Plaudereien über Romandichtung

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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Plaudereien über Romandichtung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 380–383, 458–459
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Plaudereien über Romandichtung.

Von Rudolf von Gottschall.
1.0 Wahrheit und Dichtung im Roman.

Schiller nannte einmal den Romanschriftsteller den Halbbruder des Dichters: in der That ist er nicht heimisch in jenen „Regionen, wo die reinen Formen wohnen“; er hat sich zu viel mit der Welt, mit der Alltäglichkeit einzulassen; er muß in sein Werk viel Stoffartiges mit herein nehmen, was sich nicht künstlerisch modelliren läßt.

Wie sich Wahrheit und Dichtung im Romane verhält, das ist eine Frage, die auch bei modernen freierfundenen Romanen aufgeworfen werden kann. Geistreiche Theoretiker und erfolgreiche Praktiker auf diesem Gebiete behaupten sogar, daß kein echter Romanschreiber dichten kann, ohne wie der Maler und der Bildhauer seine „Modelle“ zu haben. Freilich sitzen sie nicht bei ihm im Atelier, aber sie schweben seiner Phantasie vor. Wir theilen diese Ansicht Spielhagen’s nicht; wir meinen, daß der Dichter aus eigener Machtvollkommenheit, aus seinem eigenen Innern heraus seine Gestalten schafft, daß dies eine Art von Urzeugung [382] ist, bei der keine Modelle mitwirken. Natürlich schafft die Phantasie nicht gerade aus nichts; aber wie sie aus einer Fülle von Eindrücken und Charakterbildern, die sie in sich aufgenommen, eine neue lebensvolle Gestalt hervorzaubert: das ist ein geheimnißvoller Proceß, den man erst ergründen kann, wenn man das A und O alles dichterischen Schaffens ergründet hat – das Genie.

Doch auch die zahlreichen Anhänger der Modelltheorie werden nicht behaupten, daß man ein Modell mit Haut und Haar in die Romandichtung aufnehmen darf. Es wird doch für die künstlerischen Zwecke zurecht gemacht, ganz wie der Maler, der ein Modell auf der Straße findet, es als Studienkopf portraitirt, aber dann für sein Gemälde nur einzelne Züge desselben, nur etwa die Augenbraue und die Augen, die Stirn und die Nase verwerthet, im Uebrigen die Physiognomie nach seinen künstlerischen Absichten ergänzt. Die Wahrheit spielt dabei gar keine Rolle, die Dichtung ist die Hauptsache. Es giebt zwar Autoren, welche ihre Modelle gleichsam lebend einfangen und dieselben so wie sie sind in ihre dichterischen Menageriekasten sperren; doch diese Sorte von Dichtern hat ihren Ruhm dahin. Nicht blos ihnen kann es indeß begegnen, daß ein solches „Modell“ sich selbst erkennt und dagegen protestirt, vor aller Welt zur Schau gestellt zu werden; auch die künstlerisch gestaltenden Romanschriftsteller, die nach Modellen arbeiten, sind nicht sicher davor, daß das Geschöpf sich gegen seinen Schöpfer auflehnt, daß sich irgend ein athmendes Wesen in der dichterischen Maske zu erkennen glaubt und gegen die Ausbeutung seines poor self für die Leihbibliotheken reklamirt: es tritt dies besonders dann ein, wenn die Aehnlichkeiten, die der Autor seinem Modell abgelauscht, größer sind, als die Unähnlichkeiten, die er in das Bild hineingeheimnißt hat. Vielen Modelldichtern sind schon derartige Unannehmlichkeiten passirt. Wenn freilich ein Romanautor so weit geht, wie Zola in „Pot-Bouille“, daß er sogar den Namen eines Juristen, der in dem Stadtviertel wohnt, wo sein Roman spielt, einem Charakter in demselben zueignet, so darf man sich nicht wundern, wenn er deßhalb einen Proceß verliert und genöthigt wird, seinen Justizbeamten umzutaufen: die vorsichtigeren Schriftsteller werden vielleicht einmal brieflich zur Rede gestellt, aber in einen solchen Proceß um „des Esels Schatten“ nicht verwickelt werden.

Neben dem freierfundenen socialen Roman haben wir aber auch einen zeithistorischen, und hier wird die Frage nach dem Verhältniß zwischen Wahrheit und Dichtung eine brennende; denn das Märchen braucht ein duftig Florgewebe, die Tagespolitik aber hat ein ganz unverschleiertes Gesicht. „Ein politisches Märchen“ erscheint als ein Widerspruch – und doch sind solche Märchen gedichtet worden. Ohne Frage gehört dazu der „Endymion“ jenes Lord Beaeonsfield, gegen dessen energische und großartige Politik die Krämer- und Quäkerpolitik Gladstone’s sehr in den Schatten tritt. Beaconsfield läßt weltgeschichtliche Charaktere in einer Draperie erscheinen, bei welcher die Geschichte zu kurz kommt, aber auch die Dichtnug wenig gewinnt, indem sie nur Räthsel aufgiebt, die sich nicht lösen lassen. „Prinz Napoleon“ erscheint in „Endymion“ als ein wahrer Märchenprinz; er ist es und ist es wieder nicht; die Gestalt läßt sich nicht festhalten; wenn sie es nicht ist, hat sie überhaupt keine Bedeutung; wenn sie es ist, so stimmen ihre Schicksale im Romane nicht mit ihren Lebensschicksalen. Beaconsfield liebt solche märchenhafte Arabesken für seine Zeitromane; doch sie geben kein ruhiges, sondern nur ein hin- und herzitterndes Bild. Der Scharfsinn der Leser will errathen und fühlt sich doch unbefriedigt durch die einzig mögliche halbe Lösung; deßhalb fehlt jenes Gefühl ruhiger Sicherheit, welches durch harmonische Kunstschöpfungen hervorgerufen wird und ohne welches ein reiner Kunstgenuß nicht denkbar ist.

