Schöne Geister und schöne Seelen (Reihe)/Der Philosoph Hemsterhuys und die Fürstin Gallitzin
Schöne Geister und schöne Seelen.
In Sokrates und Diotima ist das Urbild der Freundschaft zwischen Männern und Frauen vorgezeichnet; es gleicht wohl ein wenig dem Ideal der Liebe, wie es von Plato aufgestellt worden ist. Manche behaupten sogar, diese Art der Freundschaft sei eigentlich ein Zwillingsbruder der Liebe. Wenn diese Verwandtschaft zugegeben werden soll, so muß wenigstens angenommen werden, daß der eine der Brüder ein Dämon ist, der das Herz erschüttert, – die Liebe – und der andere ein Genius, der es tröstet, – die Freundschaft!
Die Gelehrten streiten noch darüber, ob Diotima wirklich gelebt hat oder nur ein Phantasiebild des dichterischen Philosophen Plato gewesen ist, der uns die Gespräche zwischen ihr und Sokrates aufbewahrte. Die Lehre von der Schönheit der Geister und der Seelen, über die Wechselwirkung von Eros und Anteros, der geistigen Liebe und Gegenliebe, dies platonische System der Idealität, wird im Munde Diotima’s zu einer Verklärung der Weiblichkeit, wie sie nur durch den göttlichen Plato möglich werden konnte in der antiken Welt, die in den Frauen eigentlich nur Hetären oder Matronen sehen wollte. Wenn er wirklich keine Diotima gekannt, sondern nur sie sich gedacht hätte, wie sie sein könnte, so wäre er Griechenlands Frauenlob, dieser göttliche Plato!
Er erzählt auch noch von einer andern Freundschaftsverbindung, die Sokrates mit geistreichen Frauen eingegangen war: Aspasia und Lais. Erstere war die berühmte Freundin des Perikles, die dafür galt, ihm bei seinen Reden geholfen zu haben. Sie wurde zum Unterschied von einer andern viel späteren Aspasia die sokratische genannt, weil sie mit dem großen Philosophen befreundet war. Lais ließ sich dagegen nicht auf gelehrten Streit mit ihm ein, aber ihre munteren Worte reizten ihn doch zur Gegenrede. Der Titel beider Frauen war nicht ehrenvoll, man nannte sie Hetären, aber ihre Vertheidiger behaupten, daß die strenge Sitte der griechischen Frauenwelt jedes weibliche Wesen mit dieser Bezeichnung gestraft hätte, das nicht, wie sie selbst, verborgen im Gynäceum, dem Frauengemach, gelebt hätte, und daß die Aspasien der vorchristlichen Zeit nicht so verdammungswürdig gewesen seien, als manche der nachchristlichen es sind. Jedenfalls hatten erstere mehr Geist, als letztere aufzuweisen haben.
Die moderne Gestaltung der Freundschaft ist die ästhetische; die Jünger der schönen Künste finden sich in gemeinsamem Streben darin zusammen. Doch sind die Beispiele, welche hier unter dem Titel „Schöne Geister und schöne Seelen“ aufgezählt werden sollen, auch auf der Grundidee der Freundschaft erwachsen, der gegenseitigen Zuneigung, die dem Genius der Freundschaft, wie schon gesagt, die gefährliche Aehnlichkeit mit dem Dämon der Liebe giebt. Fast alle die hier genannten Verhältnisse streiften wenigstens einen Augenblick von einem Gebiet in das andere, wodurch der Leser den Reiz des Romantischen in den Kauf bekommt.
Eine der merkwürdigsten Frauen Deutschlands war die Fürstin Amalia von Gallitzin. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist mit seinem Lethestrom über ihr Grab gerauscht und hat die einst so bekannten Züge ihres originellen Bildes verwischt; es lohnt sich, dieses Bild wieder aufzufrischen in dem Gedächtniß der Neuzeit, die vielleicht kaum noch ihren Namen kennt. Dagegen verwahren wir uns natürlich ganz ausdrücklich gegen die etwaige Annahme, als ob wir solche „schöne Geister und schöne Seelen“ als nachahmungswerthe Erscheinungen aufstellen wollten; sie nehmen eine wichtige Stelle in der Culturentwickelung ihrer Zeit ein und als erklärende Bilder derselben verdienen sie die Beachtung auch unsrer Leser.
