Die Gartenlaube (1888)/Heft 19
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Es klopfte an der Thür, und das gutmüthige Gesicht der Frau von Katzenstein schaute herein. „Darf ich?‟ fragte sie, und gleich darauf stand sie vor Claudine. „Hoheit wachten so fröhlich auf,‟ erzählte sie. „Sie wollten selbst den Geburtstagstisch aufbauen. Sie nahmen das Frühstück im Bette ein und verboten noch extra, Sie, liebste Claudine, zu wecken, damit Sie ausschlafen könnten. Die Kammerfrau mußte für das Diner eine rothseidene Robe mit Krêmespitzen zurechtlegen, und nun –‟
„Ist Hoheit kränker? ‟ fragte athemlos Claudine und that einen Schritt nach der Thür.
[310] „Bleiben Sie, liebstes Kind, ich muß Ihnen noch weiter erzählen; die Herzogin bekam Briefe heute früh, und plötzlich – ich hatte die Kouverts aufgeschnitten – höre ich vom Nebenzimmer aus einen sonderbaren Ton, wie einen schweren Seufzer, und als ich zurückkomme, liegt die Herzogin wieder in den Kissen mit geschlossenen Augen. – Ich bemühte mich um sie, und da sagte Hoheit auf einmal mit eigenthümlich schwerer Zunge: ‚Gehen Sie hinaus, liebe Katzenstein, ich will allein sein‘– Ich ging widerstrebend, und als ich vorhin in meiner Angst hinein wollte, hatte die Herzogin sich eingeschlossen – etwas, was noch nie dagewesen ist. – Seine Hoheit hatten schon zweimal geschickt, um sich anzumelden, der Erbprinz vergeht vor Ungeduld; im Garten steht die Kapelle und wartet auf Befehl zum Beginnen des Ständchens, und noch rührt sich nichts in dem Zimmer der Herzogin.“
„Mein Gott, sie bekam doch keine schlimmen Nachrichten von ihrer Schwester?“
Die alte Hofdame zuckte die Schulterm „Wer kann es wissen?“
„Kommen Sie, liebste Frau von Katzenstein! Hoheit war gestern schon so sonderbar, so aufgeregt!“
Das schöne Mädchen mit dem sorgenvollen Gesicht stand an der kleinen Tapetenthür, die an das Schlafzimmer der Herzogin führte, und lauschte. Kein Ton zu hören. „Elisabeth!“ rief sie leise und angstvoll.
Dort innen wurde der Ruf gehört. Vor ihrem Bette knieete die Herzogin und hob den Kopf; ihre starren Augen wandten sich nach jener Richtung, aber ihre Lippen preßten sich nur noch fester auf einander. In der Hand hielt sie ein kleines, vielfach gebrochenes Billet. – Das Zweifeln, das Bangen war vorüber; mit der Gewißheit war Ruhe über sie gekommen, eine schreckliche starre Ruhe, und mit ihr der Stolz, der Stolz der königlichen Prinzessin, allgewaltig und stark. Niemand durfte es ahnen, wie arm sie geworden!
Nur diese kurze Rast noch, nur diese eine Stunde, um das todeswunde Herz zu beschwichtigen, zu betäuben! – Gönnte man ihr auch das nicht?
„Elisabeth!“ klang es wieder. „Um Gotteswillen, ich sterbe vor Angst!“
Die Herzogin erhob sich plötzlich. Sie trat einen Schritt auf die Thür zu, die Fäuste an die Schläfen gepreßt wie verzweifelt. Dann ging sie und öffnete.
„Was wollen – was willst Du?“ fragte sie kühl.
Claudine war eingetreten und blickte in zwei starre, glühende Augen, auf eine hoch aufgerichtete Gestalt. „Elisabeth,“ fragte sie leise, „was ist Dir? Bist Du krank?“
„Nein! – Rufe die Kammerfrau!“
„Kämpfe nicht so dagegen an, Elisabeth; lege Dich. Du siehst sterbend aus, Du bist leidend,“ stammelte Claudine, die furchtbare Veränderung gewahrend. Aus dem lächelnden Antlitz war eine starre Larve geworden.
„Rufe die Kammerfrau und bringe mir ein Licht!“
Claudine that schweigend, wie ihr befohlen. Die Herzogin hielt ein Papier in die Flamme; sie ließ es erst zur Erde fallen, als das Feuer um ihre schmalen durchsichtigen Finger spielte, und trat dann mit dem Fuße darauf.
„So!“ sagte sie, indem sie die Hand auf die Brust legte und tief Athem holte. Ein Zucken flog dabei über ihr Gesicht, als empfinde sie lebhaften körperlichen Schmerz.
Sie ließ sich ankleiden, aber sie befahl eine dunkle Toilette. Ihr Gesicht mit den zwei brennend rothen Flecken unter den Augen sah merkwürdig gelblich aus zu der dunklen heliotropfarbenen schlichten Robe. Sie ließ alles mit sich thun; als aber die Kammerfrau eine gelbliche Rose im Haar befestigte, riß die Herzogin ungestüm die Blume herunter und warf sie zur Erde.
„Rosen!“ sagte sie mit unbeschreiblicher Betonung. Wie in tiefen Gedanken stand sie dann vor dem Spiegel, Claudine etwas hinter ihr mit bekümmertem Ausdruck.
Endlich begann die Herzogin zu lachen. „Kennst Du das Sprichwort,“ fragte sie: „‚Alles verstehen, ist alles verzeihen‘?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, wandte sie sich an die Kammerfrau: „Melden Sie Seiner Hoheit, daß ich bereit bin.“
Sie winkte Claudine und schritt mit ihr durch das Boudoir in den rothen Salon. Das reiche Gemach war von Blumenduft erfüllt; auf einem Seitentisch hatte man die Geschenke geordnet, Spielsachen, Bücher, ein prachtvolles kleines Gewehr. In der Mitte des Tisches prangte im reich geschnitzten Rahmen eine Photographie der Herzogin. Sie nahm das Bild in die leise bebende Hand und heftete ihre Augen darauf, als sei es etwas Fremdes, nie Gesehenes. „Es ist entzückend ähnlich geworden, Hoheit,“ sagte Frau von Katzenstein, „Hoheit sehen so frisch daraus aus, so glücklich.“
„Es ist ein schlechtes Bild,“ erwiderte die Fürstin hart, „tragen Sie es fort; es ist unwahr, ich bin es nicht.“
Frau von Katzenstein warf Claudine einen verzweifelnden Blick zu im Hinausgehen.
In diesem Augenblick öffnete ein Lakai die Thür, und der Erbprinz kam herein, gefolgt von dem Herzog, der den jüngsten Prinzen auf dem Arme trug und den zweiten an der Hand führte. Jubelnd wollte der Prinz zu seiner Mutter hinüber, aber sein Schritt stockte, ebenso wie der Herzog stehen blieb und auf die Frauengestalt schaute, die dort so seltsam starr und fremd am Tische stand in dem dunklen nonnenhaften Kleide.
Sie sah ihrem Gemahl in die Augen, als wollte sie ihm bis auf den Grund der Seele schauen. Unten begann eben das Ständchen; durch das offene Fenster scholl es feierlich: „Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren.“
Einen Augenblick schien es, als könne sie die Fassung nicht bewahren; sie schwankte und preßte ihr Gesicht in das Haar des Erbprinzen.
„Mama, gratulire mir doch!“ bat der Knabe ungeduldig; er durfte erst nach dem Handkuß zu seinen Gaben.
„Gott segne Dich!“ flüsterte sie und setzte sich in den Stuhl, den ihr der Herzog jetzt herzurollte.
Claudine hatte sich zurückgezogen, als dieser eingetreten war; sie mußte es thun, es war Familienfeier im engeren Kreise und niemand hatte sie gebeten zu bleiben. Sie stand im Nebenzimmer am Fenster. Das Jubeln der fürstlichen Kinder vermischte sich mit dem lustigen Marsch, der von unten herauf tönte. „Was, um Gotteswillen, war es mit der Herzogin?“ fragte sie bang.
„Die Großmama! Die Großmama!“ scholl es jauchzend. Ein freudiger Schreck durchfuhr das Mädchen, ihre geliebte verehrte Herrin, die immer Gütige war gekommen. Es zuckte ihr in den Füßen, sie hätte hinfliegen mögen, um ihr die Hand zu küssen. Und jetzt klang die milde Frauenstimme herüber; aber bebte sie nicht seltsam schmerzlich heute?
„Mein liebes Kind, meine gute Elisabeth, wie geht es Dir?“
Lange blieb es still dort drüben. Dann sprach dieselbe schmerzbebende Stimme: „Altenstein scheint Dir nicht gutgethan zu haben, Elisabeth; ich nehme Dich mit nach Bayern.“
„O, ich bin ganz gesund,“ erwiderte jetzt die Herzogin laut, „so gesund! Du glaubst nicht, Mama, was ich ertragen kann!“
Die lärmende Musik draußen verschlang die fernere Unterhaltung.
Claudine stand wie auf Kohlen. Fragte denn Ihre Hoheit nicht nach ihr? Sie wußte doch, daß sie bei der Herzogin weilte, sie hatte es ihr ja selbst geschrieben. Freilich, eine Antwort hatte sie nicht erhalten; es fiel ihr erst jetzt bedeutungsvoll auf. Jene unerklärliche Bangigkeit von heute früh kam wieder über sie.
Dort innen war es allmählich still geworden; die Herzogin-Mutter mochte sich entfernt haben, um nach der langen Fahrt zu ruhen; die Kinder waren in ihre Gemächer zurückgekehrt. Man hörte nur die Schritte Sr. Hoheit, der ungeduldig im Zimmer auf und ab ging.
„Claudine!“ rief die Herzogin. Sie wollte es ertragen lernen, die Beiden zusammen zu sehen. Und als die Gerufene erschien, blickte sie von ihr zu dem Herzog hinüber. Wie gut sie sich in der Gewalt hatten! Se. Hoheit streifte dieses schöne Mädchen kaum mit einem Blick.
Sie mußten sich brillant eingeübt haben im Verstellen! Ach nein, sie hatten so leichtes Spiel ihr, der vertrauenden gläubigen Thörin, gegenüber! Einen Moment kam eine brennende Eifersucht über sie; eine Lust, diejenige, die jetzt neben ihr stand, mit einem Schlage zu vernichten.
„Präsentiren Sie Sr. Hoheit jenes Glas Wein, Claudine,“ sagte sie. „Se. Hoheit vergaß, daß ich es ihm vorhin reichte.“
Claudine that, wie ihr geheißen.
[311] Die Herzogin hatte sich währenddem erhoben und war hinausgeschritten. Sie fürchtete in jenes verzweifelte Lachen auszubrechen, das sie zu ersticken drohte.
„Was ist’s mit der Herzogin?“ fragte der Herzog und runzelte die Stirn, indem er den Wein austrank.
„Hoheit, ich weiß es nicht!“ erwiderte Claudine.
„Gehen Sie der Herzogin nach!“ sagte er kurz.
„Ihre Hoheit befinden sich im Schlafzimmer und wollen nicht gestört sein und wünschen, Fräulein von Gerold in einer Stunde im grünen Salon zu sehen,“ berichtete die Kammerfrau, die eben eintrat.
Claudine schritt zu einer andern Thür hinaus und begab sich nach ihrem Zimmer.
Im Schlafgemach der fürstlichen Frau waren die Vorhänge hernieder gelassen, und in dieser Dämmerung lag die Herzogin auf ihrem Ruhebette. Sie wußte Claudine mit ihm allein. – Jetzt würde er ihr die Hand küssen und sie an sich ziehen, ihr sagen: „Ertrage die Launen, mein Lieb; sie ist eine kranke Frau, ertrage sie meinetwegen!“
Und in beider Augen würde die Hoffnung schimmern auf eine bessere Zukunft, dann – wenn da unten im Gewölbe der Schloßkirche ein neuer Sarg –
Sie schauerte nicht bei diesem Gedanken, sie lächelte nur; es ist ja gut, daß man weiß, es kommt ein Ende! Ach, wieviel verschwiegenes bitteres Leid mochte sich schon zur Ruhe gelegt haben mit denen, die in den Sarkophagen dort unten schliefen!
„Es ist so tröstlich, daß es ein ‚Vergessen‘ giebt und schlaf – wenn es nur nicht so lange mehr dauert, dies Wachen, das man Leben heißt!“
Sie empfand etwas von dem vorwurfsvollen Empfinden, das einen feinfühligen Menschen ergreift, wenn er glauben muß, die Geduld anderer gar zu lange in Anspruch zu nehmen, und es doch nicht ändern kann. Dabei dieser Druck auf der Brust; es war so schwer, das Athmen.
„Wenn nur die Kinder nicht wären!“
Nun, sie würden die kränkelnde leidende Mutter kaum vermissen und – es sind ja Buben. Wie gut das ist! Keine arme beklagenswerte Prinzessin!
Ach, und da draußen die Welt! Ob man es dort wußte? Ob man lächelte und flüsterte über die verrathene Frau, welche die Geliebte ihres Mannes für eine Freundin hielt? – Sie stöhnte schmerzlich auf; der Druck auf der Brust wurde immer schwerer.
Und wieder stand sie auf, die Hände über der Brust gefaltet, und irrte im Zimmer umher. Es blieb ihr nichts übrig, als stolz zu sein, stolz und nachsichtig.
Wäre der Tag erst vorüber! Wäre die Nacht da, wo sie allein sein und weinen durfte!
Unten rollten Wagen in den Hof; auf dem Korridor erklangen Schritte geschäftiger Diener, Schleppen rauschten; die Gäste verfügten sich nach dem Salon vor dem alten Geroldschen Banketsaal, der in einem Zwischenbau lag, welcher die beiden Flügel des Schlosses verband.
Auch Claudine, die in ihrem Zimmer regungslos in einem Fauteuil saß, hörte es. Sie wandte bei jedem Tritt ihr Haupt, und wenn er vorüberging, lief eine flüchtige Röthe über ihr Gesicht. Warum befahl die Herzogin-Mutter sie nicht? Warum kam nicht wenigstens Fräulein von Böhlen, ihre Nachfolgerin bei der alten Hoheit, sie zu begrüßen? Es war doch Usance, daß die Damen sich besuchten. Und bei Frau von Katzenstein hatte die blasse, gelangweilt aussehende junge Dame mit dem röthlich blonden Haar und den unzähligen Sommersprossen schon vor einer halben Stunde angeklopft.