Einer der talentvollsten neufranzösischen Romanschriftsteller, Alphonse Daudet, hat in ähnlicher Weise wie Beaconsfield das zeitgeschichtliche Märchen gepflegt; seine Helden sind Phantasiehelden, aber ihre Modelle kennt ganz Frankreich. Auch hier ein unlösbarer Widerspruch. Roumestan ist Gambetta, der schönrednerische Deputirte, der aller Welt alles Mögliche verspricht, ohne es je zu halten, ein Südländer von Kopf zu Fuß, der zuletzt der einflußreichste Mann in der Regierung Frankreichs wird; er ist Gambetta und ist es wieder nicht; denn Roumestan ist ja ein Legitimist, und Vieles, was er erlebt, paßt durchaus nicht auf das Modell Gambetta. Dennoch kennt man ja die tonangebenden Staatsmänner Frankreichs und weiß, da der Roman in der neuesten Zeit spielt, daß es keinen andern Politiker gegeben hat, der das Charakterbild Roumestan’s deckt. Dasselbe gilt von dem kaiserlichen Minister Rougon in Emile Zola’s großem Romancyklus; man kennt die Minister des dritten Napoleon; ein Rougon befindet sich nicht unter ihnen. Sollte aber Rouher dem Romandichter als Original vorgeschwebt haben, so decken sich wieder nur einzelne Züge, nicht das ganze Bild, weder der Charakter noch die Lebensschicksale. Wer ist der König Christoph von Illyrien in Daudet’s Roman „Die Könige im Exil“? Welcher Zauberspruch verwandelt ein österreichisches Kronland in ein selbständiges Königthum? Und das spielt alles in neuester Zeit: nicht blos die Abenteuer des entthronten Fürsten in Paris, sondern auch der Freischarenzug zur Wiedereroberung seines Thrones, der Kampf und die Niederlage desselben. Sollte man nicht glauben, eine Fee habe alle Zeitungsspalten verzaubert, daß lauter Märchen aus ihnen hervorquöllen, daß über alle Telegramme sich ein gespenstiger Flor legte, daß Namen und Thatsachen vor den Augen wie in einem Hexentanze vorüberwirbelten?

Doch neben diesem pseudonymen Zeitroman mit seinen Märchen und Räthseln giebt es einen andern, in dem schon bei Beginn der Handlung die Mitternachtsstunde geschlagen hat, in welcher die Personen ihre Masken abwerfen; freilich, die Gesichter, die dabei zum Vorschein kommen, sind trotzdem nicht immer die naturwahren, sondern sie sind oft wunderbar geschminkt und tätowirt: es ist dies der Zeitroman der Retcliffe und Samarow; da erschienen noch bei Lebzeiten der Helden die Napoleon und Garibaldi, da erscheinen noch jetzt die Bismarck und Keudell mit offenem Visir, werden mit ihrem vollen Namen eingeführt; da herrscht keine Geheimthuerei, keine Räthselfabrikation; Jedermann weiß, mit wem er’s zu thun hat; doch da tritt wieder ein anderer Mißstand ein. Der Dichter kann seine Personen nicht blos äußerlich photographiren; er muß sie doch auch sprechen lassen, und da legt er ihnen Worte in den Mund, die sie eben nicht gesprochen haben, die sie im besten Falle hätten sprechen können, aber auch jeden Augenblick Lügen strafen dürfen. Das ist keine Lage, in die ein Poet sich bringen darf; dergleichen paßt nur für einen Memoirenschreiber. Lebende Zeitgenossen eignen sich unbedingt nicht zu Romanfiguren. Solche Werke üben eine gewisse Anziehungskraft aus, wenn die Autoren genaue Kenntniß der Verhältnisse besitzen und aus dem Kabinet und aus der Schule plaudern; wenn sie in pikanter Weise Anekdoten zu erzählen und ein wenig den Kammerdiener der großen Herren zu spielen wissen. Das ist aber eine Wahrheit, die mit der Dichtung nichts gemein hat; die dichterische Erfindung kann dabei nur eine untergeordnete oder störende Rolle spielen.

