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Predigt zur Eröffnung der Generalsynode am 16. September 1913

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Textdaten
Autor: Hermann von Bezzel
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Titel: Predigt zur Eröffnung der Generalsynode am 16. September 1913
Untertitel: Gehalten in der Pfarrkirche zu Bayreuth
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Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: ca. 1913
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Erscheinungsort: München
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Predigt


zur Eröffnung der Generalsynode
am 16. September 1913.


Gehalten in der Pfarrkirche zu Bayreuth
von dem Oberkonsistorialpräsidenten
D. Dr. von Bezzel.



Der Reinertrag gehört für den Bau
einer Kirche in Altstadt Bayreuth.




Druck von Paul Müller in München, Mittererstraße 4.


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Text: Hebr. 12, 1–2. „Darum auch wir, dieweil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, laßt uns ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht und laßt uns laufen durch Geduld in den Kampf, der uns verordnet ist, und aussehen auf Jesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens.“ –


In Christo Geliebte! Die 16. vereinigte Generalsynode unserer Landeskirche, die 23. in ihrer Geschichte hat begonnen. Im Namen der hier versammelten Väter und Brüder grüßt der Prediger die evangelische Gemeinde Bayreuth, in deren Gotteshaus wir Stärkung und Segen empfangen, in deren Mauern wir freundliche Aufnahme finden, mit dem alten Kirchengruße: Der Herr sei mit euch! – und erbittet für die Synode als Gegengruß den fürbittenden Wunsch: Und mit Deinem, mit Eurem Geist! Denke an unsere Arbeit, teure Gemeinde, wenn Du im täglichen Vater Unser zur zweiten Bitte kommst und stärke uns mit Deinem Gebete Mut und Freudigkeit. Du sollst, wills Gott, auch von uns Segen empfangen.

 Man mag an Generalsynoden viel auszusetzen haben, sie seien nicht das treue Abbild des Kirchenlebens, darum nicht der wahre Ausdruck der kirchlichen Stimmung, es sei die Vertretung von Stadt und Land nicht richtig verteilt, die Landeshauptstadt bedeute in ihr nicht mehr wie das kleinste Landdekanat, es sei das Arbeitsprogramm zu fest umschrieben, die Ordnung zu starr geformt. – Aber das wird man diesen kirchlichen Versammlungen nachrühmen dürfen, daß sie ernste Arbeit getan haben und von der jetzigen Generalsynode erwarten können, daß sie, der Verantwortung vor Gott und Menschen eingedenk, redlich sich bemühen will.

 Eine Arbeitsgemeinschaft wollen wir sein, in der einer den andern aneifert und zum tüchtigen Werke reizt, in der jede Gabe zur Geltung gelangen mag und jeder treue Wille begrüßt wird. Aus der Ferne wie aus der Nähe zusammengekommen, verschiedenen Berufskreisen entstammend, haben wir als Männer, als Freunde und Diener der Kirche einander und ihr das Beste versprochen, in ihr und für sie zu arbeiten, aus Dank und Liebe zu ihr. –

 Kein weltgeschichtlich bedeutsames Ereignis – so hören wir über die Generalsynode reden. Nein, wahrlich nicht, aber in die Geschichte des Gottesreichs wird sie mit ihrer Arbeit| und ihren Versäumnissen eingereiht. „Darum auch wir“ hebt unser Text an. Gottes Wort und Geheiß reiht Geschlecht an Geschlecht, heißt das eine gehen, ein anderes kommen, gibt jeder Arbeitsstunde ihr Gepräge und der einzelnen Kirchenzeit ihre Bedeutung. Die eine soll Friedenswerke pflegen, die andere das Schwert bereiten und führen, die unsere behüten, bewahren, aber auch Neues aufnehmen und beginnen. Wehe der Kirchenzeit, die sich ihrer Aufgabe entzöge, sie würde von der Ewigkeit verklagt und verurteilt werden, – was hinderte sie das Land? – wohl aber jeder, die Gabe und Recht erkennt und braucht. Darum auch wir, teure Väter und Brüder, stellen uns der Gemeinde Jesu Christi mit dem schlichten und mannhaften Verspruch dar:
Wir wollen arbeiten

     1. in treuer Wahrung der Geschichte,
     2. in ernster Heiligung unseres Wesens,
     3. in freudiger Hoffnung auf endlichen Sieg.