Vor ihr auf dem Tischchen lag die Uhr. Um dreiviertel auf Zwei mußte sie hinübergehen nach dem grünen Salon, wo die Herzogin sie erwartete, um dieselbe von dort zu den Gästen zu begleiten. Sie hatte ihre Toilette gewechselt; sie trug eine kurze Sommerrobe, welche die Herzogin ihr vor ein paar Tagen geschenkt hatte, blaßblauer seidener Foulard mit weißen Spitzen garnirt, und den dazu gehörigen Silberschmuck in Form von Edelweißblüthen als Brosche und Haarnadel. Der Fächer aus blauen Straußfedern lag neben den langen gelblichen Handschuhen. Zögernd ergriff sie die letzteren und streifte sie über; es war Zeit zum Gehen.
Auf dem Korridor traf Claudine mit Fräulein von Böhlen zusammen, die augenscheinlich in das Zimmer ihrer Gebieterin wollte. Die Damen kannten sich von den Hoffestlichkeiten her; Fräulein von Böhlen war namentlich oft bei der Herzogin-Mutter im kleinen Cercle gewesen. Ihr Vater, ehedem Kammerherr des verstorbenen Herzogs, hatte sich durch allerlei Intriguen bei dem Nachfolger mißliebig zu machen gewußt und sich in das Privatleben zurückziehen müssen unter keineswegs glänzenden Verhältnissen. Die alte Hoheit unterstützte die Familie, die sich tief gekränkt glaubte. Ihr immer zur Milde geneigter Sinn vergab und vergalt die Unannehmlichkeiten, die ihrem Hause zugefügt waren, indem sie die Tochter an Claudinens Stelle berief.
Fräulein von Böhlens rothblonder Kopf war vermutlich von einer Art Krampf in den Nacken zurückgezogen; sie schien ihn mit aller Gewalt nicht zu einem Gruß beugen zu können. Claudine, die in ihrer vornehmen stillfreundlichen Art ihr die Hand entgegen reichte, stand plötzlich allein. Die etwas zerdrückte krêmefarbige Schleppe der jungen Dame war ohne Aufenthalt an ihr vorübergerauscht und verschwand in einer der hohen altersbraunen Flügeltüren am Ende des Korridors.
Gelassen wandte sich Claudine und trat in das kleine Vorzimmer zu den Gemächern der Herzogin. Frau von Katzenstein machte ein so komisches Gesicht, so gutmütig, mitleidig und so verlegen.
„Hoheit hat noch kein Lebenszeichen von sich gegeben,“ stotterte sie, dann ward sie still – die Herzogin war auf die Schwelle getreten. Ihr erster Blick streifte die Freundin; Claudine sah vielleicht nie schöner aus, als in diesem leichten mädchenhaften Kostüm.
Die Herzogin neigte leise den Kopf und schritt durch das Gemach der gegenüberliegenden Thür zu; man vernahm dort innen die gedämpfte Stimme des Herzogs und das kalte Organ der Prinzeß Thekla.
Die Herzogin war stehengeblieben. „Gieb mir Deinen Arm, Claudine,“ sagte sie dann fast heiser, und so traten sie neben einander unter der rothen Portière hervor, welche die Lakaien zurückrafften, gefolgt von Frau von Katzenstein. In dem Salon, wo ungefähr zwanzig Personen sich befanden, herrschte momentan eine lautlose Stille.
War das noch die Herzogin?
Eine kleine zierliche Gestalt, dort hinter den Fächerpalmen halb verborgen, griff wie nach Halt suchend in den Purpursammet der Gardine; die zitternden Kniee versagten fast den Dienst bei der tiefen graziösen Verbeugung. Prinzeß Helene trat ein paar Schritt vor auf den Wink der Mutter; aber ihr dunkler Kopf senkte sich vergeblich, der Kuß der fürstlichen Kousine unterblieb heute.
Man setzte sich nicht. Plaudernd stand man umher. Baron Gerolds Augen hingen an Claudine; der Arm der Herzogin lag noch immer in dem des Mädchens. Ihre Augen waren auf die Mittelthür gerichtet, und jetzt ging die Röthe der Freude über ihr schönes Gesicht – die Herzogin-Mutter war eingetreten.
Auf diesem gefurchten gütigen Antlitz, unter dem silberweißen Scheitel, lag heute etwas ungewöhnlich Hartes. Aber Claudine sah es nicht. Auf des Mädchens Arm gestützt schritt die Herzogin ihrer Schwiegermutter entgegen und beugte sich auf die Hand der alten Dame nieder, während Claudine sich tief verneigte. Die Augen des jungen Mädchens sahen erwartungsvoll freudig in das Antlitz der fürstlichen Greisin.
„Ah, Fräulein von Gerold, ich bin erstaunt, Sie hier zu sehen; sagten Sie mir nicht, daß Sie Ihrem Bruder unentbehrlich seien?“
Die alte Dame hatte die Hände fest über einander gelegt; bei den letzten Worten sah sie zu Frau von Katzenstein hinüber, als wäre Claudine nicht anwesend.
Stolz trat Claudine zurück, und einen einzigen Moment trafen ihre Blicke die des Vetters. Athemlos still war es, nur die alte, jetzt so milde Frauenstimme sprach freundlich weiter mit der „lieben“ Katzenstein.
Claudine sah sich nicht um; es war ein lähmendes Entsetzen über sie gekommen; sie wußte auch nicht, wie ihre Füße sie zu der Herzogin hinüber trugen; sie wollte sprechen, aber in diesem Augenblick wurden die Thüren geöffnet; der Erbprinz, der heute die Ehre hatte, seine Großmama zur Tafel zu geleiten, trat feierlich vor die alte Dame mit seiner kleinen Person, und schon im nächsten Moment rauschte die silbergraue Schleppe der durchlauchtigsten Mutter über den Teppich.
[312] „Gestatten Hoheit, daß ich mich zurückziehe,“ stammelte Claudine zu der Herzogin gewendet, „meine heftigen Kopfschmerzen –“
Einen Augenblick regte es sich in dem Herzen der unglücklichen Frau wie Mitleid mit dem Mädchen, dessen geisterhaft blasse Züge eine furchtbare Gemüthserregung verriethen.
„Nein!“ erwiderte sie flüsternd, denn eben kam Se. Hoheit herüber. „Ich selbst bin krank und kämpfe – kommen auch Sie –“
Claudine schritt mit den Andern den Korridor hinab und trat neben Lothar hinter den Herrschaften in den Empfangssalon. Die Hoheiten begrüßten ihre Gäste, der Erbprinz nahm Glückwünsche entgegen, dann öffneten sich die Thüren zum Speisesaal. Claudine fand ihren Platz Lothar gegenüber. Sie hatte keine klare Vorstellung, wie das Diner vorüberging; sie antwortete wohl auf die Fragen ihres Nachbarn; sie aß, sie trank, aber es war wie im Traume, völlig automatenhaft; Prinzeß Helene, neben Baron Lothar, sprach auffallend hastig und saß dann wieder stumm; zuweilen schauten ihre schwarzen funkelnden Augen zu Claudine hinüber, während sie mit dem Dessertlöffelchen spielte. Und wenn die seltsam abwesenden Blicke Claudinens sie trafen, so ward sie roth und fiel in ihre gezwungene Lebhaftigkeit zurück.
Und wie es kam – wer mag es ergründen? es schwebte in der Luft, es perlte in den Champagnerkelchen; es sagten sich’s Blicke und Mienen ohne Worte, ein Jeder an der schimmernden Tafel wußte es: dort oben in den fürstlichen Gemächern war etwas vorgefallen, die Herzogin-Mutter war gekommen, um dazwischen zu fahren. Mit dieser idealen Freundschaft hatte es ein Ende, die schöne Gerold saß dort zum letzten Male.
Es lag wie lähmend auf allen diesen anscheinend so fröhlich plaudernden Menschen, gleich einem Gewitter, dessen Ausbruch jeder herbeisehnt und doch fürchtet. Se. Hoheit schien merkwürdig gereizt; kein Wunder – die Herzogin sah, ganz gegen ihre Gewohnheit, roth aus; sie fuhr sich oft mit dem Tuch über die Stirn und trank eisgekühltes Wasser.
Endlich, endlich erhob sich die Herzogin; die Tafel war zu Ende und im anstoßenden Salon ward der Kaffee präsentirt.
„Ihre Hoheit hat sich zurückgezogen und wünscht Sie zu sprechen,“ flüsterte Frau von Katzenstein Claudine zu.
Das Mädchen flog die Stufen empor und den Korridor entlang. Nur Gewißheit wollte sie – was hatte sie denn gethan, verbrochen? Und doch verfolgte sie schon eine entsetzliche Ahnung.
Die Herzogin saß auf ihrer Chaiselongue den Kopf gegen die Lehne gestützt.
„Ich will Dich fragen,‟ begann sie mit verzerrtem Gesicht – dann schrie sie auf. „Jesus – ich – Claudine!“ und ein Blutstrom ergoß sich aus ihrem Munde.
Das junge Mädchen hielt sie in ihren Armen; sie zitterte nicht, sie sprach kein Wort, während die Kammerfrau fortstürzte, um Hilfe zu holen. Der Kopf der Herzogin lag an ihrer Brust, sie war völlig bewußtlos.
In der nächsten Minute erschien der Arzt, der Herzog und die alte Herzogin. Die Kranke wurde aufs Bett getragen; die ganze fieberhafte leise Thätigkeit begann, wie in solchen Fällen zu geschehen pflegt. Claudine mit ihrem vor Schreck entstellten Gesicht, mit ihrem blutbefleckten Kleide stand unbeachtet dort; so oft sie auch die Hand ausstreckte zu helfen, niemand beachtete es, niemand schien es zu bemerken.
„Ist irgend etwas geschehen, was Ihre Hoheit beunruhigte?“ fragte der Arzt.
Der Herzog wies auf Claudine. „Fräulein von Gerold, Sie waren zuletzt bei ihr; wissen Sie –“
„Ich ahne es nicht,“ antwortete sie.
In diesem Augenblick traf der Blick der alten Herzogin das Mädchen, streng und feindlich. Sie hielt ihn aus, diesen Blick; sie senkte nicht schuldbewußt das Haupt. „Ich weiß nichts!“ wiederholte sie noch einmal.
Dort unten begann das Konzert. Der Herzog verließ hastig das Krankenzimmer, um den Fortgang des Konzertes zu verbieten – da stand er Prinzeß Helene gegenüber. Sie war noch athemlos vor raschem Lauf; sie war im Garten gewesen, als man ihr die Schreckenskunde zuraunte. Ihre angstvollen Augen sprachen deutlicher, als Worte es vermochten.
„Hoheit,“ sagte der Arzt, der dem Herzog gefolgt war, „es wäre besser, nach H. zu telegraphiren an Professor Thalheim; Ihre Hoheit sind sehr schwach.“
Der Herzog sah ihn groß an; er war bleich geworden.
„Nicht sterben! Um Gotteswillen nicht!“ flüsterte Prinzeß Helene, „nur das nicht!“
Und entsetzt wich sie zurück, als Claudine heraustrat mit blutbeflecktem Kleide.
In ihrem Zimmer traf Claudine Beate.
„Herr Gott, wie schrecklich!“ rief das resolute Mädchen; „paß auf, Schatz, nun ist unser Fest schuld daran.“
„Ach nein“ sagte das Mädchen leise beim Ablegen der Kleider.
„Aengstige Dich nicht so, Claudine; Du siehst ja entsetzlich aus! Dort unten“ fuhr Beate fort, „stiebt alles aus einander. Ich habe die Kinderfrau mit Leonie und Elisabeth tiefer in den Park hineingeschickt. Hier vorn stehen nur noch einige Gruppen, die natürlich erörtern wollen: wieso? woher? – Die Prinzen sind in ihrem Zimmer, der Erbprinz weint zum Gotterbarmen. Wer hätte das auch gedacht!“
„Willst Du so freundlich sein und mich in Deinem Wagen mitnehmen?“ fragte Claudine.
Beate, die ihren Hut vor dem Spiegel aufsetzte, wandte sich hastig um. „Du willst doch jetzt nicht fort, Claudine? Das kannst Du nicht!“
„Doch, ich kann, ich will –“
„Ihre Hoheit wünscht Fräulein von Gerold zu sprechen,“ flüsterte die Kammerfrau durch die Thür.
„Nun, siehst Du, Claudine, Du kannst nicht fort,“ sagte Beate mit unverkennbarer Genugthuung und band die blaßgelbe Schleife ihres Hutes.
In der Krankenstube war es still und dunkel; man hatte alle entfernt; nur im Vorzimmer ging der Herzog mit unhörbaren Schritten auf und ab. Claudine saß auf einem Stuhl zu Füßen des Lagers, wohin eine Handbewegung der Kranken sie gewiesen; mit schwachem Flüstern hatte dieselbe sie gebeten, hier zu bleiben, weil sie etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen habe.
Unten in dem Zimmer des Erbprinzen hockte Prinzeß Helene neben dem schlanken Jungen auf dem Teppich; sie weinte nicht, sie hatte nur die Hände gefaltet, als ob sie bete oder jemand um Verzeihung bitten wollte. Prinzeß Thekla befand sich in den Gemächern der Herzogin-Mutter. Die alte Dame saß völlig erschüttert in einem der tiefen Lehnsessel, die noch das Geroldsche Wappen trugen; sie hörte kaum auf das, was Ihre Durchlaucht mit leiser Stimme vortrug; sie war entsetzt, in welchem Zustande sie „die Liesel“ gefunden.
„Ja, derartige Gemütsbewegungen –“ seufzte die alte Prinzessin „es ist auch kaum zu fassen; sie ist eine Intrigantin, diese sanfte Claudine.“
„Meine liebe Kousine,“ erwiderte die greise Herzogin; „es ist eine alte Erfahrung, den Mann trifft stets die größere Hälfte der Schuld in solchen Fällen – vergessen wir das nicht, bitte!“
„Aber warum duldet man sie noch länger hier?“ ereiferte sich die durch diese Antwort gereizte Prinzessin, deren gelblicher Teint noch um eine Schattirung dunkler ward.
„Wollen Sie sich gefälligst erinnern, daß Se. Hoheit hier allein befiehlt, ma chére?“
„Allerdings – Pardon – aber es ist sonderbar, wenn man denkt –“
„Ja – aber es giebt Fälle, wo man besser thut, man denkt nicht, Kousine,“ klang seufzend die Antwort.
