurch einigermaßen besänftigt, rückte er seinen Lehnstuhl, dem jetzt eine Armlehne fehlte, zum Fenster und riß dasselbe auf, um Luft zu schöpfen und sich von der wackern Arbeit abzukühlen. Er zündete eine Cigarre an und blickte den Rauchwölklein nach. Sie waren grau – das that ihm wohl, der Rauch aus dem Schornstein gegenüber war gleichfalls grau – das stimmte ihn milder: eine bunte Farbe hätte ihn heute zu einer argen Gewaltthat reizen können. Ein Rascheln ließ ihn aufblicken – es war ein Blatt Papier, das auf dem Fensterbrett oder auf einem der jetzt zertrümmerten Möbel gelegen hatte und jetzt von dem Luftzuge des offenen Fensters über die Dielen hingeweht wurde. Florian erhaschte es und las:
„Du warst mir werth
Und bist es noch und wirst mir’s immer sein,
Gleich einem lieben Reis’genossen, den
Auf kurzer Ueberfahrt des Zufalls Laune
In unsern Rachen führte, bis das Ziel erreicht
und scheidend jeder wandelt seinen Pfad …“
Grillparzers „Sappho“.
Es war Jakobäas Handschrift, und Florian konnte nicht begreifen, wie das Blatt in das Atelier gerathen war. Er legte die Verse vor sich auf das Fensterbrett, blickte abwechselnd in dieselben und hinaus nach den grauen Rauchwölkchen – „Und scheidend jeder wandelt seinen Pfad …“ las er noch einmal – wozu sie das abgeschrieben haben mochte?
Jakobäa war auf ihr Zimmer gegangen. Sie schien bloß auf Florian gewartet zu haben, um ihm zu danken, ehe sie ausging; denn Jacke, Hut und Handschuhe lagen vorbereitet da. Sie zog sich rasch an, ein jähes Beben durchzuckte dabei den zarten Körper.
So mögen in dem Berge des Aeolos die Stürme wild die Pforten schütteln, an den Wänden nagen und den allzu engen Raum aufzubrechen drohen … Dann öffnet wohl der Vater [307] eines der Thore den ungestümen Drängern, daß sie sich austoben. Eine Pforte war auch Jakobäas stürmischer Künstlerseele aufgethan worden, breit und lichtumstrahlt, sich hinauszuschwingen in die Höhen und Weiten. Aber als sie sich zu ihr hindrängte, schrumpfte das weite Thor zum Pförtlein zusammen und zuletzt, sobald sie dicht davor stand, zur engen Ritze. Und da sie sich durch diese hinauszwängen wollte, war auch der letzte schmale Lichtstreifen geschwunden, weil sich jener dünne Spalt gleichfalls zugethan hatte. Sie stand wieder da, von dem knappen Raume der eigenen Körperlichkeit umschlossen, vor der Pforte, die sich nicht mehr öffnen wollte.
So ging sie denn hin, dieselbe zu sprengen. Sie ging daran wie zu einem nothwendigen und unaufschiebbaren Vorhaben, ohne Zögern, ruhig, sicher. Sie hielt nicht einmal an, um sich erst von der Brücke ihr nasses Grab anzusehen. Sie rang auch nicht mit dem Elemente; eine einzige Welle genügte, und der Körper sank augenblicklich unter, als habe der alte Wassernix nur darauf gelauert, um nach ihr zu langen – aber es war bloß die eigene Seele, welche den Leib niederzwang und in der Tiefe festhielt. Dies alles war so ohne Hilferuf, Ringen, Todesschrei abgegangen, daß die Neugierigen ganz enttäuscht waren. Es waren Leute darunter, die beständig an den Geländern des Donaukanals oder auf den Brücken herumlungern und geradezu als Fachmänner bei Beurtheilung solcher Selbstmorde gelten können, welche in der Großstadt sich nur allzu häufig ereignen; aber sie erklärten, einen so raschen und farblosen Vorgang noch nie beobachtet zu haben.
