RE:Sulpicius 95
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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[Rufus, Ser. cos. 51 v. Chr. Procos Achaia 46, Jurist | |||
Band IV A,1 (1931) S. 851–860 | |||
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95) Ser. Sulpicius Rufus, mit vollem Namen Ser. Sulpicius Q. f. Lemonia (tribu) Rufus Cic. Phil. IV 15. 17. Σερούιος Σουλπίκιος Κ. υ῾ Ῥοῦφος Dio XL Ind. Σερούιος Σολπίκιος Λεμωνία †Κούιντος Joseph. ant. Iud. XIV 220, stammte aus dem alten patrizischen Geschlecht (Cic. Mur. 15. Pompon. Dig. I 2, 2, 43); aber: pater fuit equestri loco, avus – jedenfalls noch Senator – nulla illustri laude celebratus (Cic. Mur. 16. Vgl. Gelzer Nobilität d. röm. Rep. 25. 29). Der Vater kann ein Bruder oder Vetter des Tribunen von 666 = 88 Nr. 92 gewesen sein. S. war ein Altersgenosse Ciceros (Cic. Brut. 150: Aetates nihil aut non fere multum differunt. 156: aequalitas), also noch 648 = 106 oder erst 649 = 105 geboren, und von Jugend auf mit ähnlichen Studien [852] beschäftigt (Cic. fam. IV 3, 3: ab initio aetatis ... a primis temporibus aetatis; Brut. 151: ineunte aetate). Zur gründlichen Beschäftigung mit der Rechtswissenschaft soll er veranlaßt worden sein, als er den Q. Scaevola für einen Freund konsultierte, den juristischen Rat trotz wiederholter Belehrung nicht recht verstand und den scharfen Tadel empfing: Turpe esse patricia et nobili et causam, oranti, ius in quo versaretur ignorare (Pompon. Dig. I 2, 2, 43 mit der Einführung: traditur); die Anekdote kann an einen tatsächlichen Vorgang anknüpfen, der sich entweder mit dem um 667 = 87 gestorbenen Augur Q. Mucius Scaevola zutrug oder mit dem 672 = 82 ermordeten Pontifex; beide Rechtsgelehrte waren ja in ihren letzten Lebensjahren auch Ciceros Lehrer (Brut. 306; Lael. 1). Als Verwandter von Nr. 92 wird S. unter der Herrschaft der Volkspartei in Rom geblieben sein und sich eher nach der Sullanischen Reaktion aus Vorsicht entfernt haben; so kam es, daß er 676 = 78 zusammen oder mindestens zugleich mit Cicero nach Rhodos reiste, um bei Apollonios Molon und anderen Gelehrten zu studieren; nach der Rückkehr wandte er sich von der Redekunst entschiedener als bisher zur Rechtswissenschaft (Cic. Brut. 151: postea una Rhodum ille etiam profectus est, quo melior esset et doctior; at inde ut rediit, videtur mihi in secunda arte primus esse maluisse quam in prima secundus). Wenn Cic. Brut. 154 (danach Pompon. Dig. I 2, 2, 43) ihn als Schüler des L. Lucilius Balbus (o. Bd. XIII S. 1640 Nr. 19) und des C. Aquilius Gallus (o. Bd. II S. 327ff. Nr. 23) bezeichnet, so ist immerhin zu bedenken, daß der Altersunterschied zwischen ihm und Gallus sehr gering war. Seine politische Laufbahn, die in den unteren Stufen der Ciceros parallel ging (Cic. Brut. 156: pares honorum gradus), begann S. um 679 = 75 mit der Quaestur, und zwar hatte er diese in Ostia zu führen (Cic. Mur. 18; vgl. Mommsen St.-R. II 571, 1. 572, 8). 689 = 65 war er Praetor und hatte den Vorsitz in der Quaestio peculatus (Cic. Mur. 35. 42; vgl. Mommsen Strafr. 761, 2. 771, 1). Eine Provinz übernahm er nicht (Cic. Mur. 42); dagegen bewarb er sich im J. 691 = 63 unter Ciceros Consulat um das Consulat für das folgende J. 692 = 62 (Cic. Mur. 7. 8. 15. 43ff. 49. 56). Er fiel bei den Wahlen durch und belangte seinen erfolgreichen Mitbewerber, L. Licinius Murena, mit dem zusammen er Quaestur und Praetur bekleidet hatte, wegen Ambitus, gemeinsam mit dem jungem Ser. Sulpicius Nr. 96, mit M. Cato und mit einem Postumus. Der Prozeß wurde in der zweiten Hälfte des Novembers 691 = 63 verhandelt und endete mit der Freisprechung Murenas. Cicero behandelte in der erhaltenen Verteidigungsrede für den Angeklagten den S. als alten Freund (Mur. 7. 