| Achtes Gebot II.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten!
Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsern Nächsten nicht fälschlich belügen, verraten, afterreden oder bösen Leumund machen; sondern ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.
Ich bitte nicht, daß du sie von der Welt nehmest, sondern daß du sie bewahrest vor dem Uebel. Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich auch nicht von der Welt bin. Heilige sie in deiner Wahrheit; dein Wort ist die Wahrheit. Joh. 17, 15–17.
In der letzten Betrachtung suchte ich den Ernst der Zungensünden euch vor die Seele zu stellen mit dem Wunsche, daß euer Herz darüber erschrecke und verzage. Heute laßt mich in die große Not und Angst der Lüge mit euch blicken. Es ist ein weltliches Wort, das Wort eines weltlichen Dichters: O weh der Lüge, sie befreit nicht! Je mehr ein Mensch sich der Lüge ergibt, desto unfreier wird er. Wie wenn, sagt ein alter Vater, jemand ein altes, baufälliges Haus hat: er muß immer an ihm flicken, zudecken, Schäden verbergen, Schäden wenden und schließlich stürzt doch das Haus über ihm zusammen, so ist’s mit der Lüge. Du baust dein Haus mit schlechten Steinen, du errichtest seine Säulen mit morschem Holz, durch die Fenster zieht der Wind und durch das Dach fällt der Regen und je mehr du dich mühst auszubessern und zu verdecken, zu verbergen und zu verheimlichen, desto rascher kommt Fall und Sturz. Und wieder
| sagt ein alter Vater: wie wenn jemand auf einem Wege voll Unkraut ginge und risse dort eines und hier eines aus, aber unter seinen Händen wächst das Unkraut geil und frech empor, so ist es mit der Lüge. Sie befreit nicht, sie bindet den Menschen, sie blendet ihm das Auge, sie verschließt ihm die Ohren, sie entheiligt ihm den Mund, sie verunreinigt ihm das Herz und schließlich lebt der Mensch in einer Welt des Scheines. Und in der Stunde, da der Schein weicht und zerrinnt, ist er tot.
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Man spricht zunächst von der Scherzlüge. Ich meine nicht den leisen, leichten Scherz, der wie eine Blume am Wege dem Christen erlaubt ist, das leichte Märchen, das du deinem Kinde erzählst, die schlichte Fabel, die bewußte und dir als solche bekannte Übertreibung; das sind Dinge, die zum Reiz des Lebens gehören mögen, niemand schaden und die Wahrheit und den Sinn für sie nicht ertöten. Anders schon ist es mit der Scherzlüge, die übertreiben
will, die ausschmückt, um interessant zu reden, die da ein Licht aufsetzt und dort ein Licht weg tut, die manches ins Unermeßliche und Ungeheuerliche aufbauscht. Diese Scherzlüge fällt wohl unter das Wort des Epheserbriefes von den Narrenteidingen, die man meiden soll und von dem mutwilligen Scherz, der die Seele verwundet. Es ist doch für einen Menschen, der der Ewigkeit zugeht und ihr Lasten und Sorgen zuträgt, nicht wohl getan, wenn er mit scherzender, spielender, tändelnder Unwahrheit über Abgründe hinweggleiten will. Er scheint hinwegzugleiten, doch er sinkt, und fällt und der Abgrund bekommt ihn. Aber, wie ist es denn mit der Lüge des Betruges, da du etwas vorbringst, um einen Vorteil zu erlangen? Du entschuldigst dich über einem Unrecht – zunächst bei dir selbst – so lange, bis es dir nimmer als Unrecht erscheint, und dann redest du es andern vor und redest dich in den Eifer der Selbstverteidigung hinein und dein Engel weicht von dir
