RE:Ἀργοὶ λίθοι

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Unbearbeitete, rohe Steine, t.t. im Steinkult
Band II,1 (1895) S. 723728
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Ἀργοὶ λίθοι,[WS 1] d. h. ἄεργοι λίθοι, unbearbeitete rohe Steine. Im engeren Sinne versteht man auf dem Gebiete der antiken Religionsgeschichte darunter die unbehauenen Steine, welche göttliche Verehrung genossen, vgl. Paus. I 28, 5. VII 22, 4. IX 24, 3. 27, 1 (ἄσημοι λίθοι Dio Chrysost. XII p. 406 R.). Man bezeichnet mit diesem Namen sowohl kleine tragbare ,Zaubersteine‘, als auch grössere, unverrückbar im Boden stehende ,Malsteine‘; die Dürftigkeit unserer Nachrichten erlaubt nicht immer eine Scheidung zwischen diesen beiden Gattungen heiliger Steine. Die regelmässig gestalteten Kultsteine, welche die Formen von Omphaloi (s. d.), Spitzsäulen, Pyramiden, Phalloi u. a. haben, haben in der Regel ihre Gestalt erst durch Menschenhand erhalten, sind also nicht ἀργοί; doch beruht ihr Kult auf den gleichen religiösen Vorstellungen, so dass sie bei der Beurteilung der ἀ. λ. nicht völlig beiseite gelassen werden können.

Ἀ. λ. erhalten in ältester Zeit ebenso wie andere leblose Gegenstände göttliche Ehren, wenn sie als Sitz göttlicher Kraft, als Träger eines Numen erscheinen. Wie bei allen Fetischkulten, so entwickelt sich auch hier leicht die Vorstellung, dass der Stein die Gottheit selbst sei. In der jüngeren Zeit, in der man den Gott sich in solcher Gestalt nicht denken kann, gelten die heiligen Steine als Symbole oder als Bilder des Gottes, sie vertreten [724] dann die Stelle der ἀγάλματα; vgl. Paus. VII 22, 9. Vorzugsweise sind es Meteorsteine, die als Fetische dienen; es musste nahe liegen, in den vom Himmel gefallenen Steinen ein Stück Göttlichkeit vorauszusetzen. Vgl. Sotakes bei Plin. XXXVII 135: ex his (cerauniis) quae nigrae sint et rotundae sacras esse, urbes per illas expugnari et classes, baetulos vocari. Philo v. Byblos FHG III 567. Dass dieser Glaube auch im 5. Jhdt. in Kraft war, beweist die Verehrung, die dem in der Schlacht von Aigospotamos (s. d.) gefallenen Meteorstein zu teil wurde, Plut. Lys. 12. Von einem bei den kretischen Mysterien verwendeten Meteorstein erzählt Porphyr. Vit. Pythag. 17. Doch kann die göttliche Kraft auch in Steinen anderer Art wirksam sein; so verehren die Ainianen den Stein als heilig, mit dem ihr König Phemios verräterischerweise den König der Inachieer getötet hat (Plut. qu. Gr. 13). Von verschiedenartigster Beschaffenheit sind die heiligen Marksteine, die durch irgend welchen Vorgang zu Sitzen übernatürlicher Mächte geworden sind. Ähnliches gilt von den bearbeiteten Kultsteinen; vgl. Perrot-Chipiez Hist. de l’Art III 273. 299. Ohnefalsch-Richter Kypros 176. 179.

Der Steinkult ist bei Ägyptern, Semiten und Kleinasiaten von alters her nachweisbar; vgl. Ed. Meyer Gesch. Ägyptens 36. 70; in Roschers Lex. d. Mythol. I 2870. Lippert Gesch. d. Priestertums I 459. Baudissin Studien z. semit. Religionsgesch. II 218. Pietschmann Gesch. d. Phoenikier 203ff. Perrot-Chipiez Hist. de l’Art III 60. 265ff. 295ff. IV 389. V 148ff. Ramsay Journ. hell. stud. X 168; Athen. Mitt. XII 185. Ohnefalsch-Richter Kypros 149f. 170. 259ff. Benzinger Hebräische Archaeologie 56ff. 375f. Da aber Ähnliches bei primitiven Völkern an den verschiedensten Punkten der Erde wiederkehrt (Lippert Kulturgesch. d. Menschheit II 363ff. Hörnes Urgeschichte d. Menschen 86. 98f.), so wird man auch bei den Griechen und Italern diesen Kult für alteinheimisch ansehen müssen, wenn auch mancherlei Bräuche (z. B. das Salben der Steine) in letzter Linie dem Orient entlehnt sein mögen.