Mein Jesus rufet mich und heißt mich mit Ihm ziehen,
In Arbeit und Geduld mich mit Ihm zu bemühen.
Ach ja, ich gehe mit. Mein Heiland, geh’ voran,
Damit in Deiner Kraft ich freudig folgen kann. Amen.





 1. Christen sind moderne Leute, weil sie die Bedürfnisse jeder Zeit erforschen und ihnen dienen wollen. Dazu sind sie von dem berufen, der seine Jünger zum Salz nicht nur für die kümmerlich kleine Erde hat werden heißen, die ihr Fuß trat, sondern in die Welt hinaus wies, daß sie ihr, wo Zersetzung drohe, helfen und wo Leerheit und Ungeschmack herrsche, sie würzen sollten. Das Licht der Welt soll nicht nur der kurzen Zeit leuchten, in der es aufgezündet wird, sondern fort und fort, so oft Finsternis und Dunkel hereinbrechen und so lange der Wanderer auf nächtigem Wege die Leuchte begehrt. Christen sind weltoffene Leute, der Welt und für sie offen. Die Stadt auf dem Berge kann nicht verborgen bleiben, sie ist aber gebaut, daß man in ihr zusammenkomme, um vor dem Sturm geborgen und aus der Flucht gerettet zu sein. So am Weg der Zeiten stehend sind wir der Kritik der Vorübergehenden ausgesetzt, einer „großen Wolke von Zeugen“. Und als Vorzug der Jetztzeit möchte der Prediger es rühmen, daß so viel am Kirchenwesen geprüft, beurteilt und bemängelt wird. Kirchenleben, das nicht der Kritik unterstände, wäre nicht nach dem Sinn dessen, der so viel Widersprechen wider sich erduldet hat, wäre gehaltlos und Schein. Die urteilenden Stimmen vom Markte her dringen in die Stille des Gotteshauses, in die Arbeit der Wächter und Hirten, bald beschwerend, bald ermunternd. Die Wolke verwehrt manchmal die Freiheit| des Ausblicks und überschattet den offenen Weg. Aber das köstliche Zeugnis bleibt doch eben im Urteil, daß wir arbeiten und wachen, – am Tode und der Grabesruhe geht die Wolke vorbei.

 Christen sind moderne Menschen, sollen sie darum nach dem jeweiligen Urteil sich richten, der Tagesmeinung, die heute verkennt, was sie gestern ehrte, sich anpassen, sollen sie von jedem Luftzug das Licht sich auslöschen lassen? Man bietet ihnen Surrogate an, dürfen sie ihr klares Salz drangeben? Die Stadt wird veraltet gescholten, soll der Bau von Grund auf geändert werden? – So gewiß jedes Urteil am Wege vernommen und erwogen sein will, so gewiß darf nicht jedes bestimmen. Geprüft wird alles, nur das Gute behalten. Das Gute aber ist das im Feuer bewährte, in der Gluthitze geläuterte und aus ihr gerettete Urteil.