10. 43) und hochangesehenen Ehrenmann (ebd. 7. 15. 21. 23. 30) mit großer Rücksicht und Achtung, führte aber doch den Vergleich zwischen ihm und seinem siegreichen Gegenkandidaten Murena (15ff.) in einer Weise durch, daß die ganze Rechtsgelehrsamkeit lächerlich gemacht wurde (23ff. Vgl. im allgemeinen o. Bd. XIII S. 447f.). Nach dem ersten Mißerfolge vom J. 691 = 63 und bei der gespannten innerpolitischen Lage der nächsten [853] Zeiten hat S. längere Jahre hindurch kaum ernsthaft an eine erneute Bewerbung um das Consulat gedacht und sich hauptsächlich der Rechtskunde gewidmet. Nur im April 695 = 59 fragte Cic. ad Att. II 5, 2, qui consules parentur, utrum, ut populi sermo, Pompeius et Crassus an, ut mihi scribitur, cum Gabinio Ser. Sulpicius; wenn S. wirklich seine Kandidatur aufstellen wollte, so zog er sie wahrscheinlich zurück, sobald der Consul Caesar die seines Schwiegervaters L. Piso Caesoninus begünstigte. Im Frühjahr 702 = 52 war es, nachdem sich verschiedene Patrizier als Interreges abgelöst hatten, ein Ser. Sulpicius, der als Interrex gemäß dem Beschlusse des Senats die Ernennung des Pompeius zum alleinigen Consul vollzog (Ascon. Mil. 31 K.-S. = 33 St.; ohne Vornamen Plut. Pomp. 54, 5); es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß dies Ser. Galba Nr. 61 war, ebenfalls Praetorier; aber für den älteren Ser. Rufus spricht, daß er nun mit Hilfe des Pompeius seinerseits das Ziel aller Wünsche, das Consulat für 703 = 51, erreichte. Seine Wahl verdankte er zum Teil seiner Anerkennung als Rechtsgelehrter, zum Teil der Abneigung gegen seinen Konkurrenten Cato (Plut. Cato min. 49, 2. Dio XL 58, 3). Er war bereits einige fünfzig Jahre alt und der einzige seines Geschlechts, der es in dem Zeitraum von mehr als hundert Jahren, 646 = 108 (s. Nr. 59) bis 749 = 5 v. Chr. (s. Nr. 53, da der Consul von 742 = 12 Nr. 90 nach Tac. ann. III 48 nihil ad veterem et patriciam Sulpiciorum familiam pertinuit), zum Consulat brachte. Von den beiden Consuln dieses J. 703 = 51 (CIL I² 770 = X 220 = Dess. 5331 [Mauerbauinschrift aus Grumentum]. Chronogr. Hydat. Chron. Pasch, [sämtlich: Rufo]. Cic. ad Att. V 21, 9; fam. III 3, 1. V 21, 9. VIII 8, 5. XII 15, 2. Sall. hist. I 11 Maur. Liv. ep. CVIII. Cassiod. Ammian. XV 12, 6 [ergänzt]. Dio XL Ind. 30, 3), die durch Verschwägerung der Familien miteinander verwandt waren (S. bei Cic. fam. IV 12, 3: propinquitas; vgl. Röm. Adelsparteien 405, 1), war M. Marcellus (s. o. Bd. III S. 2761f.) der entschiedenere, tatkräftigere und tätigere; ihm gegenüber suchte S. die feindseligen Maßregeln gegen Caesar zu hindern (Suet. Caes. 29. Dio XL 59, 1) und warnte schon im Anfang seines Consulats den Senat eindringlich vor der Entfesselung eines neuen Bürgerkrieges, dessen Schrecken die der früheren noch überbieten würden (Cic. fam. IV 3, 1; vgl. 1, 1. 2, 3). Die Parthergefahr sah er nicht als dringend an (ebd. III 3, 1. VIII 10, 3). Infolge seiner alten Beziehungen zu Rhodos (s. o.) wirkte er gewiß dabei mit, als gerade in diesem Jahre der Bündnisvertrag mit den Rhodiern erneuert wurde (ebd. XII 15, 2). Schon Ende 704 = 50 war er ebenso wie der Consular L. Volcatius Tullus entschlossen, im Bürgerkriege neutral zu bleiben (Cic. ad Att. VII 3, 3). Er verließ zwar Mitte Januar 705 = 49 die Hauptstadt, als Pompeius, die Consuln und die meisten Senatoren sie räumten, blieb aber in Campanien und empfing gleich Cicero und anderen Schwankenden Caesars Aufforderung zur Rückkehr (ebd. VII 17, 3. VIII 1, 3). Vermutlich ist er der Rufus, dessen Grüße Cicero am 23. Januar aus Minturnae (vgl. seinen Aufenthalt dort Anfang Mai ebd. X 13, 2) zusammen mit [854] solchen seines Bruders und seines Neffen an Terentia und Tullia bestellte (fam. XIV 14, 2). Aus Vorsicht, um nirgends Anstoß zu erregen, schickte er Anfang März seinen Sohn Nr. 96 in Caesars Lager vor Brundisium (Cic. ad Att. IX 18, 2. 