Ganz anders verhält es sich mit dem geschichtlichen Roman und allen seinen Abarten: was der Vergangenheit angehört, gehört zugleich der Erinnerung und ist dadurch in ein dichterisches Licht gerückt. Die Aufzeichnungen der Geschichtschreiber, der Chronisten und Memoirenverfasser können nie erschöpfend sein; sie widersprechen sich oft, und schon die äußerliche Thatsache festzustellen, dazu gehört der Scharfsinn der Geschichtsforscher, und auch dieser Scharfsinn kommt nicht immer zu den gleiche Resultaten. Es giebt auch auf dem Gebiete der Wissenschaft genug geschichtliche Romane, und was früher für feststehende Wahrheit galt, wird von einer späteren Zeit als unhaltbare Erfindung nachgewiesen. Auch über die Motive, welche die Handlungsweise großer Männer bestimmten, herrscht oft Dunkelheit und Zweifel, ja vollständiger Widerspruch bei den gelehrten Fachmännern – wie verschieden nimmt sich das Bild Wallenstein’s aus in der Darstellung verschiedener und sehr gründlicher Geschichtsforscher! Ueber des Friedländers Charakter liegen sie ja in offener Fehde.

Es ist klar, daß, bei den eingeschränkten Grenzen der geschichtlichen Wahrheit, hier die Dichtung ihr Gebiet erweitern darf – und wo es den Tiefblick in geheime Beweggründe, in räthselhafte Falten geschichtlicher Charaktere gilt, da kann sie stets von neuem sich das Lob des alten griechischen Weisen vindiciren, daß sie philosophischer sei als die Geschichte; doch auch außerdem läßt ihr diese ein großes Feld frei, auf welchem die schöpferische Phantasie sich rückhaltlos tummeln darf.

So ist denn der historische Roman seit den Zeiten Walter Scott’s, der die anerkanntesten Vorbilder desselben geliefert hat, mit seiner Mischung von Wahrheit und Dichtung als legitimes [383] Kind epischer Darstellung von der Aesthetik in Gnaden aufgenommen worden und hat sich auch in der Gunst des Publikums befestigt.

Die Wahrheit der Thatsachen muß er respektiren, soweit es sich um feststehende Daten, um die großen geschichtlichen Haupt- und Staatsaktionen handelt, und es wird vortheilhafter für ihn sein, wenn er nicht die großen Charaktere zu den eigentlichen Helden der Erzählung macht, sondern eine freierfundene Gestalt in den Vordergrund stellt und jene nur in entscheidenden Momenten auftreten läßt: sonst sind ihm die Hände zu sehr gebunden; bei der breiten Schilderung, welche die Darstellung des Romans verlangt, muß er sonst zu sehr ins Fahrwasser der Geschichte gerathen, welche für das Bild großer Männer viel fertiges Material, viele unwandelbare Züge und selbst eine reiche anekdotische Ausschmückung gegeben hat.

Was man aber von dem geschichtlichen Roman verlangen darf, das ist Treue des Kolorits, nicht blos des äußern, sondern auch des geistigen, und da dasselbe eine gewisse Breite der Ausführung verlangt, so sollten geschichtliche Zeiträume, welche für die Gegenwart kein Interesse, welche keine ihren Bestrebungen verwandte Züge darbieten, gar nicht zum Hintergrunde des Romans gewählt werden. Sonst erhalten wir den gelehrten Roman mit seinen langen archäologischen Kapiteln, und werden in einem Museum spazierengeführt, während wir dem freien Fluge der dichterischen Muse folgen wollten.

Eine Abart des geschichtlichen Romans ist der litteraturgeschichtliche – und er muß nach denselben Grundsätzen beurtheilt werden. Bei der Vorliebe der Deutschen für Litteraturgeschichte hat dieser Roman bei uns große Verbreitung gefunden: schon die Romantiker schrieben ihre Shakespeare- und Camoens-Novellen; etwas später wurden unsere Klassiker selbst zu Helden solcher Erzählungen gemacht; wir erinnern an Otto Müller’s „Bürger“ und an „Schiller’s Heimathjahre“ von Hermann Kurz, zwei sehr beachtenswerthe Werke, während Hermann Klenke und Heribert Rau in ihren zahlreichen romanhaften Biographien die Klassiker für den Bedarf des Leihbibliothekenpublikums einschlachteten, ähnlich wie das Luise Mühlbach mit den Friedrichs, Josephs und Napoleons gethan. Es handelt sich bei diesen Schriften, wenn wir einen Tadel aussprechen, nur um die lässige und zwitterhafte Form. Die Berechtigung, unsere Dichter und Denker in ein romanhaftes Gewand zu kleiden, kann auch ihnen nicht abgesprochen werden. Der Roman von Hermann Kurz, welchem Laube seine „Karlsschüler“ nachgedichtet hat, beweist zur Genüge, daß sich auf diesem Gebiete bei einer richtigen Mischung von Wahrheit und Dichtung schätzenswerthe Werke von litterarischer Bedeutung schaffen lassen.

