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Ein amerikanischer Brief aus Thüringen

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Textdaten
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Autor: Rudolph Döhn
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Titel: Ein amerikanischer Brief aus Thüringen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 109–111
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[109]
Ein amerikanischer Brief aus Thüringen.

Für den Bürger der nordamerikanischen Union giebt es im Allgemeinen wenige Sitten und Gebräuche, die er auf Grund ihres Alters, allein in Ehren hält und die ihn an den heimathlichen Boden zu fesseln vermögen. Er hat keine besonderen uralten Familien- oder Standesehren, welche ihm seine Vorfahren aus grauen Zeiten überlieferten, mit andachtsvoller Scheu aufrecht zu erhalten, denn Stellung und Beschäftigung sind meistens einem häufigen und oft urplötzlichen Wechsel unterworfen; deshalb fühlt auch der Bewohner kaum irgend eines andern Landes so wenig das Bedürfnis; und die Neigung, an der Scholle kleben zu bleiben, wie [110] der freie und unstäte Sohn der Vereinigten Staaten. Der Amerikaner ist, wie der auf beiden Seiten des atlantischen Oceans wohlbekannte Neuengländer Henri, T. Tuckerman sagt, ein Wandergeschöpf. Von dem Wechsel der Luft erwartet er wohlthätige Folgen für seine Gesundheit, von dem Wechsel des Wohnsitzes einen günstigen Umschwung in seinen ökonomischen Verhältnissen, von dem Wechsel der Gesellschaft eine Verbesserung seiner socialen Stellung im Leben, und obschon ihm sein heimathlicher Heerd – his home and his fireside – nicht gleichgültig ist, so sind die Unternehmungen und Abenteuer derjenigen, welche immer weiter nach dem fernen Westen vordringen, sehr zahlreich und bilden für die amerikanische Literatur eine nie versiechende Quelle. Indessen ist es die Lebensweise und die ungeheure Ausdehnung des Landes nicht allein, was den Bürger der transatlantischen Republik zu beständigen Reisen veranlaßt; ein wesentliches Moment, das wir dabei in Rechnung bringen müssen, ist sein unruhiges Temperament und sein ausgeprägter Geschmack an regelmäßig wiederkehrenden Ortsveränderungen. Diese Eigenschaften und Umstände zusammengenommen sind es, welche vornehmlich den Neuengländer oder Yankee zum vollendeten Touristen machen. –

Zu der Zahl der bedeutendsten Touristen und beliebtesten Reisebeschreiber der Nordamerikaner gehört gegenwärtig zweifelsohne Bayard Taylor, der sich außerdem noch als ein höchst geistreicher Gelegenheitsredner – lecturer — auszeichnet und dessen Vorlesungen beizuwohnen wir selbst wiederholt das Vergnügen hatten. Wir müssen uns nämlich erinnern, daß es in der nordamerikanischen Union besonders zweierlei Einrichtungen sind, welche wie in England, der Bildung schon Erwachsener dienen: die Debattirgesellschaften und die öffentlichen Vorlesungen. Während sich in den ersteren die jüngeren Männer eines Ortes, ohne Rücksicht auf Stand und Gewerbe, zusammenfinden und über einen allgemein interessanten Gegenstand in geregelter Disputation verhandeln, um sich Redegewandtheit und Ideenklarheit anzueignen, erstrecken sich die letzteren über alle Gebiete der Wissenschaft und Kunst und werden von beliebten und berühmten Fachgelehrten, Philanthropen und Reisenden gehalten, an welche zu diesem Behufe Einladungen ergehen. Die Zuhörerschaft findet sich gewöhnlich auf dem Wege der Subscription zusammen, und das Honorar für einen Vortrag ist nicht gering, von zwanzig bis hundert Dollars. Der „Lecturer“, zu denen nicht selten auch Frauen gehören, sind eine ansehnliche Zahl, und viele von ihnen leben von dem Ertrage ihrer Vorlesungen. Charlatane und flache Schöngeister können darunter nicht lange eine Rolle spielen; überhaupt darf man diese Art Reden ihres ephemeren Charakters wegen nicht unterschätzen, denn sie tragen wesentlich dazu bei, den Geist der Amerikaner über die Geschichte und die Institutionen ihres eigenen Landes und fremder Nationen aufzuklären. –