Amalia, die Tochter des Feldmarschalls Grafen von Schmettau, war 1748 zu Berlin geboren; ihre erste Erziehung erhielt sie in einem schlesischen Kloster und in Breslau bei einer Tante, von der einige biographische Aufzeichnungen über die berühmte Nichte erst ganz kürzlich im Druck erschienen sind. Es erhellt daraus nichts besonders Charakteristisches, es geht nur daraus hervor, daß das kleine Comteßchen die oberflächliche Erziehung empfangen hat, die damals für standesmäßig galt. Etwas französisch zu plaudern und auf äußern Anstand zu halten, mehr verlangte man nicht von einer vornehmen Dame des achtzehnten Jahrhunderts. Mit zwanzig Jahren lernte sie als Hofdame der Prinzessin Ferdinand von Preußen in Spaa, einem damaligen Modebade, den Fürsten Dimitri Gallitzin kennen. Er bewunderte ihre Schönheit und natürliche Anmuth, verbunden mit einer großen Lebhaftigkeit des Geistes, die den Mangel an Kenntnissen bei ihr übersehen ließ. Als er ihr seine Hand bot, nahm sie dieselbe hocherfreut an und glaubte auch ihn aufrichtig zu lieben.
Der Fürst Dimitri imponirte seiner jungen Gattin ganz besonders durch seinen Verkehr mit den schönen Geistern der französischen Literatur, die damals die ganze gebildete Welt beherrschten, besonders in Preußen eine hohe Geltung erlangt hatten, weil Friedrich der Große sie allein für würdig hielt, sich mit ihnen zu beschäftigen und die armen deutschen Gelehrten beinah verachtete. Namentlich war Fürst Dimitri mit Voltaire und noch mehr mit Diderot befreundet und erhielt Briefe von Beiden, die voll kriechender Schmeichelei gegen den russischen Großen waren und den Briefstellern eben keine Ehre machten. Die junge Fürstin aber sah darin einen Beweis für die Gelehrsamkeit und hohe Bildung ihres Gemahls; auf Vorzüge dieser Art legte sie mehr Werth als auf Rang und Reichthum, die ihr durch ihre Ehe zufielen.
Das Herzensbedürfniß, ihren Mann zu verehren, wurde indessen der jungen Frau nicht lange erfüllt; sie bemerkte nur zu bald, daß die Rohheit seines Innern durch den Firniß der Weltbildung sehr oberflächlich verhüllt war und die falsche Weisheit derselben sein sittliches Gefühl nur noch mehr untergraben hatte. Er ahnte nicht einmal, daß sie sich unglücklich fühle, seit sie ihn in seiner wahren Gestalt kennen gelernt hatte, er glaubte, die Vergnügungen und der Glanz des Hoflebens, das er ihr durch seine Stellung als russischer Gesandter in Haag verschaffte, würde vollkommen ausreichen, ihr Leben zu erfüllen und zu erheitern.
Aber es ermüdete, ja es quälte sie. Uebersättigung und Leere traten wie zwei Gespenster in ihr Haus. Der Durst nach Wissen, das Verlangen nach Geistesarbeit wurde beinah krankhaft in diesem jungen Wesen. Manche Nacht verging unter Thränen und fieberhafter Aufregung. Die Sehnsucht nach einem unbekannten höhern Glück, als die Welt es bieten kann, hätte die noch so jugendliche Frau sehr leicht zu der Verirrung führen können, in einer Liebesleidenschaft Befriedigung zu suchen; aber es ist keine Spur vorhanden, daß sie dieser Versuchung nur einen Augenblick nachgegeben hätte. Sie versuchte zuerst in der Arbeit des Lernens sich Befriedigung zu verschaffen; die Weltdame, die nur ein wenig französisch gelernt hatte, warf sich mit einem wahren Feuereifer auf das Studium der griechischen und lateinischen Sprache. Dann trieb sie ebenso metaphysische und philosophische Studien. Durch letztere lernte sie den Philosophen Hemsterhuys kennen, dessen Buch „Ueber das Wesen des Geistes“ sie mächtig angezogen hatte. Er lebte zurückgezogen im Haag, war aber als Schriftsteller berühmt und wurde von seinen holländischen Landsleuten mit Stolz genannt als der Regenerator ihrer gelehrten Literatur.