Dagegen ist aber neuerdings ein fulminanter Protest erhoben worden; er galt einer Erzählung, welche diese Zeitschrift brachte: „Brausejahre“, Bilder aus Weimars Blüthezeit von A. von der Elbe; sie wurde urbi et orbi als ein Verbrechen der beleidigten Majestät unserer klassischen Epoche denuncirt und ein kritischer Strohwisch aufgesteckt, der alle Journale der Welt warnen sollte, diese verbotenen Pfade zu wandeln. Es ist hier nicht der Platz, diese Erzählung vom ästhetischen Standpunkte aus zu beurtheilen; es handelt sich nur um das Princip, ob in litterargeschichtlichen Novellen und Romanen eine Mischung von Wahrheit und Dichtung als gänzlich unzulässig in die Acht zu erklären sei, und ob unsere Dichter und die Personen der gesellschaftlichen Kreise, in denen sie sich bewegten, wie man auf den Südsee-Inseln sagt, „tabu“ seien, sodaß jede Berührung des Unberührbaren verhängnißvoll und verderblich für die Novellisten würde, die sich dieselbe zu schulden kommen ließen.

Natürlich geht dies „Tabu“, diese Heiligsprechung von den Priestern aus – und so ist es auch hier. Fort mit dem profanen Volke aus den Tempeln und von den Altären, wo sie opfern! Ein Friedrich der Große, ein Napoleon darf von den Romanschreibern in freierfundene Abenteuer verstrickt werden; dagegen regt sich kein Widerspruch, aber ein Goethe – das ist ein Attentat auf die Goetheforschung, die mit so vielem, gewiß verdienstlichem Eifer die Thatsachen jener Epoche festzustellen sucht, das ist ein Angriff auf das Monopol derjenigen, welche den Goethe-Kultus als Lebensaufgabe betreiben. Da begiebt es sich, daß an diese Hohenpriester Fragen gestellt werden, ob alles wahr sei, was in jener Erzählung stehe, und mit bedauerlichem Achselzucken müssen sie dann erwidern: vieles darin sei schnöde Erfindung und es sei ein Frevel, mit einem Dunstkreise neuer Mythen das Gestirn zu umgeben, das sie mit ihren kritischen Teleskopen durchforscht hätten.

Gegen jede Ausnahmestellung, gegen jedes Monopol zu protestiren ist das Recht einer gesunden und freisinnigen Aesthetik. Entweder darf überhaupt der geschichtliche Roman nicht Dichtung und Wahrheit vermischen, mag er einen Helden nehmen, welchen er immer sich wählen will – oder wenn er’s darf, so haben ein Goethe und Karl August kein Vorrecht vor den Helden der politischen Geschichte – und was dem einen recht ist, das ist den andern billig. Vor allem aber hegen wir noch begründete Zweifel, ob die Goethe-Forschung selbst eine so vollkommene Klarheit über jene Epoche verbreitet hat, daß die Vertreter derselben ein Recht haben, sich vor jeder andern Auffassung zu bekreuzigen und Bilder, die nicht in ihrem Guckkasten zu finden sind, als Zerrbilder zu bezeichnen. Trotz aller Wäschkörbe voll Wäschzettel, welche überflüssiger Weise angesammelt worden sind, herrscht doch noch über einige gar nicht unwichtige Punkte, die das Leben und Treiben in jener klassischen Epoche betreffen, große Unsicherheit – und die Gelehrten widersprechen sich selbst in einer oft auffallenden Weise. So z. B. was das Verhältniß zwischen Goethe und Frau von Stein betrifft, welches übrigens von A. von der Elbe ganz in der kanonischen Weise nach dem Evangelium Düntzer als ein rein platonisches hingestellt worden ist, während andere Forscher dies als einen Mißgriff bezeichnen müßten und wir selbst mit ihnen der Ansicht sind, daß eine solche Auffassung wenig in Einklang steht mit dem Charakter und den Lebensanschauungen des Dichters und mit den späteren Eifersüchteleien und der Verbitterung der Frau von Stein über sein Verhältniß zur Vulpius. Da sind Berge von Briefen aufgehäuft und herausgegeben worden – aber glauben denn die Herren, daß alles in den Briefen steht, was sie gern wissen möchten? Es läßt sich nicht einmal alles zwischen den Zeilen lesen. Doch sie haben ja das Monopol: von Karl August, von Herzogin Luise, von Fräulein Göchhausen, von Corona Schröter darf sich Niemand ein anderes Bildniß und Gleichniß machen, als dasjenige, das die Fabrikmarke ihrer Goethe-Kritik trägt. Uns fällt dabei immer aus Gutzkow’s „Maya Guru“, seinem tibetanischen Jugendroman, die köstliche Geschichte von den tragikomischen Schicksalen des Besitzers einer Götzenmanufaktur ein, der wegen freigeistiger Abweichung von der Traditiou der göttlichen Physiognomien, besonders was die Proportion zwischen Mund und Nase betrifft, zum Tode verurtheilt werden soll. So sind die Proportionen und Maßstäbe für jedes Gesicht von den Hütern unserer klassischen Epoche gegeben – und wehe dem, der davon abzuweichen wagt!

Mögen sie nach der Wahrheit streben, die ihnen erreichbar ist, soweit es die aufgefundenen Dokumente und die eigenen Brillen zulassen, durch welche mehr oder weniger jeder auch erkannte Wahrheiten ansieht; doch mögen sie die Mischung von Dichtung und Wahrheit in freien Phantasie-Erfindungen auf geschichtlicher Grundlage nicht gleich in den Abgrund der Hölle verdammen, wenn ihre Studienkreise dabei berührt werden, oder mögen sie dann wenigstens so konsequent sein, über alle Dichter historischer Romane als Verfälscher geschichtlicher Wahrheit ohne Ausnahme den Stab zu brechen.


