Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Advent 01

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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am ersten Sonntage des Advents.

Röm. 13, 11–14.
11. Und weil wir solches wißen, nämlich die Zeit, daß die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wirs glaubten; 12. Die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbei kommen: so laßet uns ablegen die Werk der Finsternis, und anlegen die Waffen des Lichts. 13. Laßet uns ehrbarlich wandeln, als am Tage, nicht in Freßen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid: 14. Sondern ziehet an den HErrn JEsum Christ, und wartet des Leibes, doch also, daß er nicht geil werde.

 MAncherlei Jahre hatte man früher, meine lieben Brüder, mancherlei Jahre haben wir auch jetzt noch. Die Juden hatten und kannten von Alters her ein gemeines Jahr, welches im Herbste den Anfang nahm; sie hatten dann aber auch seit dem Auszug aus Aegyptenland ein heiliges Jahr, welches im Frühling begann. Wir haben ein gemeines Jahr, nach dem wir alle Dinge des gewöhnlichen Lebens bemeßen: es beginnt, wie wir Alle wißen, am 1. Januar; für die Geschäfte unsres Staates gibt es gleichfalls ein besondres Jahr, welches vom 1. Oktober ausgeht; und die christliche Kirche hat für ihre gottesdienstlichen Geschäfte und Uebungen, für ihr gesammtes geistliches Leben auch ihr besonderes Jahr, welches vier Sonntage vor Weihnachten, also je nachdem dies hohe Fest auf einen Wochentag fällt, am Sonntag vor oder nach dem Gedächtnistage des heil. Apostels Andreas den Anfang nimmt. So haben wir mancherlei Jahre und leben unsre Zeit nach Abschnitten dahin. Man könnte wol sagen, es bedürfe der Abschnitte nicht, zumal, wenn sie willkürlich gemacht werden, und der Mensch werde mit dem Leben ebensowol fertig, wenn er in den Tag hinein lebe und keines Abschnitts achte; allein das könnte man doch nicht anders, als eine rohe Ansicht von unsrem Leben nennen. Es ist ein tiefes Bedürfnis der Seele, das Leben nicht als eine abschnittlose Reihe des Daseins anzusehen, sondern von einem Abschnitt zu dem andern zu leben, von einem auf den andern rückwärts und vorwärts zu schauen und zu rechnen, und ob wirs versuchen wollten, wir würden es bald für unmöglich und unerträglich erachten, unsre inneren und äußeren, zeitlichen und ewigen Geschäfte ohne Rücksicht auf das Maß unsrer Zeit, auf Tage und Wochen und Monden und Jahre zu vollbringen. Wir bedürfen den Wechsel der Zeit, im Wechsel werden und reifen wir für Zeit und Ewigkeit, und selbst unsre Ewigkeit wird nichts andres sein, als ein ungetrübter, freudenreicher Wechsel einer unendlichen Zeit. Das liegt schon in der Schöpfung: der HErr schuf die Tage und Alles nach Tagen, Er selbst stiftete an Seinem ersten Sabbath die heilige siebentägige Woche; Er setzte Sonne, Mond und Sterne an den Himmel, zu geben Zeiten und Zeichen und Tage und Monden und Jahre, und es kann daher niemand die Abschnitte unsrer Zeit verachten, ohne die Schöpfung der Zeit zu verachten, und den allerheiligsten Schöpfer zu beleidigen. Wolan denn, freuen wir uns eines jeden Tages, einer jeden Woche, jedes Monats, jedes Jahres und treten wir auch heute mit bedachtsamer ernster hoffnungsvoller Freude in das Kirchenjahr ein, dessen Ankunft wir seit dem gestrigen Abend begrüßen. Es beginnt ein neues Jahr der Feier und des Andenkens der großen Thaten Gottes in Christo JEsu, ein neues Jahr der Lektionen,| der Predigten, der Gebete, der Gesänge, der heiligen Uebungen, ein neues Jahr der Gnade und des Erbarmens, der Kräfte des gütigen Wortes Gottes und der zukünftigen Welt, und wer weise ist, der beachtet’s. Die Jahre kommen, aber sie gehen auch, es ist, als flögen sie davon, und eines ist das letzte hier, das erste dort, und bringt uns die große „Veränderung“, von welcher Hiob spricht. „Lehr’ uns bedenken, HErr, daß wir sterben müßen, daß wir davon müßen, laß uns weise werden, unsre Zeit auskaufen und sonderlich dies Jahr.“ So laßt uns beten und, Brüder, wenn unsre vergangenen Kirchenjahre uns den Segen nicht nachgelaßen haben, den sie konnten, wenn wir mit einer geringen Ernte unsrer vergangenen Jahre an der Schwelle dieses Jahres stehen, so werde es jetzt endlich einmal Ernst mit dem Kirchenjahr und der Benützung der reichen Güter, die es in sich hält und bringt. Zwanzig Jahre hab’ ich euch gerufen, eingeladen, vermahnt, gebeten, genöthigt, reich zu werden von den Gütern des Hauses Gottes, die ich unter euch feil habe und ohne Kosten biete; wie wenn ich nichts zu bieten hätte, wie wenn ich ein Bettler wäre, bin ich mit dem Reichtum JEsu Christi vor euren Thüren pochend und rufend gestanden. Ich will nicht sagen, wie ihr den Reichtum JEsu Christi an- und aufgenommen, nicht strafen, nicht schelten, nein, aber ernstlich und dringlich, mächtig, wenn ich könnte unbeweglich, möcht ich euch zurufen heute und immer wieder im Lauf des Jahres, das nun anhebt: Jetzt benützet die Zeit für eure Ewigkeit.

 Mit dieser Ermahnung treffe ich hoffentlich den Sinn der Kirche, welcher sich in der Wahl der heutigen epistolischen Lektion ausspricht, denn diese ganze Lektion handelt von nichts anderem als

von der Beachtung der Zeit und ihrer Benützung.

Ich will mich daher mit euch in diesen Text vertiefen und euch sagen zuerst, wie ihr nach den Worten des heiligen Apostels die Zeit beachten sollet, in der ihr lebet, dann zweitens, wie ihr sie benützen sollet, und am Ende drittens will ich einen Punkt absonderlich hervorheben, der mir hart auf meiner Seele liegt, die Trägheit nämlich, welche den Menschen so schwer dahin kommen läßt, zu beachten und zu benützen seine edle Zeit.