„Baron Gerold bittet um die Gnade, Ihre Hoheit in einer wichtigen Angelegenheit sprechen zu dürfen,“ meldete Fräulein von Böhlen.
Die alte Hoheit bejahte augenblicklich. Im nächsten Augenblick bereits stand Lothar im Gemach. Prinzeß Thekla lächelte ihm liebenswürdig zu und erhob sich. „Eine geheime Audienz? Gestatten Hoheit?“
„Es würde Ew. Durchlaucht Gegenwart in keiner Weise hinderlich sein, meine Bitte zu Füßen Ihrer Hoheit zu legen; um so weniger, als Durchlaucht sicher ein gewisses Interesse an diesem meinem Anliegen nehmen werden.“
Die alte Hoheit warf einen forschenden Blick unter ihrem Blondenhäubchen hervor. „Sprechen Sie, Gerold,“ sagte sie.
Wenn jemals eine Stadt verstanden hat, plötzlichen Umwälzungen und Anforderungen, welche durch überraschende politische Ereignisse zu Werke gebracht wurden, gerecht zu werden, und zwar in verantwortungsreichster Weise, so ist es Berlin. Vor dem deutsch-französischen Kriege, der für Preußen und seine Bundesgenossen ungeahnte Folgen hatte, war Berlin eine Hauptstadt mit mehreren hunderttausend Einwohnern, wie es deren verschiedentlich, wenn auch nicht ganz so große, gab. Man legte der Residenz, die noch dazu in „des heiligen römischen Reiches Streusandbüchse“ lag, keine besondere Bedeutung bei; die Blicke sehr vieler innerhalb der schwarz-weiß-rothen und selbst der schwarz-weißen Grenzpfähle waren weit mehr und weit intessirter nach Paris, nach London und nach Wien gerichtet, als nach Berlin, dem man so wie so nicht recht gewogen war, welches man theils mit mißgünstigen, theils mit verächtlichen oder spöttischen Augen betrachtete. Viele verstanden absolut nicht, wie man auf die Dauer hier leben konnte, wie man sich hier wohl zu fühlen vermochte, und so manchem Beamten geschah durchaus kein Gefallen damit, wenn ihm seine Versetzung nach Berlin bekannt gemacht wurde.
Die gewaltigen Erfolge des deutsch-französischen Krieges zerstörten mit wuchtigen Schlägen den provinziellen Schlaf, der bisher Berlin umfangen hatte. Aus der preußischen Hauptstadt war mit einem Male eine deutsche Kaiserstadt geworden; auf hoch erhobenem Haupte trug Berolina das blutig errungene Kleinod der deutschen Einigkeit und zeigte sich würdig der so unversehens eingetretenen Aenderung. In jugendlichem, siegreichem Thatendrang reckte und streckte sich nun die Stadt aus; in ungeahntem Maße nahm die Bevölkerung zu und vermehrte sich in einem Jahrzehnt – von 1871 bis 1881 – um mehr als 330 000 Seelen; tausend und abertausend Hände regten sich unermüdlich, um das Gewand der Stadt zu verbessern und zu schmücken, ganze Straßentheile verschwanden und machten vornehmen Neubauten Platz, gewaltige Fabrikanlagen erwuchsen fast über Nacht; die Industrien aller Art nahmen glücklichen Aufschwung; das Kunstgewerbe blühte empor, für die Bildungsanstalten, für die gelehrten und künstlerischen Sammlungen wurde das Höchste gethan; immer mehr konzentrierte sich hier die Gelehrten-, die Schriftsteller-, die Künstlerwelt; ein flottes, frisch pulsirendes Leben, der Drang nach vollendeten Leistungen herrschte und herrscht noch allerorten und bildet für jeden aufmerksamen Beobachter einen merkwürdigen Reiz des längeren Berliner Aufenthaltes. Und auch mit Werken der Kunst schmückte sich die Stadt; neue Denkmäler gesellten sich zu den alten, und die Friedenssäule auf dem Belleallianceplatz (vergl. S. 316) wurde durch die Siegessäule am Königsplatz übertroffen.
Wodurch aber konnten diese weitgesteckten Ziele erreicht werden? Nur durch Arbeit, durch unablässige, unermüdliche Arbeit! Schwerlich trifft man auf dem gesammten Kontinente eine Stadt, wo derartig viel gearbeitet und gefördert wird wie in Berlin. Die in den anderen Weltstädten wohlbekannte Species der vornehmen Nichtsthuer findet man in Berlin nicht so häufig; das Pflaster scheint hier für den Müßiggang zu heiß zu [314] sein, man zeigt auch deutlich jedem Tagedieb, wie wenig man von ihm hält. Dieser allgemeine Drang nach Thätigkeit, nach Beschäftigung fällt stets den Berlin besuchenden Ausländern am meisten auf; sie fühlen sofort, welch frischer Pulsschlag hier herrscht, wie jeder Erfolg ausgenutzt wird, um auf ihm weiter zu bauen und nach neuen Vortheilen und Triumphen zu streben.
Wer nur von Zeit zu Zeit nach Berlin kommt, der wird immer wieder erstaunen über das Wachsthum des öffentlichen Verkehrs in den belebteren Gegenden, und wenn er noch das Berlin von 1870 kennt, jenes Berlin mit seiner die Stadt auf ebenem Boden durchkreuzenden Verbindungsbahn, jenes Berlin mit seinen weit von den Centralpunkten abliegenden Bahnhöfen und innerhalb der engeren Stadtgrenze noch absolut „pferdebahnlos“, der wird über die schleunige und vortheilhafte Metamorphose sein ehrliches Bewundern nicht verhehlen. Was ist das für ein emsiges Hasten und Treiben auf allen Straßen und Plätzen, ein ewiges Hin und Her , eine stete Unruhe, ein fortwährendes Drängen und Eilen, Menschenmassen, wohin der Blick fällt, hier vor den lockenden Schaufenstern sich stauend, dort bei den Straßenübergängen sich sammelnd, da neugierig in dichten Scharen wegen irgend einer Kleinigkeit – eines gefallenen Pferdes, eines zerbrochenen Wagens, eines arretirten Umhertreibers wegen – Posto fassend und nicht von der Stelle weichend, bis sich die Sache abgespielt hat!
Ebenso lebhaft wie auf dem Trottoir ist der Verkehr auf dem Damme; unermüdlich rasseln und rollen die Wagen der mannigfachsten Art an einander vorüber, und oft genug müssen die in den frequentirteren Gegenden aufgestellten reitenden Schutzleute energisch eingreifen, um Verwirrungen zu hindern oder zu lösen.
Wenn wir einen kurzen Ueberblick des Berliner Verkehrs und seiner Entwicklung geben, so können wir unseren Ausgangspunkt vom Potsdamerplatz nehmen, auf welchem am 21. September 1838 ein reges Leben herrschte; denn von dem unscheinbaren kleinen Eisenbahngebäude aus, welches hier stand, sollte der erste Zug oder, nach damaligem Ausdrucke, der erste „Dampfwagen“ nach Zehlendorf – denn weiter ging die Berlin-Potsdamer Eisenbahn noch nicht – abgelassen werden. Freilich sah der Platz damals anders aus; nur die Schinkelschen Wachtgebäude standen schon da und bildeten gewissermaßen den Eingang in die Stadt, denn von hier ging die Chaussee nach Potsdam, zunächst durch Gartenanlagen, dann durch wüstes Feld, und auch nur von einer Art Vorstadt war absolut nicht die Rede: kleine Land- und Gartenhäuschen waren sichtbar, und die Berliner zogen auf Sommerwohnung dorthin, wo sich heute ein von Hunderttausenden bewohnter, vornehmer Stadttheil erstreckt Die Leipzigerstraße, heute zu den schönsten Berlins zählend, sah damals öde und nüchtern aus; denn sie war zumeist besetzt von den unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. errichteten soliden, aber monotonen Häusern.
Die Eröffnung der Potsdamer Bahn hatte zunächst keinen besonderen Aufschwung für die Stadt zur Folge, denn sie enttäuschte nicht unbeträchtlich die hochgespannten Erwartungen vieler, wie sich andere wieder schadenfroh dieses Mißerfolges freuten. Gab es doch genug gebildete Menschen in Berlin, welche auch nichts, gar nichts von dem neuen Unternehmen erhofften und ihm ein baldiges, seliges Ende prophezeiten. Zu diesen gehörte der Generalpostmeister von Nagler, welcher der Eisenbahn jegliche Rentabilität absprach und meinte: „Dummes Zeug! Ich lasse täglich diverse sechssitzige Posten nach Potsdam gehen, und es sitzt niemand drinnen! Wenn die Leute ihr Geld absolut loswerden wollen, so mögen sie es doch gleich lieber zum Fenster hinauswerfen, ehe sie es zu solchen unsinnigen Unternehmungen, wie zu einer Eisenbahn, hergeben.“
Der gute brave Oberpostmeister! Er würde sich recht wundern, wenn er heute mit uns durch Berlin spazierte und die kolossalen Bahnhofshallen, von deren schwindelnd hohen Decken des Abends und Nachts das elektrische Licht Tageshelle verbreitet, erblickte und dabei erführe, daß Berlin vierzehn derartige Bahnhöfe zählt, daß die Ringbahn wie ein eisernes Netz Berlin umgiebt und die Vororte in bequemer Weise mit einander verbindet, aber als einen Höllenspuk würde er es ansehen, wenn plötzlich an ihm oder über ihm rasselnd und donnernd die Züge der Stadtbahn wegbrausten und wir damit die Mittheilung verbänden, daß man aus dem Mittelpunkte Berlins jetzt in weniger als einer halben Stunde die schattenspendenden Hallen des Grunewalds oder die blauen Fluthen des Müggelsees erreichen kann.
Ja, der Stadtbahn ist schnell eine der bedeutendsten Rollen im Berliner Verkehrsleben zugefallen; täglich verkehren nicht weniger als 450 Züge, deren Zahl an schönen, von der Witterung begünstigten Sonn- und Festtagen noch erheblich wächst. Man muß dann den Andrang zu den verschiedentlichen, schmuck ausschauenden Bahnhöfen sehen, das Gekribbel und Gewimmel auf den breiten, luftigen Perrons, den Lärm und die Unruhe; von der die nicht beneidenswerthen Beamten umtost werden! Und das geht von früh bis spät; unerschöpfliche Menschenkarawanen wollen in das Freie befördert werden, wollen den Bann der Stadt verlassen und sich von anstrengender Werktagsarbeit ungezwungen und fröhlich erholen und dieser ungeheure Andrang, besonders im Sommer, macht es uns begreiflich, daß allein während des letzten Jahres die Stadtbahn von etwa vierzehn Millionen Menschen benutzt wurde. Diese Zahl würde um das Fünffache steigen, wenn die Bahn eine wesentliche Ergänzung durch einen Nord-Süd-Ring – der jetzige geht nur von Osten nach Westen – erführe und damit ihr Schienennetz über ganz Berlin ausbreitete. Man hört so auch, daß einem derartigen Plan von zuständiger Seite bereits nahegetreten worden ist; die Mittheilung einer baldigen Verwirklichung würde jubelnde Aufnahme finden.
[315] In unvorhergesehener Weise entwickelte sich das Institut der Pferdebahnen, deren erste Linie, und zwar diejenige nach Charlottenburg, 1865 entstand. Kurz vorher noch hatten einige englische Unternehmer den Berliner Magistrat gebeten, ihnen eine Konzession zur Errichtung von Pferdebahnstrecken zu ertheilen – sie waren abschlägig beschieden worden, weil ein Bedürfniß dazu nicht vorhanden war! Nach dem Friedensschlusse 1871 nahm die neue Einrichtung einen zunächst nur allmählichen, dann aber plötzlich ganz gewaltigen Aufschwung; auch innerhalb der Stadt wurden nun die Geleise gelegt, deren Gesammtlänge nach zwei Jahren 12 000 Meter betrug.
Ein Jahrzehnt später war diese Ziffer auf 200 000 Meter angewachsen, und seitdem hat sie von Jahr zu Jahr enorm zugenommen, denn die umfangreichen Mittel der einzelnen Gesellschaften, namentlich der Großen Berliner Pferdebahngesellschaft, deren Waggons täglich von etwa 180 000 Menschen benutzt werden mit einer regelmäßigen Einnahme von ungefähr 22 000 Mark, ermöglichen es ihnen, die Bedingungen der städtischen Verwaltung in jeglicher Weise zu erfüllen und materielle Schwierigkeiten überhaupt nicht kennen zu brauchen. Wohin man daher jetzt den Fuß in Berlin setzt, ob nach dem äußersten Norden oder dem entlegensten Süden: das Läuten der Pferdebahn wird stets zu vernehmen sein und die vielverschlungenen Linien gestatten uns schnell die Fahrt zu irgend einem anderen Punkte der Stadt.
Wenn aber die ganze Einwohnerschaft mit Freuden diese Ausbreitung der Pferdebahn begrüßte, einen Stand giebt es doch, der dieselbe mit stillem, oft auch mit lautem Haß und Neid verfolgt – es ist die ehrbare und ehrwürdige Kaste der Droschkenkutscher in Berlin, die ziemlich rein und unverfälscht unter ihren Genossen das Berlinerthum früherer Zeiten mit ungehobelter Derbheit, aber auch meist mit treffendem Witz bewahrt hat. Und wir begreifen diese gründliche Feindschaft, die sich häufig zu gehässigen Streitigkeiten verleiten läßt, recht wohl; denn die Pferdebahn macht ja den Droschken erhebliche Konkurrenz und mindert die Einnahmen der Kutscher um Beträchtliches herab, die wehmüthig auf jene Zeiten zurückschauen mögen, in denen sie allein das Regiment in Händen hatten, und die Passagiere von ihrer Gnade resp. Ungnade abhängig waren. 1816 tauchten in Berlin, wo es vorher nur gelbgestrichene Fiaker gegeben, die jedoch in den Kriegszeiten vollständig von der Bildfläche verschwunden waren, zuerst die Droschken auf, deren Bezeichnung dem Russischen entlehnt ist. Sie vermehrten sich beträchtlich, als die ersten Eisenbahnlinien mit Berlin verknüpft wurden und das Verkehrsleben dadurch einschneidende Veränderungen erhielt, erst in den letzten Jahren trat eine Verminderung ein, und große Hellseher wollen so auch das Jahrhundert bereits vorausbestimmen, wo gleich einer dunklen Sage nur noch das Gerücht von „Droschken zweiter Güte“ kündet und ein Exemplar derselben im Märkischen Museum lautes Staunen hervorruft. Vorläufig giebt es aber noch immer 4500 Droschken in Berlin, welche trotz aller Nebenbuhlerschaft im letzten Jahre an 15½ Millionen Personen beförderten.