Ebenso rasch und schlicht gestaltete sich das nun folgende Nachspiel: ein großer starker Mann stürzte in das Wasser nach und tauchte hinab. Auch das bot den Maulaffen und Nichtsthuern an dem Brückengeländer keinerlei Erregung und nicht die mindeste Spannung. Man wußte recht gut, welch ein Schwimmer der wohlbekannte Hausbesitzer und Maler Haushuber war, und wie er es ruhig und fast geringschätzig mit der gewaltigen Strömung der großen Donau aufgenommen hatte – und jetzt hier dieser lächerliche Wasserfaden des Donaukanales! Man hatte ihn bei seinen sommerlichen Schwimmkünsteleien mit Erfolg nach winzigen Kieseln und Kreuzern tauchen sehen – und hier galt es, einen ganzen Menschen aufzufinden! In der That, er hatte sie auch bald aus der Tiefe gefischt und trug sie dann wie ein Kind an das Ufer und in die nächste Rettungsanstalt.
Blätter und Blüthen.
Fastnachtsspiele. Zu der Dichtweise des wackern Hans Sachs, des Nürnberger Schuhmachermeisters, und seiner volksthümlicher Bühnenerzeugnisse ist der mit Recht anerkannte Dramatiker Heinrich Kruse zurückgekehrt, indem er ein Bändchen „Fastnachtsspiele“ (Leipzig, S. Hirzel) herausgab; sie sind ganz in dem naiven Ton gehalten, in welchem der Meister gesungen. In einem Prolog schildert uns der Dichter einen Besuch in des Sängers Wohnung:
„Das hohe Haus ist freilich schmal
Und dieses Stübchen ist kein Saal
Doch muß es uns ehrwürdig sein,
Hier ging der Meister aus und ein,
Deß seine Stadt sich rühmen kann.
Er schlägt noch ein paar Nägel ein,
Der Kunde kann zufrieden sein.
Dann greift er zu der Schwanenfeder –
Und tunkt sie in die Tinte ein,
Das Lied will aufgeschrieben sein,
Denn rastlos, wie er näht und sticht,
Geht immer vorwärts sein Gedicht.
Zu rasch die Reime sich entfalten.
Er hat auf diesem Stuhl gesessen,
Der wacklig auf drei Beinen steht,
Und oft vor Arbeitslust vergessen,
Ich setzte mich auf manchen Thron
Und dachte mich als König schon;
So lud der Stuhl, gering und klein,
Mich auch zum Niedersitzen ein.
Man mir herbei ein großes Buch,
Des Meisters Werke, und ich las
Darin gar manchen heitern Spaß,
Der Schwänke und Legenden viele –
Es gingen fröhliche Gesellen
Um Fastnacht, um sie vorzustellen,
Von Haus zu Haus und auf dem Flur
Bedarf’s zur Bühne wenig nur.
Alsbald die ganze Handlung dar,
Und die Personen sind so schlicht
Und wahr, als wär’ es kein Gedicht:
Wie’s Gänsemännchen ist es eben
Und haben sie ihr Spiel vollendet,
Daß alles lacht und Beifall spendet,
So nehmen ein paar Kannen schon
Erlanger Bier sie gern zum Lohn.“
Wenn aber der Dichter sich dann später gegen die Weimarschen Klassiker wendet, wenn er meint:
„Wenn wir bei Nürnbergs Art geblieben,
Wer weiß, wir hätten’s weit getrieben“,
so ist es doch erlaubt, hinter diese Bemerkung einige Fragezeichen zu machen. Der Glanz und die geistige Bedeutung unserer Dichtung hat aus reicheren und tieferen Quellen geschöpft: bei einer Fortbildung der primitiven Hans Sachsschen Manier wäre uns die Litteratur jene großen Meisterwerke schuldig geblieben.