Bayard Taylor nun, einer der ersten jetzt lebenden „Lecturer“, bringt seit mehreren Jahren fast jeden Sommer in Thüringen zu, wo ihn verwandtschaftliche Beziehungen und theure Familienbande fesseln. Er ist der stehende Correspondent der „New-Jork Tribune“; dies Blatt gewann unter ihrem Chefredakteur Horace Greeley, der als einflußreicher Politiker vor kurzer Zeit von Andrew Johnson, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, die Stelle eines Gesandten in Oesterreich angeboten erhielt, dieselbe aber ausschlug, eine selten große Ausbreitung und wird in vielen Tausenden, von Exemplaren, die über die ganze Erde verbreitet sind, gelesen. In einem aus dem bekannten Sommerfrischort Friedrichroda datirten und im August 1867 geschriebenen Briefe giebt Bayard Taylor in dem genannten Blatte höchst interessante Charakterschilderungen verschiedener deutscher Autoren und fügt zum Schlüsse pikante Bemerkungen über das Schriftstellerwesen in Deutschland überhaupt hinzu. Da es nun von unleugbarem Interesse ist, das Urtheil eines scharf beobachtenden und geistvollen Ausländers über diese Punkte zu vernehmen, so lassen wir im Nachstehenden einige der bemerkenswerthesten Stellen des erwähnten Briefes folgen.

„Vor einigen Tagen,“ schreibt Taylor, „erneuerte ich meine Bekanntschaft mit zwei Männern, die ich zu derselben Zeit vor gerade neun Jahren kennen lernte. Die Bekanntschaft dauerte damals zwar nur sechs Stunden, allein diese kurze Zeit reichte hin, das Andenken an diese Männer dauernd und gern in meinem Gedächtnisse zu bewahren. Als ich nämlich im Augustmonate des Jahres 1858 bei der dritten Säcularfeier der Universität Jena, die Tausende von alten und jungen Jenenser Studenten versammelt hatte, zugegen war, nahm ich auch an dem großartigen Commerce Theil, der in jener Festzeit in der alten und ehrwürdigen Musenstadt veranstaltet wurde. Ich hatte einen Platz an einem der ‚Sachsentische‘ erhalten und saß zwischen einem hochgewachsenen blonden Herrn und einem starken, breitschulterigen Manne, dessen rundes und volles Gesicht von einem wilden und dichten Barte umgeben war. Der Erstere war Dr. Alfred Brehm, der als Afrikareisender und als Naturforscher rühmlichst bekannt ist; der Letztere war Fritz Reuter, der gefeierte plattdeutsche Dichter, welcher in der That eine neue Schule in der deutschen Literatur gegründet hat.“ – – –

„Gegenwärtig lebt Fritz Reuter in Eisenach, einer freundlichen Stadt in der Nähe der Wartburg. Als ich vor einigen Tagen, ich glaube zum siebenten oder achten Male, nach, diesem Orte pilgerte, der durch das Andenken an die Minnesänger, an Elisabeth von Ungarn und an Luther geweiht ist, beschloß ich, meinem Nachbar von der jenenser Jubelfeier einen Besuch abzustatten. Ich traf ihn nicht zu Hause, aber er kam am Abend nach dem Hotel, in welchem ich wohnte. Ich fand ihn ganz unverändert, nur der dunkle, starke Bart war in den letzten neun Jahren völlig grau geworden. In dem Großherzogthume Mecklenburg, wo er geboren ist, giebt es viel wendisches Blut, allein Reuter’s äußere Erscheinung läßt mich bestimmt annehmen, daß er der reinen und unverfälschten teutonischen Race entstammt. Seine untersetzte, kräftige Gestalt, seine breiten Schultern, sein dicker Nacken, sein mächtiger, runder Kopf, seine ausdrucksvolle, fast viereckige Stirn, seine kleinen, grauen Augen, seine starke Nase, und der nicht ganz kleine Mund – sind passende äußere Attribute für den Humoristen, sie kündigen indeß nicht den Dichtergeist an, der ebenfalls in Reuter lebt und schafft. Sein Wesen ist einfach und ohne alle Affectation, wie das eines Kindes; man fühlt in den ersten Augenblicken, wo man ihm näher tritt, daß man einer ehrlichen und offenen Natur, die kein Falsch kennt, gegenüber steht. Er erinnerte mich an unsern Walt Whitman, von dem Emerson sagte, daß er in seinen früheren Jahren viel erfahren und viel gelitten haben müsse – ganz dasselbe ist mit Fritz Reuter der Fall. Und in der That haben Whitman und Reuter Manches gemeinsam: Beide zeichnet ein tiefes, nachhaltiges Humanitätsgefühl aus, Beide fassen die Natur in einer wundersamen, doch entschieden poetischen Weise aus, die Art zu denken ist der Form nach bei Beiden originell, weniger dem Inhalte nach. Fritz Reuter ist außerdem eine wahre Künstlernatur, und bei Allem, was er schreibt, macht sich sein Humor geltend.“

