Malerische Wanderungen durch Kurland/Alschwangen

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Appricken Malerische Wanderungen durch Kurland
von Ulrich von Schlippenbach
Edwahlen
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[130] Nicht weit entfernt von Appricken ist

Alschwangen,

ehemals eine der Familie von Schwerin gehörige Grafschaft, die aber nachher in den Besitz der Herzoge von Kurland kam, und jezt ein Eigenthum der Russischen Krone ist. Der Weg nach Alschwangen muß für den Freund der Landwirthschaft besonders angenehm seyn. Allenthalben sieht man auf einer weiten Fläche, große Kornfelder und unabsehbare [131] Wiesen, die nur in der Ferne des Horizonts ein Wald mit einem blauen Saum wie ein aufsteigender Nebel umzieht.

Kurz vor Alschwangen erheben sich mehrere Hügel, und auf einem derselben das Schloß Alschwangen selbst, das sich in seiner altgothischen Form, mit runden hohen Eckthürmen und von vielen Nebengebäuden umgeben, sehr malerisch darstellt. Ich nutzte den kühleren Abend, um die Umgebungen von Alschwangen zu durchwandern, die warlich reizend sind. Dicht vor dem Schlosse erhebt sich in doppelten regelmäßigen Absätzen ein Berg, dem man seine ehemalige Bestimmung als Schanze, unverkennbar ansieht. Hier ist ein sehr interessanter Standpunkt, um die umliegenden Gegenden übersehen zu können. Vor mir lag ein großer breiter Teich, der in der Ferne sich bis zu den Ufern eines Baches, dem er seinen Anfang verdankt, zurückzog, und so bescheidener, als mancher zur stolzen Größe angeschwollene Mensch, den kleinen Ursprung eben so licht bestrahlt‚ als die Wellen seiner angewachsenen Fluten zeigt. Die Ufer [132] des Bachs umgab der grüne Teppich eines großen Gerstenfeldes, in welchem mehr künstlerisch, als dem Landmann willkommen, die Hand der Natur die goldenen Blumen des Hederichs reichlich eingestickt hatte. Jenseits des Teichs zogen sich Hügel mit abgerissenem Rande wie Felsen, bis in eine tiefe Kluft hinein, die sich wieder an ein Thal von hohen Schwarzellern bedeckt, anschloß. Hinter dem Damme des Teichs schimmerten von grünen Schatten umwallt die rothen Dücher der Korn- und Schneidemühle hervor, und aus dem Mühlenthale erhoben die spitzigen Gipfel hoher Bäume ihr Haupt, als wünschten sie auch einen Blick in die schöne, sie umgebende Natur zu thun. Hoch ragte indeß der Schloßberg und dessen alte Burg über diese ganze Gegend hervor, und ein den Schloßberg sich hinunter streckender Garten, der voll Blüthen hing, hatte das rothe Mühlendach wie einen Schemel zu seinen Füßen. Auf der andern Spitze der Schanze erblickte ich den Gasthof, mehrere Wirthschaftsgebäude, die katholische Kirche und Pfarre, in deren Hofraum [133] eine ungewöhnlich große gerade Linde steht, die einen Kreis von mehr als 40 Schritten im Durchmesser, mit weit vorgestreckten Zweigen umschattet. Ein Gitterzaun, der den Baum umgiebt, verschließt den Schatten jedem Ungeweihten, bis dahin, wo die äußersten Zweige, großmüthig über das Gitter vorragend, den Schatten über die Umzäunung verbreiten. Wie durch ein Glaubenssymbol sind hier die Dunkel der Natur umzäunt und jedem Profanen verschlossen, der sich begnügen muß, unter den über die Schranken vordringenden Zweigen des Baumes, der, wie das Ideal aller Religion, mit weiten Armen die Erde umfaßt, Ruhe und friedlichen Schatten zu finden und hin und wieder durch die grünen Blätter, eben so richtig als auf geschriebenen, den Strahl der glühenden Sonne, das irdische Auge der Gottheit, zu erkennen, die allen Nationen scheint, das alle Völker sieht. In der Mitte der Schanze selbst stand unter einigen kleinen Tannenbäumchen ein Zelt, das an die Zeit erinnerte, wo, wie jezt Friede, ehemals Krieg diese Gegenden umzog, und hatte [134] am untersten Absatze der Schanze eine Kegelbahn zum Kontrast, wo statt der vormaligen Kugeln aus mörderischen Kartaunen, leichtere von Holz aus spielenden Händen fliegen. Doch wenn sie erst gefallen sind, so liegen ja auch Helden nicht lebendiger als die todten Kegel da, und auch sie fallen oft in einem großen Spiele, wo sie nur aufgestellt wurden, damit der Gewinner lärmend ausrufe, wie viele auf seinen Wurf gefallen, und der den König selbst nur aufrichten läßt, um ihn wieder umzuwerfen.