19, 2. X 1, 4. 3a, 2. 14, 3; vgl. Saunders Classical Review XXXVII 110f.). Nachdem Pompeius und seine Parteigenossen auch Italien verlassen hatten, war S. in ähnlicher Lage wie Cicero, wurde sogar von Caesar mit geringerer Rücksicht als dieser behandelt, weil er sich schwächer gezeigt hatte (ebd. IX 19, 2. X 3 a, 2; vgl. Ed. Meyer Caesars Monarchie 345. 348, 1); er erschien in der von Caesar berufenen Senatssitzung des 1. April und mahnte zum Frieden und zum Unterlassen des Feldzugs gegen Spanien (Cic. fam. IV 1, 1). Unmittelbar darauf wandte er sich durch Vermittlung des C. Trebatius an Cicero, den er seit seiner Rückkehr aus Kilikien noch nicht gesehen hatte, und schlug ihm eine Zusammenkunft vor, worauf Cicero etwa am 5. April in dem ersten erhaltenen, an jenen gerichteten Briefe antwortete (fam. IV 1). Gegen Ende des Monats sandte er einen Brief an Cicero und gab dem Überbringer Philotimus auch mündliche Aufträge mit, die dieser aber nicht ausrichtete (ebd. IV 2, 1); indes teilten gleichzeitig auch Postumia, die Gattin des S., und sein Sohn Nr. 96 dem Cicero persönlich mit, daß S. zu ihm auf das Cumanum kommen wollte; Cicero nahm in dem zweiten Briefe den Vorschlag an (ebd. IV 2; vgl. ad Att. X 7, 2), und es wurde der 7. Mai für den Besuch vereinbart (Cic. ad Att. X 9, 3. 10, 4. 12, 4. 13, 2). Nachdem S. unterwegs auch noch mit seinem Verwandten C. Marcellus, dem einen seiner Nachfolger im Consulat (s. o. Bd. III S. 2735f.), beraten hatte, traf er bei Cicero ein und enthüllte diesem eine solche Angst und Ratlosigkeit, daß er sich selbst ganz heldenhaft vorkam (ausführlicher Bericht ad Att. X 14, verwertet zur Charakteristik des S. von Mommsen R. G. III 393; vgl. schon vorher 12, 4: Servium expecto nec ab eo quicquam ὑγιές und nachher 15, 1. 2: Servi consilio nihil expeditur). Wo und wie S. dann die Zeit bis nach der Schlacht von Pharsalos zugebracht hat, ist nicht zu erkennen; keinesfalls ist er der Senator Ser. Sulpicius bei Caes. bell. civ. II 44, 3 (Nr. 21). Vielleicht hat er ähnlich seinem Kollegen im Consulat M. Marcellus sich zwar in den von den Pompeianern beherrschten Osten begeben, aber nicht in ihr Lager und nicht auf den Kriegsschauplatz, sondern an einen ruhigen Ort, der für wissenschaftliche Arbeit geeignet war, wie er auch in jüngeren Jahren eine Zeitlang auf der Insel Cercina in der Kleinen Syrte (s. o. Bd. III S. 1968) gelebt haben soll (Pompon. Dig. I 2, 2, 43; s. Jörs o. Bd. II S. 330, 4ff.). Im Dezember 706 = 48 schreibt nämlich Cicero, der selbst nach Italien zurückgekehrt ist, ad Att. XI 7, 4: Sulpici autem consilium non scripsisti cur meo non anteponeres; dann sind ihm im Frühjahr und Sommer 707 = 47 manche Neuigkeiten aus dem Osten zuerst durch S. bekannt geworden (ebd. XI 13, 1 von Mitte März: De Servi patris litteris quod scribis ... 25, 2 vom 5. Juli: Illum discessisse Alexandria rumor est non firmus ortus ex Sulpicii litteris); endlich sagt Brutus von S. (Cic. [855] Brut. 156): Audivi nuper eum studiose et frequenter Sami, eum ex eo ius nostrum ponteficium qua ex parte cum iure civili coniunctum esset, vellem cognoscere, und dieses Zusammensein mit S. in Samos fällt gleich nach dem mit M. Marcellus in Mytilene (s. o. Bd. III S. 2762f.) in den Hochsommer 707 = 47 (s. Gelzer o. Bd. X S. 692f.). Für das auf die Schlacht nach Pharsalos folgende Jahr dürfte aus diesen Zeugnissen der ruhige Aufenthalt des S. auf Samos mit Sicherheit zu erschließen sein. Dagegen sind die Angaben über seine Stellung vom Sommer 705 = 49 bis zur Schlacht bei