Hieraus giebt Taylor eine kleine Skizze von Reuter’s Leben; er erwähnt, daß Reuter im Jahre 1808 geboren sei und in den Jahren 1833 bis 1840 in einem mecklenburgischen Gefängnisse gelebt habe. Der Gedanke, den plattdeutschen Dialekt seinen literarischen Arbeiten zu Grunde zu legen, habe Reuter stets beherrscht. Möglicherweise hätten Hebel’s „Alemannische Gedichte“ hierzu, den ersten Anstoß gegeben. Andere plattdeutsche Dichter hätten sich vor Reuter Ruhm und Anerkennung erworben; allein seit etwa zehn Jahren habe er allen seinen Rivalen den Rang abgelaufen. Im fünfzigsten Lebensjahre, wo andere Autoren auf ihren Lorbeeren auszuruhen pflegten, habe er die ersten Blätter seines Dichterkranzes gepflückt, und es gäbe gegenwärtig kaum einen deutschen Schriftsteller, der mehr mit seiner Feder verdiene, als Fritz Reuter.

„So viel ich weiß;“ fährt Taylor fort, „ist ‚Ut de Franzosentid‘ das einzige Werk Reuter’s, welches in die englische Sprache übersetzt ist. Der jüngere Lewis übersetzte es in diesem Jahre unter dem Titel: ‚In the Year 1813‘. Die Uebersetzung ist eine gelungene, allein die wunderbare Naivetät des Plattdeutschen, welches so viele Aehnlichkeit mit der englischen Sprache hat, ist doch unnachahmlich; sie konnte nur angedeutet, nicht vollständig wiedergegeben werden. Ich stelle den ‚Hanne Nüte‘ höher; dies Gedicht besitzt den idyllischen Reiz eines echten Hirtengedichtes. Sein letztes Werk ‚Dörchläuchting‘ möchte ich mit ‚His Little Serene Highness‘ wiedergeben, aber diese Uebersetzung hat wenig Komisches während der ursprüngliche Titel durch und durch komisch ist. Reuter hat jetzt eine neue Geschichte unter der Feder, deren Plan, so weit er nur ihn mittheilte, nicht weniger Originalität, als Humor verräth.“

[111] Taylor erzählt, daß Fritz Reuter sich durch seine literarischen Arbeiten ein recht comfortables Leben zu bereiten im Stande ist, und knüpft hieran eine Reihe interessanter, wenn auch nicht immer zutreffender Bemerkungen über die deutsche Journalistik überhaupt, von denen wir nur folgende hervorheben wollen: „Reuter’s Erfolge als Schriftsteller lassen sich mit dem, was englische, französische und nordamerikanische Autoren erreicht haben, kaum vergleichen. In Deutschland wird eben das Schriftstellerthum – trotz der großen intellectuellen Bildung und trotz des wissenschaftlichen Strebens im deutschen Volke – sehr kläglich honorirt. Ich vermuthe, daß der Grund dieser bedauernswerthen Erscheinung vorzüglich darin liegt, daß so wenige Menschen aus dem Mittelstände daran denken, sich eine eigene leidliche Bibliothek anzuschaffen. Die Leihbibliotheken liefern dem Volke den billigsten Lesestoff, und nur von wenigen Werken, welche eine ganz besondere Popularität, errangen, ist eine starke Anzahl verkauft worden. In diesen Leihbibliotheken gibt es nicht blos Bücher, sondern auch periodische Zeitschriften. Letztere müssen hierdurch an Circulation verlieren und sind, wenn sie überhaupt Privatsubscriptionen haben wollen gezwungen, zu einem höchst niedrigen Preise zu erscheinen. Wenige von den vielen periodischen Zeitschriften Deutschlands erreichen eine Ausgabe von zehntausend Exemplaren; daher sind die Honorare für die Mitarbeiter selbstverständlich sehr gering. Keil’s ‚Gartenlaube‘ macht hiervon eine Ausnahme; ihre Auflage beträgt mehr als einhundert und fünfzigtausend Exemplare und sie bezahlt, wie man mir gesagt, fünfzig Thaler für den Bogen, der ungefähr so viel Lesestoff bietet, wie vier oder fünf Spalten der ‚New-York Tribune‘ liefern. Diese Bezahlung gilt für ungewöhnlich hoch, und man nennt sie thatsächlich noch immer Honorar, als wenn die Entschädigung der Schriftsteller für ihre Arbeiten nicht etwas sei, wozu, sie in jeder Beziehung, berechtigt wären.“