 Von der Gegenwart und ihrem wandelbaren Urteile weg, von der buntfarbigen Kritik der Tagesmeinung kehren wir in die von der Ewigkeit durchleuchteten Hallen der Geschichte ein, schauen wir auf die Wolke der Zeugen, die auf uns niederblickt, obwohl wir sie nicht sehen. Vor den Augen des apostolischen Mannes, dem wir den Hebräerbrief verdanken, hebt sich die selige Vergangenheit empor, die in die Gegenwärtigkeit der Arbeit hereinwirkt, die edle Schar all der Glaubensleute, die Gehorsam geübt, Verzicht geleistet, Schmach ertragen, Opfer gebracht haben, die in der Wüste ihr Vaterland und ihre Heimat in der Fremde fanden, unter dem Schwerte des Tyrannen verbluteten und ein in Spott und Verachtung viel angefochtenes Leben willig bestanden. Es sind wenig erlauchte Namen, nicht Weltweise, nicht viel Edle und Gewaltige, Ungenannte, wenig Genannte, aber in so hoher Ehre, daß ihrer die Welt nicht wert war, denn ihre Namen sind im Himmel angeschrieben. Nicht was sie taten, machte sie so groß, sondern was sie an sich tun ließen, ihre Leidentlichkeit war ihre Großtat. Und diese Leidentlichkeit heißt Glauben, diese Willensrichtung auf das Unfaßbare, dieser Abt des Gehorsams gegen das Wort ihres Gottes. – Der Glaube war ihr grünender Stab, ihre Wehr und Waffe, ihre einzige, aber ganze Kraft. Darum sind sie jetzt in die lichte Welt des Schauens und in den Reichtum des Vollbesitzes versetzt und umlagern uns wahrhaftig um unser Urteil zu heiligen und wehrhaftig, um uns im Kampfe zu stärken, wie es der 21. Artikel unseres Augsburgischen Bekenntnisses meint. In dieser Morgenstunde gedenken auch wir – „die Zeit würde zu kurz sein“ – in ernster Dankbarkeit der treuen Bekenner, die uns die Herrlichkeit des Glaubens vorgelebt haben. Unter grünen Ranken haben sie über Luthers Gemach auf der Wartburg das Wort gemalt: „Der Glaube| ist ein neuer Sinn, weit über die fünf Sinne hin.“ Und wir hören sein sieghaftes Wort: „Der Glaube macht lustig und trotzig gegen alle Kreatur.“ Königlich frei weiß er: „Der Herr Jesus ist mein Bischof, Herr, Vater, Meister, sonst weiß ich keinen mehr, also daß ich niemandem unterworfen bin als Ihm“, – nicht der Mann der Glaubenssätze, sondern der getreue, freudige Haushalter der Glaubensschätze. Wie hat er in Kraft des Glaubens das Ruh’n und Tun in gleichem Grade geehrt: „Streitet Gott nicht für uns, so wird unser Wachen vergeblich sein, arbeitet Er aber für uns, so wird auch unser Schlafen nicht vergeblich sein“. In der Reichsunmittelbarkeit des Gebetes hat er fürwahr Gerechtigkeit gewirkt, Verheißungen erlangt, ist kräftig geworden aus der Schwachheit und stark geworden im Streit. Christus und Glaube gehören ihm zusammen: wer aber am meisten glaubt, wird am meisten nützen und schützen. Vor den mächtigen Anstalten der Liebe in Halle steht August Hermann Franckes Denkmal: „Er hat Gott vertraut“ – hier das Geheimnis seiner Kraft und ihrer Erfolge. In ihrem Geiste haben an hiesigem Orte und in dieser Gegend vor bald zweihundert Jahren Flessa und Silchmüller Großes für Kirche und Schule geleistet. – Welche Frühlingstage aber gingen vor 50 Jahren über die Umgegend von Bayreuth auf, als Vikar Kettner in kurzer, aber unvergessener Wirksamkeit hier stand, ein Prediger des frohen, freien Glaubens. Vor sechzig Jahren hat der sel. Harleß, bei gleichem Anlaß wie es der heutige ist, auf dieser Kanzel das Wort vom Glauben als Sieg verkündet und in solcher Kraft die schweren Angriffe und bitteren Leiden überwunden, die sein Amt ihm brachte. Vor neunzig Jahren hat hier die erste Generalsynode getagt – welch edle heilige Geschichte hat Gott unserer teuren Landeskirche seit diesen Tagen geschenkt! Bekenner, Lehrer, große Denker und schlichte Arbeiter, Namen jetzt noch von reinem Glanze und längst verglänzte – alle eins in der ökumenischen Weitschaft des Glaubens, jetzt der Wolke der Zeugen zugesellt, denen ihr Heiland Mittelpunkt des Lebens war. – Geliebte, wenn ein Volk seiner Väter, eine Kirche ihrer Geschichte und der sie tragenden Kräfte vergißt, dann fallen sie dahin: Luther hat nicht umsonst die oblivio, den Undank als Todschaden bezeichnet.
