Predigt am Jubiläum des Evangelischen Arbeitervereins Nürnberg

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Autor: Hermann von Bezzel
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Titel: Predigt am Jubiläum des Evangelischen Arbeitervereins Nürnberg
Untertitel: den 23. Juli 1911 gehalten in der St. Sebalduskirche
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Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission
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Predigt
am


Jubiläum des Evangelischen
Arbeitervereins Nürnberg,


den 23. Juli 1911


gehalten


in der St. Sebalduskirche


von


Oberkonsistorialpräsident D. Dr. von Bezzel in München.



1911.
[Verlag der] Buchhandlung des Vereins für innere Mission.
[N]ürnberg, Ebnersgasse 10.
[Druck v]on Chr. Auer, Nürnberg.


|  Die Güte des Herrn ist es, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu und Deine Treue ist groß!

 Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt! Amen!

 So lesen wir im hohenpriesterlichen Gebet bei Johannes im 17. Kapitel: „Ich bitte nicht, daß du sie von der Welt nehmest, sondern daß du sie bewahrest vor dem Argen.“

 In dem Herrn Geliebte! Ein Ehren- und Freudentag ist mit diesem 6. Sonntag nach Trinitatis für den evangelischen Arbeiterverein und damit für die evangelische Gemeinde Nürnberg heraufgezogen. 50 Jahre hat er das Evangelium in der Arbeit betätigen und die Arbeit durchs Evangelium stärken können, 50 Jahre lang hat er erfahren mögen, daß evangelischer Glaube und protestantische Arbeit in unlöslicher gesegneter Wechselwirkung stehen. – Alle Feiern weisen auf Geschichte. Wir denken zurück an jene Tage, da auf dieser Kanzel der Pfarrer Albrecht Fleischmann dem großen Vorreformator Johann Huß Beifall sprach, als dieser, auf seiner Todesfahrt in Nürnberg angelangt, seine Anschauungen vertrat. Wir denken an jenes Gespräch im nahen Rathause vom März 1525, da einer der Höchsten im Rat, Lazarus Spengler, evangelischen Glaubensanschauungen Bahn in dieser Stadt brach und gab. Und nun treten, um nur einige zu nennen, vor unser Auge die so gesegneten schlichten Bürger und Arbeiter dieser Stadt: Hans Sachs, der im Jahre 1576 Gestorbene, welcher mit dem Jubelklang seines treuen, deutschen Liedes Luther entgegen jauchzte und ihm den Namen gab, der uns fortan der liebste geblieben ist, die „Wittenberger Nachtigall.“ 100 Jahre später, 1685, zieht, um seines evangelischen Glaubens willen vertrieben, ein armer Bergmann in die Mauern hiesiger Stadt ein, Joseph Schaitberger. Er hat nichts bei sich als seinen treuen Gott und seinen alten Glauben. Da verschafft ihm der Pfarrer von St. Jakob, Ungelenk, die Mittel, daß er seinen hochberühmten Sendbrief in hiesiger Stadt drucken lassen und ausgehen heißen kann. Da hier nicht mehr Bergmannsarbeit zu treiben war, weigerte sich Schaitberger der einfachsten, schlichtesten Arbeit nicht, ward Holzhauer, und konnte als ein Bekenner, in dem sich Arbeit und Glaube geeinigt hatten, vielen zum Segen werden. Einen aber aus vergangenen Jahren laßt mich noch nennen, den ein großer deutscher Naturforscher seiner Freundschaft, ein Philosoph seines Beifalles gewürdigt hat – ich meine den Rosenbäcker Matthias Burger, der, ein Schüler der großen Württemberger Theologen Bengel und Ötinger, bei der nächtigen Arbeit in die Tiefe der heiligen Schrift sich eingründete. Hans Sachs, Joseph Schaitberger,| Matthias Burger – welche Namen treuen Verbündnisses von Arbeit und Arbeitsernst im Glauben!