I.
 Mit dem 11. Verse des 13. Kapitels an die Römer beginnt unser Text. Zehen Verse gehen voran, welche, sowie das 12. Capitel des Briefes von einzelnen Ermahnungen des Apostels überfließen, Ermahnungen der eingreifendsten Art, samt und sonders aber auf die christliche Lebensgerechtigkeit gerichtet. Unser Text bildet den Schluß des Capitels und gibt allen den einzelnen Ermahnungen großen Nachdruck dadurch, daß er die Zeit hervorhebt, oder den Zeitpunkt, in welchem sie geschehen. „Weil wir solches wißen, nämlich die Zeit,“ übersetzt Martin Luther. Enger anschließend ans Wort des Apostels heißt es: „Und dieses, – dies alles, wozu ich euch ermahnt habe, thut, weil ihr den Zeitpunkt kennet und wißet.“ O es liegt ein starker Nachdruck für die Verpflichtungen, die wir haben, für die Ermahnungen, die man uns zu denselben gibt, in der Berücksichtigung des Zeitpunkts, da sie geschehen. Es ist ganz etwas anderes, wenn ich zur Vollführung meiner Pflichten noch eine lange weite Zukunft vor mir sehe, und ganz etwas anderes, wenn die Zeit zusammengeht, und die Sanduhr verrinnt und die Aufgabe gelöst sein soll und die Rechenschaft vor der Thüre steht! Ein jeder von euch hat das in einzelnen Fällen schon an sich selbst erfahren, will ich hoffen, und keiner wird sein, auf welchen nicht dann und wann die Rücksicht auf die flüchtige Stunde gehörigen Eindruck gemacht hat. Und das soll auch sein, das liegt in der Absicht Gottes und in dem Wort der Apostel: die Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre, die da kommen und gehen, sollen und wollen beachtet sein. – Was nun den Text anlangt, den wir gerade vor uns haben, so erinnert der Apostel nicht bloß an den Zeitpunkt, in welchem er schreibt, sondern er beschreibt ihn auch näher. „Die Nacht ist vergangen,“ sagt er, „der Tag aber herbeikommen.“ Dem Wortlaut nach eine sehr bestimmte Rede. Es ist, wie wenn ein Mann des Morgens die Augen öffnet, und zum Fenster hinaus sieht, dort geht am Walde westlich der fahle Mond mit der Nacht unter, und im Osten erscheint die goldene Sonne; die Nacht ist vorüber, der Tag ist da, Morgen ist’s, die Morgenlüfte wehen. Aber das alles ist in unsrem Texte nur Gleichnis: was ist denn die Nacht, die vergangen ist, und der kommende Tag und der vorhandene Morgen? Unter| der Nacht können wir nicht schlechthin das alte Testament verstehen; denn wenn man es auch eine Nacht nennen könnte, so wäre es doch keine tadelnswerthe Nacht. Der Apostel aber redet von einer tadelnswerthen Nacht; nicht von einer Nacht, die Gott gemacht hat, wie das alte Testament, sondern von einer Nacht, wie sie die Menschen gemacht und unterhalb der lichten, hehren Gestirne ausgespannt haben, wie ein finsteres greuliches Gezelt, eine böse Hütte Kedar. Er redet ja auch bald von Werken der Finsternis, von Werken der Nacht, verwirft und verdammt sie, da kann die Nacht kein göttliches Geschöpf bedeuten, nicht die ehrliche Pracht des Königreichs Gottes im alten Testamente. Vom alten Testamente heißt es: „Auch die Finsternis ist Licht vor Dir, die Nacht leuchtet, wie der Tag.“ Dagegen die Nacht, von der St. Paulus spricht, ist grauenvoll, ein böses Menschenwerk, vollbracht unter Einfluß und Führung der Dämonen, ein teufelisch-menschliches Werk, das böse Werk von Anfang her, das Heidentum, die Abgötterei, ihre Blindheit, ihr finstrer Sinn, ihre Bosheit, ihre sittliche Versunkenheit, ihre Oede und Leere der Herzen, ihr unaussprechlicher, großer, weher Jammer. Das ist die Nacht, von der St. Paulus spricht: „Die Nacht ist vorgeschritten.“ Und der Tag? Der Tag ist das Gegenteil. Er ist das volle, helle, liebe, lichte Reich des Königs Christus, in dem es keine Abgötterei, keine Blindheit des Geistes, keine sittliche Versunkenheit, keinen Jammer und kein Unglück mehr gibt, wo die Erkenntnis Gottes das Land bedeckt, wie die Waßer den Meeresgrund, guter Wille die Menschheit führt, wie selige Winde, Fried und Freude die Herzen erfüllt, wie Frühlingswonne. Ha, wie mein Geist die Flügel regt, wenn ich des Tages gedenke, und seines wundervollen seligen Lebens! Ha, wie man fröhlich ist, wenn man die Fenster öffnen und rufen kann: Der Tag ist nahe gekommen! Aber ist man denn nicht am vollen Tage, meint der Apostel nicht, daß der Tag des lieben lichten Reiches schon zu der Zeit da gewesen sei, in welcher er diese Epistel schrieb? Nein, meine Brüder, das, was er den Tag heißt, ist der volle Mittag des Reiches Christi. Es ist dasselbe, was er in den Worten unseres Textes sagt: „Das Heil ist jetzt näher gekommen, als da wir gläubig wurden.“ Dies Heil und der Tag, der mit ihm gleichbedeutend ist, können nicht die Zeit bedeuten, in welcher der Apostel lebte; sonst könnte der Apostel nicht sagen: „Der Tag ist herbei gekommen, das Heil ist näher.“ Der Tag und das Heil sind der vollkommene Gegensatz der Nacht und des Heidentums, sind das vollkommne Reich des HErrn, das erscheinen wird erst dann, wenn der größte Triumph des Satans, das vollendete Heidentum der antichristlichen Zeit in den Abgrund gestürzt sein wird durch den, der da kommt, dessen Advent wir feiern, dem Seine Braut so sehnlich Hosianna singt und: „Komm bald, HErr JEsu.