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2.0 Die Lebenswirklichkeit im Roman.

Verschieden nach den Gattungen der Poesie ist die Spiegelung des äußern Lebens. Der lyrische Dichter schafft aus seinem Gemüthe heraus; die äußern Bilder werfen ihren Widerschein in dasselbe wie in einen tiefen See; aber die Wunder der Tiefe sind bedeutsamer als diese Spiegelbilder. Der Dramatiker hat zum eigentlichen Gegenstand den menschlichen Willen, der sich in Thaten umsetzt, den Affekt und die Leidenschaft des Handelnden, die Empfindung des Leidenden, über den ein selbstgeschaffenes oder von andern verhängtes Schicksal hereinbricht; die äußere Welt hat für ihn nur eine dekorative Bedeutung. Der epische Dichter erst gönnt den Dingen außer uns ihr volles Recht, und wenn im Epos selbst die Vornehmheit des dichterischen Stils der ins Breite gehenden Beschreibung noch eine Beschränkung auferlegt, so fällt auch das beim Roman fort, dem sogenannten Epos der Gegenwart; hier in der bequemen und gefügigen Prosa kann alles geschildert werden, was zwischen Himmel und Erde ist: der Roman hat a dieselbe Ausdrucksform wie das Lehrbuch und der Katalog; in seine Prosa läßt sich alles aufnehmen, die Doktrin und die Debatte, die eingehendste Specialbeschreibung der äußern Dinge bis in das Detail, das die Naturforschung und die Technik mit ihren Kunstausdrücken ihren Jüngern zu erschließen sucht. Der Roman ist wie das hundertthorige Theben, und durch alle seine Thore kann die schrankenlose Lebenswirklichkeit einziehen mit Sack und Pack, wenn keine ästhetische Zollrevision stattfindet.

Gewiß soll der Roman ein Kulturgemälde der dargestellten Vergangenheit oder Gegenwart liefern; er kann dabei ins Breite gehen, eine Menge bezeichnender Bilder in sich aufnehmen; schon der alte Homer hat uns den Schild des Achilles eingehend beschrieben; aber es kam ihm dabei nicht auf die Schmiedearbeit des Hephästos an, sondern auf die an einander gereihten Bilder, die uns noch heute in schöner Ergänzung ein Kulturgemälde der damaligen Zeil entrollen. Reichthum der Bilder und Anschaulichkeit der Darstellung mögen Hand in Hand gehen: aber nie soll sich die letztere dazu hergeben, ein todtes Register der Dinge, einen Katalog zusammenzustellen, nie dem gerichtlichen Inventar oder der kaufmännischen Anzeige in die Hände arbeiten; denn mit solcher Häufung des Bedeutungslosen wird das Bild für die Phantasie zerstört und es beginnt der todte Verstandes- und Gedächtnißkram, der nicht in die Dichtung gehört, auch nicht in die Halbdichtung, als welche Vielen der Roman erscheint.

Schlagende Beispiele für diese Ueberwucherung mit dem werthlosesten Detail der Schilderung bieten die gepriesensten neufranzösischen Romane. In seinem „Numa Roumestan“ giebt Alphonse Daudet die Schilderung einer Südfruchthandlung; statt das Bild derselben durch einige hervorstechende Züge unserer Phantasie einzuprägen, giebt er ein seitenlanges Verzeichniß der hier aufgespeicherten Schätze. Man mag dem begeisterten Südländer die Erinnerung an die Fruchtgärten seiner Heimath zugute halten; aber dem Romandichter kann man diese Abschweifung in die Pomologie oder die kaufmännischen Waarenbücher nicht verzeihen. Emile Zola schildert in seinem Roman „Au bonheur des dames“ einen kaufmännischen Riesenbazar, ein Weißwaarengeschäft in allen Stoffen; wenn er die großen Ausstellungen beschreibt, so nimmt seine Muse einen gewissen begeisterten Flug und die phantasievolle Gruppirung und Beleuchtung ist nicht ohne dichterischen Reiz; daneben finden sich aber Kapitel, an denen die nüchternste Aufzählung der einzelnen Waaren, die trockenste Rubricirung des Waarenlagers in allen seinen Abtheilungen in monotoner Wiederkehr den geduldigsten Leser zur Verzweiflung bringt, wenn er nicht selbst in dieser Geschäftsbranche arbeitet und an ihr ein besonderes Interesse nimmt. Am meisten berechtigt ist diese Schilderung der äußern Welt, wenn dabei Lichtstrahlen aus dem Gemüthe auf dieselbe fallen: so wenn Zola gegen den Schluß seines Romans hin den Chef des großen Etablissements durch alle Räume wandern läßt, unbefriedigt durch den Glanz und die Fülle, die er in allen findet, weil ihm überall der Name der Geliebten in die Ohren klingt, die trotz dieses Reichthums ihm ihre Gunst versagt.