Pharsalos nicht gleichlautend. Einerseits schrieb Cicero Anfang 708 = 46 an ihm selbst (fam. IV 3, 2): Eos qui auctoritatem et consilium tuum non sint secuti, sua stultitia occidisse, cum tua prudentia salvi esse potuissent, und ebenso und gleichzeitig an A. Torquatus über ihn (ebd. VI 1, 6); Cuius si essemus et auctoritatem et consilium (vgl. auch an S. ebd. XIII 26, 2: auctoritate et consilio tuo) secuti, togati potius potentiam quam armati victoriam subissemus; beide Stellen geben die Vorstellung einer beständigen neutralen Haltung des S. Anderseits rechnete Cicero in derselben Zeit in einem Briefe an A. Caecina (fam. VI 6, 10) den S. gleich Brutus, Cassius, M. Marcellus und sich selbst zu den ehemaligen und jetzt begnadigten Gegnern Caesars und rechnete im Frühjahr 711 = 43 nach seinem Tode den S. mit M. Marcellus geradezu unter die Consulare, die den Senat im Lager des Pompeius bildeten (Phil. XIII 29; vgl. Saunders 112). Dieser Widerspruch ist wohl nur so zu lösen, daß die beiden letzten Stellen tendenziös gefärbt sind und weniger Glauben verdienen, und daß S. wie im Anfang von 705 = 49, so auch weiterhin sich von den Kämpfen fernhielt und eine entschiedene Parteinahme vermied. Infolgedessen konnte Caesar ihn geradezu in seinen Dienst ziehen und Anfang 708 = 46 auf einen seiner Wesensart und Begabung angemessenen Posten stellen, indem er ihm die Statthalterschaft des eigentlichen Griechenlands, der von Makedonien getrennten Provinz Achaia, übertrug und bis über Mitte 709 = 45 hinaus beließ (vgl. Mommsen Histor. Schr. I 173. Sternkopf Herm. XLVII 329f.). S. selbst empfand das Bedürfnis, sich vor alten Freunden und Parteigenossen wegen der Übernahme dieses Amtes zu rechtfertigen (Cic. fam. IV 4, 2) und ihnen durch Klagen über seine Lage die Überzeugung von der unveränderten Fortdauer seiner guten Gesinnung beizubringen, worauf Cicero in dem dritten und vierten an ihn gerichteten Briefe besonders eingeht (fam. IV 3 und 4). Jedenfalls hat S. in Griechenland, wo viele Anhänger der unterlegenen Partei eine Zuflucht gefunden hatten, im Sinne Caesars mild und versöhnend gewirkt (vgl. z. B. Cic. fam. VI 1, 6. 4, 5 an A. Torquatus); Cicero hat ihm deswegen nicht nur Empfehlungs- sondern auch Dankbriefe zu senden gehabt (fam. XIII 17–28 a, Aufschrift des ersten: Cicero s. d. Ser. Sulpicio [wie fam. IV 1–4 und 6], der übrigen: Cicero Servio s. [entsprechend den Briefen des S. fam. IV 5 und 12]; dieselben Personen betreffend: Lyso aus Patrai fam. XIII 19 und 24; C. Avianius Hammonius aus Sikyon 21, 2 und 27, 2; L. Mescinius 26, 1ff. und 28, 1ff.; [856] über M’. Curius aus Patrai 17, 1ff. vgl. VII 29, 1. 31, 2). S. seinerseits hat zwei noch vorliegende und für die Kenntnis und Schätzung seiner eigenen Persönlichkeit höchst wertvolle Briefe geschrieben, den Beileids- und Trostbrief zu Tullias Tode im März 709 = 45 (fam. IV 5), für den ihm Cicero im fünften und letzten seiner Briefe dankte (ebd. IV 6; beide z. B. bei Bardt Ausgewählte Briefe aus Cic. Zeit II 308–320), und den Bericht vom 31. Mai über die im Piraeus erfolgte Ermordung des M. Marcellus (ebd. IV 12; vgl. Cic. ad Att. XIII 22, 2, auch 10, 1. o. Bd. III S. 2764. Bardt a. O. II 327–331. – In derselben Zeit eine belanglose und nicht sicher zu deutende Erwähnung eines S., der auch ein anderer sein kann, Cic. ad Att. XII 18, 3). Schon in den ersten Monaten von 708 = 46 hatte Cicero dem S. eine besondere Ehre erwiesen, indem er ihn durch den Mund des Brutus als den Meister des Rechts rühmen und mit sich selbst als dem Meister der Rede vergleichen ließ (Brut. 150–157); gegen Ende 710 = 44, noch bei Lebzeiten des S. wiederholte er kurz diese hohe Anerkennung (bes. 152), ohne den Namen zu nennen (off. II 