“ Wenn der HErr wird sitzen auf Seines Vaters David Thron, wenn die Zeit des Reiches David und Israel da sein wird, von welcher Er am Auffahrtstage zu den Aposteln spricht: „Es gebührt euch nicht zu wißen Zeit oder Stunde, welche der Vater Seiner Macht vorbehalten hat“: dann ist’s Tag, ein siegender mächtiger Tag, gegen welchen auch der letzte Kampf Gog’s und Magog’s nicht gelingen und nicht mehr siegen wird die alte Nacht. – Wenn nun aber das die richtige Deutung ist von Nacht und Tag, was ist dann die Zeit, in der St. Paulus schreibt, und die er beachten lehrt? Der Morgen ist’s, lieben Brüder, wo Tag und Nacht sich scheiden, die Stunde, wo man Ursach hat vom Schlafe aufzustehen. Die apostolische Zeit, das ist der frühe Morgen, der dem Tag vorangeht und der beachtet und geehrt sein will durch wache Sinnen. Und unser Zeitpunkt, unsre Zeit, das ist der späte Morgen, an dem sich wache Sinnen um so mehr geziemen. Warum wache Sinnen? Die Nacht ist schier hin, der Tag rückt heran. Warum ziemen uns die wachen Sinnen mehr? Weil der große Tag Christi und das Heil, das unter Seinen Flügeln aufgeht, uns um so viel näher ist, denn dem Apostel, als mehr Jahre und Tage hingegangen sind, seit jene ersten Väter entschliefen. Advent ist’s also, Morgen und Advent ist eins: die Zukunft Christi ist näher, als zur apostolischen Zeit, später Morgen ist es. „Auf, ermuntert eure Sinnen, denn es rinnt die Nacht von hinnen,“ so singen die Wächter nach 1800 Jahren. Laut singen sie durch die Straßen der Gemeine, dazu krähen die Hähne und das Licht wird stark, das von dem kommenden Christus weißagt. Gebt Acht auf die Zeit, in der ihr lebet! Der HErr ist nahe, und wenn der Apostel den Römern zuruft: „Schon ist’s Zeit und Stunde vom Schlafe aufzustehen,“ denn so sagt er; so muß| ich Wächter auf der Zinne in meiner Zeit so ernst den Morgen verkünden, daß ich sage: Schon ist bald nicht mehr Zeit, vom Schlafe aufzustehen! Höchste Zeit ist’s, wer erwachen will! Bald geht der Morgennebel auf, der die Nacht noch einmal will bringen, der Nebel des Antichristus; aber die Sonne steigt, der Mittag kommt, es geht mit der Welt zur Vollendung! Ernste Zeit, ernste Jahre, alle Jahre ernsterer Advent, – ernste heilige, bedenkliche Adventzeit auch jetzt, meine Brüder, da wir dies Kirchenjahr, dies heilige Vorbereitungsjahr auf Christi Wiederkunft beginnen! Das beachtet und wer Ohren hat zu hören, der höre.


II.

 Kann man aber, lieben Brüder, die Zeit beachten, ohne sie zu benützen? Oder, wenn jemand die Zeit beachten wollte und nicht benützen, würde man ihn nicht im Widerspruche mit sich selber finden? Wirkt nicht die rechte Beachtung der Zeit so unzweifelig und unaufhaltsam auch die rechte selige Benützung, daß man fast den Ausdruck „die Zeit beachten“ gleichbedeutend mit dem anderen gebrauchen könnte „die Zeit benützen?“ Und hängt nicht die rechte Benützung der Zeit ganz und gar von der Erkenntnis und Beachtung derselben ab? Ich denke, meine Brüder, hierin sind wir einig, und ihr werdet es nicht bloß für erklärlich, sondern für gerechtfertigt finden, wenn ich bei einer solchen Verwandtschaft der Beachtung und Benützung unsrer Zeit, nachdem ich von der Beachtung gesprochen, auf die Benützung übergehe. Das fordert auch mein Text, und weil jeder Prediger und jede Predigt ein menschlicher Wiederhall ist für einen göttlichen Klang, so muß ich von der Benützung der Zeit zu euch reden.

 Die Nacht ist vergangen, der Tag ist nahe gekommen, Morgen ist es, früher Morgen zu St. Pauli Zeit, später Morgen jetzt. So stehts mit unsrer Zeit, und dem entspricht auch die Benützung. Weil die Nacht vorüber ist, und der Tag vorhanden, so erwacht man, und steht auf vom Schlafe. – Das ist eine wunderliche Sache mit dem Schlaf und dem Erwachen. Kein Mensch wird sagen, daß bloß das Auge den Einfluß der Nacht und des Tages erfährt, daß nur das Auge schläft und wacht. Es schläft, es wacht der ganze Mensch. Und doch äußert sich so Wachen wie Schlafen am kenntlichsten und mächtigsten im Auge und am Auge. Im Schlafe sieht einmal das Auge nicht; sehe im Menschen, was will, das Auge sieht nicht. Wenn aber der Mensch erwacht, dann sieht das Auge. Ein waches Auge ist des Morgens Zeichen, und das Auge schließen, wenn dir der Schlaf es nicht zudrückt, ist ein Beweis, daß du krank bist oder böse. Wenn du deine Zeit erkennst, daß es Morgen ist, mußt du Nacht und Schlaf und Traum nicht halten wollen, sondern sinken laßen, und mit hellem Auge deinen Tag anschauen. Das ist die erste nöthigste Benützung der Morgenstunde. Wolan denn! Die Nacht, von welcher hier die Rede ist, ist das Heidentum und die Abgötterei mit ihren heillosen Versuchen, die Seele mit etwas anderem zu sättigen, als mit dem lebendigen Gott, mit ihrem unseligen Bemühen, etwas anderes für recht und wahr zu finden, als Sein heiliges Wort. Ist’s bei dir Morgen und dein Auge offen, steckst du in keiner Weise in den Banden und Träumen der Dämonen und ihres Dienstes, so läßest du die Nacht versinken und erkennst, was kommt, den Tag, von welchem deine Zeit ein Morgen ist, das Reich des HErrn JEsus Christus, und Ihn selber, deinen HErrn. Es hat zu keiner Zeit sehr viele Menschen gegeben, die das aus der Ewigkeit hereinbrechende und am Ende die Welt und alles Heidentum ganz und völlig überwindende Reich des HErrn als das allein wesenhafte und wahre, als helles Sonnenlicht und alles andere als Nacht erkannten. Gar manche unter denen, die die Erkenntnis und das tageshelle Auge zu haben scheinen, haben es nicht in der Wahrheit. Es ist eine Seltenheit und ein großes Glück, wenn einem der Tag, der da kommt, und das ewige Reich des HErrn, das da kommt, durch’s Auge des Verstandes tief in die Seele hineinschaut, und der Abgrund des Geistes von der mächtigen, königlichen, herrschenden Ueberzeugung ihrer nahenden Zukunft bewältigt wird. Es ist wahrlich nichts mit allen Abgöttereien und ist kein Gott, als der eine, der dreieinig ist, und am Ende auch keine Familie, kein Staat, keine Kirche, als allein das geistliche Königreich der Kinder Gottes und ihres Hauptes Christus. Warum aber ist diese Ueberzeugung und dies selige Glück so selten, da doch die Nacht des Heidentums dahin eilt und verwelkt vor der kommenden Sonne des jüngsten Tages und in den Gnaden| der pilgernden und streitenden Kirche das helle Licht dieses Tages bereits vom Himmel fällt? Warum? Weil die erste Benützung der Zeit fehlt, weil du die Nacht und Finsternis lieber hast, als das Licht, weil du die Erkenntnis des Reiches Gottes verschmähst und die Augenlieder deines Geistes schließest vor dem schönen Licht des ewigen Reiches. Es wird dir ja gepredigt, was ewiges Heil bringt, widersteh nicht, erkenn deine Zeit, daß die Stunde da ist, aufzustehn vom Schlafe, allem Greuel des Heidentums abzusagen und dich dem Reiche Gottes hinzugeben. Nur du selbst hinderst dein Glück, deine Seligkeit, weil du den Morgen nicht benützest und am Tage schläfst.