| und der Fürst der Finsternis tritt dir zur Seite. Ihr Erzieher, ihr Dienstfrauen, ihr, die ihr vielleicht auf andere Einfluß habt, verleitet doch niemand zu solcher Betrugslüge, indem ihr ihm das Geständnis durch harte Rede erschwert! Ihr alle wisset, die Wahrheit allein macht frei! Und wenn es das Schwerste wäre, sprich es aus und bekenne es, so hast du den Bann der Heimlichkeit gebrochen und der Feind deiner Seele hat kein Teil an ihr! Sei auch auf der Hut vor dir selbst, wenn du dich entschuldigst. Gutes von dir redest, bei dir selbst alles zum Besten kehrst und die Schuld bei dir so lange verringerst und die Entschuldigung so lange dir zurecht legst, bis jene verschwindet und diese die Wahrheit ist! Und vielleicht hast du es schon gemerkt: man kann sich selbst so viel einreden und glauben lassen, sich glauben machen, daß man nicht einmal mehr weiß: habe ich nun mir die Wahrheit gesagt oder dem andern sie verschwiegen, mich belogen oder meinen Nächsten. Es ist merkwürdig, wie in einer kurzen Minute dann die Wahrheit eine ganz andere Gestalt und Beleuchtung empfängt und schließlich log man, um frei zu werden. Und so bindet man sich fester mit Leib, Herz und Seele an den armseligen Verführer und einer steht weinend dabei und spricht: was hülfe es dir, o Mensch, wenn du durch deine Entschuldigung eine ganze Welt von Vorteilen gewännest und an deiner Seele nähmest du Schaden? Eine ganze Welt wiegt das Weh nicht auf, das du durch Lüge deiner Seele verursachst! Die Welt vergeht, deine Seele bleibt; die Welt entfällt, deine Seele lebt; die Welt vergeht und all ihre Habe und ihre Gaben zerrinnen, aber der Schaden deiner Seele währet in Ewigkeit! Ach, denke an die Betrugslüge, die da verschweigt, beschönigt und verbirgt, den Menschen scheinbar befreit und in Wirklichkeit ihn knebelt und knechtet.
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Unsere Alten haben zur Betrugslüge die Lüge des Ehrgeizes hinzugefügt. Sehe ich dich nicht, o Christ, eine
| Rolle spielen, die dir nicht zusteht? Du hast dein Antlitz innerlich geschminkt, du hast dein Wesen äußerlich verschönt, Worte dir zugelegt, die deiner Erziehung, dem Grade deiner Bildung nicht recht passen; du willst etwas scheinen und bist es nicht. Diese Ehrgeizlüge, daß z. B. ein Mensch sich seiner armen Eltern schämt, seiner Heimat sich weigert, von hohen Verwandten redet, die er gar nicht besitzt, die nur in seiner kranken Einbildungskraft bestehen, diese Ehrgeizlüge, wo jemand zuerst sich selber um die Ehre des echten Seins gebracht hat, um dann andere mit seinem Schein zu blenden, hat etwas furchtbar Gefährliches. Manche Menschen spielen Rollen ihr Leben lang, bis der große Meister, der die Masken von dem Antlitz reißt und das Narrengewand vom Leibe, erscheint und mit höhnendem Lachen sagt: nun sind alle deine Anschläge verloren! Wer Seelsorge geübt hat weiß, was es für ein furchtbares Weh, Jammer, Herzeleid und Arbeit ist, einen Menschen, der aus Ehrgeiz lügt, seiner Sünde zu überführen. Jede Miene ist berechnet, jedes Wort wohlgesetzt, jeder Blick gekünstelt, jede Bewegung unecht, und so geht ein armer Mensch durch die Welt des Scheines, die ihm schließlich zur Gewohnheit geworden und die Wirklichkeit zu werden verheißen hat, und er stirbt durch diesen Schein, den er liebte, in