In historischer Zeit spielen die ἀ. λ. im öffentlichen Kult keine Rolle mehr, da man die Gottheit unter anderen Gestalten zu verehren sich gewöhnt hatte. Doch hören wir, dass in Thespiai ein unbehauener Stein als der Gott Eros galt (Paus. IX 27, 1), dass zu Hyettos ein solcher Stein das Agalma des Herakles vertrat (Paus. IX 24, 3) und zu Orchomenos im Charitentempel vom Himmel gefallene πέτραι verehrt wurden (Paus. IX 38, 1). In Pharai wurden dreissig τετράγωνοι λίθοι mit dem Namen der einzelnen Götter bezeichnet, Paus. VII 22, 4. Zu Antibes ist ein Stein gefunden worden mit der Aufschrift Τέρπων εἰμί (IGA 357 = IGI 2424), der wohl mit Recht für einen heiligen als Τέρπων verehrten Stein angesehen wird (Heuzey Mém. d. antiqu. de France 1874, 99); vgl. den bearbeiteten Stein aus Mantineia Le Bas-Foucart 352 d mit der Aufschrift Ἀθαναία. Ob etwa der ἱερεὺς λιθοφόρος zu Athen, dessen Existenz sich aus der Inschrift eines Theatersessels CIA III 296 (Keil Phil. XXIII 242) erschliessen lässt, die Obsorge über einen heiligen Stein hatte, lässt sich nicht [725] mit Bestimmtheit ermitteln. Über die Säulen- und pyramidenförmigen Steine des Zeus, der Artemis, des Apollon u. a. s. Agyieus. Götterbilder. Mehr in das Gebiet der asiatischen als der griechischen Religionsgeschichte gehören die in den hellenisierten Landschaften Kleinasiens während der Kaiserzeit nachweisbaren Kulte heiliger Steine, die auf altsemitische und kleinasiatische Religionsüberlieferungen zurückgehen; es genügt hier an den Zeus Kasios von Seleukeia in Lykien (Head HN 661) und zu Mallos (Head HN 605. Svoronos Ztschr. f. Numism. XVI 222 Taf. X), die heiligen Steine qui divi dicuntur, zu Laodikeia (Hist. Aug. Vit. Heliog. 7), den Elagabal von Emesa (s. u.), den Stein der Aphrodite von Paphos (Tac. hist. II 3. Serv. Aen. I 724. Perrot-Chipiez III 266f. Head HN 628), die Spitzsäule der Göttin von Byblos (Perrot-Chipiez III 60) zu erinnern.

Vielfach scheinen heilige Steine ihrer ursprünglichen Geltung, nicht selten auch ihres Kultes verlustig gegangen zu sein, während doch die Erinnerung an ihre Heiligkeit fortlebte, die nun in verschiedenster Weise erklärt wurde. So ist der heilige Stein von Delphi, den Kronos verschlungen und wieder ausgespieen haben sollte (Hesiod. Theog. 496f. Paus. X 29, 6. Hesych. s. Βαιτυλος), gewiss ursprünglich ein solcher Steinfetisch gewesen; vgl. Schoemann Opusc. II 254. Em. Hoffmann Kronos 106. Svoronos Ztschr. f. Numism. XVI 222f. M. Mayer in Roschers Lex. d. Mythol. II 1524. Ähnlich wird der ἀ. λ. bei Gythion zu beurteilen sein, auf dem Orestes Heilung von seinem Wahnsinn gefunden haben soll: διὰ τοῦτο ὁ λίθος ὠνομάσθη Ζεὺς καππώτας κατὰ γλώσσαν τὴν Δωρίδα (Paus. III 22, 1. Skias Ἐφημ. ἀρχ. 1892, 55; καππώτας ist der ,Verschlinger‘ nach Mayer a. a. O. II 1540). Im Poseidonion in Lesbos befand sich ein Stein, der den Namen Enalos davon erhalten haben sollte, dass ihn ein Mann Enalos (s. d.) geweiht hatte (Plut. conv. sept. sap. 20; solert. anim. 36); vor dem elektrischen Thor zu Theben lag ein Stein, der deswegen Σωφρονιστήρ genannt worden sein soll, weil Athena damit den rasenden Herakles betäubt hatte (Paus. IX 11, 2). Endlich darf hier noch an den delphischen Omphalos, vielleicht auch an das in die Orestessage verflochtene Δακτύλου μνῆμα (Paus. VIII 34, 1) erinnert werden. Manche dieser Legenden sind offenbar erst nachträglich erdichtet, um die (in einem alten und vergessenen Kulte wurzelnde) Heiligkeit der betreffenden Steine zu begründen. In andern Fällen, wie bei dem Steine zu Megara, auf dem Apollons Kithara lag (Paus. I 42, 1) oder dem zu Athen, auf dem Seilenos sass (Paus. I 23, 5), haben wir es vielleicht nur mit Fabeleien der Exegeten zu thun; vgl. noch Paus. I 35, 3. IX 10, 3. Der λίθος καλούμενος ἱερός vor dem Artemistempel zu Trozen, auf dem Orestes entsühnt worden sein soll (Paus. II 32, 4). könnte ebensowohl ein ἀ. λ. als ein Altar gewesen sein; vgl. den sog. Altar des Zeus Sthenios, Paus. II 32, 7. Auch sonst kann man manchmal schwanken, ob ein heiliger Stein ursprünglich ein ,Malstein‘ oder ein Altar gewesen sei, z. B. bei dem Schwurstein (λίθος) der athenischen Archonten (Aristot. Ἀθην. πολ. 55, 5). In anderer Weise hat sich die ursprüngliche Bedeutung [726] der ἀ. λ. verwischt bei den Steinen der Ὕβρις und Ἀναίδεια auf dem athenischen Areopag (Theophr. bei Zenob. IV 36; vgl. Cic. de leg. II 28).