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 Indes, wenn einer am Morgen, nachdem die Nacht von hinnen, nichts thun wollte, als die Augen öffnen und sehen, und beim steigenden Tage das Schauen und Wachen des Auges die einzige Benützung der Zeit sein sollte, so würde doch jeder Verständige ob einem solchen Beginnen den Kopf schütteln, jedermann müßte es misbilligen. Die Benützung der Zeit erfordert mehr. Du liegst auf deinem Lager bei Nacht, bist ausgezogen oder hast dein Nachtkleid an, deine Decken und Betten liegen über dir und hüllen dich ein. Könntest du aber so wie du daliegst, aufstehen und hinausgehen und dich sehen laßen vor den Leuten? Nicht wahr, du könntest nicht, du wolltest nicht, du würdest dich schämen. So ist man wol bei Nacht; aber wenn der Morgen kommt und der Tag anbricht, da merkt jeder, „er müße ehrbarlich wandeln und umhergehen als am Tage.“ Darum wäscht und schmückt und kleidet er sich, und wenn er ein Kriegsmann ist, zieht er die Waffenrüstung an, die sich fürs Licht geziemet. So thut jedermann am Morgen, so geht jedermann dem Tag entgegen. An der Hand des Gleichnisses lehrt nun der Apostel weiter, wie man seine Zeit benützen und dem Tage der Ewigkeit, dem ewigen Reiche Gottes entgegengehen müße. Und zwar bleibt der Apostel nicht streng bei unsrem Gleichnis, nicht bei den Nachtkleidern und bei der Ruhe; sondern er geht ein in den Misbrauch der Nacht und in all das Böse eines nächtlichen Lebens, das für den Tag noch weniger paßt, als Nachtgewänder, das man ohne Zweifel dem wolgeziemenden und anständigen Tagesleben für weit widersprechender und widerstrebender erkennen muß, als das nachläßige und mangelhafte Gewand des Schläfers. Es werden manche unter euch, ach, es ist jämmerlich zu sagen, mit dem Apostel nicht zusammenstimmen, wenn er nun nach einander ansagt, welcher Wandel wol mit der Nacht des Heidentums, aber nimmermehr mit dem Morgen und Licht des ewigen Tages und Reiches Christi zusammenstimmt. Was er für heidnisch, für unchristlich, für verwerflich, für ungeziemend erkennt, das wollen viele unter euch rechtfertigen oder doch entschuldigen, oder mindestens nicht als so ganz und gar verwerflich anerkennen, nicht als so gar ein heidnisch nächtlich Leben. Man sollte es freilich nicht denken, wenn man die Namen hört, diese deutschen Namen, die am Ende, so tief aus dem Schwarzen sie Luther gegriffen hat, doch theilweise noch ehrbarer klingen, als die griechischen Worte St. Pauli. Man sollte es nicht denken, daß „Freßen und Saufen, Kammern und Unzucht, Hader und Neid“ nicht für heidnisch, nächtlich, verwerflich und verdammlich erkannt, sondern übersehen, gering geachtet, entschuldigt und gar gerechtfertigt werden. Man sollte es nicht denken, aber es ist so. Und es ist so bei den Menschen von der verschiedensten Bildung. Der rohe Stallknecht und der fürstliche Kammerjunker, die niederträchtige lüderliche Dirne, wie sie auf dem Lande so oft zu finden ist, und das Edelfräulein im Palaste, und was ich alles für Gegensätze möchte finden und erdenken, Gegensätze der Erkenntnis und Bildung, des Vermögens und des Standes, es bleibt sich doch überall gleich, und findet sich bei verschiedenen Ständen und Klassen dasselbe nächtliche Wesen unter verhüllenden Namen. Sie wollens nicht leiden, daß es so ist, sie wollen Unterschiede finden, die Reichen und Gebildeten und Edlen. Bei gleichen Sünden, bei Freßen und Saufen, in Kammern und Unzucht, bei Hader und Neid, wobei sie’s vor Gott verschulden, wie irgend wer, sind sie doch noch Pharisäer, die beßer sein wollen und weit erhaben über die stinkenden nächtlichen Pfützen des gemeinen Volkes in Städten und auf Dörfern, das demselben Belial huldigt. Aber leid es nicht, duld es nicht, sag’s ihnen allen und jeden, mal ihnen ihre Werke der Nacht mit Farben der Nacht, schrei ihnen die derben Namen des Apostels in ihre Ohren, denn sie hören hart, und es ist kein Wunder. Es ist wahrlich kein Wunder; denn man mußte ja auch die Gemeinde zu Rom, die erste Christengemeinde dort selbst, diese Gemeinde voll Gaben,| geleitet von welchen Männern! noch belehren und sie mahnen, diese alten nächtlichen heidnischen Werke abzulegen, weil sie für den Tag des Evangeliums nicht passen. Es muß Christen in Rom gegeben haben, die solche nächtliche Werke verübten, und es muß bekannt geworden sein von Rom bis nach Corinth, bis zum Apostel Paulus, also über Berg und Thal und Meer hin, sonst würde nicht ein Apostel, sonst würde nicht Paulus, der in Rom noch fremd ist, über Berg und Thal und Meere herüberrufen und schreien und schreiben: „Laßt uns ehrbarlich wandeln, als am Tage, nicht in Freßen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid.“ Das ist ein Elend mit dem menschlichen Geschlechte, auch mit den Christen. Wie hängt uns das heidnische Wesen an, und wie schwer legen wir’s ab. Und doch muß es abgelegt werden, denn es ist ja die Nacht vergangen und der Tag herbeigekommen und das Heil der Ewigkeit näher als am Anfang. Es muß doch ein Ende nehmen mit den Werken der Nacht, denn was will’s werden, wenn wir mitten aus ihnen heraus vor Sein Angesicht gerufen werden, oder Er selbst und Sein Tag uns in nächtlichen Werken überrascht? Ach hilf doch, HErr Jesu, und laß wohl gelingen. Hosianna Dir und Deiner Macht! Laß uns doch ablegen die Werke der Nacht, und laß uns anlegen die Waffen des Lichtes.