Indeß hat auch Goethe einzelnes im Stile des Hans Sachs gedichtet und den treuherzigen Ton desselben recht gut getroffen. Dies läßt sich auch von Kruses Fastnachtsspielen sagen: sie sind von ungekünstelter Naivetät und volksthümlicher Frische. „Der Teufel zu Lübeck“ möchte von einem Maler der Hansestadt nicht mit dem üblichen furchteinflößenden Gesicht, oder mindestens so heilig gemalt werden, wie’s mit der Bibel sich verträgt. Der Maler weigert sich, da fädelt’s der Teufel ein, daß er eines Diebstahls verdächtig und zum Tode durch den Strang verurtheilt wird; doch der Herr giebt das nicht zu und der Teufel muß mit dem Maler tauschen und selbst den Strick um den Hals sich gefallen lassen. „Der eifersüchtige Müller“ behandelt eine lustige Anekdote, in welcher ein geistlicher Herr den Teufel spielen muß, um mit Hilfe eines fahrenden Schülers sich aus der Klemme zu retten, in welche ein Liebeshandel mit der schönen Müllerin ihn gebracht. Ernster ist das letzte Fastnachtsspiel „Standhafte Liebe“. Ein Pariser Goldschmied verliebt sich in die Magd eines Klosters und heirathet sie, obgleich er selbst durch die Ehe nach dem Gesetze ein Höriger des Klosters wird. Doch der steinalte Abt spricht beide schließlich zur Freude der Pariser frei. Es finden sich drollige und anmuthige Verse in dieser Dichtung.†
Ein Hôtelgenie. Es giebt in allen Lebenskreisen Talente und Genies, die auch zur Anerkennung durchdringen. So berichten amerikanische Blätter über den besten „Hôtel-Clerk“ in ganz Amerika, und es mag uns mit Genugthuung erfüllen, daß derselbe ein deutscher Landsmann war, aus Bayern gebürtig, von wo er vor vierzig Jahren nach Amerika kam. Georg H. Smith oder „Count Smith“, wie er allgemein genannt wurde, war seit dem Jahre 1874 oberster Clerk in einem Riesenhôtel in San Francisco, dem Palace-Hôtel. Er besaß ein bewundernswerthes Gedächtniß, so daß er Personen, die er nur einmal in seinem Leben gesehen hatte, nach Jahren wiedererkannte und sogleich ihren Namen zu nennen wußte; ohne seine Bücher zu Rathe zu ziehen, konnte er den Namen jeder im Hôtel wohnenden Person und ihr Zimmer angeben. Ein Herr Charles W. Krinkel von Memphis wohnte vor vier bis fünf Jahren nur eine Nacht im Palace-Hôtel und reiste dann weiter. Als er unlängst wieder nach San Francisco kam und wieder im Palace-Hôtel Quartier nehmen wollte, empfing ihn Count Smith mit den Worten: „Herr Charles W. Krinkel von Memphis, Sie können ein Zimmer neben demjenigen nehmen, welches Sie zuletzt hier bewohnten. Nr. 573 ist frei; vor vier Jahren hatten Sie Nr. 571.“
Und so verhielt es sich in der That. Smith besaß bedeutende Sprachkenntnisse. Er starb vor kurzem an Blutvergiftung infolge einer mißglückten Hühneraugenoperation.