Bald nach der Mündung verschiedentlicher Eisenbahnen in Berlin kamen auch die Omnibusse auf, welche den Wandel der Zeiten kaum miterlebt zu haben scheinen; denn, wenn sich alles um sie her veränderte, sie thaten es fast nicht und humpeln und schwanken noch heute in ziemlich derselben Gestalt über das Pflaster, wie vor zwanzig, vor dreißig Jahren. Dies ist wohl teilweise mit der Grund, daß sie sich nur in ganz bestimmten kleinbürgerlichen Volksschichten einiger Beliebtheit erfreuen und daß sie es niemals auch nur annähernd zu der Bedeutung gebracht haben, wie ihre Kollegen in Paris und London. Im Gegenteil: für viele Berliner gilt es durchaus nicht als „vornehm“, in einem Omnibus zu fahren und wenn man sie wirklich dabei ertappte, würde es ihnen gerade so fatal sein, als ob man sie bei irgend einem thörichten Streiche erwischt hätte. Die „Ableger“ der Omnibusse, die Thorwagen, sind fast ganz verschwunden; einige schöne Sonntage vielleicht rufen ihnen ihre frühere Blüthezeit ins Gedächtniß zurück, und auch den Kremsern wird es wahrscheinlich allmählich ebenso ergehen. Stadt-, Pferde- und Dampfbahn treten ihre Erbschaft an und führen die Ausflugslustigen viel rascher und bequemer nach ihren Zielen. Ob auch gemütlicher? – Das ist eine andere Frage; denn gemütlich waren sie doch, diese Kremserpartien, hinaus nach dem Grunewald, hin zu den Ufern der Oberspree, in dem rumpelnden Kasten dicht zusammengedrängt eine Menge vergnügter, fröhlicher Menschen mit gutem Berliner Humor und schlagfertigem Berliner Witz, mit großem Durst und dem ernsten Bestreben, die freien Stunden auszunutzen und sie in denkbarster Heiterkeit zu begehen! Diese Naturwüchsigkeit des Berliners, diese Ungenirtheit unter Hunderten und Tausenden fremder Menschen, wer weiß, ob sie nicht von den „modernen Allüren“ der Kaiserstadt verschlungen wird, ob der Berliner nach und nach nicht ganz in dem Weltstädter untergeht!
So bedeutend wie der kurz skizzirte Verkehr zu Lande ist nun freilich derjenige zu Wasser nicht, obgleich auch er beträchtlichen Umfang angenommen hat und in stetem, fortschreitendem Wachstum begriffen ist. Es ist eine auffällige Erscheinung, und jeglicher, der im Sommer nur einmal die Spree entlang fuhr, wird sie beobachtet haben – der Berliner hat eine merkwürdige Leidenschaft für das Wasser. Zu seinen höchsten Genüssen gehört es, auf einem kleinen Nachen, auf einem Segelboot, auf einem Dampfer die Fluthen der heimathlichen Gewässer zu durchfurchen, und so ist denn auch die Spree, besonders in der Gegend bei Treptow und Stralau, an schönen Tagen derart belebt, daß man glauben könnte, Berlin wäre Seestadt und jeder Berliner Junge führe schon früh,
[316] wie der kleine Hydriot, „hinaus auf das stürmische Meer.“ Häufig können die Dampfer kaum die Scharen befördern, die nach den hübsch gelegenen Vergnügungsorten an der Spree gelangen wollen, und ein buntfarbiges, unterhaltendes Bild ist es dann, welches der Fluß mit seinem regen Leben darbietet. Aber auch der Lastverkehr ist weit größer, als man glaubt: haben doch im verflossenen Jahr an 50 000 beladene Schiffe Berlin durchkreuzt, wie so auch die Spree und die mit ihr verbundenen Kanäle allein fünf geräumige Häfen bilden, in denen einige hundert Fahrzeuge nebeneinander liegen und gelöscht werden können. Da geht es rührig Tag für Tag her; die Dampfkrähne pfeifen und kreischen und winden spielend viele Centner schwere Lasten empor, um sie in die harrenden Wagen zu befördern; auf schwanken Brettern werden in klobigen Karren Sand und Steine und Kohlen und Holz an das Land gebracht; Geschrei, Rufen, Lärmen herrscht stets ringsum; denn die Lastträger und Schiffer sind hitzige Leute und das lange Warten, wie es oft geboten ist, ist nicht ihre Sache. Zumeist freilich lassen sie es am Schreien genügen und nur selten kommt es zu Tätlichkeiten: sie wissen recht gut, wie flink die zierlichen Polizeidampfer nahen und wie wenig die heilige Hermandad zögert, energisch Ruhe herzustellen!
Wo und zu welcher Stunde wir auch in Berlin weilen mögen, geschäftiges Leben und Treiben umgiebt uns überall vom frühesten Morgen an bis in die sinkende Nacht hinein. Selbst Abends, Wenn die Bureaus und Komptoirs, die Werkstätten und Ateliers geschlossen werden, wenn immer neue Menschenströme sich aus den Querstraßen in die großen Verkehrsadern ergießen, wenn für Unzählige die kurze Zeit der Erholung anfängt und sie sich freudig in das Vergnügen stürzen, beginnt wiederum für viele die Zeit angestrengter Thätigkeit; denn eine eigentliche Ruhepause in dem unermüdlichen Kreislauf der Weltstadt giebt es nicht. Die letzten schwankend ihren Penaten zusteuernden Kneipgenies, die ersten zu den frühesten Morgenzügen eilenden Reisenden, sie stoßen schon auf Arbeit: bei loderndem Feuer werden die Pferdebahnschienen ausgebessert, bei sprühendem Fackellicht wird das Pflaster erneuert, eilig fertigzustellende Bauten werden bei elektrischem Licht gefördert; in langen Reihen treten die Reinigungsmannschaften an und ihre Besen fegen taktgemäß über den Asphalt. Die Zettelankleber reißen in langen Strähnen das Papier von den Anschlagsäulen und versehen dieselben für den folgenden Tag mit einer neuen Vergnügungsspeisekarte. Dann, wenn das Frühlicht langsam herauf dämmert, rollen von den umliegenden Ortschaften die Wagen mit Lebensmitteln aller Art heran und steuern den Markthallen zu; Bäckerjungen streichen pfeifend an den Häusern entlang, und zuerst einzeln, darauf in kleinen Trupps, schließlich in dichten Mengen tauchen die Arbeiterkolonnen auf, die Maurer und Zimmerleute mit ihrem Handwerksgeräth in der Hand voran, ihr schweres Tagewerk beginnt so am ehesten. Bald nun erschallt das erste helle Läuten der Pferdebahn, die auf vielen Linien besondere Frühwaggons eingerichtet hat, und jetzt tritt auch schon der Tag mit seinem vielgliedrigen Räderwerk in sein Recht und die aufgehende Sonne begrüßt in Berlin bereits ein Heer fleißiger Menschen.
[317]
Die Erfolge dieses zielbewußten Strebens, dieser Anstrengung aller Kräfte und des muthigen, rastlosen Vorwärtsschreitens auf dem begonnenen Wege waren bisher große und glänzende und sie werden sicherlich auch fernerhin in ähnlicher Weise nicht ausbleiben. Stolze und schöne Worte sind es denn auch, welche der Berliner Magistrat seinem letzten Verwaltungsbericht vorangesetzt hat, welche eine ehrlich verdiente Anerkennung des allgemeinen Arbeitens und Ringens enthalten und die hier als Schlußstein unserer flüchtigen Betrachtung dienen mögen: „Wohl keine Stadt diesseit des Oceans hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren, im Verhältniß zu ihrer bisherigen Volkszahl, ein so staunenerregendes Wachsthum aufzuweisen. Die Lage Berlins, fast im Mittelpunkt von Deutschland und Europa, welche erst im Jahrhundert der Eisenbahnen voll zur Geltung kommen konnte, der Fleiß und die Genügsamkeit seiner aus einer Mischung verschiedenartiger Volkselemente hervorgegangenen Bewohnerschaft, endlich die günstigen politischen Gestaltungen der letzten Jahrzehnte haben in glücklicher Wechselwirkung zu dieser von der älteren Generation seiner Einwohner in ihren Jugendjahren nicht geahnten Entwickelung beigetragen. Berlin, die Hauptstadt des mächtigsten Gliedes der europäischen Staatengruppe, die Residenz eines auf dem ganzen Erdball bewunderten Fürsten, ist zugleich der bedeutendste Handels- und Börsenplatz des kontinentalen Europas geworden, auf dessen Wichtigkeit als Weltmarkt, als internationales Komptoir zur Regelung von Schulden und Anleihen auswärtiger Länder England nicht ohne Grund eifersüchtig zu werden begonnen hat.“
Alle Rechte vorbehalten.
Ein Arzt war in der Rettungsanstalt augenblicklich zur Stelle, die Wiederbelebungsversuche zeigten sich erfolgreich. Jakobäa schlug die Augen auf und blickte erstaunt um sich. Dann führte man sie in ihre Wohnung. Fräulein Nina setzte sich auf den Rand ihres Bettes und blickte die nun Schlummernde mit feuchten Augen an. Sie war zu Tode erschreckt und zugleich schmerzlich gekränkt. Monsieur Demarre im Himmel und sämmtliche Theater auf Erden waren ihr durch den unglückseligen Schritt dieses Kindes, das sie wie eine Mutter behütet hatte, verleidet worden.
Florian hatte vorhin, am offenen Fenster sitzend, den Schritt Jakobäas gehört, als sie fortgegangen war. Rasch hatte er den Rock umgeworfen und war ihr in der unerklärlichen Unruhe, welche ihn jetzt immer hinter ihr hertrieb, aus dem Fuße gefolgt. So war es möglich geworden, daß er sie retten konnte. Als er daheim die Tragbahre ihrer leichten Last entledigt, die Träger entlohnt und die Tante mit wenigen barschen Worten von dem Vorgefallenen unterrichtet hatte, schlug er die Thür hinter sich zu, daß das ehrsame Bürgerhaus von oben bis unten erdröhnte. Nachdem er trockene Kleider angezogen, kam er herüber. Die Tante ging sogleich hinaus, um – wie sie sagte – Thee zu kochen, eigentlich aber, um Florian allein zu lassen. Es war zum ersten Male, daß er Jakobäas kleines Stübchen betrat. Sie schlummerte noch; er setzte sich an ihr Bett und sah sie an.
[318] Da lag sie nun, schmal, zart, klein, die arme Hülle, welche den stürmenden Geist beengt und gequält hatte, bis er sie abwarf und hinschleuderte. Das lange Haar war aufgelöst und schlängelte sich an der Gestalt hinab; es wäre überlang gewesen für ein sehr großes Mädchen. Das Antlitz lag auf dem Kissen, wie ein großes Buch der Schmerzen aufgeschlagen, niedergeschrieben in jener Sprache und Schrift, die jedem Erdgeborenen wohlbekannt und verständlich ist: da waren die abgehärmten blassen Wangen, die bleichen Lippen mit dem wehen Zucken um die Mundwinkel, die tiefdunklen Schatten unter den Augen, die eingesunkenen Schläfen, die senkrechte Furche an der kreideweißen Stirn mit den eng zusammengerückten Augenbrauen.
Florian las lange nachdenklich in diesem offenen Buche. Dann hielt er Umschau in dem Raume, der ihm ganz fremd war. Auf dem Tische lag die giftgeschwollene Besprechung ihres Auftretens in Baden und dicht daneben Grillparzers „Sappho“.
Auf dem Boden stak Jakobäas offenes Federmesser mit der Spitze in der Diele zunächst der Thür festgebohrt. Florian schlich auf den Fußspitzen hin, um es aufzuheben; indem er sich dabei emporrichtete, blieb sein Auge an dem Thürpfosten haften. Dort war noch ein zweites Buch aufgeschlagen, welches jenes Schmerzensbuch ihres Antlitzes ergänzte und erläuterte. Dies Dokument war ein graugelber Thürpfosten, daran mit dem Messer wagrechte Strichlein eingeritzt waren, jegliches mit einem Datum versehen. Es war das Kerbholz, welches sich die arme Seele für das Wachsthum des Leibes angelegt hatte. Aber es war kaum eine Entwicklungsgeschichte, sondern eher die Schilderung eines Stillstandes mit leisen Schwankungen, die anschauliche Darstellung eines chronischen Leidens. Ein Strich zog sich haarscharf über dem anderen, zuweilen auch ein zweites Mal verzeichnet gerade auf dem anderen, so daß beide zusammen bloß einen Ritz bildeten, der nur doppelt tief und etwas breiter war. Ein einziges Mal zeigte sich ein merklicher Fortschritt; er begann unmittelbar nach dem Datum. „19. September“. Das war der Tag, da sie in das Konservatorium aufgenommen worden war: die Aussicht, ihr Ziel erreichen zu können, hatte sie von innen heraus gehoben, gehöht. Sie hatte nun nach einem festen Punkte auszuschauen, sowie der Wanderer sich streckt, um nach dem Pilgerziel Ausschau zu halten, das in der Ferne empor taucht. Dann aber war es wieder damit vorbei. Zu höchst glänzte ein grauer Bleistiftstrich, der einzige unter allen den weißen Messerritzen. Neben ihm stand auch kein Datum, sondern ein Ausrufungszeichen. Ein Befehl also, ein Gelübde: bis hierher hatte sie sich vorgenommen zu wachsen. Ich muß! hatte sie zu sich selbst gesagt und ein Ausrufungszeichen daneben hingestellt – kein Fragezeichen, kein „ob“, kein „vielleicht“. Auch war es kein unbescheidenes, kein himmelstürmendes Begehren; selbst wenn sie zu jenem Bleistiftstrich emporgewachsen wäre, so blieb sie darum immer noch kleiner als die kleinste ihrer Genossinnen. Der letzte Ritz, noch ganz frisch aus dem Holze schimmernd, stand jedoch tief unter jenem grauen Ausrufungszeichen; darum war zuerst das Messer, das ihn geschnitten hatte, fortgeschleudert worden und dann der träge Körper. Hatte sie es nicht ertragen können, daß sie sich selbst nicht Wort gehalten hatte? Der Gutmüthige in jenem Richterkreis bei der Talentprüfung hatte Recht behalten. An diesem Thürpfosten stand die Rechnung über die Quaresima des Barnabo Visconti verzeichnet, und obenan der letzte Ritz verbuchte jenen vierzigsten Tag, an dem die Verstümmelung das Herz erfaßt.