Wahrheit aber litt. Betet ihr darum: Prüfe und erfahre, wie ich es meine? Denkt ihr daran, daß der Herr euer Herz erforsche, ob ihr auf bösem Wege seid? Oder woran tragt ihr schwerer, daran, daß man euch für schlechter hält, als ihr seid, oder daran, daß man euch für besser hält, als ihr es verdient? Das ist eine große Gewissensfrage. Ach, glaubt es einem Manne, der an diesem Leiden viel erfahren und getragen hat: nichts ist schwerer, als wenn man durch eigene Schuld für besser gehalten wird, denn man ist. Wenn dich die Menschen schlechter einschätzen, als dich dein Herr und Gott kennt, dann tröste dich: „Ist Gott dein Freund
| und deiner Sachen, was kann dein Feind, der Mensch, groß machen?“ Wenn nur Er dich kennt und weiß, wie du es meinst und in all deiner Torheit doch von deiner Liebe zu ihm überzeugt ist, dann mögen dich Menschen noch so falsch beurteilen. Mein Trost ist bei Gott, der den frommen Herzen hilft. Wenn aber, und das ist das Gewöhnlichere, du für besser gehalten wirst, als du bist, dann bitte Gott, daß Er allen Heuchelschein bei dir tilge und daß Er dich lieber unliebenswert, unangenehm, fernend, zurückstoßend, entfremdend mache und echt, als daß du anziehest und deine Seele schädigst. Gerade dem weiblichen Geschlechte – ihr verzeiht – liegt die Gefahr so nahe, weil es nicht durch große Taten wirken soll, durch kleine Wirksamkeit sich zu zeigen. Und so entstehen die falschen Bilder und die unklaren Züge und die fremden Physiognomien, und der Feind aller Echtheit und Lauterkeit, der Freund und Schutzherr alles Scheines und Betruges steht dabei und freut sich hoch über der Armen gleißnerische Art; denn er weiß: wer hier im Scheine lebt, soll ihm und seiner Wirklichkeit gehören.
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Wie, ist dein Gottesdienst und dein Heiligungsleben wirklich echt? Oder hast du die Maske der Frömmigkeit durch die Jahre geborgt und getragen? Wie steht es mit deinem Gebetsleben? Ist es nicht also, daß die Hände zwar Esaus Hände sind, aber die Stimme ist Jakobs Stimme? Also, daß du dich äußerlich anders gibst, als du innerlich bist! Und die andere Heuchelei, daß ein Mensch aus Ehrgeiz immer vor anderen besser erscheinen will, als im eigenen Hause: in den vier Mauern ungebunden, ungeheiligt, rasch mit dem Worte, hart, unfreundlich, ungütig und sobald man über die Schwelle des Hauses tritt, voll Leutseligkeit, Milde und Freundlichkeit; den Nächsten gegenüber, an denen man am schwersten trägt und die man doch am liebsten haben soll, voll Untugenden, es nicht der Mühe für wert haltend, sich zu verstellen; bei Fremden aber voll heiligen
| Ernstes und freundlicher Güte! Es soll nicht, liebe Christen, also sein! Nein, das muß die größte Angst des Lebens werden: mache mich echt! Hilf, daß ich vor mir selber erröte, an jedem Tage über mein Scheinleben erschrecke, damit nicht in der letzten Stunde mir die Augen aufgehen und es ist zu spät! Und wenn dir auf deinem Lebenswege ein Mensch begegnet, der dir die bitterste Wahrheit sagt und das Herz ernstlich überzeugt, der alle deine Vorzüge mit großem, heiligem Ernste zerpflückt – küsse diesem Menschen die Hand! Er scheint ein Räuber deines Glückes und ist dessen Mehrer. Solch ein Mensch ist ein Bote von Gott gesandt, der dich vor dem Abgrunde zurückrufen und retten will. Wehre ihm nicht, sondern danke ihm!