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 Laßt uns darum die Geschichte treulich wahren, die reiche, hehre Geschichte des Glaubens. Ihr Urteil ist unbestechlich und ihre Kritik unwiderleglich: nicht der Mann macht den Glauben, sondern der Glaube den Mann. Glaube ist Kraft gegen das Sichtbare, Bemächtigung des Unsichtbaren, dringt durch Not und Tod zum Leben, läßt uns in Angst kommen,| um sie zu bestehen und in Sorge geraten, um sie zu überwinden. Angesichts der Zeugenwolke laßt uns Zeugen sein von der Vergangenheit an die Gegenwart und aus ihr für die Zukunft und in dem großen Zusammenhang bleiben, der durch die Jahrhunderte das Kreuz Jesu Christi umgibt, eins im Preise des Einen Lebens, in Mannigfaltigkeit von Sprache und Weise, im Wandel der Dinge den Unwandelbaren erfassend und behaltend, weil er von ihm ergriffen ist – Leib und Haupt vereint.
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 2. Pflege der Geschichte ist ja nicht tatenlose Ruhe auf fremdem Erwerb und behaglicher Genuß des beschiedenen Erbes. Herübernahme der Glaubensarbeit als eines unbesehenen und ungeöffneten Vermächtnisses ist unevangelisch. Wer zu den Zeugen sich gesellen will, muß ihres Geistes Hauch nicht nur verspüren, sondern von ihrem Geist sich beherrschen lassen und in die Geistesarbeit eintreten. Zum geschichtlichen Gedächtnis tritt die willentliche Nachfolge. So mahnt unser Text zur Echtheit. Laßt uns ablegen „die Sünde, die uns immer anklebt“. Der griechische Text redet von aufblähendem Schein. Das Amtsbewußtsein bei uns Geistlichen vergißt, zuvor sich zu predigen und macht so verwerflich. Der sel. Dann in Stuttgart, der Dichter des Liedes: „Gekreuzigter, zu Deinen Füßen“ warnt einmal vor der „verdammten Korrektheit“. Man wacht nicht genug über sich, wie sollte man der Herde gedenken, man sonnt sich im eigenen Glanze, wie sollte man die Schatten gewahren? Die bitteren Erfahrungen in den Gemeinden sind Anklagen gegen uns Hüter. Die sogenannte Bekenntnistreue hat viel sanftlebendes Fleisch genährt. Aber „unser Amt ist ein anderes Ding geworden“, ruft Luther. Laßt uns alle falsche Gläubigkeit, der die wahre Selbstzucht gebricht, alle Sattheit und Fertigkeit, alles Übergeistliche ablegen, das schlimmer ist als das Ungeistliche und vor die Gemeinde als die Männer der heilsamen Strenge gegen das Scheinwesen auftreten. Lieber fünf Worte aus heiliger Selbstbesinnung als zehntausend Worte mit Zungen (1. Kor.14, 19). Unecht ist die äußere Kirchlichkeit der Gemeinden, da die Kirchen gefüllt und die Herzen leer, das Wort fromm und der Wandel unheilig ist, das Herr Herrsagen hurtig und häufig geschieht und des Fleisches Wille ihn verleugnet. Wir unterschätzen die kirchliche Gewöhnung nicht, sie kann erziehen und will erhalten, aber sie ist nur Vorwerk, nicht die eigentliche Festung, sie ist Form des Lebens, nicht dieses selbst. In den kommenden Tagen, da der Herr richtend und sichtend durch die Kirche schreitet, werden Erste Letzte sein und aus mancher unkirchlichen Gemeinde| vielleicht Letzte zu Ehren kommen. Die Macht der Phrase in der Kirche, der rechtgläubigen wie der sogenannten freiheitlichen blendet das Urteil und benimmt den klaren Blick. Daß nur nicht mit