Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers/Im zerstörten Longwy
← Auf dem Schlachtfelde von Fillières | Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers von Karl Müller |
Schonung von Kunstschätzen im Kriege → |
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext. |
Während sich in den Tagen vom 22. bis 26. August die fünfte deutsche Armee durch die siegreichen Schlachten von Longwy und Longuyon die Tore nach der Woevre und an die Maas öffnete, wurde die Artillerie eines Armeekorps nebst einer starken Infanterie-Abteilung mit der Beschießung [84] und Eroberung der Stadt und Festung Longwy beauftragt, die hart an der belgischen Grenze auf einer das Tal des Chiers beherrschenden, sich um hundertundzwanzig Meter über die Talsohle erhebenden felsigen Höhe liegt. Zum vierten Male im Zeitraume von hundertzweiundzwanzig Jahren ist das Felsennest erobert worden: 1792 von den Preußen vor dem Treffen von Valmy, das dem Feldzuge die für die Truppen der jungen französischen Republik günstige Wendung gab, 1815 von den Alliierten nach einem Bombardement von acht Tagen, 1870 von den Deutschen nach längerer Belagerung und tapferer Gegenwehr der Franzosen und nun abermals in den letzten Augusttagen 1914 nach einer Beschießung, die zweieinhalb Tage dauerte.
Der untere, offene und industriereiche Stadtteil, Longwy-Bas genannt, zeigt nur wenige Spuren des Kampfes. Bloß die Brücke über den Chiers und einige in der Nähe stehende Häuser wurden beschädigt oder zerstört. Die Brücke war bei unserm Besuch längst so wiederhergestellt, daß der Verkehr ungehemmt darüber gehen konnte. Die Oberstadt Longwy-Haut dagegen ist durch die deutsche Beschießung buchstäblich in einen Trümmerhaufen verwandelt worden. Die deutsche Gründlichkeit hat hier gleich zu Anfang des Feldzuges in Frankreich ein Werk vollbracht, das fast wie ein gewolltes warnendes Beispiel den Beweis vorlegte, daß die Mauer- und Erdwerke der veralteten Festungen an der französisch- [85] belgischen Grenze den modernen Geschützen nicht mehr standzuhalten vermögen. Ober- und Unter-Longwy zählten vor dem Kriege zusammen eine Bevölkerung von neun- bis zehntausend Seelen, von denen etwa dreitausend auf die Zitadellen- und Soldatenstadt Longwy-Haut entfielen. Der Bau der Festung Longwy wurde 1678 nach dem System Vauban begonnen. Über dem südlichen, fast unbeschädigten äußeren Stadttore stehen die Jahreszahlen 1683 — R 1859, die sagen, daß der Festungsbau im Jahre 1683 beendigt und im Jahre 1859 gründlich erneuert worden ist. Nach dem Deutsch-Französischen Kriege wurden die Festungswerke abermals wiederhergestellt. Auch eine Wasserversorgung wurde eingerichtet, die Überbleibsel des Wasserturms tragen die Jahrzahl 1876. Der Stadtkern, dessen Straßenzüge rechtwinklig angelegt waren, hatte einen Durchmesser von etwa dreihundert Metern und war von einer zweifachen, an einzelnen Stellen von einer dreifachen Umwallung mit gemauerten Wallgräben und vorgeschobenen Bastionen umgeben. Die vorspringenden Bastionen waren mit drei, die einspringenden Ecken und die zwischen den Bastionen liegenden Wälle mit zwei Gräben versehen. Je ein Paar von inneren und äußeren Toren, die unter sich und mit der Außenwelt durch Zugbrücken verbunden waren, schloß die Stadteingänge zu der in süd-nördlicher Richtung angelegten Hauptstraße, der Grande Rue ab. Alles in allem eine recht altertümlich anmutende Festung. [86] Das war einmal. Mit alledem hat die deutsche Beschießung eine Abrechnung gehalten, die wohl Longwy als Festung für immer aus der Geschichte streichen wird. Von der Oberstadt und Zitadelle sind heute nur noch Ruinen und einige Wälle, Tore und Bastionen übrig, in denen ein starkes deutsches Landsturm-Wachtkommando haust.