Ein solcher Mißbrauch wird auch mit architektonischen Schilderungen getrieben, die uns den Aufriß der Gebäude mit der Genauigkeit eines um einen Preis sich bewerbenden Baumeisters wiedergeben. Heinrich Laube führt in seiner „Gräfin Châteaubriand“ uns den Bau der französischen Lustschlösser mit der Passion eines Architekten auf; er ergeht sich in einer Dekorationsmalerei, wie ein dramatischer Dichter, der mit der Peinlichkeit eines Regisseurs die Scene arrangirt. Ebenso läßt Emil Brachvogel in seinen Romanen oft das feine Gefühl für den Unterschied des Topographischen und Poetischen vermissen. Die Neubauten des großen Gebäudes Au bonheur des dames, die allmählich das ganze Stadtviertel in Anspruch nehmen, schildert Zola mit einer die Phantasie verwirrenden Ausführlichkeit. Wir wollen aber keine selbständigen Baurisse in der Poesie, die fortschreitende Handlung soll sich von selbst den erweiterten Schauplatz erobern oder eine poetische Stimmung die Lokalität der Phantasie einprägen.

Auch das Treiben der Menschen in den verschiedensten Gewerben, in jener durch die moderne Civilisation so ins Feinste und Kleinste ausgearbeiteten Thätigkeit, die mit Hilfe der mannigfachsten technischen Werkzeuge schafft, hat eine äußerliche Seite. Doch auch hier ist ein „zuviel“ vom Uebel.

Schon in Freytag’s „Soll und Haben“ wird uns der Verkehr in einer Materialwaarenhandlung und diese Waaren selbst bisweilen zu eingehend geschildert; doch sind der Darstellung stets humorifsische Lichter aufgesetzt, und das läßt sie nirgends ungenießbar erscheinen. Weit trockener sind die Auseinandersetzungen über die Technik des Dachdeckergewerbes in Otto Ludwig’s „Zwischen Himmel und Erde“ und die Abschnitte über Forstkultur in Auerbach’s „Waldfried“. Wenn uns Zola in seinem vorhin erwähnten Romane die Eintheilung des großen Bazars, die Obliegenheiten der verschiedenen Angestellten, das ganze Treiben in Küche und Speisesaal schildert, so ist das Alles bare Prosa, ohne jede dichterische Beleuchtung; es könnte in jeder Beschreibung dieses Etablissements, die keinen andern Zweck hat, als die Leser von seinen Einrichtungen zu unterrichten, ebenso gut seine Stelle finden. In Zola’s „Germinal“ erfährt man aufs Genaueste, wie es in einem Kohlenbergwerke hergeht; der Autor verwerthet auch hier eine Reihe gesammelter Kenntnisse: gleichwohl herrscht hier im Ganzen mehr Stimmung; wie ein dichter Kohlenstaub liegt’s auf allen Bildern; das Aschgraue und Freudlose dieser Existenz unter der Erde wie auf ihr in diesen vegetationslosen, von der industriellen Arbeit geschwärzten und versengten Gegenden tritt in einem düstern, ergreifenden Kolorit vor uns hin.

Wie aber soll es mit der Darstellung der Menschen, die im Romane eine Rolle spielen, gehalten werden, soweit es ihre äußere Erscheinung betrifft? Gewiß wollen wir ein lebendiges Bild von ihnen erhalten; aber nicht der Dichter giebt es uns, der uns ihre Physiognomie Zug für Zug, ihre Gestalt mit der Genauigkeit eines Steckbriefes schildert, sondern der im Verlaufe der Handlung bald hier bald dort einen frappanten Zug aufleuchten läßt, aus dem unsere Phantasie selbstschöpferisch das Gesammtbild gestaltet. Wir wollen nicht das todte Gesicht sehen, sondern das wechselnde Mienenspiel, welches uns die Züge zeigt, indem es sie belebt. Das Alles hat schon Lessing in seinem „Laokoon“ ein- für allemal, wo er den Unterschied zwischen Malerei und Poesie schildert, festgestellt und mit gewohnter Prägnanz ausgesprochen. Und doch wird dagegen fortwährend gesündigt: wir erhalten Personalbeschreibungen, welche die Gesichter gewissenhaft Zug für Zug nach den Rubriken der Physiognomik schildern, sodaß wir, wenn wir beim Kinn angekommen sind, schon vergessen haben, wie die Stirn aussieht.

Aehnlich ergeht es mit den Kostümbildern, die uns oft so ausführlich vorgezeichnet, so sauber kolorirt werden, als handle es sich um die Figurinen für einen Theaterschneider. Leider ist ein so großer Dichter wie Walter Scott hierin mit seinem bedenklichen Vorbilde vorangegangen; seine archäologische Liebhaberei hat ihn dazu verführt, und unsere neueren Archäologen, die sich auf die Romandichtung werfen, zögern nicht, hierin seinem Beispiele zu folgen. Wer daher glaubt, er brauche im Romane das Leben blos abzuschreiben, der wird schwerlich die gewünschten Wirkungen erzielen, sondern nur Langeweile, ein Gefühl des Unbehagens und der Nüchternheit hervorrufen. Die Welt mit des Dichters Aug’ zu [459] sehen, mag dasselbe auch nicht im schönen Wahnsinn rollen: das ist auch Gesetz für den Romanschriftsteller, wenn er sich nicht in einen trockenen Berichterstatter und Lokalreferenten verwandeln will.