dem Namen Jesu sich schmückt, was nicht sein ist! Christliche Kunst, christliche Veranstaltungen, wie viel Tünche, um die Welt zu verbergen, wie viel Schein, um das Wesen zu verhüllen! Merkt doch: Christus will überall bekannt, aber nicht überall genannt sein. – Die Sünde hindert im Kampf, weil sie träge macht, indem sie freundlich an Schritt und Tritt sich anpaßt. Mit wohlfeilem Optimismus beschleunigt sie den Schritt ins Ungewisse, mit dem noch wohlfeileren Pessimismus hindert sie den Weg zum Nötigen. Es gibt auch kirchlichen Leichtsinn, der da, wo tiefgehende, innerlich verankerte Gegensätze sich regen, nur von theologischen Sondermeinungen zu reden hat, welche Eigenart der Einzelnen oder gar ein hohes Vorrecht des das Individuum auf sich stellenden Protestantismus seien. Man übersieht die breite Kluft, die allmählich sich auftut und überbrückt sie mit der Phrase von der Notwendigkeit steter Reformation, die freilich ebenso nötig als gefährlich ist. Weil das Glaubensleben sinkt, sieht man die „Religiosität“ und getröstet sich der ethischen Weltanschauung. Man verwechselt Religion mit dem religiösen Zug der Zeit in Fragen und Suchen, Anregung mit Erbauung, Ästhetik mit Heiligung und Diesseitigkeitsdienst mit praktischem Christentum. Man treibt Askese in äußeren Fragen, um nicht das „Ich“ in den Tod geben zu müssen und berauscht sich an idealistischen Träumen, was man Ruhe in Gott heißt. Zahlen und Ziffern trösten, wo doch nur Er trösten kann, und aus der Kenntnis der Geschichte wächst die nichtssagende Meinung, sie wiederhole sich selbst, auf jede Höhe folge die Tiefe, aus der wieder die Höhe sich erhebe, als ob nicht eine letzte Ebbe und ein letzter Tag komme. – Solcher leichtgeschürzte Optimismus läßt nicht gewisse Schritte tun, übersieht oder unterschätzt den Feind, sorgt nicht für gute Waffen und läßt vor dem Streit erschlaffen und matt werden.
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 Aber gefährlicher noch ist der Pessimismus eines Kämmerleinchristentums, das tatenlos, ja gar froh die Flut herankommen sieht und nimmer an die Dämme eilt, das Hoffnungslosigkeit für Frömmigkeit hält und nur so für die eigene Seele zu sorgen meint, daß es der Behütung des Bruders vergißt. – Wahrlich, man kann die Not der Kirche nicht schwer genug nehmen. In einer großen bayerischen Stadt sind in den letzten Jahren an tausend Ehen ungesegnet geblieben, eine große Schar Ungetaufter und Ununterrichteter wächst unter uns auf, das Gnadengut des heiligen Abendmahls wird weithin verachtet, die Konfirmation sinkt| zur Familienfeier, die Kirche an den Gräbern zum Dekorationsstück herab, zur bestellten, ach! oft zur bezahlten Rednerin. Die Selbstmordziffer schwillt unheimlich an: vier evangelische Zöglinge höherer Bildungsanstalten haben in diesem Jahre sich das Leben genommen: wir klagen nicht an, aber wir beklagen. Die Austritte aus der Kirche mehren sich in schneller Folge, Geheimdienst und offener Abfall fördern ihn, die Sünden des Fleisches, der Brutalität wachsen zu einer unheimlichen Flut. So ist „auswendig Streit, inwendig Furcht“. – Man hat lange genug unsere Landeskirche von den tiefgehenden innerkirchlichen Bewegungen verschont gesehen, vielleicht für immer verschont geglaubt, als ob geistige Bewegungen an Landesgrenzen umkehrten und der Geist so obenhin gedämpft werden könnte! Nun ist, lange vorbereitet und plötzlich veranlaßt, das bittere Weh des Kirchenstreites ausgebrochen, ein ernstes, großes Leid. – Wir brauchen fromme Geistliche, treue Lehrer, reichbegnadete Erzieher – wo bleiben sie? Wohin der Blick geht, – ist Streit und Not. Die Wellen gehen hoch, und ihr Herr scheint zu schlafen.

 Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir sind wie wegelose Leute, aber das ist Gottes Ehre, in Seiner Weisheit einen Weg zu kennen. Teure Väter und Brüder, Ihr kennt ja mit uns, ihr teilt mit uns die Eliasfrage und -klage: „Es ist genug, Herr, so nimm denn meine Seele“. Aber ihr wißt auch den Bescheid des Herrn: „Stehe auf, du hast einen großen Weg vor dir“. Dieser Weg muß und will beschritten werden, so lange Gott steht, dieser Ruf muß und darf befolgt werden, weil der treu ist, der ruft. – „Nur kein gottloses Stillschweigen!“ warnt Luther vor dem lauen Optimismus. Aber – „Seid getrost, Ich habe die Welt überwunden. Dies Wörtlein mußt Du groß schreiben. Und ist’s nur Ein Wörtlein, hat nicht aus einem Stäublein Gott die Welt gemacht?“ So predigt er den heilwertigen Optimismus, denn man kann auch im Trauergewand Gott verleugnen und tatenlos die heilsame Pflicht versäumen. Wir wollen mit der Verzagtheit brechen, die müden Kniee aufrichten, die lässigen Hände stärken und ans Werk gehen, in den Kampf schreiten, der uns verordnet ist.

 Wir haben ihn nicht erwählt, aber Er hat ihn für uns erwählt, den Kampf wider Schein und Traum, wider Unwahrheit der Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Unwahrheit, wider tote Rechtgläubigkeit und falsche Lehre uns verordnet. Weil Er ihn befohlen hat, so wollen wir ihn aufnehmen und wie Er ihn geführt hat, durchstreiten, Laufen durch Geduld. Spener hat einmal an Luther die patientia und die fides heroica gerühmt, die herzliche Geduld und den heldenhaften| Glauben. Diese beiden Stücke tuen not. Denn Geduld ist nicht lässige Schwäche und unmännliche Gelassenheit, sondern mannhafte Tragkraft, der starke tiefe Atem des gläubigen, „Dennoch“, der auf Höhen nicht versagt und durch die Ebene im Sonnenbrand hält. Es ist die Geduld, die das zögernde „Noch nicht“ in Gehorsam und das freundliche: „Siehe, ich komme bald“ in Freudigkeit bewahrt. Sie tut willig Schritt für Schritt die am Tag und für ihn befohlene Arbeit und trägt gerne seine Plage, nimmt jeden Tag „aus allerlei Holz, so am Wege liegt“ das Kreuz auf im Beruf und in allerlei befohlenem Werk. Dabei aber blickt sie sehnlich auf die Vollendungszeit aus und lauscht anbetend, ob sie nicht bald das Rauschen seiner Füße höre. Sie trägt dem armen Weibe gleich scheinbare Absage und Weigerung: Ja, Herr und fährt getrost und kühnlich weiter: Aber doch! Dieses „doch“, die lutherische Partikel, wie der sel. Kahnis meinte, bewahrt vor Mißglauben, Zweiflung und anderer großer Schande und Laster. „Mit unserer Macht ist nichts getan“ so hebt der in Geduld geheiligte Pessimismus beichtend und büßend an. „Es streit’ für uns der rechte Mann“, so jauchzt und triumphiert der selige Optimismus, der in Geduld bewährt ist. Unsere Tage gehen eilends dahin, aber müde soll uns keiner machen. Sich ewige Jugend schwören ist nicht Enthusiastenart, sondern Lauterkeit. Auffahren mit Flügeln wie Adler heißt in Geduld laufen, und solcher Kampf hält jung und macht im Schwersten froh. Noch ist Gnaden-, noch ist Säemannszeit, noch ist Sein heilsames Wort unter uns, die Herzen der Kinder sind ihm noch erschlossen, noch ist die Schule die „Sakristei der Kirche“, noch die Jugend „die selige Provinz des Amtes“. Unser Volk will noch von Gott sich strafen lassen und begehrt seinen Trost. – Die Heiligung hat auch die Verheißung, daß ein kleines Feuer einen Wald anzünde. Wo du, mein Christ, dein eigenes Wesen in heiligem Eifer des Kampfes bestreitest, gegen dich angehst, über dich siegst, da zieht dein Erfolg weitere Kreise, dein Sieg wird zum Halt und Heil für andere. An deinem Leben wächst ein anderes empor, das du verstehen und tragen und fördern kannst.
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 3. Dies so gewiß, als unser Kampf an dem einen großen erstarkt, der vor uns und für uns geschah, an Jesu, dem Heerführer und Herzog des Glaubens. Alles, was Glaube heißt, hat in Ihm seinen Ursprung. Er hat in die Niedrigkeit sich begeben, um uns groß zu machen, in das Leiden sich gewagt, um es seine Kraft zu nennen, ist bis zum Tode am Kreuz gehorsam gewesen und hat im Glauben von dem vollbrachten Sieg gesprochen, da ihn alle Jünger verließen und flohen. War es nicht Glaube, daß er bei einer reifenden| Ähre das Feld reif zur Ernte sah, bei der Torheit und Verzagtheit der Jünger von solchen sprach, die bei ihm in Anfechtungen verharrten? Im Glauben hat er die Last der Gottesferne getragen und durch das furchtbare Weh der Gottverlassenheit sich durchgerungen, bis es um den Abend licht ward: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“. Tiefsinnig heißt es von ihm, er habe im Leid Gehorsam gelernt, Glauben geübt. Darum kann er sanftmütig lehren und demütig stärken. Herzog des Glaubens! Teure Väter und Brüder, dieses Wort töne wie aus dem oberen Heiligtum in unsere Arbeitswoche hernieder, klinge in dieses Kampfesleben friedvoll hinein! Wir sind nicht und nie allein, dem Einzelkampfe wie dem Leid der Gesamtkirche steht er nahe, Anfänger, Fürbitter und Vollender.