Die Deutschen verzichteten bei ihrem Angriff auf eine Einschließung der Festung. Außer der gesamten leichten Feldartillerie eines Armeekorps kamen zwei schwere Feldbatterien, je eine 21 Zentimeter-Mörser- und eine 15 Zentimeter-Haubitz-Batterie, jedoch weder ein 42 Zentimeter-Brummer, noch eine österreichische 30,5 Zentimeter-Haubitzbatterie zur Verwendung. Halbkreisförmig wurden die Batterien gegen die Nordfront der Festung, die sturmreif gemacht werden sollte, aufgestellt, die leichten in einer Entfernung von fünf bis fünfeinhalb Kilometern, die schweren auf sieben bis neun Kilometer Entfernung. Die Infanterie biwakierte vor den Artilleriestellungen, gedeckt in den bis auf zwei Kilometer bis an die Nordfront heranreichenden Wäldern. Nach einer sechzigstündigen Beschießung waren die äußeren und inneren Wälle und Grabenmauern der Nordfront so zerschossen und zermürbt, daß für den Infanterieangriff regelrechte Sturmgassen geschossen waren. Die im Vorgelände und in den Grabensohlen angelegten Drahtverhaue waren vom Granatfeuer niedergelegt, zerrissen und für Infanterie ebenfalls gangbar gemacht; die Stadt — [87] deren Bewohner übrigens vor Beginn der Beschießung, ausgenommen eine Anzahl Wirte und Epiciers, ausgezogen waren — in einen Schutthaufen verwandelt; die Festungsartillerie großenteils zum Schweigen gebracht, die in den Kasematten untergebrachte Infanterie moralisch erschüttert — schon waren mehrere Gewölbe der Hohlräume von den Granaten der schweren Geschütze durchgeschlagen, ihre Insassen lagen von Granatsplittern erschlagen oder lebendig begraben unter zersprengtem Gemäuer und dem nachstürzenden Erdreich, das die Gewölbe bedeckt hatte. Der übrigen Besatzung drohte das gleiche Schicksal. Die militärische Ehre der Besatzung war durch den zweieinhalbtägigen, unter dem Grauen des Todes geleisteten tapferen Widerstand gerettet, ein Ausfall oder weitere Gegenwehr mußte zu einem zweck- und nutzlosen Blutbad führen, denn die Festung war sturmreif, ihre Sturmfreiheit gebrochen. Als daher die deutsche Infanterie zum Sturme antrat, hißte der Festungskommandant die weiße Flagge und übergab sich mit Festung und Besatzung. In ritterlicher Anerkennung seiner Haltung wurde er von dem deutschen Sieger mit der größten Hochachtung behandelt und durfte seinen Degen behalten. Von der Besatzung waren dreihundert Mann tot oder verwundet, dreitausend fielen unverwundet in deutsche Gefangenschaft. [88] Über zwei Monate sind verflossen seit der Übergabe von Longwy, das ich dreimal besucht und besichtigt habe, um mir einen vollständigen Einblick in die Wirkungen des deutschen Granatfeuers zu verschaffen.
In Longwy-Bas weht die schwarz-weiß-rote Flagge über dem deutschen Kommandanturgebäude, an dessen Mauer ein in Maschinenschrift geschriebener Anschlag mit dem Datum des Tages der Besetzung zu lesen ist, dessen Anfang lautet:
Le commandant des troupes allemands vous fait connaître que la vie et les biens des habitants seront absolument respectés par les troupes allemands. Au cas que la population se montre hostile, je rendrai responsable la population entière ...
Die deutliche Sprache der Bekanntmachung scheint hier ihre Wirkung getan zu haben, das Städtchen ist, wie oben erwähnt, ziemlich unversehrt, im Gegensatz zu vielen Dörfern dieser Gegend, die im deutschen und französischen Granatfeuer des Ortsgefechtes oder in den rächenden Flammen wegen Beteiligung der Bewohner am Kampfe ganz oder teilweise untergegangen sind, so Murville, Haucourt, Audun-le-Roman.