Nicht bloß zum Dichter, auch zum Oberkellner muß man geboren sein. Count Smith lieferte den Beweis dafür. †
Ein chinesischer Examinand. China ist bekanntlich das Land der Examina, die große Prüfungskommission in Peking führt den Namen „Der Wald der Pinsel“; im Reich der Mitte schreibt man bekanntlich mit dem Pinsel. Bei diesem Wald der Pinsel passiren oft merkwürdige Dinge. Wir erfahren, daß der junge Tscheong, der Sohn des Vicekönigs Tschang-Tschi-Tung, sein Examen vor der Oberprüfungskommission ablegen sollte. Der Vicekönig schickte derselben deshalb seine Karte, eine Aufmerksamkeit, deren Erwiderung nur darin bestehen konnte, daß der junge Tscheong wohl oder übel seine Prüfung bestand. Dieser war seiner Sache ganz sicher, lebte lustig in Futscheu und auch in Shanghai mit anderen jungen Kavalieren und jenen leichtfertigen Damen des „grünen Gürtels“, die von den chinesischen Dumas und Sardous in ihren Lustspielen zu Hauptpersonen gemacht werden. Unser Don Juan vergißt darüber ganz die Stadt Peking, den Wald der Pinsel und sein Examen. Die Visitenkarte des Vicekönigs thut inzwischen ihre Schuldigkeit und Tscheong wurde, obwohl er gar nicht erschienen war, nach Beendigung der Examina als einer der Kandidaten proklamirt, welche die Prüfung vorzüglich bestanden hatten. Indessen wurde, als er die öffentliche Belobigung erhalten sollte, seine Nichtanwesenheit allgemein bemerkt. Da mußte ihn doch der Vorsitzende der Kommission zur Rechenschaft ziehen; das Resultat war indeß nur, daß Tscheong jetzt wieder sein Examen
[308] macht, aber nach dem Willen des Vaters sich persönlich dazu einfinden muß. Daß er auch dies Examen trotz seiner Anwesenheit vorzüglich bestehen wird, dafür bürgt die Visitenkarte des Vicekönigs, deren Wirkung nie verjähren kann. †
Ein lustiges Drama. Der berühmte englische Tragöde Garrick spielte einst an einem heißen Sommertage den König Lear und riß das Publikum, wie immer, durch seine gewaltigen Leistungen während der ersten vier Akte des Dramas hin. Im fünften Akte aber begegnete ihm ein kleines Mißgeschick. Die hochtragische Scene am Schlusse, wo der alte König an der Leiche seiner Tochter Cordelia weint, hatte eben begonnen und manche Thräne floß im Zuschauerraum über schöne Wangen, als das Gesicht des Schauspielers plötzlich einen ganz anderen Ausdruck annahm. Der in der Situation begründete Ernst seines Antlitzes war verschwunden und der Künstler hatte offenbar alle Mühe, die ihm unwiderstehlich nahende Lachlust niederzukämpfen. In diesem Augenblicke erschienen die Edelleute, wie es der Gang des Stückes vorschreibt; aber auch sie hatten, nachdem sie kaum eingetreten waren, mit demselben Uebel zu kämpfen, so daß die Scene zum Erstaunen des Publikums eine Unterbrechung erlitt. Da öffnete die todte Cordelia ein wenig die Augen, um die Ursache der Störung kennen zu lernen, aber plötzlich schien sie von einer Art Lachkrampf befallen zu sein, denn sie sprang auf und eilte, nicht mehr im Stande sich zu beherrschen, lachend davon, gefolgt von dem greisen Lear, dem wackeren, ehrenfesten Kent und den übrigen Edelleuten, welche, durch das Beispiel angesteckt, eiligst in den Koulissen verschwanden.
Das Publikum verharrte in stummer Verwunderung, bis es endlich die Ursache der allgemeinen Heiterkeit entdeckte und nun ebenfalls in ein unauslöschliches Gelächter ausbrach. Im Parterre hatte ein dicker Schlächtermeister Platz genommen und, was damals in London noch gestattet wurde, seinen Hund mit in das Theater gebracht. Das mächtige Thier saß neben seinem Herrn, hatte die Vorderpfoten auf die vor ihm befindliche Barriere gelegt und schaute verständnißvoll auf die Bühne, als habe es die Kritik zu schreiben. Der Dicke aber hatte unter der im Hause herrschenden Hitze außerordentlich zu leiden, um sich zu erleichtern, nahm er die schwere Perücke ab und stülpte sie, ohne sich etwas dabei zu denken, seinem Hunde auf den Kopf. Dieser Anblick war zu komisch, als daß die Schauspieler hätten ernst bleiben können, und das Außergewöhnliche, einen Hund mit einer mächtigen Perücke zu sehen, war selbst für diese an Selbstbeherrschung gewöhnten Künstler zu viel. Das tiefernste Drama endete auf die heiterste Weise; Garrick aber erklärte später oft, daß er an jenem Abend hätte lachen müssen, und wenn es ihm das Leben gekostet haben wurde.