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 Waffen des Lichtes: von den Werken der Nacht zu den Waffen des Lichts ist kein Uebergang. Wer mit den Waffen des Lichtes angethan ist, hat nicht bloß das Nachtgewand abgethan und dafür das anständige Tageskleid angezogen, sondern er trägt auch über den Kleidern die glänzende Waffenrüstung, die strahlenden Schußwaffen, und in der Hand den blinkenden blitzenden Trutz des Schwertes. Das ist ein reiner Gegensatz. Da ist nicht bloß alles nächtliche Kleid und Werk abgethan und das Gegentheil angethan, sondern eine Feindschaft gegen die Nacht ist kundbar, ein Mistrauen, daß sie wieder kommen könnte, ein Bemühen, sich gegen ihre Wiederkehr zu schützen, ein ernster Wille, gegen diese Wiederkehr zu kämpfen und zu streiten. Wenn das nicht wäre, wozu redete dann der Apostel von einer vollen Waffenrüstung, die man anziehen soll? Die, welche sich der Nacht des Heidentums und heidnischen Sündenlebens entwinden und ehrbar wandeln wollen als am Tage, müßen, bis der HErr erscheint, als Streiter stehen. Er selbst erscheint zu letzten Kämpfen und Siegen, und wer Seiner Ankunft harret, der weiß, daß er gleich Seinem HErrn zu Kampf und Schlacht bereit sein muß; er steht auf seiner Hut, so lang es währt, und traut den Teufeln nicht, die von ihm ausgetrieben sind, die gern in siebenfacher Verstärkung wiederkommen und in ihr altes Haus am liebsten wieder eindringen, wenn es gesäubert und mit Besemen gekehrt ist, wenn nicht Wacht gehalten und Widerstand geleistet wird. Da haben wir also eine weitere Belehrung des Apostels, wie man die Zeit benützen soll, die man erkannt hat! Man öffnet nicht bloß die Augen, um zu sehen, man legt nicht bloß die nächtlichen Werke ab, nein, man kleidet sich schön und waffnet sich wohl und steht immer auf seiner Hut, kampfbereit und willig, bis der HErr kommt oder doch bis zum Tode die nächtlichen Gewalten zu bekämpfen, die nicht ruhen und die, je mehr der ewige Tag sich naht, desto eifriger die kurze Zeit benützen und über die Welt hinwieder die nächtlichen Decken und Gezelte heidnischen Denkens und Lebens ausbreiten wollen. Ach, es ist dem Menschen so widerwärtig, niemals sicher, niemals laß, niemals ruhig werden zu dürfen bis ans Ende, und bis zur Wiederkunft des HErrn in den Waffen stecken und das Schwert führen zu sollen. Da weiß man das Elend dieses Lebens nicht jämmerlicher zu schildern, als mit den Worten: „Ich kann gar meines Lebens nicht mehr sicher und fröhlich werden.“ Man will des Lebens sicher sein, des irdischen Lebens, nicht des ewigen, wenigstens auf eine Weile. Man begreift nicht, daß man bei dem vollen Gefühl der Unsicherheit dieses Lebens dennoch tiefe Seelenruhe besitzen kann, sowie man des ewigen sicher ist, daß man aber des ewigen Lebens gar nicht sicher sein kann, wenn man so abgöttisch an diesem Erdenleben und dem stillen Genuße des Erdenglückes hängt. Man faßt es nicht, daß gottverlobte, dem Tage der Ewigkeit entgegenstrebende Streiter bei aller Hut und Wacht und Waffenklang nicht bloß die beste sicherste Aussicht, sondern auch hier schon innerlich den süßesten Trost genießen, weil sie von den Kräften der zukünftigen Welt zehren und durch Brod und Wein ihrer ewigen Heimath gelabt und gestärkt werden. Das faßt man nicht und so mag man sich auch nicht dazu| verstehen, in den Orden der gerüsteten Streiter Christi einzutreten und seine Zeit zu benützen. Viel lieber hört mancher ein anderes Wort unsres Textes, das auch den Gegensatz zur Nacht einhält, aber viel friedlicher und nicht so kriegerisch klingt, ich meine das edle Wort: „Ziehet an den HErrn JEsum Christ.“ Allein, meine Brüder, das ist ein großer Irrtum, wenn man dies Wort für friedlicher gegenüber allen nächtlichen Werken ansieht, als das andere von der Waffenrüstung. Wenn der Apostel zu den Römern, zu offenbaren Christen, denen er selber viel Anerkennendes und Lobendes sagt, vermahnend spricht, sie sollen Jesum Christum anziehen, so muß er das in einem anderen Sinne thun, als man etwa dieselbigen Worte einem über seine Sünde tief betrübten, mit Christo noch nicht verbundenen Heiden zurufen kann. Dem armen Heiden gegenüber bedeuten die Worte allerdings nichts anders, als: „Zieh an den HErrn Jesum Christum zur Bedeckung deiner Sünde und weil dich dein Herz verdammt und verdammen muß, so sei dir der am Kreuze Hängende anstatt aller Gerechtigkeit,“ wie das auch so Propheten wie Apostel lehren. Dagegen aber der römische Christ, der längst getaufte, hat in diesem Sinne Christum längst schon angezogen, und wenn ihm, gegenüber den nächtlichen Werken, die der Apostel nannte, die Worte zugerufen werden: „Ziehet an den HErrn Jesum,“ so ist das