Gründliche und allgemein faßliche Darlegung der Glaubenslehre der evangelisch-lutherischen Kirche/10. Kapitel

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Gründliche und allgemein faßliche Darlegung der Glaubenslehre der evangelisch-lutherischen Kirche
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Das zehnte Kapitel.
Aus der Erbsünde entspringt der zeitliche Tod, die Verderbung aller Kräfte, die wirkliche Sünde, und vor dem göttlichen Gericht großer Ungehorsam und ewige Verdammniß.

 194. Wenn gefragt wird, was für Früchte die Erbsünde getragen habe? so ist auf zweierlei zu sehen: Einmal auf den Menschen, welcher gesündigt hat, hernach auf Gottes Gericht, welches die Sünde zu strafen hat. Von Gottes Gericht soll im folgenden Kapitel gehandelt werden. So viel den Menschen betrifft, sind dreierlei Früchte, welche von der Erbsünde herkommen, nämlich der zeitliche oder leibliche Tod, die Verderbung aller Kräfte und die wirkliche Sünde.

 195. Die erste Frucht ist der zeitliche oder leibliche Tod. Gott hatte den Menschen bedrohet, daß er, wenn er von dem verbotenen Baume essen| würde, des Todes sterben würde, 1 Mos. 2, 17.; nachdem der Mensch nun gesündigt hatte, kündigte Gott ihm dieß Urtheil an: „Du bist Erden, und sollst zur Erden werden,“ Cap. 3, 19. Obwohl Adam und Eva nicht denselben Tag, da sie gesündigt hatten, gestorben sind, sind sie doch alsbald dem Tode unterworfen und sterblich geworden. Also ist die Sterblichkeit und hernach der Tod zugleich mit der Sünde über alle Menschen gekommen, Sirach 25, 32. Röm. 5, 12. 6, 23. Wie nun der Mensch ist unsterblich erschaffen worden, so ist er durch die Sünde sterblich und dem Tode unterworfen worden.

 196. Die andere Frucht ist die Verderbung aller Kräfte. Zweierlei Kräfte sind in dem Menschen: solche, die der menschlichen Natur allein zustehen, und solche, die dem Menschen mit den unvernünftigen Thieren oder Creaturen gemein sind. Die eigenen Kräfte des Menschen sind 1) der Verstand und 2) der Wille.

 197. Der Verstand ist eine natürliche Kraft, dasjenige zu vernehmen und auszudenken, was unvernünftige Thiere mit allen Sinnen nicht zu erreichen, zu vernehmen, noch auszudenken vermögen. Ob nun wohl diese Kraft der menschlichen Seele nach dem Sündenfall geblieben ist, so daß auch die, welche in Sünden geboren sind, vernünftig und verständig sind, und damit die andern sichtbaren Creaturen übertreffen, so ist doch der Verstand dermassen verfinstert, daß er dasjenige, was göttlich ist, von Gott, seinem Wesen, Willen und Werken gelehrt wird, sich nicht einbilden kann; und obwohl er vernimmt, was damit gemeint sei,| vermag er es doch nicht, für sich selbst also zu fassen und zu begreifen, daß er es für wahrhaftig halte und ihm Glauben schenke, daß gewißlich also sey, wie er höret, daß gelehrt werde.

 198. Zum Exempel: Wenn ein Mensch höret, Christus sei von einer Jungfrau, ohne Verletzung ihrer Jungfrauschaft geboren, vernimmt er zwar, was damit gemeint sei, er spricht aber, das kann ich nicht verstehen, noch mit meiner Vernunft begreifen, gleichwie die Jungfrau Maria diese Verkündigung des Engels nicht verstand; denn ob sie schon vernahm, was die Meinung seiner Rede wäre und was ihr der Engel ankündigen wollte, so konnte sie doch nicht einsehen, wie das, was er sagte, wahr sein könne, und sprach darum zu ihm: „Wie soll das zugehen, sintemal ich von keinem Manne weiß?“ Luc. 1, 34.

 Als der Herr Christus Luc. 18, 31. ff. seinen Jüngern verkündigte, er würde leiden, sterben und auferstehen, verstanden sie zwar die Worte und Meinung; weil sie aber glaubten, dieses mit ihren Gedanken nicht zusammen reimen zu können, wird gemeldet, daß sie es nicht verstanden hätten, V. 34. „Sie vernahmen der keines, die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was das gesaget war.“

 Gleich also verhält’s sich’s mit unserer Vernunft in andern göttlichen Geheimnissen, daß sie ganz ungeschickt ist, diesen Glauben zu schenken.