 Im Jahre 1861 steht eines Tages ein einfach schlichter Rat hiesiger Bürger beisammen; sie haben an einem weltlichen Fest den Segen der Gemeinschaft erfahren und begeben sich nun zu ihrem Pfarrherrn mit der Frage, ob dieser Segen nicht auch in evangelisch-kirchlicher Weise verspürt und erfahren werden könnte. Es sind die Männer Adam Steiner und Karl Georg Lill. Was aber in den Adventstagen des Jahres 1861 hier geplant wurde, hat späterhin – 20, 30 Jahre später von dieser Kanzel aus ganz besonderen Segen und Weihe erfahren durch den Volksmann unter den Predigern, durch den Prediger aus dem Volke, den seligen Pfarrer Georg Bohrer. Was er in fast 20jähriger Tätigkeit seinem geliebten Arbeiterverein gewesen ist, ein Mann, von dem Segensströme ausgingen, weil er nichts anders sein wollte als ein Bekenner evangelischer Wahrheit in Wort und Werk, das bleibt in den Annalen dieses Vereins nicht nur, sondern in vielen tausend evangelischen Herzen verzeichnet und beschlossen. Was er auch späterhin für unsere Landeskirche geworden und gewesen ist, vergelte ihm Gott! Als es mit ihm zum Sterben ging, hat seine Pflegerin in nächtlicher Stunde ihn damit getröstet, daß auch in der Verklärungswelt Arbeit genug vorhanden sei – und aus der Freude an der Arbeit ist er in die Arbeit der Freude hinübergegangen; ein ganzer Mann, ein ganzer Christ, ein rechter Diener seines Heilandes, volkstümlich, treu, einfach und wahr.

 In all diese Erinnerungen, die wir in dieser Stunde wie Markzeichen und Merksäulen aufrichten, tritt der herein, der mehr gearbeitet hat, als wir alle, von dem der Prophet rühmt, daß er bis zum Tode die Arbeit geliebt und gelitten hat: Jesus Christus – und bietet der feiernden Gemeinde und den in ihr lebenden Vereinen zwei Wünsche: weltoffen und weltfrei.