65: cum is esset, qui omnes superiores, quibus honore par esset, scientia facile vicisset), und schließlich faßte er sie Anfang Februar 711 = 43 nach dem Tode des S. öffentlich zusammen (Phil. IX 10: Omnes ex omni aetate, qui in hoc civitate intellegentiam iuris habuerunt, si unum in locum conferantur, cum Ser. Sulpicio non sunt comparandi. Nec enim ille magis iuris consultus quam iustitiae fuit). Im Herbst 709 = 45 war S. wieder in Rom, verkehrte mit den angesehensten Männern wie Cn. Domitius Calvinus und nahm an wichtigen Verhandlungen wie der über Deiotarus teil (Cic. Deiot 32). Nach Caesars Ermordung stellte er im März 710 = 44 den auch von dem Consul Antonius gebilligten Antrag, ne qua tabula post Idus Martias ullius decreti Caesaris aut beneficii figeretur (Cic. Phil. I 3; vgl. II 91. Rice Holmes The architect of the roman empire [Oxford 1928]5). Im April war er bei einem Senatsbeschluß über die Juden der zweite Urkundszeuge hinter dem ranghöheren L. Piso Caesoninus (Jos. ant. Iud. XIV 220). Anfang Mai verließ er Rom mit ähnlicher Sorge und Furcht vor der Zukunft wie fünf Jahre vorher (Cic. ad Att. XIV 18, 3. 19, 4. 5), immer auf Erhaltung des Friedens bedacht (pacificator ebd. XV 7, ähnlich spöttisch wie X 15, 2). Noch Ende September war er fern und wurde bei der sich immer mehr zuspitzenden Lage im Senat sehr vermißt (Cic. an den wohl mit S. verschwägerten [s. Nr. 111] Cassius fam. XII 2, 3: Ser. Sulpicius et summa auctoritate et optime sentiens non adest). In der Senatssitzung des 1. Jan. 711 = 43 stellte er den auch von anderen aufgenommenen Antrag, den jungen Caesar zu beschleunigter Ämterbewerbung zuzulassen (Cic. ad Brut. I 15, 7. Vgl. Rice Holmes 205). Nachdem in den folgenden Tagen die Gegensätze scharf aufeinandergeprallt waren, machte er am 4. Januar den Vermittlungsvorschlag, der zum Beschluß erhoben wurde, daß noch eine Gesandtschaft des Senats an M. Antonius geschickt werden sollte (Cic. Phil. IX 7. 9). Er selbst übernahm gemeinsam mit zwei anderen angesehenen [857] und gemäßigten Consularen, L. Piso Caesoninus und L. Marcius Philippus (o. Bd. XIV S. 1571), diese Mission trotz seiner angegriffenen Gesundheit (Cic. Phil. IX 1f. 5f. 8f. 15). Kurz ehe die Gesandtschaft das Lager des Antonius vor Mutina erreichte, wurde S. um Mitte Januar vom Tode dahingerafft (ebd. 1f. 6. 15f.). Unter dem frischen Eindrucke des Todes rief Cicero (Phil. VIII 22): Utinam ....Ser. Sulpicius viveret! und schrieb er an seine Gesinnungsgenossen (an Trebonius fam. X 28, 3): Magnum damnum factum est in Servio, und (an Cassius ebd. XII 5, 3): Ser. Sulpici morte magnum praesidium amisimus (vgl. noch Phil. XIII 29). Am 4. Februar beriet der Senat über die dem Verstorbenem zu erweisenden Ehren und hielt Cicero die als Phil. IX bezeichnete Rede, in der er nicht nur das schon von anderen beantragte öffentliche Begräbnis für den hochverdienten Toten forderte, sondern auch die von seinem Vorredner abgelehnte Errichtung eines ehernen Standbildes auf den Rostra. Sein Schlußantrag (Phil. IX 15–17) ist angenommen worden; sowohl die öffentliche Beisetzung ist bezeugt (Hieron. zu Euseb. chron. II 137 δ Sch.: Sergius [so'] Sulpicius iuris consultus .... publico funere elatus), wie die Aufstellung des Denkmals (Pompon. Dig. I 2, 2, 43: hic cum in legatione perisset, statuam ei populus Romanus pro rostris posuit, et hodieque exstat pro rostris Augusti). S. war verheiratet mit Postumia (Cic. fam. IV 2, 1. 4; ad Att. V 21, 14. X 9, 3. 10, 4. XII 11. 22, 2; Phil. IX 5. Suet. Caes. 50, 1), die als letzte Erbin der alten patrizischen Gens Postumia und wohl auch persönlich gewiß keine unbedeutende Frau war; aus ihrer Ehe stammten der Sohn Nr. 96 und die Tochter Nr. 111.