Florian stand da und maß und las in dem Buche, welches nur aus Strichlein bestand, und doch jedes derselben so deutlich sprechend, jedes die Hieroglyphe für einen langen schmerzlichen Monolog der Enttäuschung nach der Hoffnung, der Verzweiflung nach zaghaftem Wagen, des Ringens der Seele mit dem trägen Widerstand des Stoffes.
Da schlug Jakobäa langsam die Augen auf – Florian schlich leise und unbemerkt hinaus. Die Nacht hindurch wachte die Tante an Jakobäas Bett, Florian kam gleichwohl einmal um Mitternacht und einmal bei dem ersten Dämmergrauen herüber, um zu fragen, wie es gehe. Am folgenden Nachmittag durfte Jakobäa schon das Bett verlassen. Sie saß in dem großen Lehnstuhl, welcher sonst in dem Atelier stand, wo ihn die Riesengestalt Florians gerade füllte. Jakobäa kauerte ganz verloren in dem ungeheuren Möbel, als ob sie eben nur ein niedlicher Zierat desselben wäre. Fräulein Nina saß daneben in der gewohnten kerzengeraden Haltung, ohne sich anzulehnen, las ihr aus der Zeitung vor und redete dann wie sonst über die Vorkommnisse des Tages. Mit keinem Worte rührte sie an Jakobäas Unglücksthat; mit keiner Miene zeigte sie, was sie davon hielt und was ihr Herz darüber gefühlt hatte. Sie that und sprach, als sei nichts, gar nichts geschehen, als sei Jakobäa eben nur erkrankt, schwach, und darum doppelter Liebe und Pflege bedürftig.
Anders war es um Florian bestellt. Er brachte es mit dem besten Willen nicht zu Stande, seine Miene so zurechtzulegen wie die Tante, und da er jetzt eintrat, um nach der Kranken zu fragen, erblickte Fräulein Nina mit Schreck die tiefen Grimmesfalten auf seinem sonst so wohlwollenden Gesichte. Schnell stellte sie sich vor den Lehnstuhl, damit Jakobäa in ihrer Schwäche nicht unter diesem Anblick leide. Aber es war zu spät; Jakobäa hatte ihn schon erblickt und wußte in demselben Augenblicke, wie tief verletzt und erzürnt er war. In einem Blick hatte sie seine Gedanken und Gefühle erfaßt mit der Intuition des schauspielerischen Genies, welches, gewohnt mit der Miene ebenso darzustellen wie mit dem Worte, den Gesichtsausdruck aus anderer Antlitz fließend abzulesen versteht. In diesem Falle war auch kein besonderer Scharfsinn nöthig, um seine Gemüthsverfassung untrüglich zu errathen: der gute Mensch war kaum zu erkennen. Kaum hatte er gesehen, daß Jakobäa nicht schlief, als er, ohne ein Wort zu sagen, auf den Fußspitzen wieder hinausging.
Jakobäa blickte trübselig vor sich hin zur Erde. Fräulein Nina griff ihr unter das gesenkte Kinn, lächelte ihr zu und sagte: „Den Kopf in die Höhe! Munter sein, Aea!“
Aber Jakobäa ließ den Kopf nur noch tiefer sinken und statt der Munterkeit kamen große Thränen. „Sie sind so gut und herzlich gegen mich,“ stammelte sie, „und ich verdiene es so gar nicht! Sie umgeben mich mit Ihrer Liebe und Treue wie ein eigen Kind … und ich … ich habe mich davonschleichen wollen wie eine Diebin, wie eine feige Diebin, die Ihnen Ihr Herz, Ihre Liebe gestohlen hatte.“
Fräulein Nina war plötzlich etwas in das Auge gefallen, und da sie es trotz krampfhafter Anstrengungen nicht herausbekommen konnte, eilte sie nach dem sicheren Zufluchtsort aller ihrer unterdrückten Worte und Gefühle, in die Küche vor das spiegelblanke Kupfergeschirr.
Bald darauf steckte Florian den Kopf herein und sagte: „Tante, wo ist denn die Magd? Sei so gut, sie zum Materialisten zu schicken! Ich brauche noch graue Farbe.“
Als aus der Abenddämmerung des Stübchens keine Antwort zurücktönte, ward die Thür etwas weiter aufgethan.
„Herr Haushuber!“ rief eine leise Stimme.
Er trat ein. Er hatte einen Werkschurz vorgebunden; in der Hand hielt er einen großen Anstreicherpinsel, der ganze Mann war von aschgrauer Oelfarbenflecke.
„Herr Haushuber!“ klang es noch einmal.
Er ging bis zu dem Lehnstuhl und sagte: „Wo ist denn die Tante? Wollen Sie etwas, Fräulein Almer?“
Sie schrak zusammen. So bitterböse war er nie gewesen, so verstimmt nie sein Ton, so fremd hatte er sie nie genannt.
„Herr Haushuber,“ stammelte sie zaghaft und leise – „ich habe Sie um Verzeihung bitten wollen … erstens um Verzeihung … und dann auch Ihnen danken wollen … danken von ganzem Herzen …“ sie tastete nach seiner Hand und preßte sie weinend an ihre bebenden Lippen.
Er ließ ihr die Hand und sagte ernst. „Wissen Sie, Fräulein Almer, was ich gethan hätte, wenn ich Sie nicht herausgefischt hätte? Ich will es Ihnen sagen: ich wäre mit Ihnen ertrunken. So, jetzt wissen Sie es, und ich habe Ihnen das bloß für künftighin gesagt, wenn Sie vielleicht wieder einmal Lust zu dergleichen bekommen sollten.“
Sie war bei diesen Worten zusammengezuckt und hatte seine Hand schnell mit allen zehn Fingern umschlungen. So hielt sie dieselbe krampfhaft fest, wie um ihn zurückzuhalten vor dem Ertrinken. „Nein, nein!“ schrie sie plötzlich auf und starrte mit weitgeöffneten Augen auf den Boden als sähe sie das Entsetzliche vor sich, wie er bleich und todt daliegt.
„Nein?“ wiederholte er. „Da sehen Sie also selbst, mit dem sich selber Umbringen ist es nichts! Sie wissen jetzt, ich gehe mit: es wäre Selbstmord und zugleich Mord. Mit dem [319] Theater ist es auch nichts, gerade wie bei mir mit der hohen Kunst; Sie sehen, ich bin gerade wieder bei meinem alten rechtschaffenen Handwerk gewesen, wie ich da hereinkam. Aber, Aea … nun gerade heraus … wenn Sie … ich meine, wenn Sie mich zum Manne nehmen wollten? Ich habe Sie mir so herausgefischt, Sie gehören mir ein klein wenig … sonst hätte ich mich auch gar nicht unterstanden, Ihnen das zu sagen. Ich weiß, ich bin ein einfacher Mensch, und es liegt Ihnen so nichts an mir oder doch nicht viel … ich weiß, Sie haben es auf den Abschiedszettel geschrieben – gerade nur so viel wie an einem Reisegenossen auf kurzer Ueberfahrt. Aber, Aea, wenn wir heirathen, so könnten Sie das vielleicht einmal an einer Tochter – das mit dem Theater meine ich – wenn Sie es ihr so von klein auf lehren und beibringen, wie Sie es gar so wunderschön selber können … was denken Sie, Aea … es wäre doch besser, als die Vortragsmeisterin bei den fremden Konservatoristinnen zu machen … und wenn …“
Aber er kam nicht weiter. Aea hatte sich aufgerichtet und hing plötzlich an seinem Hals und weinte sich da recht herzlich allen den unsäglichen Kummer ihres Lebens aus. Er schlang den Arm um sie und trug sie hinaus in die Küche.
Fräulein Nina ließ bei diesem Anblick vor Schrecken die kupferne Gugelhupfform fallen, welche sie gerade in der Hand gehalten, und diese rollte klirrend über die Steinplatten. Hierauf griff sie hastig, wie jedesmal in äußerster Erregung, nach den weißen Schläfenlöckchen, ob sie sich nicht von den Haarnadeln gelöst hätten. Dann erst schlug sie die Hände über den Kopf zusammen: ihr netter himmelblauer Schlafrock, welchen sie der kranken Jakobäa geliehen und beim Aufstehen angezogen hatte, war mit aschgrauen Strichen und Flecken ganz bedeckt. Der oberste graue Klecks war auf Jakobäas Stirn, der unterste auf dem Saum des Schlafrockes, welcher, viel zu lang für sie, wie ein endloses Schleppkleid an ihr und an Florian niederflatterte, da dieser sie noch immer hoch in seinen Armen hielt. Was zwischen jenen beiden Klecksen lag, war eine weite Himmelsbläue mit zahllosen grauen Feder- und Lämmerwolken. Und eben warf sich Jakobäa von Florians Hals an Fräulein Ninas Brust und verpflanzte die frische Oelfarbe weiter auf deren meergrünen Feiertagsschlafrock. Nun war auch Fräulein Nina fertig: ihre schöne stille Meeresgrüne erschien jetzt aus einmal von grauen Wogenkämmen durchfurcht und gekräuselt. Da standen nun die drei Menschen, bis zu den Stirnen hinauf in Oelfarbe aschgrau marmorirt, in ihren Seelen aber leuchtete ein sanftes Rosenroth.
Nur der Verstoß gegen alles altbürgerliche Herkommen wollte Fräulein Nina nicht aus dem Kopfe weichen. Sie machte sich auch endlich Luft mit den Worten: „Aber, Florian, wie hast Du denn in einem solchen Aufzuge Deine Brautwerbung anbringen können?“
Aber Jakobäa sagte mit feuchten Augen: „Laß, Tante, Herzensgute! Gerade so hat es ja sein müssen, in seinem alten Werktagskleid!“
Die Hochzeit wurde in einem abgelegenen Gebirgsdörfchen gefeiert. Als sie wieder heimzogen, war Jakobäa blühend und roth und stattlicher geworden. Das Glück hatte um ihren Mund einen ganz neuen Zug entfaltet, der fast an Schalkhaftigkeit streifte, und der scharfe harte Stahlglanz der Augen war einem weichen Leuchten, wie von sanftgrauem Silber, gewichen. Mit einem glückseligen Lächeln, wie man es vordem noch nie an ihr gesehen hatte, zog sie ein über die Schwelle des alten ehrsamen Bürgerhauses, indeß Florian einen wohlgefälligen Blick über den aschgrauen Oelanstrich gleiten ließ, welcher alle die alten Thorheiten in einer ungewöhnlich dicken Lage überzog. Er selbst war auffallend schlank und beweglich geworden; das Klettern im Gebirge mit der leichtfüßigen Jakobäa und ihr zu Liebe hatte ihn erheblich leichter gemacht als einst die Karlsbader Kur. Die bösen Nachbarn aber, zumal die bösen Nachbarstöchter, welche einst begehrlich nach dem reichen Hausherrn geschielt hatten, blickten jetzt hämisch nach seinem kleinen reizenden Frauchen und ersannen bei Strickstrumpf und Kaffee allerlei erbauliche Abhandlungen über das alte Sprichwort. „Wirf ein Glückskind in den Fluß, und es kommt gesund wieder heraus, mit einem Fisch im Munde.“
Der Fluß war der Donaukanal, und der Fisch – Florian Haushuber.
Als Florian einmal in den ersten Frühlingstagen heimkam, vernahm er schon vor der Thür einen heftigen Wortwechsel. Jakobäa saß an dem Schreibtisch mit der Feder in der Hand, ganz roth vor Erregung; neben ihr stand die Tante, ebenso roth. Das war noch nie dagewesen – ein Streit war etwas Unerhörtes zwischen beiden! Sie liebten einander zärtlich wie Mutter und Tochter.
„Was giebt es denn?“ fragte er ganz erstaunt.
Fräulein Nina stand beleidigt auf und ging hinaus, sie räumte freiwillig das Feld.
Jakobäa warf die Feder hin, stützte den Kopf in die Hand und murmelte: „Und das geht gar nicht! Nie! Wie man nur so auf etwas bestehen kann, wenn es einmal nicht geht!“
„Ja, was denn, Aea?“ fragte er ganz verwundert.
„Die Tante besteht auf der Parthenia – wie kann man diese Parthenia …?“
Florian griff sich zuerst an seinen Kopf; dann sagte er, indem er Jakobäas Kopf zwischen seine beiden Riesenhände einrahmte. „So – und jetzt erkläre mir einmal die Sache in einer Weise, daß sie mein einfacher Menschenverstand fassen kann!“
Sie sah ihn an und ward plötzlich über und über roth. Sie langte nach dem Bogen, den sie beschrieben hatte, reichte ihm denselben und barg ihr Gesicht verschämt an seiner Brust.
Er nahm das Papier, legte es auf ihre Haare wie aus ein niedriges Lesepult, und las: „Repertoire für unsere Tochter …“ und nun folgte ein langes Verzeichniß – es war das ganze eigene Repertoire Jakobäas. Wegen der Parthenia hatte sie sich mit der Tante gezankt, seit ihren eigenen Partheniawerken an Florian, welche ihr jetzt geradezu sündhaft vorkamen, war ihr diese Gestalt ganz zuwider geworden.
Während Florian noch mit tiefer Rührung diese Botschaft las, welche ihm auf eine ganz wunderliche Weise ankündigte, daß ihm in nicht allzu ferner Zeit ein Töchterlein beschert werden sollte, kam Fräulein Nina wieder herein. Sie brachte ein Ding mit, daran sie eben gestrickt hatte, und hielt es Florian dicht vor die Augen.
„Ist das ein Handschuh für mich?“ fragte er. „Ich soll ihn wohl probiren? Aber es sind ja erst zwei Finger fertig!“
Sie sah ihn nur mitleidig an. „Ein Handschuh! Da sieht man … so ein Mann! Ein Jäckchen ist es für unsere Parthenia … Par – the – ni – a!“ wiederholte sie nachdrücklich, aber sie lächelte dabei schon wieder.