 I. „Ich bitte nicht für sie, daß du sie von der Welt nehmest“ spricht der Herr! Welch große Art! Der Herr Himmels und der Erde soll sich um solch arme Leute annehmen wie diese Fischer vom See Genezaret, diese Teppichweber und Zolleinnehmer. Ihre Namen sind unbekannt, ihre Arbeit still verborgen, aber sie haben Einen sich zum Freund erkoren, in dessen Nähe der ärmste Name aufleuchtet und die geringste Arbeit Licht und Klarheit empfängt – sie haben Jesum in ihr Schiff genommen, seinetwegen die Netze ausgeworfen, um seinetwillen den ganzen Tag gearbeitet. Sie haben nicht übergeistlich des Ernstes des Tages vergessen noch ungeistlich an die Forderungen des Tages sich verkauft, sondern haben Jesum eingeladen, daß er, der große Meister der Arbeit – wie er sich nennt –, der Baumeister und „Architekt“ ohnegleichen, sich ihre Gemeinschaft gefallen lasse.| Da nun der Herr sich anschickt, von seinen Jüngern zu scheiden, geht durch ihre Seelen das innige Verlangen, er wolle sie mit sich ziehen, die Arbeit ein Ende nehmen heißen und sie in die Ruhe einführen, die zu bereiten er gekommen ist. Aber er wehrt solchem Verlangen. Keiner kommt heim, er sei denn zuvor reichlich in der Fremde gewesen, und niemand kommt zum Frieden, außer durch Streit. Darum spricht er: „Ich bitte nicht für sie, daß du sie von der Welt nehmest.“ Nimmt man den Sauerteig aus dem Mehle, ehe er seine Kraft und Arbeit vollbracht hat? Tut die Hausfrau das Salz aus den Speisen, ehe es gewürzt und gesäuert hat? Löscht man auch das Licht aus, ehe es recht und schön geleuchtet hat? Der Sauerteig muß wirken, das Salz muß würzen, das Licht muß leuchten! Ich bitte für sie um das Recht der Arbeit! Seitdem der Herr die Arbeit geheiligt und den schlichtesten Beruf durch seine Nähe gebenedeiet hat, seitdem das Evangelium die Arbeit des Banausencharakters entkleidet und des Adels gewürdigt hat, heißt es: Gib uns, o König, das Recht auf Arbeit.
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 Teurer evangelischer Arbeiter-Verein! Es gibt soviel zu tun! Da ist dein Haus, in dem du arbeiten sollst. Mein Bruder, sei ein Gehilfe deines Weibes, ein rechter Erzieher deiner Kinder! Laß sie erkennen, daß der Schweiß, der von dem Angesicht rinnt, höchste Zierde und Würde ist! Laß dein Weib die Gehilfin in der Arbeit sein, daß sie in Gemeinschaft mit dir die Kinder zu rechten Himmelsbürgern, und damit zu tüchtigen Erdenleuten erziehe! Da gibt es in deinem Beruf neue Entdeckungen, bisher nicht gekannte Vorteile und Erfindungen. Der Herr, der die Erde ausgetan hat, will, daß wir sie beherrschen sollen; er fordert, daß wir uns alle Kulturfortschritte, alle Errungenschaften der Arbeit und der ingeniösen Entdeckungen zu eigen machen und in seinen Dienst stellen. Da ist der Garten, in den er dich gesetzt hat, daß du ihn bewahrest und bebauest – bitte um das Recht der Arbeit! – Die Stadt, die dich vielleicht seit deinen Kindsheitstagen in ihren ehrwürdigen Mauern aufgenommen und begastet hat, erwartet von dir Arbeit! Soziale Probleme liegen auf der Gasse, sie werden nicht mit Beschlüssen hinweggeräumt, sondern mit Arbeit bestanden! Neue Fragen gibt die neue Zeit: man geht nicht an ihr vorbei mit einer himmlischen Sehnsucht, sondern man nimmt sich ihrer an. „Ihr seid das, Salz der Erde!“ Allerlei Anforderungen stellt der Staat an euch. Wollt ihr feige euch zurückziehen, geliebte Brüder, und in verschlossener Kammer eines ungesunden, weil unfreien Christentums warten und pflegen? Wohl, ihr seid nur hier zur Herberge, und die Herberge ist böse – aber ihr habt Pflichten gegen Staat und Volk! Bittet um das Recht der Arbeit! – Vor 500 Jahren und mehr steht auf der Münster-Kanzel zu Straßburg der teure Mönch Johannes Tauler und| predigt von den zwei Augen des Christen. Das eine sei auf Gott, auf die Welt das andere gerichtet, und wenn das eine Auge sehen wolle, müsse das andere sich schließen. So soll es unter uns nicht sein! Mit beiden Augen zu Gott, mit beiden Augen zur Arbeit! Erden- und Himmelsberuf liegen in einer Linie. Laßt uns wirken, solange der Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann – früher vielleicht, als wir’s ahnen – über uns, über unser geliebtes Volk.

 Aber zum Recht auf die Arbeit gesellt die Barmherzigkeit dessen, der den Wolken sinnend nachsah und der Blumen auf dem Feld und an den Hängen sich freute, der die Vögel bei ihrem Flug betrachtete und den Kindlein barmherzig zuschauen mochte: die Freude am Genuß. „Ich bitte nicht, daß du sie von der Welt nehmest.“ Er fordert nicht auf zu einer griesgrämigen, weltscheuen, weltverdrossenen Art, mit der seine Ehre geschmäht und seine Persönlichkeit gelästert wird, als ob er nicht das Wasser des darbenden Mangels in den Wein großer Güte gewandelt hätte! Er hat die Freude am Genuß uns gegönnt. Da gehe hinaus, teurer Verein, in Gottes herrliche Natur, wenn im Frühling wieder alles treibt und sproßt, und der Sommer seine Ernten und Ähren bereitet! Freue dich, wenn der Herbst das Versprechen des Frühlings einlöst, und wenn der Winter die Erde zur Ruhe und neuen Bereitung kommen heißt! Denn die Erde ist voll seiner Güter. Es wachsen auf ihr nicht nur Dornen u. Disteln, – die hat er in seinen Kranz genommen, da er am Kreuze für eine Welt blutete – es wachsen auf ihr allerlei Herrlichkeiten, Freuden und Lobsagungen. Danket dem Herrn, denn er ist freundlich – draußen in der Natur!