nicht mehr im Sinne der zugerechneten Gerechtigkeit des HErrn gesprochen, die ewigen Ruhm hat und behalten soll, sondern im Sinne der Verklärung unsres eignen Lebens in das Angesicht Jesu Christi. Es ist ein Christus, den wir als unsre Gerechtigkeit und als unsre Heiligung anziehen, aber es ist eine verschiedene Frucht, die Er uns in der Gerechtigkeit und Heiligung bringt, eine verschiedene Frucht, die wir aber nichts desto weniger dahin nehmen und uns aneignen müßen, eine wie die andere. Diese Aneignung aber, oder mit anderen Worten diese Verklärung unsrer Seele in das Angesicht Jesu ist in der Erfahrung und im Leben keineswegs eine Sache, die so gar ruhig und vergnüglich, so gar fleischlich stille und behaglich wäre. Der HErr gibt uns freilich alle Seine Gnaden, auch die der Heiligung, in großer Stille und fährt nicht mit Feuer und Schwert daher, wenn er die Seelen will heiligen und verklären; nicht Er streitet, sondern wir, wir halten Widerstand, wir haben Schäden, Gebrechen, Wunden, Striemen und Geschwüre, die auch seinerseits eine andere Thätigkeit hervorrufen, als die bloß friedlich gebende. Der HErr kann durch unsre Schuld nicht geben, ohne zu nehmen, nicht heilen, ohne weh zu thun, und es wird durch unsre Schuld aus dem Geschäfte der Heiligung ein Streit, ein Krieg, von welchem die oben gebotene Waffenrüstung und die Hut gegen das von außen nahende, aufs neue versuchende heidnische Wesen nur ein Theil ist. Weit entfernt also, daß in den Worten vom Anziehen Jesu weniger Krieg und Streit läge, als in jenen vom Anziehen der Waffen des Lichtes, schließen sie im Gegentheil mehr in sich und öffnen für den, der seine Zeit benützen will, eine weitere Bahn, weil Wachen und Kämpfen gegen den immer neuen Andrang des heidnischen bösen Wesens weitaus nicht alles einfaßt, was zur Nachfolge Jesu, zu unsrer Verklärung in Ihm, zum Anziehen Seiner Person und Seines Wesens gehört. Wie ganz im Sinne der Heiligung und Verklärung die Ermahnung zum Anziehen Jesu zu faßen ist, sieht man auch aus dem Beisatz, den sie hat, denn es heißt: „Ziehet an den HErrn Jesum Christ und wartet des Leibes, doch also, daß er nicht geil werde,“ oder „daß vor lauter Beachtung und Pflege des Leibes das Fleisch nur desto zärtlicher und lüsterner werde,“ durch lauter gute Pflege die Lüste desto mehr gehegt und gepflegt werden. Jesum anziehen ist also ein Gegensatz gegen alles weichliche, üppige, fleischliche Leibesleben. Wer Jesum anzieht, der erkennt nicht den Leib und sein Wohlsein als Absicht und Zweck des Lebens, sondern er hat höhere Ziele, denen auch der Leib unterthänig gemacht werden muß. Er sorgt schon für den Leib, aber so, daß er der Seelen Zweck nicht hindert, die Verklärung in Christi Angesicht nicht aufhält, er ordnet das ganze leibliche Leben so an, daß es dem Geiste dient, daß es bei Hut und Wacht und Kampf und Streit und Heiligung und Vorwärtsdringen zu allem Guten nicht hinderlich sei, sondern auch wo möglich förderlich.
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 Hiemit, lieben Brüder, vollendet sich die apostolische Unterweisung zur Benützung der wolerkannten Zeit. Wachen, die Nachtgeschäfte laßen, in Christi Streit gegen alle Nacht und alles Böse eintreten, den Christus, den man zur Gerechtigkeit schon in der Taufe angezogen, nun auch alle Tage zur Verklärung| und Heiligung anziehen und, wolgemerkt, den Leib nicht also halten, daß er die Seele hindre und Lüste in ihm wuchern, das heißt die Zeit benützen. – Zärtlinge, die ihr seid, Wächter eures Fleisches und des Fleisches eurer Kinder, die ihr mit der Erziehung, welche ihr euch selbst und euern Kindern gebt, nicht dem Leibe, dem ewigen Genoßen der Seele, sondern dem vergänglichen verderblichen Fleische Ehre thut und fröhnet: merkt das letzte. Wenn der Apostel von dem hohen Gedanken des Anziehens Jesu zur Misbilligung eurer leiblichen Gewöhnung und Erziehung übergeht, so ists freilich, wie wenn er von einem hohen lichten Gipfel in eine wüste Lache oder Pfütze niederführe; aber der Uebergang ist ganz recht, seine praktische Weisheit erfordert ihn. Es wird bei vielen Römern gewesen sein, wie bei euch, bei manchen unter euch, daß über dem üppigen fleischlichen Leben des Leibes alle Fähigkeit und alle Kraft verloren geht, die vergängliche Zeit zu benützen und auszubeuten. Wie sollen die, die ihre Glieder der Sünden nicht tödten, die im Waßerbade dargestellten Glieder des neuen Menschen waffnen mit der Waffenrüstung Christi und stählen, die steile Bahn der Heiligung zu gehn? Das bedenket und laßt euch also doch den Schluß des Apostels in unsrem Texte und den letzten Theil seiner Ermahnung zur Benützung eurer Zeit gefallen.


III.