Die Sonne hatte sich zum Niedergange geneigt, und ihre Strahlen sanken hinter den hohen Mauern der alten Burg immer mehr hinab, — ihr gegen über war der Mond in seinem letzten Viertel den ganzen Nachmittag sichtbar gewandelt, doch mit bleichem Angesicht wie ein Nebelflecken am ätherblauen Himmel, so, als hätte er sich nur im Strahl der Sonne erwärmen wollen. Schien er mir doch wie ein Hofmann, der seine dunklen Seiten vom Glanze seines Gebieters bescheinen läßt, und in seiner Gegenwart mit bleichem Angesicht da steht, [135] wenn dieser aber fortgegangen, sich mächtig erhebt, und als schimmerndes Gestirn einherzieht, — doch trotz aller eingesogenen Glut nur schimmern, nicht erwärmen kann.

Das Schloß hat außer seiner Form und seinen unterirdischen Gewölben, von denen ich mehr sprechen werde, nichts von Alterthümern aufbewahrt. Desto interessanter ist die Sage von den ehemaligen Besitzern dieser Güter, welche hier allgemein unter den Bewohnern dieser Grafschaft fortlebt und sich auf Traditionen noch vor wenig Jahren gelebt habender Greise gründet, denen ich jedoch, auf einige historische handschriftliche Nachrichten gestützt, widersprechen muß. Die Sage erzählt nämlich, der letzte Zweig der Familie Schwerin, Johann Anton, der zu Ende des 17ten Jahrhunderts und im Anfange des 18ten die sämmtlichen Alschwangenschen Güter besessen, habe wegen eines mit einem seiner Nachbarn erhobenen Prozesses, dessen Gegenstand der Vorrang im Kirchenstuhl gewesen, eine Reise nach Warschau gemacht, und habe dort die Tochter eines Polnischen Magnaten kennen und lieben [136] gelernt; doch weder sein Prozeß, noch seine Liebe, hätten eine günstige Wendung erhalten, wenn er nicht das feyerliche Versprechen gegeben hätte, sowohl selbst die katholische Religion anzunehmen, als auch seine Bauern zur Annahme derselben zu bewegen. So wäre er nun in seine Grafschaft zurückgekommen, und habe das Bekehrungsgeschäft mit einem Eifer angefangen, der selbst einem Spanischen Inquisitor Ehre gemacht haben würde. Wer sich nicht gutwillig zum neuen Glauben bekennen wollen, habe in unterirdischen finstern Gewölben eine Überzeugung finden müssen, die unter freyem Himmel nicht gedeihen wollen, und so wäre zum großen Verdruß der lutherischen Mutter, dem Grafen das Bekehrungsgeschäft bis auf ein paar Familien, deren Nachkommen noch jezt lutherisch sind, und die allen Martern widerstanden, gänzlich gelungen. Nun sey der Tag erschienen, an dem die Kirche aus einer lutherischen zu einer katholischen geweiht werden sollen. Die Gemeinde und mit ihr der Graf waren in der Kirche versammelt, nur seine Schwester, [137] die er gleichfalls zur Religionsänderung überredet, wurde noch erwartet. Da stürzt auf einmal die wüthende Mutter in die Kirche, drängt sich durch das versammelte Volk bis zum Altar, ergreift die angezündeten Kerzen, und wirft sie zur Erde, mit den fürchterlichsten Flüchen, daß so wie diese Kerzen, ihr Stamm verlöschen möge, ihre Kinder arm, elend und verlassen sterben, und