 Mir scheint das recht lutherisch zu sein, wenn man sich der Welt draußen freut. Wundersam! Calvin bringt den größten Teil seines Lebens an den herrlichen Gestaden des Genfer Sees zu – in seine Studierstube schaut der Montblank hinein! In all seinen Briefen erwähnt er nichts von dieser Herrlichkeit und Schöne. Da seht dagegen das Bild unseres Luther, wie er des Kirschbaums vor der Zelle gedenkt, die schlichte Reseda preist, in einem Brief von den Vöglein am Fenstersims schreibt und seinem Sohne all die Herrlichkeit der Erde schildert und uns zuruft: Freut euch, ihr habt ein Recht, euch zu freuen!

 Da ist’s – muß ich’s in Nürnberg erst sagen? – die Freude an der Kunst, an der herrlichen Nachahmung der Gottesschöpfung, an der Nachdenkung der Gottesgedanken. – Hier hat ein Albrecht Dürer deutsches Stilleben mit evangelischen Farben gemalt. Hier haben große Meister durch die Reihe der Jahrhunderte in rechter, zarter Art Sinnigkeit und Innigkeit verbunden. Hier ist das Wort gefallen: „Einfachheit und Wahrheit sind die Zierden der Kunst.“ Freue dich, evangelischer| Arbeiterverein, all der Herrlichkeiten, die über deine teure Vaterstadt so verschwenderisch ausgestreut sind, daß ihr gleich in allen deutschen Landen nichts gefunden wird – all der still verborgenen Heimlichkeit in deinen Kirchengebäuden, all der trauten Erker und Bauten, in die kleine unscheinbare Liebe hineingeheimnist ward, freue dich, daß die Kunst hier eine Stätte hatte wie kaum irgendwo! Evangelische Art ist nicht Kunstflucht, sondern Kunstfreude!

 Wie hat dein Bohrer und seine Genossen die edle Musika in dem Verein gepflegt – ein rechtes Vermächtnis Martin Luthers, der einmal sagt:

„Wer sich die Musik erkiest,
hat ein himmlisch’ Gut gewonnen,
denn ihr erster Ursprung ist
aus dem Himmel hergenommen,
da die lieben Engelein
selber Musikanten sein.“ –

 Da schweigt die Traurigkeit; es weichen alle Bitternisse des Lebens; da zerrinnen die Sorgen, es vergehen die Ängste; da klingt das fromme, deutsche, keusche Volkslied und in großen Akkorden mit der Dominante: Allein Gott in der Höh sei Ehr! der Säulen bewegende, Dome durchschütternde lutherische Choral. – Freue dich des Sanges und Klanges in deinem Volk und in deiner Kirche!

 Und noch eins. All das könnte dich nicht so recht erquicken, wenn in dir, feiernder Verein, nicht traute und treue Freundschaft bestünde. Luther weiß, warum er in der Auslegung der vierten Bitte gerade gute Freunde u. getreue Nachbaren nennt. Evangelischer Arbeiter-Verein, schließe deine Reihen dichter, gründe Freundschaften für das Leben, tiefste Beziehungen übers Grab hinaus! Gönnt einander Genuß der Freundschaft, einer des andern Gewissen, Rat und Trost!

 „Ich bitte nicht, daß du sie von der Welt nehmest.“ Den Genuß nach der Arbeit, die Arbeit aus dem Genuß, den Genuß zur Würze der Arbeit, die Arbeit, um den Genuß zu verdienen – so wünscht der Herr heute Weltoffenheit dem Evangelischen Arbeiter-Verein Nürnberg.

 II. Aber die Weltoffenheit hat eine Gefahr, das leugnen wir nicht. Der Lutheraner ist ein Mensch der Vorsicht, der Protestant ein Mann des Gewissens, der evangelische Christ trägt seine Seele in seinen Händen. Weltoffen, aber nicht weltverloren! Weltherrlich, aber nicht weltgeknechtet!