 199. Ob nun dieß gleich aus der Erfahrung ganz gewiß ist, so wird es doch zum Ueberfluß noch also bewiesen:

 a. weil von dem Menschen, wie er seiner Natur nach ist, gesagt wird, er| verstehe nicht, was da geistlich ist, 1 Cor. 2, 14. „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes, es ist ihm eine Thorheit, und kann es nicht erkennen;“

 200. b. weil das Geistliche der Vernunft eine Thorheit ist, 1 Cor. 1, 18. „Das Wort vom Kreuz Christi ist eine Thorheit denen, die verloren werden.“ V. 21. „Dieweil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch thörigte Predigt selig zu machen die, so daran glauben;“ V. 23. „Wir predigen den gekreuzigten Christum, den Juden ein Aergerniß, und den Griechen eine Thorheit.“ Cap. 3, 18. „Welcher sich unter euch dünket, weise zu sein, der werde ein Narr in dieser Welt, daß er möge weise sein;“

 201. c. weil das Geistliche dem natürlichen Menschen eine Feindschaft ist. Röm. 8, 7. „Fleischlich gesinnt sein, ist eine Feindschaft wider Gott;“

 202. d. weil alle geistlichen Werke, die der Verstand des Menschen verrichten kann, Gott zugeschrieben werden. 2 Cor. 3, 5. „Wir sind nicht tüchtig, von uns selber etwas zu denken, als von uns selber, sondern daß wir tüchtig sind, ist von Gott.“ Philipp. 1, 6. „Der das gute Werk in euch angefangen hat, der wird’s auch vollenden.“ (Hievon mehr, wenn von des Menschen Bekehrung gehandelt werden wird.)

 203. Was den Willen anlanget, so ist derselbe nicht weniger, als der Verstand, verderbt; denn

 a. er ist zur Sünde und zu allem Bösen ganz geneigt, daß er nichts Gutes thun und des Bösen sich nicht erwehren kann,| 1 Mos. 6, 5. „Alles Tichten und Trachten der Menschen Herzen ist nur böse immerdar,“ Sprüchw. Sal. 22, 15. „Thorheit stecket dem Knaben im Herzen.“ Ja, der Wille ist unter die Sünde gefangen, Röm. 7, 14. „Wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist, ich bin aber fleischlich unter die Sünde verkauft,“ V. 19. „Das Gute, das ich will, das thue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das thue ich.“ V. 23. „Ich sehe ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetze in meinem Gemüthe, und nimmt mich gefangen in der Sünden Gesetz.“ Galat. 5,17. „Das Fleisch gelüstet wider den Geist, und der Geist wider das Fleisch; dieselben sind wider einander, daß ihr nicht thut, was ihr wollt;“

 204. b. er kann dem göttlichen Willen nicht Gehorsam leisten. Die Engel, weil sie ohne Sünde sind, können aus freiem Willen dienen, als die von keiner bösen Neigung oder argen Lust davon gereitzet oder abgelenket werden. Da aber der Mensch dieses nicht vermag, so sagt man mit Recht, daß er seinen freien Willen, Gott zu Gehorsam zu leben, durch die Sünde verloren habe.

 205. Wie nun eines Gefangenen Wille nicht frei ist, zu thun und zu lassen, was ihm gefällt, und auch dessen Wille nicht frei ist, der nicht thun kann, was er gern thun wollte, so ist auch des Menschen Wille von Natur nicht frei, weil er unter die Sünde gefangen ist, und wegen der sündlichen Lüste, die in eines Jeden Herzen aufsteigen, nicht thun kann, was er schon gerne thun wollte. Hier mag ein Jeder in sein eigen Gewissen gehen und auf seine eigne Erfahrung merken, so wird er finden, daß ihm, wenn er gern etwas| Gutes thun wollte, (es sei beten, göttliche Geheimnisse und Werke betrachten, oder andere Werke der Gottseligkeit üben) ein fremder, auch wohl widerwärtiger Gedanke komme; dann, daß er eine Müdigkeit darüber empfinde und ihm ein langes Beten und andere gottselige Werke etwas Verdruß bringen. Findet er’s also bei sich, so hat er an ihm selber einen lebendigen Zeugen, daß sein Wille in geistlichen und gottseligen Werken vielfältig verhindert werde, und demnach nicht frei sei, das Gute zu thun und das Böse zu unterlassen.

 206. Mit andern Thieren hat der Mensch gemein die Sinne, Appetit oder Begierden sammt seinen Affecten, und dann die Bewegung. Mit andern Geschöpfen hat er gemein die Kräfte, die zur Nahrung und Fortpflanzung des Geschlechts gehören, in welchen allen sich großes Verderben befindet. Denn Augen und Ohren sind zur Bosheit, zu schädlichen und schändlichen Dingen, mit welchen man sich erlustiget, geneigt, da hingegen bei ihnen eine besondere Unlust und Verdruß an dem ist, was ehrbar, gut und nützlich ist; wie offenbar ist, daß man mit Lust einem Gauckelspiel, von dem doch kein Nutzen geschöpft, sondern allein Leichtfertigkeit und Bosheit gelernt wird, einen ganzen Tag zusieht; daß man aber eine nützliche und zur ewigen Wohlfahrt erbauliche Predigt zu hören, bald einschläft, oder ihrer zum wenigsten müde und überdrüßig wird.

 207. So ist’s auch mit allen Lüsten und Affecten; Jeder wird in Zorn, in Liebe, in Begierden nach Reichthum u. s. w. die Erbsünde, d. i. die natürliche Unart und das natürliche Verderben mehr, als ihm lieb sein mag, verspüren.

|  208. Was aber die Schrift von dem überaus großen Verderben unsrer Natur und ihrer Kräfte redet, ist Alles aus dem bisher Angedeuteten wohl zu vernehmen.

 Endlich und drittens ist (nach §. 194.) auch die wirkliche Sünde eine Frucht der Erbsünde, und zwar eine der vornehmsten Früchte, die aus der Erbsünde herkommen. Davon im folgenden Kapitel.





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