Das Testament. (Mit Illustration S. 296 und 297.) Das Gemälde von Bokelmann führt uns gewissermaßen den Höhepunkt einer Situation vor, der mehrere Romankapitel vorausgegangen sind. Ein reicher Patrizier sieht sich durch eine plötzlich eingetretene Erkrankung genöthigt, sein Testament zu machen. Zu seinen Füßen kniet die Tochter, die aus Liebe eine Ehe gegen den Willen der Eltern eingegangen ist und durch eine alte Dienerin von der gefährlichen Krankheit des Vaters Kenntniß erhielt. Sie eilt herbei, um ihn noch einmal zu sehn, und kommt in dem Augenblick an, wo der Notar das fertige Testament vorliest; sie kümmert sich um nichts als um ihren kranken Vater und wirft sich ihm zu Füßen hin. Ihre beiden Kleinen stehen harrend an der Thür. Aus den Mienen des Vaters sieht man, daß er der Tochter volle Verzeihung gewährt, während die beiden andern Damen keinen Zweifel darüber lassen, daß die unerwartete Dazwischenkunft der jungen Frau sie mit höchstem Unmuth erfüllt und alle ihre Hoffnungen zerstört; denn die Intriguen und Zwischenträgereien, welche das Familienglück so lange Zeit trübten, sind jetzt machtlos geworden, die Liebe hat den Sieg davongetragen. Das Testament wird nach dieser Versöhnung zwischen Vater und Tochter eine andere Gestalt erhalten und der würdige Notar wird seine Feder zu einem vollkommen neuen Entwurf desselben ansetzen müssen. †
Skat-Aufgabe Nr. 6.
Die Mittelhand tournirt auf folgende Karte:
Das und findet und gewinnt mit Schneider, denn die Gegner bekommen nur 19 Augen; der Spieler würde dagegen verlieren und sogar Schwarz werden, wenn die Gegner je zwei gleichwerthige Karten mit einander vertauschen dürften. – Wie sitzen und fallen die Karten und welche Blätter würden zu vertauschen sein?
Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 5 auf S. 260:
Die Lösung beruht auf dem Gelingen der Wimmelfinte. Bei folgender Kartenvertheilung: Skat eK, eO
- Mittelhand: e9, rD, rK, rO, sD, sK, sO, s9, s8, s7
- Hinterhand: eD, c8, e7, gO, g9, g8, g7, r9, r8, r7
wird das Spiel folgenden Verlauf nehmen:
1. eW,e9, g7 (+2) | 4. gD, s8, gO, (+ 14) | |
2 gK!! sD, g8 (+15.) | 5. sZ, s9, r7 (+10) | |
3. gZ, s7, g9 (+10) | 6. rZ, rD, r9 (-21) |
und der Spieler giebt nur noch einen Stich mit höchstens 14 Augen ab.
Skatspieler in W…f. Das Mauern ist eine schlimme Angewohnheit und Ihre Entrüstung über Ihren Mitspieler entbehrt nicht der Berechtigung. Aber machen Sie den Versuch, ihn zu heilen; verehren Sie ihm etwa die Skathumoreske „Die Folgen des Mauerns“ von Julius Litten (Leipzig, Karl Reißner). In dieser Humoreske werden die Eigenheiten der verschiedenen Spieler auf das köstlichste ausgemalt und die Folgen des Mauerns mit feiner Satire gegeißelt. Lothar Meggendorfer, der bekannte humoristische Zeichner, hat das Buch mit den typischen Konterfeis der Spieler geschmückt und einzelne besonders drastische Scenen mit packendem Humor im Bilde festgehalten. Auch zum Vorlesen in einer größeren Gesellschaft von Skatfreunden ist die Humoreske trefflich geeignet.