Auf der in mehreren Schlingen ansteigenden Straße erreicht man die eine starke Viertelstunde [89] oberhalb Longwy-Bas auf ihrem Felsenkern thronende Festungsstadt. Der Verkehr auf der die beiden Stadtteile verbindenden Straßenbahn ist selbstverständlich eingestellt. Am südlichen, fast unbeschädigten Stadttor weise ich den Erlaubnisschein zum Betreten der zerstörten Festung vor und erhalte Einlaß mit der ausdrücklichen Bemerkung: auf eigene Rechnung und Gefahr. Denn das Herumwandern in dem Wirrsal von Ruinen und in den Kasematten, deren Gewölbe durchgeschlagen sind, verlangt Vorsicht. Die zerbogenen Schienen der Straßenbahn und ein großes kreisrundes Loch vor dem Stadteingang geben einen Vorgeschmack von der Gewalt der einschlagenden Granaten. Am Tore, das den Namen Porte de France trug, steht jetzt eine Tafel mit der Aufschrift: Deutsches Tor. Unter dem Torbogen sind noch verschiedene Bekanntmachungen angeschlagen, unter anderen eine, die in großen Lettern ankündigte: Ville de Longwy, Théâtre de ville. Samedi 4 juillet. Tournée Karrenbauer: Brevannes. Wir überschreiten den neueren Wallgraben auf der Zugbrücke und überblicken, nachdem wir auch den Bogen des inneren Tores durchschritten haben, mit einem Male die unbeschreibliche Verwüstung. Der deutsche Offizier, in dessen Begleitung ich einen meiner Besuche auf dem Trümmerfelde machte, versichert mir, daß das Bild im kleinen genau dem von Messina nach seiner Zerstörung durch das große Erdbeben gleiche, dessen Schauplatz er kurz nach [90] der Katastrophe besucht habe. Die Mitte der Hauptstraße und der wichtigeren Nebenstraßen, von denen die eine nach dem Straßenschild den Namen Rue d’Alsace trägt, sind von deutschen Soldaten und unter ihrer Aufsicht stehenden einheimischen Arbeitern aufgeräumt worden, so daß sie jetzt bequem zu durchschreiten sind. Von vielen Häusern ist kein Stein auf dem andern geblieben. Da die deutsche Beschießung sich konzentrisch gegen die Nordfront der Stadt und Festung richtete, ist im südlichen Stadtteil verhältnismäßig die Zerstörung noch am geringsten. Von der Kaserne, vor der mächtige Haufen Granaten und alte Rundgeschosse größeren und kleineren Kalibers (alte Bomben und Handgranaten?) in regelmäßigen Haufen aufgeschichtet liegen, und von dem Gebäude der Festungsverwaltung stehen noch die Umfassungmauern. Das Verwaltungsgebäude trägt die unversehrte Aufschrift: Manutention militaire. Davor sind eine Menge Mehlkasten aufgeschichtet. Auf den Plätzen stehen halbzertrümmerte Fuhrwerke aller Art, darunter auch ein von einer Granate getroffener Kraftwagen, zu einem Park zusammengestellt. Ein noch einigermaßen erhaltenes Gebäude ist als Hôpital bezeichnet, und der Karbolgeruch in seiner Umgebung bekundet seine Zweckbestimmung. In der schönen, im Rokokostil erbauten Kirche, auf deren stark beschädigtem Turme jetzt eine deutsche Fahne flattert, hängen an den Wänden einige schöne Gemälde, in den Nischen stehen die Altäre, Heiligenbilder [91] und -Statuen noch ziemlich unbeschädigt. Aber die Glasgemälde des Chores sind zersplittert, das Gewölbe zeigt große Breschen von eingeschlagenen Granaten, der Fußboden ist mit Trümmern des heruntergestürzten Gewölbes bedeckt, und durch die Decke leuchtet der blaue Himmel. — Am Rathaus, dem , ist die Hauptfassade mit schönen Reliefs in der Giebelfläche und den drei mit Säulen geschmückten Eingangspforten noch erhalten; aber durch die hohen Fenster schaut das Grauen. Im Erdgeschoß sind in einem Raume noch Regale und Büchergestelle sichtbar. Vermutlich sind die Archive noch rechtzeitig ausgeräumt worden. Im Erdgeschoß eines Privathauses, des einzigen, das nicht in Grund und Boden geschossen ist, sind noch einige Bücher, Stühle und andere Möbel stehen geblieben, darunter auch ein beschädigtes Klavier, dessen Saiten meinem Anschlag mit einigen wimmernden Klagetönen antworten.
In dem greulichen Wirrsal sind schon die Zeichen des deutschen Ordnungssinns sichtbar. Der Wanderer wird zurechtgeleitet durch Wegweiser mit Inschriften, wie: Nach Bastion 3 — Nach der Hauptstraße. An Stelle der zusammengeschossenen Zugbrücken sind hölzerne Notbrücken errichtet; hölzerne Treppen führen von den zerfetzten Wällen in die Gräben hinunter.
Ich betrete nun beim Nordtor das Vorgelände, das auffallend wenig Flurschaden zeigt, [92] ein Zeugnis für die Genauigkeit des deutschen Geschützfeuers. Vor dem äußeren Nordtore stehen noch einige französische Geschütze mit zerstörten Ziel- und Verschlußvorrichtungen. Die meisten sind schon weggeführt. Die zerrissenen Drahtverhaue bilden kein Hindernis mehr für die Infanterie. In den Gräben aber gilt es Vorsicht zu üben. Noch sind nicht alle Minen gefunden und unschädlich gemacht. Auf Wall und Graben liegt hie und da eine Granate mit dem Zünder. Aber die vielen gewaltigen Trichter im Umfang von mehreren Metern und die ringsherum im Kreise zerstreuten zahlreichen großen und kleinen Granatsplitter beweisen, daß die Blindgänger nicht häufig waren. Die Schanzen der westlichen und östlichen Flanken der Festung weisen, im Gegensatz zur Nordfront, nur wenige Breschen von Fehlschüssen auf. Die in Eisenbeton errichteten Geschützstände auf den Wällen sind vernichtet. Hier hat manch braver Kanonier sein Leben gelassen. Die Brustwehren sind abgestuft.