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Zur Lüge des Scherzes, des Betruges, des Ehrgeizes und des Scheinlebens kommt die Lüge der Eigensucht und Bosheit, die Lüge, vor der unser Katechismus besonders warnt, daß wir unsern Nächsten, wie es im Lateinischen heißt, nicht mit falschen Anschuldigungen überschütten. Bei dir, sagt der große Katechismus, soll alles gülden sein und du willst goldig vor den Leuten gelten, und wer nicht gut von dir redet, ist dein Feind. Und du hast so viel harte Lüge über deinen Nächsten, mit falscher Lüge überschüttest du sein Bild. Den Zug im Leben deines Nächsten, den du so scharf deutest, hat dein Gott als Werk der Heiligung angesehen. Du siehst bloß das „Nicht“ und dein Gott das „Noch nicht!“ Du urteilst bloß über den Mangel, dein Gott schaut das Kampfesspiel an, aus dem dieser Mangel erwachsen. Denke daran, wie barmherzig dein Gott die geringste Blüte in deinem Leben angesehen und den geringsten Vorsatz hat gelten lassen, und hüte dich, daß du nicht deinen Nächsten mit hartem Urteil und falscher Deutung betrübst, ihn tot machst durch deine Kritik! O, wie erwarten wir, daß man bei unserer Beurteilung unsere Umgebung, Erziehung und unsere Verhältnisse berücksichtigt!
| Wenn man gewußt hätte, in welcher Lage ich mich damals befand, so hätte man anders über mich geurteilt, sagt man. Und dein Nächster, der vielleicht in viel schwierigeren Verhältnissen war, wird von dir so hart verworfen. Du nimmst ihm seine Ehre und begräbst mit deiner Lüge sein Leben. Und du verrätst ihn. Unsere Kirche lehrt brüderliche Zurechtweisung. Wenn du von deinem Nächsten etwas Heimliches weißt, und es drückt dir das Herz ab, dann gehe zu ihm und sage es ihm unter vier Augen! Und erst wenn er dich dann nicht hört, sage es anderen, sage es auch der Gemeinde, wenn es ihm nützt! Aber es ist ja nicht um den Nutzen an der Seele deines Bruders, sondern um die Freude des Schadens in deiner Seele zu tun. Du willst deinen Bruder nicht bessern, aber dein Herz willst du an seinem Unrecht weiden. Du willst ihn nicht ändern, daß er frömmer wird, aber an seiner Nacht willst du dein Licht entzünden.
Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsern Nächsten nicht fälschlich belügen, verraten, afterreden oder bösen Leumund machen oder, wie es im Lateinischen heißt, ihn nicht in der Leute Mund herumziehen. Es mag vielleicht ursprünglich gar nicht böse gemeint sein; es ist vielleicht das Verlangen, etwas neues zu bringen, aber im tiefsten Grunde ist es doch Mangel am Gebete: vergib mir meine Schuld, wie ich vergebe meinen Schuldigern! Wenn wir so den Namen, die Ehre, oder auch die Unehre und den unguten Namen des Nächsten herumziehen, fehlt es am Gebet.
Wenn einmal Gott eine einzige Woche unserer Tagesunterhaltung uns vorlesen wird in der Ewigkeit, wenn Er eine einzige unserer Abendunterhaltungen uns einst vor die Seele bringt, wieviel Todschläge mit der Zunge, wieviel Todesverletzungen mit dem Worte, wieviel Vergiftungen des Lebens mit dem Herzen! Wenn Du willst Sünde zurechnen, Herr wer wird bestehen? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsers Nächsten Ehre und Name nicht
| in der Leute Mund herumziehen und ihn nicht mit Schmach überhäufen. Du sprichst von einem möglichen „Vielleicht“, der Nächste sagt schon „wahrscheinlich“, der Dritte sagt „gewiß“. Und dein Bruder ist mit Schmach bedeckt! Besonders Leute mit Scharfblick müssen Gott sehr angehen, daß Er ihnen das milde Herz und das linde Wort schenke; denn der Nächste spürt es und es tut ihm weh. Er ist der Freunde auf Erden ebenso bedürftig als du und du hast sie ihm geraubt; er braucht auch Sonne und du hast sie ihm gewehrt; ihn verlangt nach dem Schatten des guten Namens und du hast ihn zerstört.