Das Abschreiben der Lebenswirklichkeit hat aber auch nach anderer Seite hin seine Bedenken: es geschehen mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als die Muse zu erfahren oder zu berichten braucht, ja es giebt Mancherlei, wovon sie ihr Gesicht abzuwenden zugleich das Recht und die Pflicht hat. Das wird neuerdings hartnäckig geleugnet; die neuen Stürmer und Dränger wollen mit ihrer Muse dnrch Dick und Dünn gehen und setzen sich gegen das erbärmliche Philisterthum zur Wehr, welches verlangt, daß gewisse Grenzen respektirt werden, Schranken der Wohlanständigkeit und des guten Geschmacks. Von Frankreich herüber tönt das Evangelium, welches ein neues Weltalter der Poesie verkündigt, welche sich den Schlaf von Jahrtausenden aus den Augen reibt und endlich einmal die Dinge sieht wie sie sind und schildert wie sie sind, und zwar nicht Das oder Jenes, sondern alle Lebensäußerungen der Kreatur rückhaltlos ohne irgend ein Scheuleder der Aesthetik und der Moral.

Ein deutscher Philosoph, Karl Rosenkranz, hat in seiner „Aesthetik des Häßlichen“ sehr feine Grenzen für das Erlaubte in der dichterischen Schilderung gegeben und zwar ohne die geringste Engherzigkeit; er hat freilich das Rohe, Niedrige und Gemeine nicht mit einem passe-partout für alle poetischen Gattungen versehen. Gewiß, auch der Cynismus hat sein Recht, aber nur als vorüberleuchtender mephistophelischer Schwefelblitz, nicht in breiter Ausführung und bei selbstgefälligem Verweilen; der Humor, der gleich dem Regenbogen vom Schmutze der Erde die Leiter zum Himmel baut, kann Alles adeln, was er gleichsam wie mit leuchtenden Fingern betupft.

Doch eine trockene humorlose Darstellung des Widerwärtigen, Gemeinen, überhaupt aller Naturprocesse, denen der Mensch unterworfen ist, muß geradezu abstoßend wirken. Hierzu gehören auch Krankheitsbilder, die mit einer pathologischen Genauigkeit ausgeführt sind. In seinem Romane „La joie de vivre“ führt uns Zola aus einer Klinik in die andere; es fehlt nicht das geburtshilfliche und nicht das Thierlazareth; schon in seinem „Pot-Bouille“ hat er mit einer geradezu empörenden Detailmalerei die Leiden einer sich selbst entbindenden Gebärerin geschildert. Die Vorliebe für den Schmutz ist ein Kennzeichen dieses Autors; doch auch davon abgesehen, gehören seitenlange Krankheitsbeschreibungen in ein Lehrbuch der Heilkunde, nicht in einen Roman. Die Geschichte eines kranken und sterbenden Hundes wird uns von Zola mit einer Ausführlichkeit erzählt, wie von Daudet diejenige des kranken und sterbenden Herzogs von Morny: zwischen Mensch und Thier giebt es für diese Schule keinen Unterschied; alle Theologie ist Anthropologie, sagte ein deutscher Denker; alle Anthropologie ist Zoologie, sagen die Franzosen der neuesten Aera.

Am wichtigsten wird die Frage, ob der Roman der Lebenswirklichkeit schrankenlos huldigen müsse, bei der Darstellung der Liebe der Geschlechter. Von allen Dichtgattungen bietet der Roman die größte Möglichkeit, nicht blos die Leidenschaft des Herzens, sondern auch die der Sinne mit einem die ganze Farbenskala erschöpfenden Reichthum des Kolorits zu schildern, und er hat zu allen Zeiten sich diesen Vorsprung vor den anderen Dichtgattungen zu nutze gemacht. Erotische Romane hat’s immer gegeben und auch in Romanen mit anderem Hauptinhalt ist den oft sinnlich gehaltenen Liebesscenen ein breiter Raum gegönnt worden. Unsere Klassiker, Goethe sowohl wie Wieland, haben sich hierin keine Beschränkung auferlegt und selbst in Jean Paul’s Romanen finden sich derartige Situationen. In dem dichterischen Kunstwerke haben sie ihr gutes Recht: nur dort werden sie unberechtigt und haltlos vor dem Richterstuhle der Aesthetik, wo sie als Selbstzweck auftreten, mit der unverkennbaren Tendenz, sinnlich erregend zu wirken, oder wo das Gemeine der Gesinnnng und der Schilderung überwiegt. Der Roman als selbständiges Dichtwerk, als Buch für sich kann nur nach diesem Maßstabe beurtheilt werden; erscheint er aber in Journalen, in Wochen- und Tageblättern, so ist durch die Art dieser Veröffentlichung und durch die Rücksicht auf die Zusammensetzung des Publikums, dem er geboten wird, doch noch manche Beschränkung unabwendbar, selbst wenn man ein für allemal jede falsche Prüderie ausschließt, die hier und dort ein zu engherziges Scepter führt. Der Hinweis auf Frankreich ist dabei ganz unzulässig: denn die französische Pädagogik innerhalb der Familie ist eine gänzlich andere als in Deutschland.