Wir dürfen hier übrigens die Bemerkung nicht zurückhalten, daß Herr Bayard Taylor hinsichtlich der „Gartenlaube“ irrt. Alle, welche mit der „Gartenlaube“ längere Zeiten Verbindung standen, wissen, daß sowohl ihre Auflage als das Honorar, welches sie zahlt, höher sind, als wie Taylor angiebt. Ihre Auflage beträgt jetzt mehr als 250 000 Exemplare, und fünfzig Thaler pro Bogen ist der niedrigste Honorarsatz, den sie kennt und der höchstens einmal bei Bearbeitungen aus fremden Sprachen angewandt wird. Sie zahlt vielen ihrer Mitarbeiter den Bogen mit hundert und mehr Thalern.

Das Verhältnis zwischen den Schriftstellern und Buchhändlern ist, wie Taylor meint, in Deutschland nicht so gut geregelt, wie in England und Nordamerika. Selbst Dichter, wie z. B. F. Freiligrath, können von dem Ertrage ihrer werthvollen und sehr populären Werke nicht leben. Eine große Anzahl deutscher Autoren sucht, sobald ihre Schriften irgendwie reussirt haben, eine Anstellung bei einer größern öffentlichen Bibliothek, bei einem Theater oder einem Museum zu erhalten, um sich eine sichere Einnahme zu verschaffen. Taylor nennt hier zum Belege seiner Behauptung: Bodenstedt, Geibel, Dingelstedt, Halm u. A. Der Preis eines Buches hängt von dem Grade der Berühmtheit des Autors ab. Jüngere Kräfte müssen mit dem zufrieden sein, was man ihnen bietet, wenn man ihnen überhaupt etwas bietet. Die Einnahmen, welche Schiller’s Werke geliefert, stehen nach Taylor’s Ansicht in gar keinem Verhältnisse zu dem, was Washington Irving oder Dickens aus ihren Werken zogen. Dazu kommt, daß ein amerikanischer Schriftsteller viel mehr aus seinen Vorlesungen einnimmt, als wie dies bei deutschen Autoren durchschnittlich der Fall ist. „Während Emerson,“ sagt Taylor, „nach Iowa und Minnesota zu Vorlesungen eingeladen wird, würde es sehr zweifelhaft gewesen sein, ob Hegel oder Fichte anderswo Zuhörer gefunden hätten, als in Hauptstädten und Universitäten.“ (Emerson ist auch weder ein Fichte noch ein Hegel; diese würden in Amerika vielleicht nirgends Zuhörer gefunden haben. Auch scheint Taylor von den Vorlesungen Karl Vogt’s Nichts zu wissen, welche diesem während des Winters allein sechs- bis achttausend Thaler Reingewinn bringen. D. Red.)

Schließlich gesteht Taylor zu, daß in den Vereinigten Staaten noch keine wirkliche Geschichte der nordamerikanischen Literatur erschienen sei. Er beklagt, daß er hierin Herrn K. F. Neumann Recht geben müsse, und spricht dabei die Ansicht aus, es würde ein verdienstliches Werk sein, wenn Jemand eine Geschichte der nordamerikanischen und europäisch-englischen Literatur herausgäbe, worin die Unterschiede des Mutter- und des Tochterlandes hervorgehoben seien. Auch leugnet er nicht, daß Amerika, wenn es der Zahl nach auch mehr Leser besitze, hinsichtlich der Fähigkeit und tiefern Bildung derselben weit hinter Deutschland zurückstehen müsse. Mit großer Freude begrüßt er die Thatsache, daß man gegenwärtig häufig das amerikanische Leben als ein Element des Contrastes und der Illustration in die deutsche Literatur einzuführen beginne. Er erwähnt hier als ein nachahmungswürdiges Beispiel Herman[WS 1] Grimm’s „Unüberwindliche Mächte“ (Unconquerable Powers), denen er einen guten englischen Uebersetzer wünscht. In dem Haupthelden dieser Dichtung, Mr. Wilson, will er den geistreichen Emerson wiedererkennen, dessen erster Uebersetzer H. Grimm ist.

Rudolph Döhn.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Hermann