Wenn so die heiligen Malsteine vielfach zu blossen Gedenksteinen herabgesunken sind, so sind sie doch in den niederen Volkskreisen, insbesondere bei dem Landvolk, auch noch zu einer Zeit in Ehren gehalten worden, wo diese Art von Kult den Gebildeten, welche an eine andere Art von Gottesverehrung gewohnt waren, als ein Aberglaube erschien, der eines religiösen Untergrundes entbehrte. Sokrates stellt bei Xenoph. mem. I 14 den Unfrommen jene entgegen, welche λίθους καὶ ξύλα τὰ τυχόντα καὶ θηρία verehren. Theophrast Char. 16 schildert den abergläubisch Frommen, der die λιπαροὶ λίθοι auf den Dreiwegen göttlich verehrt. In grösserer oder geringerer Ausdehnung hat dieser Kult der gesalbten Steine auch in der Kaiserzeit fortgedauert; vgl. Luk. concil. deor. 12; Alexand. 30. Clem. Alex. Strom. VII 4, 26 p. 843 P., s. u. Natürlich sind es hauptsächlich die ,Malsteine‘ an den Kreuzwegen und an den Feldergrenzen, die Gegenstände des ländlichen Kultes sind; vgl. auch die Ἕρμαια (s. d.) genannten Steinhaufen. Ohne Zweifel hängt ja die Heilighaltung der Grenzsteine auf das engste mit jenen primitiven Anschauungen des ,Steinkultes‘ zusammen; nach Plato Leg. VIII 843 A gehört der Grenzstein, wenn auch nur ein kleiner Stein, zu den ἀκίνητα, weil er ἔνορκος παρὰ θεῶν ist. Der ursprüngliche Gedanke ist wohl, dass durch die Feierlichkeiten der Einsetzung ein Teil des Numens in ihn übergegangen ist (Ovid. fast. II 641), der über die Aufrechterhaltung der Grenze wacht. Ähnlichen, bereits etwas geläuterten Anschauungen entspricht es, wenn man an den Landesgrenzen und Strassen Altäre oder Götterbilder oder Hermen, d. h. den ikonischen Statuen angeähnlichte Malsteine, aufstellt; s. Hermen. Auch der Kult, der den Grabsteinen (s. d.) widerfährt, hängt mit diesem Vorstellungskreis zusammen.