„Aber wenn es ein Junge wird, Aea?“ warf Florian ein.
Jakobäa ward nachdenklich. Diesen Fall hatte sie gar nicht in Betracht gezogen – er war ja ganz undenkbar. Und wenn auch! Dann wird es ein großer Schauspieler … plötzlich blickt sie auf – da steht ihr herzensguter, edler, vielgeliebter Mann lächelnd und gleichsam erwartungsvoll. Sie darf, sie kann ihm gegenüber nicht selbstsüchtig sein, und lächelnd bringt sie das Opfer.
„Ein Junge?“ sagt sie mit einer wunderbaren Ruhe. „Dann wird er ein Rubens, natürlich!“
Kaiser Wilhelm I., ein Freund des Turnens.
Als im März des Jahres 1878 Kaiser Wilhelm I. der ersten Schlußvorstellung der seit einem halben Jahre selbständig gewordenen königlichen Turnlehrer-Bildungsanstalt zu Berlin beiwohnte, äußerte er zu mir, der ich in seiner Nähe stand, um auf etwaige Fragen zur Antwort bereit zu sein:
„Wir kennen uns doch schon recht lange.“
„Im März 1861,“ erwiderte ich, „hatte ich zum ersten Male die hohe Ehre, Eurer Majestät unsere Civileleven in ihren Leistungen vorführen zu dürfen.“
„Also so lange ist es schon her!“ sagte der Kaiser und fügte nach kurzem Besinnen hinzu. „Ja, Sie haben Recht.“
Und so war es.
[320] Ende März 1861 erschien der König zum ersten Mal in der königlichen Centralturnanstalt, um die Uebungen der Militär- und Civileleven (Offiziere und Lehrer), welche damals noch in demselben Raume vereint waren, wenn sie auch getrennten Unterricht erhielten, zu besichtigen. Gemeinschaftlicher Unterrichtsdirigent war Major Hugo Rothstein, der mannhafte, aber hartköpfige Vertreter der schwedischen Gymnastik, die er gar gern an die Stelle des deutschen Turnens gesetzt hätte.
Ich als erster und damals einziger „Civillehrer“ hatte die Uebungen der Civileleven zu leiten. Trotz sorgfältiger Vorbereitung sah ich doch, wie ich offen gestehen will, mit einigem Bangen der Stunde der Vorstellung entgegen. Und sie kam; mit sprichwörtlich gewordener Pünktlichkeit fuhr der König vor, verließ den Wagen, trat in Begleitung des damaligen Kronprinzen, des Prinzen Friedrich Karl und des Fürsten von Hohenzollern in den ersten Saal, in dem die Offiziere, dann in den zweiten, in dem ich mit den Civileleven Aufstellung genommen hatte; ich kommandirte: „Still gestanden!“ Der König trat näher, ich wurde vorgestellt und – verschwunden war jegliche Beklemmung, nachdem ich in diese so mildblickenden Augen geschaut, nachdem ich die von freundlich wohlwollendem Lächeln begleiteten gütigen Worte des hohen Herrn vernommen.
Einen mächtigen Eindruck machte auf mich diese hoch aufgerichtete kraftvolle Männergestalt, zu der ich, der ich doch auch nicht zu den kleinsten gehöre, emporsehen mußte. Nur das ergraute Haar bekundete die 64 Lebensjahre. Das Turnen und Fechten begann; es wechselten die Offiziere mit den Civileleven ab; der König wandte allen Uebungen seine volle ernste Aufmerksamkeit zu und manches fragende Wort zeugte von dem Interesse, mit dem dieselben verfolgt wurden; auch manche beifällige Aeußerung kam aus hohem Munde und die Anerkennung für die Gesammtvorstellung blieb am Schluß ebenfalls nicht aus.
Seit dem Jahre 1861 erschien der König regelmäßig in jedem Frühjahr bis zum Jahre 1867. Und seine Theilnahme blieb sich immer gleich: nichts entging seinem scharfen Auge; jede neue Uebungsgruppe, ja einzelne bis dahin noch nicht gezeigte Uebungen wurden bemerkt und besprochen. Einmal äußerte er wieder, daß er eine vorgeführte Uebung noch nicht gesehen, und fragte, wie das komme.
„Majestät,“ erwiderte ich, „wir suchen in unserem Unterricht von Jahr zu Jahr fortzuschreiten und wollen dann die neugewonnenen Formen auch gern zur Anschauung bringen.“
Die von Professor Dr. O. H. Jäger in Stuttgart in den Turnbetrieb eingeführten Uebungen mit dem Eisenstab erregten des Monarchen volles Interesse. Er nahm bei der ersten Vorführung derselben einen Stab in die Hand, wog dessen Schwere und äußerte sich dann anerkennend über diese kräftigenden Uebungen. Am meisten gefielen ihm ruhige Bewegungen, bei denen große Kraft und vollendete Sicherheit mit guter Körperhaltung vereint waren; aber auch solche, deren Ausführung raschen Entschluß und kühnen Muth, doch gepaart mit Besonnenheit, verlangte, wußte er sehr wohl zu schätzen. Als einmal ein Eleve am Barren mit besonderer Tüchtigkeit turnte und der Kaiser – es war nach dem Jahre 1871 – sich lobend äußerte, entschlüpfte mir die Bemerkung: „Diesen Eleven haben wir zur Herzhaftigkeit erzogen.“
„Wie verstehen Sie das?“ fragte der Kaiser, sich lebhaft zu mir wendend.
„Majestät,“ erwiderte ich; „in jedem Winter giebt es unter den einberufenen Lehrern einzelne, welche bei guter körperlicher Beanlagung ihre eigene Leistungsfähigkeit noch so wenig kennen, daß sie sich anfangs an schwierigere, nur scheinbar gefährliche Uebungen, die sie sehr wohl ausführen könnten, nicht heranwagen, da sie ein Mißlingen und infolge dessen eine Verletzung fürchten. Diese bringen wir durch methodisches Vorgehen im Unterricht allmählich zum Bewußtsein ihres körperlichen Vermögens; wir erwecken ihren Muth und ihre Entschlossenheit und haben dann die Genugthuung, daß sie zuletzt selbst solche Uebungen, deren Mißlingen wirklich Gefahr bringen könnte, frisch, muthig und mit vollkommener Sicherheit ausführen.“
„Wenn Sie es so meinen, bin ich ganz mit Ihnen einverstanden.“
Im Jahre 1862 ließ ich bei der Vorstellung den ersten Reigen schreiten. Ich hatte einen solchen versuchsweise mit meinen Eleven eingeübt; der Unterrichtsdirigent, Major Rothstein, veranlaßte mich, ihn dem Könige vorzuführen. Nicht allein dieser, auch die anwesenden Gäste, der Kronprinz, der Kriegsminister v. Roon und andere Generale interessirten sich aufs lebhafteste für diese Verbindung kräftigen Männergesanges mit turnerischen Schreitungen; seitdem durfte ein Reigen bei keiner Vorstellung mehr fehlen. Es sind Marschlieder patriotischen, beziehungsweise kriegerischen Inhaltes, welche, ein- oder mehrstimmig gesungen, die Schreitungen turnerischer Ordnungsübungen, die zum Theil den militärisch taktischen Uebungen verwandt sind, begleiten. Diese Reigen, von A. Spieß, dem Begründer des neueren Schulturnens, wieder eingeführt oder richtiger neu geschaffen, haben nicht allein im Schulturnen, sondern auch in den Turnvereinen wohlverdienten Anklang gefunden.[2] Dieselben trugen, wie mir von einem berühmten General, der in des Kaisers Gefolge wiederholt bei den Vorstellungen zugegen gewesen, einmal versichert wurde, nicht unwesentlich dazu bei, die scharfe Grenze zwischen dem Militär- und Schulturnen zu bezeichnen; denn beides ging auch in der Centralturnanstalt durchaus seinen eigenen Weg. Gemeinschaftlich waren nur gewisse einfache Bewegungsformen wie auch jetzt noch; aber vor allem war es die, ich möchte sagen, militärische Korrektheit und Bestimmtheit in der Ausführung aller Uebungen, die beiderseitig angestrebt wurde und die das militärische Auge des Kaisers auch bei unserem Turnen erfreute.
Es fehlte bei diesen Vorstellungen auch nicht an komischen Vorkommnissen. Wir hatten in einem Kursus einen Eleven von auffallend geringem Körpergewicht, der übrigens ein tüchtiger Turner war. Als derselbe zu einer Uebung ans Reck trat, äußerte ich zum König, daß dieser Eleve nur 88 Pfund wiege. Demselben mißglückte zufällig die Uebung; er fiel, wurde aber glücklicherweise aufgefangen und so vor Beschädigung geschützt. Der König winkte ihn zu sich und fragte, ob er sich verletzt habe.
„Nee, Majestät,“ erwiderte dieser, ein echtes Berliner Kind.
„Ich höre, Sie wiegen nur 88 Pfund.“
„Nee, Majestät, ich wiege jetzt 89.“
Der Kaiser lachte und gab ihm die Hand.
Ein häufiger Gast bei diesen Vorstellungen war General Wrangel, dem besonders auch unsere Uebungen gefielen. Einmal – bei der Vorstellung im Frühjahr 1874, bei welcher der damalige Kronprinz, unser jetziger Kaiser Friedrich, den von schwerer Krankheit genesenden Kaiser Wilhelm vertrat – war auch der „alte Marggraff“, der Freund Jahns und Friesens, erschienen. Nachdem der Kronprinz in seiner liebenswürdigen Weise den alten Herrn begrüßt, der sich angelegentlich nach dem Befinden des „Herrn Vaters“ und der „Frau Gemahlin“ des Kronprinzen erkundigte, ging auch Wrangel auf ihn zu – die beiden Alten bei einander stehen zu sehen, war ein unvergeßlicher Anblick – und fragte ihn.
„Wie alt sind Sie?“
„So alt wie Sie, Excellenz, bin ich noch lange nicht.“
„Nun, ich werde neunzig.“
„Und ich erst siebenundachtzig!“
Aber in zäher Ausdauer war der Marschall dem Doktor Marggraff doch „über“. Während ersterer die ganze Vorstellung hindurch stehen blieb, mußte sich dieser setzen und wartete auch den Schluß der Vorstellung nicht ab.
Im Jahre 1877 trat die längst als nothwendig erkannte und lange geplante Trennung ein: es wurde eine besondere Turnlehrer-Bildungsanstalt gegründet, deren Uebungsstätte vorläufig die Turnhalle des königlichen Wilhelmsgymnasiums war. Direktor derselben blieb der bisherige Civildirektor der Centralturnanstalt, Geheimer Oberregierungsrath Waetzoldt; ich wurde
[321][322] zum Unterrichtsdirigenten ernannt; erster Lehrer wurde der jetzige Oberlehrer G. Eckler, zugleich Bibliothekar der neu gegründeten Turnbibliothek, die sich unter seiner Verwaltung rasch zu einer der bedeutendsten auf dem Turngebiet entwickelt hat. Man glaubte in Berliner turnerischen Kreisen, der Kaiser werde der neuen Anstalt kein besonderes Interesse mehr zuwenden; ich widersprach dem von vornherein und ich hatte mich nicht geirrt. Um 1 Uhr am 18. März 1878 war die Vorstellung angesetzt; kurz vorher erschien der Kronprinz Friedrich Wilhelm und bald verkündete brausendes Hochrufen der auf dem Schulhof aufgestellten neunhundert Schüler des Gymnasiums und ihrer Lehrer des Kaisers Ankunft. Raschen Schrittes trat der greise Monarch in die Halle ein, begrüßte die anwesenden Gäste und ging dann, begleitet von dem Minister Dr. Falk und dem Direktor Geh. Rath Waetzoldt, die Reihen der Eleven entlang, ließ sich Namen, Stellung und Heimath der einzelnen angeben und wechselte fast mit jedem an leutseliges Wort, besonders aber mit denen, deren Brust militärische Ehrenzeichen schmückten. Dann begannen die Uebungen, sie dauerten über dreiviertel Stunden. Wiederholt äußerte der Kaiser seine hohe Zufriedenheit; auch der kräftige Männergesang, mit welchem man den Reigen („Auf, Ihr Brüder, laßt uns wallen“) begleitete, wurde belobt. Dem Minister dankte der Kaiser, daß er ihm Gelegenheit gegeben habe, der Vorstellung beizuwohnen. An die Eleven, die ich einen Halbkreis hatte bilden lassen, richtete er dann etwa folgende Worte.
„Ich habe mich sehr gefreut über die Frische und Straffheit, die Sie bei den Uebungen gezeigt haben. Suchen Sie nun das, was Sie hier gelernt und geleistet haben, auch in den Schulen zu verwerthen. Zwar gilt das Turnen in der Schule nur als ein Nebenfach; aber es macht frisch und lebendig, es ist wichtig und notwendig. Ich habe mich sehr gefreut und spreche Ihnen meinen Dank aus.“
Im nächsten Jahre konnte der Kaiser nicht zur Vorstellung kommen; 1879 war die neue Turnlehrer-Bildungsanstalt fertiggestellt; wir zogen ein, es war an feierlicher Festakt; aber die eigentliche Weihe erhielt die Anstalt erst am 18. März 1880 durch den Kaiser und den Kronprinzen. Es war dabei zum ersten Mal ermöglicht, Uebungen zu zeigen, welche innerhalb des Bereiches des Schulturnens lagen, aber bisher wegen mangelnden Raumes nicht hatten vorgenommen werden können: Gerwerfen, Stabspringen, Ringen. Der Kaiser nahm einen Ger in die Hand, die Uebungen gefielen ihm sehr. Auch fand es seinen Beifall, daß die Ringer, bevor sie sich umfaßten, sich die Hände gaben und dies wiederholten, nachdem der Kampf durch die Niederlage des einen Kämpfers beendet war.
Im folgenden Jahre 1881 hatte ich zwar nicht in der Turnlehrer-Bildungsanstalt, aber an einem andern Ort die Ehre, dem Kaiser Schüler in ihren turnerischen Leistungen vorführen zu dürfen.