Seht, weil die Elenden verstöret sind und verschmachten, spricht der Herr, so will Ich sie aufrichten. Er will sich derer annehmen, denen wir Ehre und guten Namen raubten, Er steht bei den Verwaisten, Er beschützt die Schutzlosen, Er will der Heimatlosen Vater sein. Schrecklich ist es, wider Gott streiten, furchtbar, ihn zum Feinde zu haben. Ach, wehe der Lüge, sie befreiet nicht!
Und nun höre ich dich fragen, Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts, der du mit der Freiheit hausieren gehst und so groß von Menschenwürde, von Menschenhoheit und vom Recht der Persönlichkeit und von Frauenehre redest, ist denn Notlüge nicht erlaubt? Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts, der du so groß bist, du fragst nach dem Recht der Notlüge? Der du so viel von dem Recht der Einzelpersönlichkeit sprichst, daß man dieser Einzelpersönlichkeit herzlich satt wird, du fragst, ob man nicht in Not Lügen haben dürfte? Du hast das große System der gesellschaftlichen Lüge reichlich inne und, wenn ich nicht irre, gehört zu dem sogenannten Anstandsunterrichte der gesellschaftliche Ton. Und das Kapitel ist nicht im Himmel geschrieben, sondern in der Hölle. Und es ist eine große, furchtbare Schuld, wenn du deine Dienstboten anlernst, deinen dienstbaren Geistern zumutest, daß sie dich verleugnen, wenn Besuch kommt, daß
| sie von deinem Fernsein reden, während du zu Hause weilst. Es ist ein großes Unrecht, wenn du die ganze Menge gesellschaftlicher Floskeln dir anlernst, um gebildet und auf der Höhe zu erscheinen, während die Engel der Wahrheit bitterlich weinen und in deinen Salons alle Feinde der Wahrheit weidlich sich freuen. Das ganze Christentum ist wurmstichig, wenn wir nicht den Mut haben, mit der Notlüge der Gesellschaft zu brechen, wenn wir nicht die Kraft haben, diesen ganzen Plunder über Bord zu werfen. Notlügen haben sich die Menschen selbst geschaffen. Der treue Gott führt dich nicht so in Versuchung, daß du lügen mußt, um bestehen zu können.
Bin ich die Wahrheit jedermann schuldig? Denen, die sie nicht fassen können, noch nicht, nimmer, denen bin ich sie nicht schuldig. Ich kann Unmündigen, Geistesarmen und -schwachen, den Irren, die die Wahrheit gar nicht von mir haben können, nicht schuldig sein, die Wahrheit zu sagen. Wenn ein Besessener, ein Wahnsinniger mich frägt, ob ich ein Schwert besitze, so werde ich natürlich sagen: nein, für dich nicht! Das haben die Väter recht gesagt und das wird dir auch Gottes Geist zeigen: es ist die Wahrheit immer mit Liebe zu verbinden. – Notlüge aber, wie ihr sie nennt, ist Sünde, sind Seidenfäden, die an den Feind binden, unscheinbare Gewebe, die doch aus der Hölle stammen. Meide sie! Eure Rede sei: Ja, hinter dem kein zwiespältiger und unrechter Gedanke wohnt. Und eure Rede sei: Nein, und dieses Nein sei aus Herzensgrund gesprochen! Und alles, was darüber ist, das ist vom Übel. Wo viele Worte sind, da ist viel Sünde.