 Zwei Theile dieses meines Vortrags sind geschloßen: ein kürzerer, ein längerer; einen dritten schließ ich an, einen kürzeren, denk ich, den ich aber mit Nerv und Kraft, wenn ich es nur könnte, versehen möchte. Indem ich ihn einleite, habe ich euch etwas zu erzählen. Ich halte es eigentlich nicht für in der Ordnung, in der Predigt zu erzählen, was nicht in der Bibel steht, so ein großer Ernst es mir mit aller Geschichte und auch mit manchen Geschichten ist; aber eine Ausnahme hat am Ende jede Regel, und ich bitt euch, einmal eine Ausnahme machen zu dürfen. Die Geschichte, von der ich rede, hat sich im Jahr 386 zu Mailand mit einem Menschen zugetragen, mit einem Afrikaner, zu Tagaste geboren, dem es in seiner Jugend gewis niemand ansah und anmerkte, daß er am Himmel der Kirche als Hirte und Lehrer viele Jahrhunderte hindurch, und wol bis ans Ende der Tage als einer der hellesten Sterne glänzen würde. Sein Name heißt, euch allen wolbekannt, Augustinus, und ihr wißt, oder könnt wenigstens wißen, daß er als Bischof von Hippo-Regius in Afrika gestorben ist. Seine Mutter hat ihn gleich nach seiner Geburt unter die Katechumenen aufnehmen laßen, aber getauft wurde er nicht. Als er heranwuchs, fieng er an zu studieren, wozu er ausgezeichnete Gaben von Natur empfangen hatte. Auf dem Wege seines Studiums kam er in allerlei schwere Irrtümer und auf jammervolle Abwege des Wißens und Erkennens. Aber nicht das allein. Er fiel in ein luxuriöses fleischliches Leben und lüderliches Wesen, so daß er auch einen unehelichen Sohn erzeugte. Er selbst hat ein Buch unter dem Titel „Bekenntnisse“ geschrieben, darinnen er in der demüthigsten und zugleich würdigsten Weise seine Verirrungen und Sünden bekennt, und der ganzen Nachwelt ein Beispiel heiligen Beichtens gibt. Von den Irrtümern seiner Erkenntnis kam er allmählig zurück, Gott erhörte die Gebete und Thränen seiner heiligen Mutter Monika und brachte ihn nach Mailand zu den Predigten des großen Kirchenlehrers Ambrosius, die auch einen Geist voll Tiefe und Reichtums der Gaben, wie er in Augustinus war, überwältigen konnten. Dazu gerieth er auf das Studium der Briefe des Lehrers der Heiden, des Apostels Paulus. Sein Geist wurde überzeugt, aber das Joch des fleischlichen Wesens und der Wollust vermochte er nicht abzulegen. Er hatte einen Freund, den er liebte, wie sein anderes Ich, Alypius mit Namen, einen Afrikaner und Landsmann, von mehr weiblicher Seele, vermöge welcher derselbe den ganzen Gang Augustins in unwandelbarer Treue verfolgte und mitmachte. Mit dem gemeinschaftlich rang er nach Frieden von seinen Lüsten und nach der Macht des heil. Geistes, ein Kind Gottes zu werden. In der Zeit des innersten Kampfes erzählte beiden ein Freund, der sie besuchte und Christ war, wie zufällig das Leben eines Helden in der Weltentsagung, des wahrhaft großen und heiligen Einsiedlers Antonius. Wie schämten sie sich diesem Lebenslaufe gegenüber ihres eigenen Lebenslaufes voller Weltlust und Fleischessünden, wie rangen sie nach Freiheit. In diesem Kampfe giengen sie mit einander in den Garten, der an ihrer Wohnung lag und da riß sich Augustinus los und warf sich voll Kampf und Jammer| unter einen Feigenbaum, voll Thränen und Sehnsucht, und seine ganze Seele rief nach Vergebung der Sünden und Freiheit. Da hörte er auf einmal eine singende Stimme, so wie die Knaben und Mädchen Psalmen recitativ zu singen pflegten, die rief ihm zu und wiederholte immer: „Nimm und lies, nimm und lies.“ Da er nun in der Geschichte des heiligen Antonius auch etwas von einer solchen himmlischen Stimme gehört hatte, so merkte er, daß auch ihm eine himmlische Stimme zurief, er sprang auf, gieng zu seinem Freunde Alypius, bei dessen Sitze er die Briefe Pauli hatte liegen laßen. Er nahm das Buch, griff hinein, um zu lesen, wo ers träfe, und was kam ihm da in seine Finger, was las er? Er traf und las den Schluß der heutigen Adventsepistel Röm. 13, 13. 14: „Laßet uns ehrbarlich wandeln, als am Tage, nicht in Freßen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid; sondern ziehet an den HErrn Jesum Christ, und wartet des Leibes, doch also, daß er nicht geil werde.“ Augustinus war später kein Freund jenes frevlen Beginnens, da man in allen möglichen Fällen des Lebens dem schweigsamen HErrn im Himmel dadurch eine direkte Antwort und Anleitung abzugewinnen sucht, daß man die Schrift notzüchtigt, in die Bibel greift und die nächste beste Stelle als göttliches Orakel behandelt, aber im Garten zu Mailand, da war es etwas anderes, das „Nimm und lies,“ hatte ihn ermächtigt, und der Erfolg bewies es, daß er recht gethan. „Ich wollte nicht weiter lesen und brauchte es auch nicht,“ schreibt er selbst, „denn mit jenen Versen drang ein klares Licht in meine Seele, das mich fest und sicher machte meines Weges, alle Finsternisse meines zwiegespaltnen Herzens und meiner Unentschloßenheit flohen dahin.