S. war ein ausgezeichneter Redner und wurde auch von Cicero als solcher anerkannt (Brut. 150f. 155. Quintil. inst. or. X 1, 116. 5, 4. 7, 30. XII 3, 9. 10, 11. Pompon. Dig. I 2, 2, 43). Von drei noch später erhaltenen Reden (Quintil. X 1, 116. 7, 30) wird eine für Aufidia öfter zitiert, ohne daß der Prozeß, in dem Messalla sein Gegner war, näher bestimmt werden könnte (Fest. 153. Quintil. IV 2, 106. VI 1, 20. X 1, 22. Klebs o. Bd II S. 2298 Nr. 45). Über einen Briefwechsel zwischen S. und Varro s. Gell. II 10, 1; über ein Zitat bei Plin. n. h. XXVIII 26 s. Quellenkritik des Plin. 163. Der Dichter S. bei Plin. ep. V 3, 5 ist wohl eher der Sohn Nr. 96. Den Ruhm des S. bildete seine führende Stellung in der Rechtswissenschaft.
Er hat nach dem Zeugnis des Pomponius, Dig. I 2, 2, 43 180 Bücher hinterlassen, von denen zur Zeit des Pomponius noch mehrere vorhanden gewesen seien: huius volumina complura exstant: reliquit autem prope centum et octoginta libros. Davon sind uns noch 4 Titel bekannt: De dotibus, Gell. IV 3, 2. 4; De sacris detestandis. Gell. VII 12, 1; Reprehensa Scaevolae capita oder Notata Mucii, Gell. IV 1, 20. Paul. Dig. XVII 2, 30. Ad Brutum in zwei Büchern, eine Bearbeitung des prätorischen Edikts, Dig. I 2, 2, 44. XIV 3, 5, 1. Daß er auch einen Kommentar zu den zwölf Tafeln verfaßt hat, wird mit Recht aus einigen Stellen des Festus erschlossen: v. pedem p. 210, v. vindiciae p. 376, v. sanates p. 321, v. sarcito [858] p. 322. In die Digesten sind keine Bruchstücke aus seinen Schriften aufgenommen; aber in den aufgenommenen Fragmenten klassischer Juristen und in den Institutionen des Gaius wird er sehr häufig zitiert. Ob diese Zitate aus Schriften des Servius unmittelbar oder aus den Werken seiner Schüler entnommen sind, läßt sich nicht mehr erkennen. Er hinterließ zehn Schüler, die Pomponius Dig. I 2, 2, 44 aufzählt. Er fügt hinzu, daß acht von ihnen Schriften verfaßt hätten, die Aufidius Namusa in einem großen Sammelwerke von 140 Büchern verarbeitet habe: Ex his decem octo libros conscripserunt, quorum omnes qui fuerunt libri digesti sunt ab Aufidio Namusa in CXL libros. Art. Aufidius Nr. 31; o. Bd. II S. 2294. Es ist nicht ersichtlich, welche beiden der zehn Schüler von diesen acht, deren Schriften Namusa sammelte, ausgeschlossen sein sollen. P. Krüger Gesch. d. Quellen² 72 nimmt an, daß es Alfenus Varus und Ofilius sind, weil Pomponius besondere Titel von ihnen anführt. Alfenus (o. Bd. I S. 1472ff.) verfaßte ein großes Digestenwerk in 40 Büchern. Er führt in ihm häufig Ansichten des Servius mit Nennung seines Namens an. Aber auch wenn er nur schreibt ait oder respondit, ist es meist zweifelhaft, ob er seine eigene Ansicht oder die des Servius angibt.