selbst als Leichen unverweslich ein Schrecken der Nachwelt seyn sollen! Nach diesen ausgesprochenen Flüchen entflieht die Mutter aus der Kirche, verschwindet ganz, und läßt nur die Vermuthung übrig, eine Selbstmörderin geworden zu seyn. — Fürchterlich aber geht ihr Fluch in Erfüllung. Die Braut des Grafen stirbt, er selbst überläßt sich verzweifelnd dem Trunke, verschwendet seine Güter und stirbt unverheirathet von seinen eigenen Leuten verlassen und gemißhandelt, so arm, daß die Kosten seiner Beerdigung nur mit Mühe herbeygeschaft werden konnten. Die Schwester, als sie zur Kirche gehen wollen, hatte die wüthende Mutter von der hohen Treppe herabgestürzt, [138] so, daß sie die Hüfte ausgebrochen und lahm geblieben; auch sie starb nach einer unglücklichen Ehe, arm, verlassen und kinderlos. — Die unterirdischen Gewölbe, deren Bestimmung höchst wahrscheinlich keine andere, als die der fürchterlichsten Gefängnisse gewesen seyn kann, auch die noch größtentheils unverwesten Leichen des Grafen Johann von Schwerin und seiner Schwester, deren ausgerenkte Hüfte noch im Sarge sicht- bar ist, so wie der factisch richtige Umstand, daß beyde die letzten Zweige ihrer Familie gewesen und kinderlos, arm und verlassen gestorben, dies alles scheint jene Sage und mit ihr die Kraft des vierten Gebotes zu documentiren. Doch ersehe ich aus handschriftlichen Quellen, die von dem ehemaligen Archivsekretair Neimpts aus den herzoglichen Archiven gesammelt worden, daß bereits der Urältervater des letzten Besitzers, Johann Ulrich Schwerin, dessen Gemahlin aus der Polnischen Familie Konarsky abgestammt, die katholische Religion angenommen, und im Jahr 1634 die frühere lutherische Kirche zu einer katholischen geweiht [139] habe. Indessen gewinnt jene Sage an dem Orte selbst, im Angesichte der sie einigermaßen begründenden Denkmäler für den Augenblick eine Wahrscheinlichkeit, die mit lebhafterem Gefühl jeden Rest der Vorzeit, den man erblickt, betrachten läßt. Schaudernd trat ich in einen tiefen Keller, aus welchem man durch eine offene, ehemals wahrscheinlich durch eine Fallthüre verschlossene Höhle, in ein unterirdisches Gewölbe gelangt, das unter dem Keller in verschiedenen Gängen fortläuft, und da, wo man noch ein verschüttetes Thor sieht, mit andern ähnlichen unterirdischen Pfaden verbunden gewesen seyn muß. Augenscheinlich waren diese Gänge zu Gefängnissen bestimmt; denn außer den Spuren ehemals in den Mauern befestigt gewesener Eisenstücke, stand auch auf zwey starken Eichenpfählen eine Art Galgen oder Martergerüste — wenigstens ist hier keine andere Bestimmung denkbar. Die Luft war in diesem gewölbten Gange so verdorben, daß nur mit großer Mühe das mitgenommene Licht brennend erhalten werden konnte, und den mir vorleuchtenden [140] Rechtsfinder aus Alschwangen[1] würde ich herzlich bedauern müssen, wenn er das Recht so mühsam finden sollte, als hier den unterirdischen Weg. Doch hat auch das Recht nicht leider allenthalben seine krummen dunklen Gänge?