“ – So wirkte der Posaunenton der heutigen Epistel auf Augustinus, der noch ein ungetaufter Heide war; eine solche Kraft lag und liegt in den Worten des heiligen Apostels, daß sie, obwol St. Paulus selber schon viele Jahrhunderte entschlafen ist, dennoch lebendig und mächtig in die Seelen dringen, und die Ketten der Heiden sprengen können, mit denen sie der Teufel an die Werke der Nacht gebunden hält. Ungetaufte Heiden erfahren solches. Die Römer aber, an welche der Brief geschrieben ist, aus dem St. Augustinus und wir heute gelesen haben, sind getauft und gläubig, daß, wie man Kapitel 1, 8 liest, ihr Glaube in der ganzen Welt verkündigt und besprochen wird, und dennoch muß man ihnen schreiben: Die Zeit sei da, vom Schlafe aufzustehen, die finsteren Werke, die Eß- und Trinkgelage, die frevlen Unzuchtssünden sammt Neid und Haß aufzugeben, und die Waffen des Lichtes anzuziehen. Man kann also nicht blos ein Mitglied der Gemeinde von Neuendettelsau sein, nicht blos einen armen Pfarrer des 19ten Jahrhunderts Jahre lang predigen hören, in der Gemeinschaft einer armen versunkenen Gemeinde dieser Zeit zu Gottes Tische gehen, und fort und fort in all den abscheulichen verdammten Fleischessünden leben, von denen der Apostel schreibt. Nein, man kann ein Römer sein, ein Römer der ersten Zeit, ein Genoße jener Männer, deren Namen im 16. Kapitel des Briefes Pauli aufgeschrieben stehen. Man kann ein Glied der berühmtesten Gemeinde der Welt mitten im Strome des heiligen Geistes und einer wunderbar gesegneten Gemeinschaft sein, und noch mit den heillosen Sünden kämpfen, welche der Heide Augustinus durch die Kraft der apostolischen Worte noch vor seiner Taufe überwand. O HErr GOtt, da stehe ich, und lese nun schon zum einundzwanzigsten Male unter euch die Epistel, die St. Augustinum und am Ende vielleicht auch die Römer befreite von ihren Fleischesketten. Wie ein Mann mit einem Brecheisen steht und Steine losmachen will, einen Bau zerstören, so stehe ich und bewege den gewaltigen, mächtigen, göttlichen Hebel der heutigen Epistel schon 21 Jahre lang, und kann den Bau des Teufels und die Sünden eurer Seelen nicht zerstören, welche der Apostel straft! Was ist denn das, daß mir der gewaltige Hebel, die eiserne mächtige Brechstange hier zu einer puren Nadel oder einem Federmeßer verkehrt wird, damit man keine Steine bricht! An welchem Stein wird mir denn all meine Mühe zu Schanden, und schier mein heiliges Gotteswort? Ich wills euch sagen, daß euch die Ohren gellen: der Stein, der stärker scheint, als Gottes Wort, ist eurer Seelen Trägheit; und der schwere Schlaf, der euch betrügt am späten Morgen, als wäre die Stunde noch nicht vorhanden aufzustehen.
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 Man predigt so viel gegen die Lüste, gegen die wirklichen Lüste, gegen die Erblust; aber man sollte die Trägheit, die selbst ein Teil der Erbsünde und nicht der kleinste von ihr ist, öfter, anhaltender und| mächtiger angreifen, als man thut. Wäre die angeborne Trägheit nicht, hienge sie sich nicht an unsre Füße bis an’s Grab, könnten wir ihre Bleigewichte von uns werfen: es stünde alles anders. Diese faule, todte, nächtliche Königin, diese betrübte Herrscherin, die mit Centnersteinen alle unsre Kräfte niederzieht und unsern Geist, der ein Vogel ist, nicht auffahren läßt in die ewigen Höhen: die ist es, welche das Machtwort der Apostel und ihres Christus verhöhnt und das Reich des Teufels und aller finstern Werke hütet. Was kümmert sich diese Königin darum, daß die Nacht vergangen ist, der Morgen weht, der Tag herbei kommt, und das Heil der Wiederkunft Christi näher rückt! Sie, die Trägheit, hemmt den Gang derer, die da leben, legt sich über die Krankenbetten der Kranken und über die Sterbelager der Sterbenden und gönnt keiner Seele Erhebung und Flug zu der ewigen Heimath. Ihr fürchterliches düstres Reich lacht aller Arbeit, ruht schwer und sicher über den Landen und Herzen, bis der HErr kommt, der sie in den Abgrund versenken und sie ewiglich überwältigen wird.

 Ach meine Trägheit, meine Schmach! Ach, eure Trägheit, eure Ketten! Ach das Geheimnis so langer Sündenknechtschaft, diese Trägheit! Ach, dieser Grabstein ohne gleichen, der keine Auferstehung zuläßt! Ach und weh über unsre Trägheit, wehe im alten, wehe im neuen Kirchenjahr! Brüder, lieben Brüder, liebe Schwestern, es ist schrecklich mit der Macht der Trägheit, es ist alles wahr, was ich gesagt habe. Aber der HErr will ja doch nicht, daß wir in Trägheit untergehen. Es gibt ja doch eine Möglichkeit, von ihrer Last und Wucht frei zu werden, und sich unter ihrem Drucke hervorzuarbeiten. Wir sind doch getauft, dazu gespeist mit Gottes Wort und Leib und Blut. Es ist doch ein göttliches Leben in uns, ja es ist Christus in uns, und wenn wir uns dessen erinnern, dessen bewußt werden, und in der Angst unsrer niedergedrückten, schwerbeladnen Seele dies Leben und unsern HErrn Christus anziehen, mit Gebet und Flehen nach Seiner Aehnlichkeit ringen, so wird und muß ja doch geschehen, was geschrieben steht: „Wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe.“ Es müßen sich doch unsre Kräfte mehren, wenn unser neuer Wille Gottes dargebotne Kräfte anzieht. Es muß ja doch ein Genesen, ein Leben möglich sein für die Kinder des Lebens, denen Gott mit Wort und Sacrament nachgeht. Er höhnt mit dem Antrag Seiner Hülfe und Seiner Gnade die armen Seelen nicht. Nein, nein, Er hilft, Er ist der Helfer vor den Thüren, von dem man am Advent ruft und singt: „O sehet auf, ihr habet die Hülfe, vor der Thür.“ Trägheit ist Tod und Christus ist doch das Leben. Der Tod ist furchtbar mächtig, aber allmächtig bist Du, HErr, und der Du in uns die Sehnsucht, das Verlangen eines neuen Lebens und seliger Benützung unsrer Zeit gewirkt hast. Du kannst und willst auch das Vollbringen geben. Heiliger HErre Gott, heiliger starker Gott, heiliger allmächtiger Heiland, Du ewiger Gott, laß uns nicht versinken – in der schweren Noth der Trägheit, sondern laß in uns Dein Leben siegen! Amen.


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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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