Das königliche Joachimsthalsche Gymnasium, die Stiftung eines Vorfahren des Kaisers, des Kurfürsten Joachim Friedrich (1607), hatte sein zu eng gewordenes Haus in der Burgstraße verlassen und war nach dem neugegründeten großartigen Heim vor der Stadt übergesiedelt. Am 22. Oktober fand die feierliche Einweihung statt. Der Kaiser, der sich für den Bau lebhaft interessirt hatte, welchem die Pläne vor der Ausführung vorgelegt worden waren, erschien bei derselben. Es wird allen Anwesenden unvergeßlich bleiben, wie der greise Monarch, nachdem Minister von Puttkamer und der Direktor Dr. Schaper gesprochen, sich erhob, mit kräftiger, die ganze gewaltige Aula beherrschender Stimme eine Ansprache an die Versammlung richtete und dann sich noch besonders an die Schüler wandte: „Es sei zu Ihnen gesprochen, die Sie hier die erste Erziehung erhalten. Vergessen Sie nicht, was der Staat und die Lehrer für Sie gethan, so werden Sie tüchtige, treue Unterthanen werden; dann wird es in Preußen immer wohl stehen, wie die Stifter es bei der Gründung und Erhaltung dieser Anstalt beabsichtigt haben. Das walte Gott!“
Der Kaiser machte alsdann einen Rundgang durch die Räume der Anstalt; er besuchte das Alumnat, trat in einige Stuben ein, unterhielt sich mit den Schülern, besichtigte den Schlafsaal, besuchte auch die Küche und kam dann in die für die Schule eigens erbaute, auch im Winter zu benutzende Schwimmanstalt. Bei seinem Eintritte stürzte sich eine Anzahl Schüler in Schwimmkleidung von allen Seiten ins Wasser zum sichtlichen Ergötzen des Kaisers. Dann erschien derselbe in der mit Geräthen reich ausgestatteten Turnhalle. Daselbst hatte ich, der ich damals den Turnunterricht an der Anstalt leitete, 96 Primaner und Sekundaner, die während des Rundganges des Kaisers rasch nach der Halle geeilt waren, in zwei langen Reihen aufgestellt. Ich trat an den Kaiser heran und fragte, ob Majestät befehle, daß die Schüler einige Turnübungen ausführten. „Gewiß!“ sagte der Kaiser. Ich ließ etwa eine Viertelstunde alle Schüler gleichzeitig zuerst unter meinem Befehl, dann in Riegen unter Vorturnern turnen. Es war dies ein anderes Bild, als das in der Turnlehrer-Bildungsanstalt gewöhnlich gebotene. Der Kaiser sah mit sichtlichem Gefallen zu und sprach seine Anerkennung aus. Beim Verlassen des Saales ging er an den Turnern vorbei und äußerte bei einer Riege: „Die haben’s am besten gemacht“; es waren Oberprimaner und in der That die besten Turner. Und dann ging der Kaiser, nachdem er auch in eine Lehrerwohnung eingetreten war, wieder zum Wagen, ohne jede Spur von Ermüdung!
Das war das letzte Mal, daß es mir persönlich vergönnt war, dem Kaiser die eigenen Schüler vorzuführen. Aber noch dreimal konnte ich Turnvorstellungen als Gast beiwohnen, welche vor dem Kaiser abgehalten wurden. Es geschah dies zunächst am 25. Februar 1882 in der königlichen Militärturnanstalt, welche unter der Leitung des Oberstlieutenants von Dresky steht.
Diejenigen Leser der „Gartenlaube“, welche in den letzten Jahrzehnten in der deutschen Armee gedient und auch geturnt haben, erinnern sich eines von allen Ungeschickten gefürchteten Turngeräthes, des sogenannten Sprungkastens. Die vielen Klagen über die Verletzungen, welche die Turnenden infolge des Mißlingens der Uebungen davontrugen, hatten veranlaßt, daß das Geräth vorläufig außer Gebrauch gesetzt wurde. Während des Turnens der Offiziere wandte sich der Kaiser zu mir und sagte:
„Sie vermissen wohl den Sprungkasten; welche Erfahrungen haben Sie denn an demselben gemacht?“
„Majestät,“ erwiderte ich, „unsere Erfahrungen kann ich nur als günstig bezeichnen; in den mehr als zwanzig Jahren, in denen ich Schüler an demselben turnen lasse, ist niemals ein irgend bemerkenswerter Unfall passirt.“
Zur Aufklärung dieser scheinbar befremdenden Thatsache sei bemerkt, daß, wie bei allen Uebungen, so auch bei denen am Sprungkasten im Schulturnen langsam und methodisch von Klasse zu Klasse aufsteigend vorgegangen wird, während bei dem Militärturnen in verhältnißmäßig kurzer Zeit von zum Theil unbeholfenen Soldaten die nicht leichten Uebungen bewältigt werden sollten.
Auch im Jahre 1883 erschien der Kaiser in der Anstalt; dann kam das Jahr 1884. Außer dem Kronprinzen und Prinzen Friedrich Karl war auch Prinz Wilhelm zugegen, und welche Fülle von hohen Offizieren! Der Kaiser fuhr vor; jede Unterstützung zurückweisend, stieg er aus dem Wagen, trat raschen Schrittes ein, begrüßte die Anwesenden, ging an der Reihe der hundert aufgestellten Offiziere entlang, unterhielt sich dann, während jene sich umkleideten, mit den anwesenden Gästen, kam auch grüßend auf unsere Gruppe zu und sprach mit Geheimrath Waetzoldt über die kurz vorher beendeten und diesmal ganz besonders lebhaft und lang andauernd gewesenen Verhandlungen im Abgeordnetenhaus über den Kultusetat, eine bis ins Einzelne gehende Kenntniß des Ganges der Debatten bekundend! Und die Uebungen verfolgte der Kaiser mit einer Lebhaftigkeit und Frische, die seine Jahre durchaus vergessen ließen. Alles interessirte ihn. Er ließ sich ein Bajonettfechtgewehr geben und versuchte selbst die Elasticität des mit einer Feder zur Abschwächung des Stoßes versehenen Bajonetts; jede Uebung beobachtete er und machte darüber dem Direktor, Oberstlieutenant von Dresky, seine Bemerkungen. Den Anstaltsarzt, Oberstabsarzt Dr. Burchardt, fragte er nach dem Gesundheitszustand während des Kursus; es freute ihn, daß die Frage, ob während des Kursus schwerere Verletzungen vorgekommen seien, verneint werden konnte. Und so blieb der greise siebenundachtzigjährige Monarch wieder volle dreiviertel Stunden in der Anstalt, ohne sich auch nur irgendwo anzulehnen, frei stehend und frei sich bewegend.
Den Vorstellungen in den folgenden Jahren hat der Kaiser nicht mehr beigewohnt.
Ich darf hier etwas einschieben. Ich hatte den Turnunterricht in dem Kaiserin-Augusta-Stift zu Charlottenburg eingerichtet [323] und beaufsichtigte in der ersten Zeit den Unterricht der jungen Lehrerin, meiner Schülerin.
Einmal war ich zugegen, als auch die Kaiserin, welche das Stift oft besucht, eintrat, Platz nahm und den Uebungen zusah. Die Lehrerin ließ Stabübungen vornehmen. Da winkte mich die Kaiserin zu sich und sagte, diese Uebungen mit den Stäben halte sie für ganz besonders geeignet für Mädchen, sie beförderten sehr die gerade Haltung. Sie hieß hierauf ihre Begleiterin, irre ich nicht eine weimarische Prinzessin, sich erheben, ließ sich einen Stab geben, und die Prinzessin mußte den Stab so nehmen, daß er zwischen dem Rücken und den gewinkelten und zurückgezogenen Armen lag. Diese Stabhaltung, bemerkte daraus die Kaiserin, erscheine ihr vortrefflich, und fügte hinzu, ihr Gemahl, der Kaiser, habe die Gewohnheit, seinen Gehstock so auf den Rücken gehalten auf und ab zu wandern, und davon, meinte sie weiter, habe er wohl seine schöne gerade Haltung. –
So war der Kaiser ein wirklicher und warmer Freund und Förderer des deutschen Turnens. Wenn er auch, wie er mir einmal mittheilte, in seiner Jugend nicht in jetzigem Sinne geturnt habe, so habe er doch körperliche Uebungen getrieben und sei namentlich ein tüchtiger Springer gewesen. Für das Turnen in den Schulen hat der Kaiser sich stets lebhaft interessirt; in seine Regierung fällt die Entwickelung unseres jetzigen Turnens in Preußen. In Schloß Babelsberg erblickte ich auf seinem Arbeitstisch den amtlichen Leitfaden für den Turnunterricht in den preußischen Volksschulen kurz nach dessen Erscheinen. Kaiser Friedrich hat als Knabe und Jüngling wacker geturnt.
Unter Kaiser Wilhelms I. Regierung ist dem Begründer der deutschen Turnkunst, Friedrich Ludwig Jahn, in der Hasenhaide bei Berlin das stattliche Denkmal errichtet worden; durch Kabinettsordre ist eine Straße „Jahn-Straße“, eine andere „Friesen-Straße“ nach Jahns und Körners Freund Friedrich Friesen genannt worden. Die von mir verfaßte, bei Karl Krabbe in Stuttgart erschienene Biographie Jahns durfte ich dem Kaiser überreichen und ebenso die von mir herausgegebenen Schriften Jahns[3]. Beides ist huldvoll mit freundlichem Dank entgegengenommen worden. In dem letzten Dankschreiben vom 4. November 1887 läßt der Kaiser seiner Freude darüber Ausdruck geben „nunmehr im Besitz des ganzen, von so echt patriotischem Geist zeugenden Werkes (der Schriften Jahns) zu sein.“
Auch den deutschen Turnvereinen, die als echte Jünger Jahns treu zu Kaiser und Reich stehen, war der heimgegangene Kaiser freundlich gesinnt. Und sie verehrten in ihm nicht allein den Freund aller kräftigen und gesunden Leibesübungen, sondern auch den Mann, der Jahns Lebenstraum: ein geeintes Deutschland unter einem deutschen Kaiser aus dem Hohenzollerngeschlecht, so herrlich zur Erfüllung gebracht hat.
Friedrich Rückerts Gedenktag. Am 16. Mai sind es hundert Jahre, daß Friedrich Rückert zu Schweinfurt geboren wurde, ein Sohn des Frankenlandes, welches in Jean Paul der deutschen Litteratur einen der originellsten Dichter, in dem Grafen Platen einen der formgewandtesten geschenkt hatte. Friedrich Rückert vereinigt den barocken Humor des einen und die seltene Macht über die Sprache, welche den andern auszeichnete. Von den nachklassischen Dichtern hat er neben Uhland die angesehenste Stellung in der Geschichte deutscher Poesie behauptet. Viel von dem, was er mit unermüdlicher Schaffenskraft gedichtet, ist dem deutschen Volke fremd geblieben, doch viele seiner mächtigen wie in Erz gegrabenen Geisteswerke, viele seiner eigenartigen Lieder, welche zwar nirgends den duftigen Reiz der Eichendorffschen aber dafür oft einen warmen vollen Gefühlston anschlagen, gehören dem Hausschatze unserer nationalen Poesie an.
Das Leben des Dichters war nicht ereignißreich. Professuren an verschiedenen Universitäten, darunter diejenige in Berlin, wohin ihn König Friedrich Wilhelm IV. 1840 berufen, wo er sich nicht heimisch fühlte und in der stürmischen Zeitbewegung nicht die Sympathien des jüngeren Geschlechtes fand, unterbrachen die Idylle von Neuses bei Koburg, jenem thüringischen Heim, in welches er immer wieder zurückkehrte. Als der Patriarch von Neuses ist er so auch am meisten volkstümlich geworden; hier bezeichnete er jeden Kalendertag mit einer Naturbetrachtung, einem Weisheitsspruche und wußte dem kleinsten häuslichen Erlebniß eine sinnvolle Bedeutung zu geben. Diese „Haus- und Jahreslieder“ haben den alten Patriarchen dem deutschen Volke nähergerückt, als seine Nach- und Neudichtungen der arabischen, persischen und indischen Vorbilder. Im schlichten Hausrock deutscher Idylle sehen ihn seine Landsleute lieber als in den buntbeblümelten Prunkgewändern der west-östlichen Lyrik.
Rückert begann als patriotischer Sänger zur Zeit der Befreiungskriege mit den „Geharnischten Sonetten“; seine Dichtung rasselte in eiserner Wehr, kräftig und trotzig, und die Sonettenform mit ihrer melodischen Weichheit und ihrer üppigen Reimfülle wollte nicht recht zu diesem Kraftstil passen, der so herausfordernd an den Schild schlug. Deshalb übten diese Sonette auf die Zeitgenossen nur geringe Wirkung aus, und doch haben sie einen vollen Ton und großen Stil und sind das Schwunghafteste, was Rückert geschaffen hat.
Von seiner Reise nach Italien brachte Rückert eine Menge farbenreicher poetischer Bilder mit und sang den italienischen Dichtern in den dort üblichen Strophenformen und Reimverschlingungen ihre Weisen nach; er brachte gleichsam einen Fruchtkorb mit Citronen und Goldorangen mit nach Hause.
Anheimelnd deutsch waren dagegen sein Liebesidyll „Amaryllis“, seine schönen nicht genug bekannten „Aprilreiseblätter“ und vor allem sein „Liebesfrühling“, jener Gedichtcyklus, der ihn auch zum Liebling der deutschen Frauen gemacht hat. Diese Liederblüthen sind auf dem Boden des deutschen Gemüthes gewachsen und sinnig zu einem geschmackvollen Kranze geordnet. In diesen Gedichten hat Rückert den wärmsten Ton angeschlagen, über den seine Muse zu gebieten hat.
Ganz anders ist der Ton der „Oestlichen Rosen“; da herrscht die ganze Farbenpracht des Orients und die Feier eines üppigen Lebensgenusses, da sind die Bahnen betreten, in denen später die deutschen Hafise und Mirza-Schaffy wandelten. Dem Beispiele des alternden Goethe folgend, suchte Rückert seiner Poesie jetzt ein Heimathrecht im Orient zu erwerben, dem er ja auch seine wissenschaftlichen Studien gewidmet hatte. Und welches umfassende dichterische Gemälde des ganzen Ostens, der asiatischen Gedankenwelt und Lebenssitte hat er uns in seinen Nach- und Neudichtungen entrollt, von dem chinesischen Liederbuch des Schi-king, der reizenden Episode „Nal und Damajanti“ aus dem großen indischen Heldengedicht bis zu der tiefen Gedankenwelt des persischen Dichters Dschelaleddin-Rumi, zur großen Dichtung des Persers Firdusi, der er die Heldengeschichte „Rostem und Suhrab“ entlehnte, zu den scherzhaften Plaudereien des Arabers Hariri, den arabischen Volksliedern und den Poesien des Dichterkönigs Amrilkais! Und eine große Zahl von Sagen, Geschichten, Erzählungen hat Rückert auf dieser orientalischen Grundlage geschaffen. Ein Sprachgewaltiger und Formenbändiger wie wenige hat er diese Dichtungen der verschiedensten Völker, mit Wahrung ihrer Eigenart, der deutschen Sprache angeeignet und diese selbst mit neuen Wendungen bereichert.