 „Ich bitte, daß du sie bewahrest vor dem Argen.“ Aus der Tiefe der Gottesschau, aus den Wellen des Völkermeeres, aus der Heimlichkeit unergründeter Gedanken steigt eine furchtbare Gestalt herauf. Ihre Wirklichkeit leugnen heißt sich betören – ihre Wirklichkeit ausführen wollen ist vergebliches Beginnen.| Vor den König des Lichtes, Christus, tritt der hervor, der ein Fürst dieser Welt ist, der Arge – nicht ein Phantom krankhafter Nerven, nicht eine Ausgeburt schwermütiger Gedanken, sondern eine zu überwindende Wirklichkeit, eine Tatsache, vor der uns graut – das ist der Arge oder, wie der Heiland sagt, „der uns Mühe macht,“ der den Acker mit Dornen und Disteln besäet, daß wir auf ihm erlahmen und ermatten, der in die Ehen die Zwietracht wirft, daß sich Eheleute nicht mehr verstehen, der das Mißtrauen im Volke erweckt, daß es, von Phrasen betört, seine Freunde verachtet und vergißt; der die Unruhe durch die Kirche führt, daß sie ihres Besitzes nimmer froh wird. Das ist der, der Mühe ohne Freude, Arbeit mit saurer Bitterkeit, böse Tage ohne friedsamen Abend der Welt und der Kirche bereitet.

 „Daß du sie bewahrest vor dem Argen! Er beschwert deine Seele, geliebter evangelischer Christ, indem er dich mit tötlichem Mißtrauen gegen dieses Bibelbuch erfüllt. „Sollte Gott gesagt haben?“ – hebt er an und zerreißt das Gesetz und tut aus die Propheten und verlacht die Evangelien und wirft weg die heiligen Briefe, und von dem ganzen Buch bleibt ein erbärmliches Fragment übrig, nicht wert des Einbandes, mit dem man es ziert. Er wirft in deine Seele den lähmenden Zweifel, daß du keinem Wort mehr traust: Wer weiß, ob es so gemeint, ob es mir gesprochen ist, ist es nicht einer Zeit bloß vermeint, gilt’s nicht etlichen Menschen nur, gilt’s der Menschheit? Und der arme Mensch wird wankend, der Stab wandelt sich zur Schlange und die Schlange bietet sich als Stab, und er zweifelt und wirft den Kinderglauben als des Mannes unwürdig dahin und den Glauben der Väter als überlebte Ammenweisheit weg – und das größte Kleinod des deutschen Mannes, daß er beten kann, sinkt in den Staub! Evangelischer Arbeiterverein, bitte – und dein Heiland bittet mit dir – daß dich Gott behüte vor dem Zweifel, dem Kleinglauben, vor der Lästerung! Lieber töricht mit Christus, als weise ohne ihn! Lieber einsam, als in reizender Gefolgschaft, die ihn nicht kennt! Lieber ein Bettler und ein Tor in dieser Welt als ein Reicher und Besitzender ohne den armen Mann am Kreuze, ohne den König der wahren Ehren!

 Er spricht von dem Feinde, der dir das Leben beschwert; aber auch von dem Feinde, der den Ausblick verdunkelt. Was macht mich froh, was macht mich reich, was macht mich frei? „Daß du uns ein ewiges Leben nach diesem kurzen werdest geben.“