In ähnlicher Gestalt wie bei den Griechen tritt uns der Kult der heiligen Steine auf italischem Boden entgegen. Auch hier haben sich im Staatskult nur wenige Reste eines solchen Fetischdienstes erhalten. Ein ‚Regenstein‘ primitivster Art ist der lapis manalis, den die Priester durch die Strassen schleiften, wenn es galt, Regen herbeizuführen, Paul. p. 128. Serv. Aen. III 175. Preller-Jordan R. Mythol.³ I 354f. Die Bedeutung eines Fetisches hat ursprünglich wohl auch der Iuppiter lapis, ein silex, der im Tempel des Iuppiter Feretrius aufbewahrt wurde und als antiquum Iovis signum galt; vgl. Serv. Aen. VIII 641. Preller-Jordan³ I 246f. Aust in Roschers Lex. d. Mythol. II 674ff. Er wird von den Fetialen beim Schwuropfer verwendet, so dass also der Gott selbst am Schwur beteiligt ist und die Rache für dessen Verletzung übernimmt; vgl. Liv. I 24, 8. IX 5. Im J. 204 v. Chr. kam der heilige Stein von Pessinus, der als die ,Grosse Mutter‘ galt, aus Pergamon (Bloch Philol. LII 580) nach Rom, Liv. XXIX 10ff. Preller-Jordan Röm. Myth. II³ 54ff., es war ein dunkler, nicht grosser, leicht tragbarer Meteorstein (Arnob. VII 49; vgl. Herodian I 11, 1: ἄγαλμα [727] διοπετές), der zu Rom in Silber gefasst, an Stelle des Gesichtes einer Kybelestatue eingefügt war. Unter Elagabal spielte der nach Rom versetzte heilige Stein von Emesa, der als Sonnengott Elagabal galt, eine grosse Rolle, späterhin wurde er wieder nach Emesa zurückgebracht; vgl. Herodian. V 3, 5. Dio LXXIX 11. Hist. Aug. Heliog. 1. Es war ein schwarzer konischer Stein, vermutlich ein unbearbeiteter Meteorstein; wir sehen ihn auf Münzen von Emesa und Aelia Capitolina (Gardner Types of gr. coins XV 1) und auf den Kaisermünzen des Elagabal (Fröhner Médaillons rom. 167. Cohen Méd. impér. IV² 349) und des Uranius Antoninus (Cohen IV² 503). Vgl. Ed. Meyer in Roschers Lex. d. Mythol. I 1229f.

Bedeutungsvoller als diese Einzelkulte ist die Thatsache, dass die Verehrung heiliger Steine bei dem italischen Landvolk in noch weiterer Ausdehnung üblich gewesen zu sein scheint, als bei dem griechischen; vgl. Lucret. V 1196. Tibull. I 1, 11. Prop. I 4, 23. Apul. Flor. 1. Prudent. contr. Symmach. I 206f. Auch hier handelt es sich vorzugsweise um Malsteine an Kreuzwegen und an den Grenzmarken (Ovid. fast. II 645ff.), wie ja auch im capitolinischen Tempel ein Lapis Termini verehrt wurde (Serv. Aen. IX 448. Preller-Jordan I³ 255); s. Terminus. Diese Kultbräuche haben sich bis in die letzten Zeiten des Altertums und darüber hinaus erhalten; vgl. Arnob. I 39. Prudent. contr. Symmach. I 206f.

Was die einzelnen Formen des ,Steinkultes‘ betrifft, so erklären sich alle leicht aus den anthropopathischen Vorstellungen, die man mit der Gottheit und daher auch mit den Fetischsteinen verbindet; ohne Zweifel hat ein Teil der späteren, im Altardienst und bei der Pflege der Götterbilder üblichen Kultbräuche seine Wurzel eben im Kult der Steinfetische. Nach Ort und Zeit sind natürlich die einzelnen Bräuche verschieden. Wie der Gottheit selbst, so begegnet man auch den heiligen Steinen mit allen Zeichen der Ehrfurcht; man naht ihnen mit der Geberde der Adoration, betet zu ihnen als den unmittelbaren Spendern alles Guten, küsst sie wohl auch und wirft sich vor ihnen auf die Kniee (Theophr. Char. 16. Tibull. I 1, 11. Luk. Alex. 30. Arnob. I 39. Prudent. c. Symmach. I 208). Man schmückt die Steine mit Kränzen und Binden und salbt sie mit Öl (Theophr. Char. 16. Luk. concil. deor. 12. Apul. Flor. 1 u. ö.; vgl. Clem. Alex. Strom. VII 4, 26 p. 843 P.; λίθον τὸ δὴ λεγόμενον λιπαρόν); man bringt wohl auch förmliche Opfer dar, ja in einem Falle wird erzählt, dass der heilige Stein mit dem Fette des Opfertieres umhüllt wurde (Plut. qu. Gr. 13); auf den heiligen Stein zu Delphi wird an Festtagen Wolle gelegt (Paus. X 24, 6), die Steinidole im Orient werden mit kostbaren Tüchern und Gewändern nach Art menschlicher Figuren umkleidet oder gar in Edelmetall und Kleinodien gefasst, s. Baitylia, Götterbilder.

Litteratur: Dalberg Über den Meteorkultus der Alten, Heidelberg 1811. Boesigk De baetyliis, Berlin 1854. Gerhard Akad. Abhandl. II 561 ff. Taf. LIX–LXII. Bötticher Baumkult 226ff.: Tektonik II² 408ff. Overbeck Das Kultusobject bei den Griechen in seinen ältesten Gestaltungen, Ber. d. sächs. Gesellsch. d. Wiss. [728] 1864, 121ff. Daremberg et Saglio Dict. I 413f. (Saglio). 643ff. (Lenormant).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Transkribiert: Argoi lithoi