Niemals werden dort die Töchter des Hauses in die Theater geführt, wenn die gefeiertsten demi-monde- und Ehebruchskomödien gegeben werden; ja selbst die compte-rendus über den Inhalt derselben in den Feuilletons der Zeitungen werden ihnen von den Eltern gewissenhaft unterschlagen. Bei uns sitzen die abonnirten Töchter neben den abonnirten Müttern im Theater, mag noch soviel französischer Skandal sich auf den weltbedeutenden Brettern breit machen. Und ähnlich verhält es sich mit den Blättern und Journalen: eine Familiencensur giebt es bei uns nicht; gerade dieser Mangel drückt oft unseren Redaktionen den Rothstift in die Hand: diese Freigeisterei unserer Erziehung lastet auf der freien Inspiration unserer Romandichtuug, die dadurch znm Theil auf ein niedriges Niveau herabgedrückt wird. Mindestens tritt jenes Dilemma ein, das wir als die Aeußerung eines Weltmannes in dem Werke „L’Allemagne de Mons. Bismarck“ mit den Worten ausgedrückt finden: „ich verlange nicht, daß die Backfische lesen dürfen, was mir gefällt; aber man soll auch von mir nicht verlangen, daß ich lese, was den Backfischen gefällt“.

Nicht blos gegen diese nothgedrungene Censur deutscher Familienblätter, sondern auch gegen jene Gebote der Aesthetik richtet sich der Ansturm der Fanatiker, die aus dem Heereslager der Zola und Genossen kamen; denn wo einmal in Frankreich die Wirbeltrommel gerührt wird, da fehlt es in Deutschland nicht an einer zuströmenden Menge. Leider hat Zola bei uns eine schon ziemlich zahlreiche Schule gefunden: es sind die Unsittlichkeits-Enthusiasten, die Fanatiker der Zote oder mindestens die Apostel eines Realismus, in dessen Hochpotenzen sie die Radikalkur für alle ästhetischen Leiden des Jahrhunderts erblicken. Ohne Frage setzt Zola einen Trumpf darauf, in seinen Romanen mit großem Behagen alles vorzubriugeu und zu betonen, wovon man sich in anständiger Gesellschaft zu sprechen scheut. Hierin mehr als in seiner markigen Darstellungsweise wird er von den deutschen Jüngern nachgeahmt. Die Abenteuer der Bonnen in „Pot-Bouille“, der Verkäuferinnen in „Au bonheur des dames“, der Strandbewohner in „La joie de vivre“, der Arbeiter und Arbeiterinnen des Kohlenbergwerks in „Germinal“ werden mit einer trotzigen Rücksichtslosigkeit erzählt – und auf diesem mit sittenlosen Reliefs geschmückten Piedestal der Zola’schen Muse erhebt sich die plastische Gestalt der üppigen Nana, um welche die Orgie des neuesten Pariser Lebens dahinbraust.

Das alles wird in Deutschland gepriesen, das gilt für schöne Naturwahrheit und Lebenswirklichkeit: dagegen wird die Fahne idealistischer Dichtung mit Hohngelächter in den Staub getreten; ja man geht so weit, hinter maßvoller Darstellung der Liebe „versteckte Sinnlichkeit“ zu suchen. Niemand hat sich wohl träumen lassen, daß die „Gartenlaube“ seit Jahrzehnten nichts Anderes gewesen als ein großes „Gastmahl der Borgia“. Niemand hätte einen so maßlosen und unberechtigten Angriff für möglich gehalten, wie er jüngst gegen die Marlitt gerichtet wurde. Ôte-toi que je m’y mette ist die Losung – doch wohl schwerlich würde irgend Jemand ein Glück darin sehen, wenn an Stelle der Marlitt’schen Romane die novellistischen Kraftstücke jener Zola-Anbeter träten. Die Marlitt ist eine unserer besten Erzählerinnen; ja in Bezug auf angeborne Gabe des Fabulirens und lebendiger Schilderung braucht sie keinen Vergleich zu scheuen. Davon hat sie auch in ihrem neuesten Werke Proben gegeben: die Erzählung, wie Gretchen sich auf das Gut des Großvaters flüchtet, ist ein kleines Kabinettstück lebensvoller Darstellung. Sie weiß die Leser in Spannung zu versetzen, und daß sie gerade nicht alles Sinnliche verbannt, sondern dasselbe mit Maß verwerthet, gehört zu ihren Vorzügen. Niemand wird so thöricht sein, sie mit Schiller und Goethe vergleichen zu wollen: nur das hat sie mit ihnen gemein, daß der Werth der einzelnen Werke ein ungleicher ist.

Trotz des seltsamen Angriffs, den der sich absurd geberdende Most der jüngeren Kritik zu Tage gefördert hat, wird Niemand die Marlitt für eine Vergifterin des guten Geschmackes und der guten Sitten halten, wie man auch sonst über ihre schriftstellerischen Leistungen denken mag. Das Maß der Lebenswirklichkeit, das sie in ihren Romanen bietet, ist das richtige. Jene Angriffe werden als Misch- und Mißgeburten einer anf Abwege gerathenen kritischen Phantasie in Spiritus aufbewahrt bleiben unter den andern tragikomischen Naturspielen des litterargeschichtlichen Museums.