 Einer der größten weltlichen Denker (Nietzsche) hat den Vers geprägt: „Die Flocken fallen müde nieder auf die Stadt, weh’ allen Fremden, weh’ dem, der keine Heimat hat!“ Und der Fürst des Betruges, der König der Lüge, sagt es dir, mit diesem Leben sei die Posse zu Ende, mit dieser Arbeit sei das Dasein| beschlossen, und wenn die letzte Stunde vom Turm schlägt, sei auch die letzte Stunde des Lebens zerronnen. Ist es so? Habt ihr nicht vorhin bekannt: „Ich glaube ein ewiges Leben“? Hat ein neidischer Gott euch gar mit Hoffnungen und Aussichten angetan und das Dasein mit Erwartungen geschmückt, daß am Ende sie alle euch äffen? Seid ihr dazu rein menschlicher Sehnsucht entnommen, mit sicherem Auge und mit wachem Blick ausgestattet, daß am Ende eine Larve vor euch trete und spreche: Narren! Das Hoffen ist Zeichen der Schwäche! – das sei ferne! „Will Gewebe falscher List mir dein Bild verdunkeln, wollst du selber, wie du bist, mir ins Herze funkeln.“ Wiederum: „Ewigkeit, in die Zeit leuchte groß herein, daß uns werde klein das Kleine, und das Große groß erscheine, teure Ewigkeit!“ – Sag’ an, wenn dir die Aussicht auf die Heimat verdeckt ist, wo deine Väter, deine Gründer, deine Freunde, deine Heroen weilen, was hast du noch? Was ist die Geschichte ohne Ewigkeit? Sammlung von Momenten! Was ist Erinnerung ohne Fortleben? Selbsttäuschung! Gott sei gebeten über uns, daß die verdunkelnden Mächte des Argen uns nicht antasten und endlich – die vereinzelnde Macht uns nicht schade.

 Wenn ein evangelischer Arbeiterverein sich auflösen will, muß er nur dem Geist der Zwietracht in seinen Reihen Eingang verschaffen, den Geist der Gegensätzlichkeit innerlich hegen.

 Zwar Gegensätze müssen sein, Streit muß gekämpft werden. Gott erhalte darum den evangelischen Arbeiterverein in Widersprüchen seitens der Menschen und der Arbeiterschaft! Er gebe allerlei Fragen und Sorgen, er mache es ihm nicht leicht! Aber die vereinsamende und vereinzelnde Zwietracht tue er fern von euch! – Er wird es tun! Denn der in uns ist, der Mann von Nazareth, der große Arbeiter auf Golgatha, der gekrönte König, Hirte und Bischof seiner Gemeinde, ist größer, denn der in der Welt ist. Er bittet um wahre Einheit, die dasselbe meint und auf allerlei Wegen erstrebt. Er hat die Gemeinde nicht aufs Vergehen, sondern aufs Bleiben u. den Baum der Kirche auf Blüte u. Reife, nicht aufs Welken des Herbstes angelegt. Er wird es tun. Alle Gottesgedanken ringen nach Gestaltung und von der Gestaltung zur Ausführung und von der Ausführung zur Vollendung. So spricht er heute: „Siehe, ich mache alles neu“ und viele tausend Stimmen jauchzen ihm zu: „Ja, es ist geschehen.“ „Siehe, ich will dich behüten, wo du hingehst“ tröstet er in göttlicher Vollmacht den evangelischen Arbeiterverein; das Wort löst er ein unter der einen Bedingung, daß wir seine Jünger bleiben. –

 Ja das wollen und das können wir! Das wollen wir! – 50 Jahre Geschichte, was sage ich: Zweitausendjährige Geschichte der Vermählung von Arbeit und Evangelium, von| Gebundenheit und Freiheit verpflichten uns dazu. Das wollen wir geloben an den Gräbern unserer Väter!

 Und daß können wir! Daß Evangelium verwerfen wir erst dann, wenn es ausgebraucht, das Bergwerk der Gnade verschütten wir erst, wenn es ausgebeutet ist. Noch aber haben seine Brunnen Wassers die Fülle und aus seinen Bergwerken werden Kleinodien gefördert, die in echtem Glanze erstrahlen. Laßt uns bei Jesu bleiben, es mag uns nicht gereuen. Sein Apostel aber habe das letzte Wort: Er ist treu, er wird euch behüten vor dem Argen. (1. Thess. 3, 3.)

 Deine Güte, Herr, sei über uns, wie wir auf dich hoffen! Gib dem feiernden Verein Arbeit in der Zeit, die Zeit der Arbeit und die Zeit der Ruhe und nach der Arbeit in Sorgen Sorglosigkeit, selige und ewige Freude!

Amen!