Die große Zahl der Schüler, die Servius Sulpicius hinterließ,, bezeugt seine Bedeutung als Lehrer. Als Schriftsteller ragte er dadurch hervor, daß er es verstand, den Stoff systematisch zu gliedern. Cic. Brut. 152: existimo iuris civilis magnum usum et apud Scaevolam et apud multos fuisse, artem in hoc uno (Servio Sulpicio). quod numquam effecisset ipsius iuris scientia, nisi eam praeterea didicisset artem, quae doceret rem universam tribuere in partes, latentem explicare definiendo, obscuram explanare interpretanda, ambigua primum videre, deinde distinguere, postremo habere regulam, qua vera et falsa iudicarentur et quae quibus propositis essent quaeque non essent consequentia. Also Servius Sulpicius verstand es, den Stoff (rem universam) einzuteilen, bei zweifelhaften Fragen die verschiedenen Möglichkeiten der Beantwortung zu unterscheiden, durch solche Analyse die Rechteregel zu finden und schließlich zu zeigen, wann sie durch Analogie ausdehnend, wann restriktiv anzuwenden sei, wahrlich ein hohes Lob! Vgl. Cic. Phil. IX 10. 11. Die Kunst, den Stoff zu ordnen und in ein System zu bringen, läßt auf eine philosophische Schulung schließen, insbesondere auf logische und rhetorische Durchbildung, und es ist ja im ersten Abschnitt dieses Artikels gezeigt worden, daß S. philosophische Studien an der Quelle, in Griechenland, betrieben hatte. Man nimmt an, daß seine philosophische Bildung ihn noch weiter führte, nämlich dazu, daß er seine Rechtslehre philosophisch begründete und mit philosophischen Gedanken befruchtete. Das erschließt man aus den Worten, die Cicero de leg. 117 dem Atticus in den Mund legt: non ergo a praetoris edicto... neque a XII tabulis... sed penitus ex intima philosophia hauriendam iuris disciplinam putas, womit er auf den S. anspiele. So Bremer Iurispr. antehadr. I 147. Dialektische Schärfe rühmt an S. [859] P. Krüger Gesch. d. Quellen² 67, und führt als Belege dafür Dig. XVII 2, 30. L 16, 25, 1 an.
Die Wirksamkeit des S. fällt im die Zeit, in welcher das Legisactionenverfahren durch den Formularprozeß abgelöst wurde, neben den formulae in factum die formulae in ius conceptae geschaffen wurden, die Kontraktslehre und ihre Einteilung ausgebildet wurde, bei der Haftung des Schuldners die einzelnen Grade (dolus, culpa, casus; bona fides, diligentia, custodia) unterschieden und der Haftungsgrad für die einzelnen Kontrakte festgelegt wurde, die Besitzlehre durch Entwicklung der Interdikte verfeinert wurde, neben das zivile Erbrecht das prätorische trat, die starre Vermächtnislehre der Legate durch die Erfindung fideikommissarischer Zuwendungen schmiegsamer gemacht wurde, kurz in die Zeit, in der die römische Rechtsentwicklung einen Riesenschritt nach vorwärts tat, vielleicht den größten, den sie jemals getan hat. Es hing das auf das engste zusammen mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Römerstaates, der zum Weltreich geworden war, und mit der geistigen Blüte, die eine noch heute bewunderte und nicht abgestorbene literarische Produktion förderte, auch mit der philosophischen Bildung, die von den höheren Schichten des Volkes gesucht wurde (Lucrez; Cicero). Mochte die wissensschaftliche Darstellung und Ausbildung der neuen Rechtsideen auch erst von den späteren Juristengenerationen geleistet werden, so sind doch die Anfänge dazu sicherlich bei den juristischen Zeitgenossen Ciceros zu suchen. Da unter ihnen der philosophisch gebildete S. den ersten Rang einnimmt, so liegt die Vermutung sehr nahe, daß er an der theoretischen Begründung der neuen Gedanken und Erscheinungen des Rechts hervorragend beteiligt war. Dies im einzelnen nachzuweisen, hat denn auch Vernay Servius et son école, Paris 1909, versucht, aber wie Peters in seiner Kritik dieser Schrift, Ztschr. der Sav.-Stift. XXXII (1911) 463ff. gezeigt hat, ohne Erfolg, und Bremer hat wohl Recht, wenn er a. O. 145 sagt, die Leistungen des S. in der Ausbildung des Rechts könnten wegen der Spärlichkeit der erhaltenen Fragmente seiner Schriften nicht sicher abgeschätzt werden.