Sein Hauptwerk auf diesem Gebiete bleibt aber doch „Die Weisheit des Brahmanen“, ein überaus reicher Schatz von Sprüchen und Gedanken tiefer Weltweisheit und praktischer Lebensweisheit, dessen Unerschöpflichkeit von dem Tiefsinn und Scharfsinn des Dichters und seiner Kunst, immer neue Sinnsprüche rasch zu münzen und prägen, ein beredtes Zeugniß ablegt. Es war das alles Kleingeld des Gedankens, aber das Gepräge oft bedeutend.
So sehr auch Rückert in die Ferne schweifte, er hat doch als deutscher Poet seine nationale Bedeutung gewahrt. Gerade der freie Weltblick ist echt deutscher Art: eine Weltlitteratur zu schaffen, wie sie Goethe ins Auge gefaßt, ist unser Volk mehr als andere berufen. Rückert hat dazu einige Bau- und Ecksteine gelegt; er hat die Bestrebungen der Wissenschaft dem Volke näher gerückt. Auch ist der Tiefsinn der östlichen Völker uns nichts Fremdes; wir werden dadurch auf die asiatische Wiege unserer Kultur hingewiesen; aus demselben Wurzelgeflecht sind jene hochschattenden Bäume der Erkenntniß hervorgegangen, unter denen die Weisen des Morgen- und Abendlandes wandeln. Der Brahmane borgt zwar manche fremdartige Hülle für seine Weisheitsworte, aber es ist doch der deutsche Patriarch von Neuses, der zu uns aus ihnen spricht, und was er sagt, hat vollgültigen Werth für unser Leben und das der kommenden Geschlechter.
So ist der 16. Mai nicht der Gedenktag einer verschollenen Größe, die gleichsam noch in den Listen der Litteraturgeschichte fortgeführt wird. Friedrich Rückert, wenn es ihm auch nicht gelang, größere Kunstwerke zu schaffen, wie allerdings seine Dramen beweisen, hat doch eine so fruchtbare Aussaat des Schönen und Wahren in seinen Werken ausgestreut, daß unser Volk ihm stets ein dankbares Angedenken wahren wird. Sein Denkmal in Neuses soll erst am 16. Mai des nächsten Jahres enthüllt werden, jedenfalls hat er sich selbst in unvergänglichen Liedern und Sprüchen ein dauerndes Denkmal gesetzt.
Ernst Possart. (Mit Illustration S. 321.) Wir haben bereits im Jahrgang 1876 unseres Blattes (Nr. 1.) eine Lebensbeschreibung des gefeierten Künstlers gegeben, zugleich mit einer Abbildung, welche seinen Richard III. darstellte. Seitdem hat er sowohl in seiner Kunst, wie auch aus der Bahn des Ruhms glänzende Fortschritte gemacht.
Der am 11. Mai 1841 in Berlin geborene Künstler war, wie wir damals berichteten, seit 1864 am Münchener Hoftheater engagirt. Im Jahre 1878 wurde er Direktor des Königlichen Schauspielhauses und Professor und gab der seit 1876 dort bestehenden Theaterschule eine neue Organisation. Dem Vorgange Dingelstedts folgend, regte er die Gesammtgastspiele von 1880 an, welche die namhaftesten Künstler der Gegenwart an der Isar versammelten und der Schauspielkunst wie der dramatischen Kritik die förderlichsten Anregungen boten. Zahlreiche, oft eine längere zusammenhängende Epoche umfassende Gastspiele machten ihn nicht nur dem deutschen Publikum aller großen Städte bekannt, sondern er hatte auch in Rußland und Holland glänzende Erfolge, die glänzendsten freilich [324] in diesem Winter in Amerika, wo er am Thaliatheater in New-York ausverkaufte Häuser machte, wie kaum ein anderer deutscher Darsteller, und vom Publikum und der Kritik mit Begeisterung aufgenommen wurde.
Was seine sonstigen Lebensverhältnisse betrifft, so erwähnen wir noch, das er mit zu den Begründern des Deutschen Theaters in Berlin gehörte, aber damals von Seinen Verpflichtungen gegen die Münchener Hofbühne nicht entbunden wurde, sondern gegen Zahlung einer bedeutenden Konventionalstrafe aus der Gesellschaft der Societäre des Deutschen Theaters ausscheiden mußte. Gegenwärtig aber ist er als künstlerischer Direktor bei dem Lessingtheater Blumenthals in Berlin engagirt, welches im nächsten Herbst seine Pforten öffnen wird.
Ernst Possart ist ein Künstler von ursprünglicher Begabung; wenn ihm ein dramatischer Charakter in der Seele aufgegangen, so verfügt er über die glänzendsten Mittel zur Gestaltung desselben. Mit großer geistiger Schärfe faßt er seine Umrisse auf; Maske und Gebärdenspiel tragen gleichmäßig dazu bei, ein einheitliches Gesammtbild hervorzurufen; vor allem aber ist er ein Meister des sprachlichen Ausdrucks, wobei er sich stets von allem Deklamatorischen freihält; er ist ein Rhetoriker ersten Ranges, ohne je dabei zu vergessen, daß die dramatische Rede nicht der letzte Zweck der darstellenden Kunst, sondern nur ein Mittel ist zur Erreichung ihrer Zwecke, in deren Dienst er sein prächtiges Organ, die logische Klarheit und zündende Begeisterung seines Vortrags giebt – und diese Verschmelzung des Charakteristischen mit hoher dichterischer Weihe gehört zu seiner Eigenart und räumt ihm einen so hervorragenden Rang unter den deutschen Schauspielern ein. Was er in rednerischer Hinsicht zu leisten vermag, zeigen sein „Nathan“ und sein „Manfred“ – er beherrscht das Wort salbungsvoller Weisheit und milder Lebensklugheit ebenso wie den Ausdruck eines mächtigen Gefühls- und Gedankenlebens, das sich an einem titanischen Ringen entzündet.
Unser Bild zeigt uns den Künstler in einer seiner bedeutendsten Rollen, als König Karl IX. in der „Bluthochzeit“ des unglücklichen, jüngst verstorbenen Albert Lindner. Dieser knabenhaft unreife König, von seiner Mutter zum Verbrechen angelernt, aber sich im entscheidenden Augenblick aus dem Intriguennetz der verworfenen Mediceerin losreißend, ist eine Prachtleistung, ein feines Charakterbild mit packender dramatischer Wendung. Hier sehen wir ihn im letzten Akt, in der Scene, wo er den Qualm der vergifteten Kerzen einathmet, welche seine Mutter einem andern Opfer bestimmt hatte. Sein Hamlet und Narciß, sein Richard III. und Shylock, vor allem sein Advokat Berent in Björnsons Drama „Ein Fallissement“ sind in ganz Deutschland bekannte Kunstleistungen. Neuerdings hat er sein Repertoire durch den Napoleon in dem Heigelschen Stück bereichert und diese Rolle steht, was die ausgezeichnete Maske des Gesichts und der Gestalt und das entsprechende Gebärdenspiel betrifft, würdig neben seinem Friedrich II. in „Des Königs Befehl“. Der König Heinrich VIII. in Gottschalls „Katharina Howard“, den er bei seinem letzten Gastspiel in Leipzig dargestellt, war ein frappantes Charakterbild von wahrhaft dämonischer Beleuchtung.
Noch ist Possart ein schaffensfreudiger Künstler; er ruht nicht auf den Lorbeern eines bisher geschaffenen Repertoires aus; das deutsche Publikum darf noch neue ausgezeichnete Leistungen von ihm erwarten.
Harter Kampf. (Mit Illustration S. 309.) Wettreiten auf der Rennbahn, namentlich mit Hindernissen, gilt für die vollkommenste Leistung des Sportsman. Es handelt sich dabei nicht allein um die Reitkunst, sondern es ist auch mit der angeborenen Eigenthümlichkeit des Pferdes, mit den seine Schnelligkeit bedingenden und fördernden Eigenschaften sowie mit den Vorzügen und Schwächen des Thieres und seinem Temperament zu rechnen, um aus dieser Beurtheilung die möglichsten Vortheile zu ziehen und im Ringen um das Ziel dasselbe „als Erster“ zu erreichen. Hierzu kommt, daß „der Reiter im Sattel“ Körperhaltung, Sitz, Zügelführung und die Anwendung von Sporn und Peitsche nach der individuellen Eigenart des Pferdes bemessen muß; denn das Rennpferd ist sehr empfindlich; es kennt seine Aufgabe, und seine Kraftausnutzung muß mit kundigem Auge berechnet werden. Es ist somit keine leichte Aufgabe, ein Pferd mit Aussicht auf Erfolg in den Rennkampf zu führen. Die günstige Konstellation im Rennen währt oft nur wenige Sekunden und in dieser Zeit muß der Reiter die Chancen erfassen. Schon beim Eintritt in die „Gewinnseite“ des Rennplatzes beginnt der harte Kampf, bei welchem Roß und Reiter in höchste Erregung gerathen und wo die geschickte und kunstgemäße Führung des Pferdes und sein Können im glänzendsten Lichte hervortritt. Der Reiter muß genau den Punkt kennen, wo er seine Anstrengungen für den Entscheidungskampf zu beginnen hat. Diese instinktartige Gabe zur Beurtheilung der Schnelligkeit ist eine natürliche Anlage, die durch fortwährende Uebung zu einem höheren Grade ausgebildet werden kann. Es hat daher der Reiter eine lange, schwierige Schulung durchzumachen, bevor er alle Bedingungen und Hilfsmittel beherrscht, die erforderlich sind, um das Pferd siegreich am Pfosten vorüber zu führen.
B. K. Der in Nr. 13 besprochene Apparat von Soxhlet wird vielfach nachgeahmt; mit der Anfertigung des Originalapparates sind von Prof. Dr. Soxhlet selbst nur die Firmen Metzeler u. Comp. in München und C. Stiefenhofer ebendaselbst betraut worden.
Emmeline T. in Rußland. Die beste Auskunft auf Ihre Anfrage wird Ihnen Herr Herm. Th. Wechsung in Koburg, Herausgeber des „Archivs für Spielwaarenindustrie“, geben können. In dieser Zeitschrift werden Sie überhaupt eine Uebersicht fast sämmtlicher Neuigkeiten auf dem Gebiete der Spielwaaren finden.
Schon im Sommer vorigen Jahres, nach dem Ableben der in den weitesten Kreisen bekannten und beliebten Gartenlaube-Erzählerin, wurden wir von zahlreichen Verehrern und Verehrerinnen derselben aufgefordert, eine Gesamt-Ausgabe der Marlittschen Romane zu billigem Preise herauszugeben und so die Anschaffung derselben Allen, auch den weniger Bemittelten, möglich zu machen.
Wir kommen diesen vielfach an uns gelangten Wünschen nach, indem wir von
im durchschnittlichen Umfang von 3 Druckbogen erscheinen wird.
Die Illustration der neuen Ausgabe haben wir einer Anzahl der tüchtigsten Künstler übertragen und ebenso für musterhafte Ausführung der Bilder in Holzschnitt und Zinkographie, für guten Druck und eleganteste Ausstattung gesorgt.
Es ist somit allen alten Freunden E. Marlitts, wie auch der jüngeren Generation, welcher zum Teil noch viele ihrer Werke fremd sind, die günstige Gelegenheit geboten, mit dem geringen Aufwand von 80 Pfennig im Monat sich in den Besitz einer schönen, illustrierten Ausgabe der sämtlichen Romane und Novellen der unvergeßlichen Erzählerin zu setzen und so auf billige und bequeme Weise eine in hohem Grade anregende und fesselnde Lektüre für viele Mußestunden zu erwerben.
Die neue Ausgabe beginnt mit dem beliebten Roman: „Das Geheimnis der alten Mamsell;“ demselben folgen: „Die zweite Frau“. – „Goldelse“. – „Das Haideprinzeßchen“. – „Im Hause des Kommerzienrathes“. – „Reichsgräfin Gisela“. – „Im Schillingshof“. – „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“. – „Thüringer Erzählungen“ (enthaltend „Amtmanns Magd“, „Die zwölf Apostel“, „Der Blaubart“, sowie ihr bis jetzt ungedrucktes Erstlingswerk: „Schulmeisters Marie“). – Den Schluß bildet der hinterlassene Roman der Marlitt: „Das Eulenhaus“.
Beinahe alle Buchhandlungen sind in den Stand gesetzt, Bestellungen entgegenzunehmen und die erste Lieferung zur Ansicht vorzulegen. Wo der Bezug auf Schwierigkeiten stößt, wende man sich direkt an die
- ↑ vergl. S. 107 dieses Jahrganges.
- ↑ Bei der Turnvorstellung im März 1887, welcher als Vertreter des Kaisers Wilhelm der Kronprinz, unser jetziger Kaiser Friedrich, beiwohnte, wurde ein Reigen geschritten, der sich an die „Deutsche Hymne“ („Glorreich auf dem Erdenrunde Steht das deutsche Vaterland“), gedichtet von F. W. Plath, komponirt von Sabbath, anschloß. Der Kronprinz lobte Lied und Weise und sprach dem mit anwesenden Dichter mit freundlichem Händedruck seinen Dank aus.
Bei der diesjährigen Schlußvorstellung am 20. März, der leider weder Kaiser noch Kronprinz beiwohnen konnten, wurde ein von Geheimrath Waetzoldt gedichtetes, von P. Eicke komponirtes Lied („Hoch ragt empor auf felsenfesten Grund die Zollernburg in altersgrauen Tagen“) für die Reigenschreitung gewählt. Das Lied war bereits 1883 einigen Reigen zu Grunde gelegt worden. Der Kronprinz war damals darüber so erfreut, daß er sich noch ein zweites Exemplar des das Lied enthaltenden Programmes geben ließ, „um es dem Kaiser mitzubringen“. - ↑ Erschienen in drei Bänden bei Rudolf Lion in Hof.