Ein zweytes diesem ähnliches Gewölbe, gleichfalls unter einem andern tiefen Keller im Thurm, ist rund und hoch gewölbt, und mag zur Zeit als das Schloß im Jahr 1372 von dem Ordensmeister Wilhelm von Freymersen erbaut worden, zum gewöhnlichen Burgverließ bestimmt worden seyn. Durch ein kleines Fenster, das durch die Mauern in einer Höhe von 30 Fuß und höchstens 6 Zoll im Quadrat nur sparsame Lichtstrahlen hinabläßt, die trotz der Kleinheit des Fensters noch durch ein vorliegendes eisernes Gitter abgehalten werden, dringt wenigstens etwas gesunde Luft bis hieher. Wie oft mag ehemals dieser einzige Lichtstrahl auf die Thränen [141] eines Unglücklichen gefallen seyn, der trostlos hinaufblickte. Die Zeit, die den finstersten Kerker wie einen Pallast mit gleich freyem Schritt durchwandelt, hat ihn vielleicht erlöst, und unter meinen Füßen mag sein Staub gelegen haben. Doch wann er unschuldig litt, sollte aus seinem Staube sich nicht ein Engel der Rache erhoben haben, der die Strafen der Unterdrücker leidender Unschuld gerecht zu einer Ewigkeit verlängert? Auch die unverweslichen Leichen habe ich gesehen, die, der Sage zufolge, durch Mutterflüche einbalsamirt seyn sollen. Doch jezt, da die Kirche ganz neu umgebaut worden, hat die in das offene Gewölbe eindringende Luft schon angefangen, den Segen der Mutter Natur durch Verwandlung der schreckenden Reste des Lebens in Staub und Erde zum Theil wieder herzustellen; indessen sind die Gesichtszüge des Grafen von Schwerin, der 1726 starb, noch immer sehr deutlich sichtbar und kenntlich. Vor wenigen Jahren hatte die Leiche noch ganz das Ansehen eines natürlich schlafenden Menschen. Die Schwester scheint der mütterliche [142] Fluch nur gestreift zu haben, denn das Gesicht ist nicht kenntlich mehr, nur die ganz verrenkte Hüfte ist deutlich sichtbar. Bey dem Alschwangenschen Beyhofe Balanten muß ehemals die Ostsee sich in einem tiefen Meerbusen, der allmälig versandet ist, weit ins Land hinein erstreckt haben. Man sieht hier noch deutlich ein Strandufer, ob- gleich jezt das Meer über anderthalb Meilen entfernt ist. Doch bis zum Meere hin, ist jezt nur eine flache Wiese, in der man noch Masten und Schiffstrümmer zufällig gefunden hat. Von diesen ehemaligen Strandufern, die sich um die weite Fläche ziehen, erblickt man jezt ein grünes Wiesenmeer, das die Luft in kurzen leichten Wellen bewegt, bis dahin, wo schäumende Wogen ihren ehemaligen Besitz umbrausen, als wollten sie ihn wieder erobern, und sich nur zürnend zu ihrer Tiefe zurückziehn. Mir kam diese Stelle, wie ein fragmentarischer Commentar zu Buffons Epochen der Natur vor, nach dessen Meinung das Meer ehemals auf den Spitzen der Gebirge die Überreste seiner Bewohner begraben, ehe es sich [143] allmälig in sein vom Centralfeuer erwärmtes Bette senkte.



  1. Rechtsfinder nennt man ein Mitglied des, in den mehresten Gütern Kurlands Statt findenden, Bauerngerichts, welche die unter den Letten entstandene Streitigkeiten entscheiden.