Zwei Formeln tragen den Namen des S., die fiktizische Klage des bonorum emptor zur Geltendmachung der Forderungen des Gemeinschuldners (defraudator) im Gegensatz zu der mit subjektiver Umstellung gebildeten formula Rutiliana, Gai. IV 35. Lenel Edikt³ 432, und die dingliche Pfandklage, Dig. XX 1, 1, 2; 1. 3 pr.; 1. 7; 1. 10; 1. 18; 1. 21, 1 (interpoliert); XX 6, 1 pr.; 1. 2; 1. 4 pr. XIII 7, 28 pr. IX 4, 36. X 2, 29. X 4, 3, 3. XVI 1, 17, 1. XXI 2, 34, 2; 1. 35; 1. 66 pr. XLIII 33, 2 (Servianum iudicium). Cod. IV 10, 14. IV 32, 19, 2. VIII 9, 1. VIII 15 (16), 6; actio quasi Serviana Dig. XVI 1, 13, 1. Inst. IV 6, 7. 31. Lenel Edikt³ 493. Bremer 219ff. schreibt beide Formulare unserm S. zu; Vernay 307ff. schließt sich ihm an. Dagegen ist, wie oft bemerkt worden ist (z. B. Girard Manuel⁵ 770, 5), einzuwenden, daß S. weder praetor urbanus noch peregrinus war, sondern der quaestio de peculatu vorstand. Diesem Einwand begegnet [860] Vernay mit der Bemerkung, die formulae Servianae verdanken ihre Bezeichnung nicht dem Umstande, daß sie ein Praetor namens Servius in das Edikt eingefügt habe, sondern dem Umstand, daß der große Jurist S. durch seine schriftstellerische Tätigkeit oder durch sein Ansehen ihre Aufnahme in das Edikt bewirkt habe. Tatsächlich hat neuerdings Wlassak Die klassische Prozeßformel 1924 sehr einleuchtend nachgewiesen, daß die Erfindung und Herstellung der Formeln nicht das Verdienst der Praetoren, sondern der Juristen war. Aber ob die Formeln auch den Namen von den rechtsgelehrten Erfindern empfingen, darüber hat er keine Untersuchung angestellt. Jedenfalls hieß die actio de dolo, deren Ursprung nicht auf den Praetor, sondern auf den Juristen Aquilius Gallus zurückzuführen ist, nicht formula Aquiliana. Bei der Servianischen Pfandklage kommen aber noch weitere Bedenken hinzu. Sie stand im Edikt an ganz eigentümlicher Stelle, nämlich hinter dem Interdictum Salvianum, also in einem der spätesten Kapitel, getrennt von den dinglichen und den Kontraktsklagen, und sie war nicht wie zu erwarten wäre, durch ein prätorisches Edikt eingeführt, Wlassak Edikt u. Klageform 130f. Lenel Edikt³ 493. Daher nehmen die meisten Forscher an, daß sie erst von Iulian bei der abschließenden Redaktion dem Edikte eingefügt worden ist, Siber Röm. Privatrecht 1928, 124. Sohm-Mitteis-Wenger Institutionen 345. Czyhlarz-San-Nicolò Institutionen 172. Das würde auch mit der materiellen Rechtsentwicklung übereinstimmen, da vielfach angenommen wird, daß die dingliche Pfandklage nicht vor dem 2. nachchristl. Jhdt. entstanden ist. Fehr Beiträge zur Lehre vom römischen Pfandrecht, Upsala 1910, 136. Die Frage ist aber sehr umstritten und kann im Rahmen dieses Artikels nicht untersucht werden. S. den Art. Hypotheca, o. Bd. IX S. 455. Ob die beiden formulae Servianae ihren Namen unserem S. verdanken, muß nach Lage des uns zu Gebote stehenden Quellenmaterials und nach dem Bestande der heutigen Forschung einstweilen unentschieden bleiben.
Everardus Otto De vita studiis scriptis et honoribus Ser. Sulpicii, abgedruckt in seinem Thesaurus V 1555ff. R. Schneider Quaestionum de Ser. Sulpicio Rufo specimen I 1834. P. Krüger Gesch. d. Quellen² 66f. Kipp Gesch. d. Quellen⁴ 101f. Bremer Iurispr. Antehadr. I 139ff. Karlowa Röm. Rechtsgesch. I 483f. Kübler Gesch. d. röm. Rechts 21. 139. Schanz-Hosius Gesch. d. röm. Lit. I⁴ 593ff. Stroux Summum ius summa iniuria [Lpz. 1926] 40ff.– Sammlung der Fragmente: Bremer 167ff. Lenel Palingenesia iuris civilis II 321ff. Huschke-Seckel-Kübler Iuris anteiustiniani reliquiae I⁶ 32ff.