Kleiner Briefkasten.
E. T. in Halle a. S. Ihr Wunsch zwingt zu einem Blick auf den interessantesten Theil der thüringischen Geschichte. Sie haben sich durch den Namen Ludwig, der in der thüringer Geschichte so häufig vorkommt, irreführen lassen. Erbaut wurde die Wartburg im Jahre 1067, ein Jahrzehnt vor Heinrichs IV. Gang nach Kanossa, von Ludwig dem Springer, demselben, der nach der Lage den kühnen Sprung von Schloß Giebichenstein in die Saale wagte. Ein Jahrhundert später lebte Landgraf Ludwig der Eiserne. Er war im Anfang seiner Regierung leichtsinnig und allzu nachsichtig gegen die thüringer Edlen, welche das Volk bedrückten. Doch sein Abenteuer mit dem Schmied „aus der Ruhl“ klärte ihn über das Treiben derselben auf; er bestrafte die Uebermüthigen streng und war seitdem milde gegen das Volk. Eine weise Regierung befestigte seine Macht und verhalf ihm zu Ansehen bei dem Volk wie bei den Großen, zumal seit er mit Kaiser Friedrich Barbarossa, dessen Stiefschwester er 1150 heirathete, in ein freundschaftliches und verwandtschaftliches Verhältniß getreten war. Denselben Namen, Ludwig, führte endlich auch der Gemahl der heiligen Elisabeth. Er war der ältere Sohn des Landgrafen Hermann, an dessen kunstsinnigem Hofe 1207 der berühmte Sängerkrieg stattfand. In demselben Jahre wurde die Gemahlin seines Sohnes geboren, Elisabeth, Tochter des Ungarnkönigs Andreas II. Als Landgraf Ludwig 1227 auf dem Kreuzzug starb, begann für Elisabeth die Leidenszeit. Ihr Schwager Heinrich Raspe übernahm die Regierung. Er vertrieb sie mit ihren Kindern von der Wartburg. Die vom Kreuzzug heimkehrenden thüringer Edlen zwangen ihn, Elisabeth in Besitz ihres Witwentheils zu setzen. Sie erhielt die Stadt Marburg sammt den Einkünften. Dort lebte sie gänzlich unter dem Einfluß des zelotischen Ketzerverfolgers Konrad von Marburg in Bußübungen und Selbstgeißelungen bis an ihr Ende 1231, ohne daß sie den flehenden Bitten ihres Vaters, zu ihm zurückzukehren, nachgab.
A. M. in Holtenau. Die „Deutschen Sprachbriefe“ von Dr. Sanders sind jedem zu empfehlen, der sich mit dem Geiste der deutschen Sprache vertraut machen und sich einen korrekten Stil aneignen will.
Br. in Schleus. Wir bedauern, Ihren Vorschlag ablehnen zu müssen.
- Soeben erschienen und durch beinahe alle Buchhandlungen zu beziehen:
Unter der Linde. | Josias. |
Novellen | Eine Geschichte aus alter Zeit. |
von | von |
W. Heimburg. | Fanny Lewald. |
Elegant broschirt M. 4.40. Elegant gebunden M. 5.50. | Elegant broschirt M. 3.–. Elegant gebunden M. 4. –. |
Inhalt: Am Abgrund. – Unsere Hausglocke. – Unser Männe. – Jascha. – In der Webergasse. – Großmütterchen. – Aus meinen vier Pfählen. | |
Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. |
- ↑ Landschaft in dem französischen Departement Ain, durch Hühnerzucht berühmt.