 Denn wir träumen nicht von einem Fortschritt in die Unendlichkeit hinein, von einem Strom, der in das weite Meer sich verliert, sondern wir hoffen auf Vollendung als Ziel des Fortschrittes, als Krönung des Glaubens. Jesus, der Anfänger des Glaubens muß, wenn Gott die Wahrheit ist, das gesamte Glaubensleben und seine Wahrheit zur Höhe des Besitzes der Wirklichkeit führen, den Glauben, diese Überzeugtheit von Ungeschautem durch das Schauen seiner Richtigkeit überführen, denn der Anker (Hebr. 6, 19. 20.) des Glaubens geht nicht in die Leere der Vorstellung, sondern sinkt in den Felsgrund der Tatsachen. Diese sind geschehen, um täglich zu geschehen und endlich gesehen zu werden. Der Herzog der Seligkeit, durch Leiden vollkommen gemacht, (Hebr. 2, 10) hat verheißen, uns alle nach sich zu ziehen. Wie er den Erben das Erbe verhieß, so soll das Erbe nicht ohne Erben bleiben. Über Zeit und Raum, durch Streit und Not führt der Herzog seine Scharen dem vollkommenen Siege zu: aller Glaubensernst fordert, verbürgt, empfängt die Freude des Schauens.

 Im Lichte dieser Gewißheit, die im Wort der Wahrheit versichert, im Wesen des Christentums begründet ist, geht die Kirche Jesu Christi ihren Leidensweg durch die Zeiten. Was sichtbar ist, das ist zeitlich und fällt mit der Zeit dahin, darum ist auch ihre Trübsal leicht, sie währt nur einen Augenblick. Aber was unsichtbar ist, das ist ewig und über die Maßen herrlich. Inmitten der Angst und der Schuld sieht sie den Herrn, dem sie dient, zu sich treten: Weine nicht, siehe ich habe überwunden, der Löwe aus Juda. Und nach dem heiligen Naturgesetze Seines Reiches, das ihn in ihr Leid hinabzog, weiß sie sich in seine Herrlichkeit hinaufgezogen. –