Wie soll ich wahrhaftig werden? Unser Katechismus ruft mir zu: ich soll meinen Nächsten entschuldigen, Gutes von ihm reden oder, wie es im Lateinischen heißt, von ihm denken und reden, und alles zum Besten kehren. Meinen Nächsten entschuldigen, zunächst in meinem Herzen. Wenn dir bei deinem Nächsten etwas unbegreiflich ist, dann glaube an ihn und es ist dir leichter. Du machst es ja bei deinen
| Freunden auch so. Wenn dir ein Mensch lieb ist und du kannst sein Tun nicht mehr verstehen, so glaubst du an ihn. Das, was du bisher an ihm erfahren hast, war ja so ganz anders, und so glaubst und hoffst du, daß auch das jetzt Unverständliche seinen Grund habe. Und was du deinem Freunde gerne gewährst, das gewähre auch deinem Gegner von Herzen, indem du zunächst in deinem Sinn Milderungsgründe, Erklärungsmöglichkeiten, freundliche Deutungen, milde Wendungen seines Unrechtes erbetest und ersinnst, dann sie auch verwendest und gebrauchst, ihn zu entschuldigen.
Soll ich also schwarz – weiß, sauer – süß, unrecht – recht nennen? Da sei Gott vor! Aber „Ich will vergelten, die Rache ist mein“ spricht der Herr. Wir aber sollen entschuldigen, so lange es möglich ist und so gut wir es können. Denke daran, wenn du die Eltern, die Erziehung und die Verhältnisse dessen gehabt hättest, den du jetzt so scharf verurteilst! Denke, wie dich dein Gott so freundlich geführt hat und entschuldige! – Und denke Gutes von deinem Nächsten! Bernhard von Clairvaux hat sich nie, so wird erzählt, einreden lassen wollen, daß ein Mensch schlechter und unfrömmer sei als er und er besser und frömmer als irgend ein Mensch. So sei es auch bei dir! Denke daran, was aus dir hätte werden können, nachdem dich dein Gott so gnädig geführt hat, und wie wenig aus dir geworden ist! Und so habe gute Gedanken und milde Worte über deinen Nächsten und rede nicht von ihm in der Absicht, Übles von ihm zu hören oder ein Urteil über ihn herauszulocken, sondern suche es zurückzuhalten und wende alles zum Besten!
Ihr seht, welch weites Feld hat die Kritik erobert und welch weites Feld ist der Barmherzigkeit geschenkt!
Die Kritik und Härte hat das weite Feld erobert und auf ihm bleichen Totengebeine, zerstörtes Glück, Raub der Ehre, Vernichtung des Lebens. Und dort ist das weite Feld, über dessen Pforte geschrieben steht: Mir ist Erbarmung
| widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert! Und weiter: darum seid barmherzig, dieweil uns Barmherzigkeit widerfahren ist!
Das ist das große, weite Feld des göttlichen Erbarmens. Bebaue es, daß es sich begrüne, blühe und Frucht bringe!
Aber laßt mich am Ende noch die Bitte vor den Herrn und vor eure Seele bringen: daß ich wahr werden möge, ganz wahr gegen mich selbst, so wie unsere Väter oft gebetet haben:
König, dem wir alle dienen,
Ob im Ernst, das weißest Du,
Rette uns durch Dein Versühnen
Aus der ungewissen Ruh!
Mache dem Gedanken bange,
Ob das Herz es redlich meint,
Ob wir treulich an Dir hangen
Ob wir scheinen oder sein!
Daß Er das Scheinleben in uns zerstöre und wenn tausend Tränen dem verlorenen Glück gehören, und mit rauher Hand alle Masken uns vom Antlitz reiße, auch wenn unser armes Angesicht darüber fröre! Daß Er uns ganz ausziehe und arm mache; besser, besser einäugig und arm in die Heimat, als doppeläugig und reich in die Fremde! Betet jeden Abend und jeden Morgen darum: erlöse mich von dem Übel des Scheines. Schlecht und recht, das behüte mich; denn ich harre Dein! Er aber, der als Hoherpriester ohne gleichen in der Nacht, da Er verraten ward, Weltangst, Jüngerleid und Kreuzesschmerz vor seinen himmlischen Vater mit großem Flehen gebracht hat, bete für uns jetzt und allezeit: Heilige sie in Deiner Wahrheit, damit sie nicht Wirklichkeitsmenschen seien, mit sich zufrieden, sondern Wahrheitsfreunde, an denen Du Wohlgefallen habest!
Amen.