Nun in die Kasematten! Ein Modergeruch wie von Blut und Leichen dringt aus den dunkeln Hohlräumen. Die Lichtgänge, die den unterirdischen Lagerräumen der Besatzung eine spärliche Beleuchtung gaben, sind mit herabgestürzter Erde und Gerümpel aller Art angefüllt, so daß man nur mit Mühe einen Weg findet. Alle möglichen Ausrüstungs- und Bekleidungsgegenstände liegen herum. Ein kleiner Raum ist als Infirmerie bezeichnet. Nach Formular bedruckte [93] Verwundeten-Kärtchen liegen herum. Ein anderer, noch kleinerer Raum muß der Operationssaal gewesen sein. Ein primitiver Operationstisch, eine Badewanne, fließendes Wasser, ein Kohlenofen sind noch darin vorhanden. Vom Boden aus der schmutzigen feuchten Erde hebe ich den Deckel einer Operationsinstrumenten-Tasche und ein Buch auf: es ist das Règlement sur le service de santé de l'armée à l'Intérieur, gedruckt in Paris in der Librairie militaire Chapelot et Co. 1902. Ein Band von 566 Seiten Groß-Oktav! Auf der Umschlagdecke steht mit Tinte die handschriftliche Bezeichnung: Hôpital temporaire B. Mit etwas weniger umfänglichen Büchern und etwas gesünderen und besser eingerichteten Räumen für Kranke und Verwundete wäre wohl der Festungsbesatzung mehr gedient gewesen.
In den Kasematten liegen Matratzen, Strohsäcke, Sandsäcke, alte Kleider durcheinander. Auch ein Frauenhut findet sich irgendwo. In eine der dunkeln unterirdischen Kammern strömt durch eine schmale Verbindungspforte aus dem Nebenraume ein fahles Licht herein: in das Gewölbe der Kasematte dieses Nebenraumes ist von der Granate eines schweren Geschützes ein mächtiges Loch geschlagen worden, durch das das Tageslicht hereinflutet. Das herabgestürzte Mauer- und Erdwerk füllt den Raum halb an und hat auch die Verbindungstür fast verstopft. Dank meinem spärlichen Leibesumfange drücke ich mich durch, [94] nicht ohne daß mir mein Begleiter die Mahnung zu erhöhter Vorsicht mitgibt. Es bedarf keiner Aufforderung dazu, den Aufenthalt in dem düstern, unheimlichen Raume nicht lange auszudehnen. Denn ein durchdringender Leichengeruch strömt mir entgegen ... Unter Schutt und Erde liegen hier noch französische Leichen. Viele sind schon ausgegraben und bestattet worden. Auch diese werden eine ehrliche, anständige Ruhestätte erhalten.
Ich suche wieder Luft und Licht der Oberfläche auf und mache mich auf den Heimweg: Im Vorbeigehen lese ich am Rathaus in Majuskeln gemeißelt das Wort: Justice. Daneben zwei Bekanntmachungen. Die eine beginnt:
Vente par suite de saisie immobilière de deux maisons. Die andere: Vente par licitation d'une maison avec jardin au plus offrant et dernier enrichisseur, etc.
Käufer und Verkäufer brauchen sich heute keine Sorgen zu machen. Longwy-Haut ist gewesen. Es wird auch kaum wieder aufgebaut werden.
Im Überschreiten der Brücke über den Festungsgraben der unbeschossenen Südfront der Umwallung blicke ich hinunter: freundliche Gärtchen liegen im Grunde. Hier haben die französischen Festungssoldaten ihr Gemüse, ihren Kohl und ihre Zwiebeln gepflanzt.
Ich schlage den Weg nach Longwy-Bas ein. Etwas außerhalb des Festungstores stehen links an der Straße drei Häuser, zwei davon, die beiden äußeren, sind von Granaten, die wohl zu hoch [95] gingen und über die Festung hinüberflogen, arg zerschossen. Das Haus in der Mitte ist unbeschädigt, aber geschlossen. Keine Seele weit und breit. Wie ich hinüberblicke, lese ich über der Haustüre: Hôtel de la paix — Friedenshof!