 Was ist das Ende des Glaubens? Die Anschauung von Angesicht zu Angesicht. – Was ist die Krönung des Glaubenslebens?| Der Sieg der Wahrheit, des Wahrhaftigen, zu dem alles Wahre hingehört. Mit übermächtigem Heimweh, das nicht den Mann zum Kinde, wohl aber das Kind zum Manne macht, schauen wir in dieser Feierstunde unseren Vätern nach, die, hier im Frieden abgefahren, sich auch dort im Frieden freuen. Wir gönnen ihnen die Ruhe der Heiligen, sie haben den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet und den Glauben gehalten. Ihrer würdig zu werden und zu bleiben versprechen wir. Und über sie hinaus blicken wir vertrauensvoll auf den durch Leiden vollendeten Vollender. Du wirst nicht betrügen, die auf dich trauen, noch die verlassen, an die du so viel gewendet hast. „Eine weitaufgesperrte Türe ins Paradies“ nennt Luther die teure Rechtfertigung aus Glauben. Welche er gerecht gemacht hat, die will er auch herrlich machen.

 Gemeinde Jesu Christi! Wie klein und unansehnlich wird aller Kampf angesichts der Freude, die er gebiert, wie groß und hehr wiederum wird aller Streit, wenn er solche Freuden bringen kann. – Sage selbst, ob das Dogmen, Lehrsätze, veraltete Katechismusstücke oder ob es nicht vielmehr Lebenskräfte sind, würdig, täglich gepredigt, vielmehr täglich erlebt zu werden?

 September 1823, September 1923: wie wird dieses Säkularfest einst gefeiert werden? Mit Schmückung der Prophetengräber und Verleugnung des Prophetengeistes? Mit viel schönen Reden und goldenen Feiern und innerem Zerfall? – Wir befehlen euch und uns der behütenden und bewahrenden, der rettenden und durchrettenden Gnade, die ich in dieser Morgenstunde aus tiefster Seele dankend preisen wollte.


 Eine persönliche Erinnerung sei mir am Ende vergönnt, Vor sechsundzwanzig Jahren (am 9. Dezember 1887) habe ich in dieser Kirche die Ordination empfangen. Die teuren Männer, die mir fürbittend und segnend die Hände auflegten, sind daheim, Schick, Caselmann, Wucherer, Leonhard Stählin – ich segne dankbar ihr Andenken, und viele tun es mit mir. Ein Zeuge jener Stunde lebt und wirkt noch an dieser Gemeinde: Gott schenke ihm viel Frieden! – Oft hat die Erinnerung an jene Weihestunde mich gestraft, aber viel öfter hat sie mich aufgerichtet: Sei getrost, dein Meister ist da, der ruft dich, daß er dir helfe.

 Ihm und dem Bekenntnis meiner Kirche, die Ihn am innigsten ehrt und am herrlichsten lehrt, will ich die Treue halten und will nie vergessen, was es um Seine Treue ist, die kämpfen heißt und lehrt und – lohnt. – Amen.