Die Freundschaft zwischen Hemsterhuys und der Fürstin Gallitzin wuchs rasch empor, sie war ganz und gar nach dem Muster der von Sokrates und Diotima gestaltet. Die Zwiegespräche, die sie führten, glichen an tiefsinniger Schönheit und hohem Gedankenfluge genau den berühmten Dialogen der hellenischen Philosophen. Auch nannten sie sich mit denselhen Namen [362] in ihren Briefen, und Hemsterhuys schrieb ein ganzes Werk unter dem Titel „Diokles an Diotima“, worin er seiner Freundin die Unhaltbarkeit der französischen Systeme über den Atheismus darthat.
So ernste Beschäftigungen ließen sich mit dem zeiträuberischen Leben in der großen Welt allerdings schwer vereinigen; die Fürstin Gallitzin faßte deshalb den Entschluß, sich ganz daraus zurückzuziehen. Ihr Gemahl verweigerte ihr jedoch lange Zeit die Erlaubniß dazu; endlich gelang es ihr, dieselbe zu erlangen durch die Vermittelung Diderot’s, der zum Besuch in ihr Haus kam und wohl einsehen mochte, daß die Mißverständnisse der Eheleute am besten durch eine längere Trennung gelöset werden könnten. Der Fürst willigte ein, daß seine Gemahlin auf eine kleine Meierei in der Nähe der Stadt zog, wo er sie und seine zwei Kinder jedoch regelmäßig besuchte, und zwar jedesmal in Begleitung ihres gelehrten Freundes Hemsterhuys.
Um allen Störungen zu entgehen in ihrer selbstgewählten Einsiedelei, benannte sie dieselbe „Nithuyß“, welches gleichbedeutend mit dem hochdeutschen Nichtzuhaus ist und alle ungebetenen Gäste für immer abschrecken mußte. Damit sie selbst aber auch jeder Versuchung zum Besuch in der Stadt widerstehen konnte, entäußerte sie sich gänzlich der vorgeschriebenen Modetracht, sie warf den Reifrock und die Schnürbrust fort und legte die Kleider einer Bäuerin an, ja sie ließ sich sogar die schönen Haare abschneiden, um sich gehörig zu entstellen. Sie war noch nicht dreißig Jahre alt, als sie sich in diese klösterliche Lebensweise zurückzog, und sie beharrte fünf Jahre darin.
Die Briefe, welche sie in dieser Zeit mit Hemsterhuys wechselte, beweisen, wie regsam ihr Geist in der Einsamkeit blieb und wie ausdauernd sie ihre Ideen den höchsten Problemen von Religion und Philosophie zuwendete. Aber es geht auch aus diesen Briefen hervor, daß trotz der eifrigen Bemühung, nur der Weisheit zu leben, sich eine Thorheit zwischen die Gelehrten geschlichen und ihre Herzen für einander geweckt hatte. Der Unterschied des Alters war so groß zwischen beiden, daß die Fürstin mit Recht sich in diesem Verhältniß sicher fühlen und über die Empfindungen ihres Freundes täuschen konnte. Er war beinah dreißig Jahre älter als sie, wenigstens war er schon ein hoher Fünfziger, als er sie kennen lernte.
Anfangs kam Hemsterhuys nur in Begleitung ihres Gemahls in ihre Einsiedelei, aber wenn derselbe verreiste, was häufig vorkam, so blieben die beiden Gelehrten oft ganze Tage allein, und die eifrigen Studien der platonischen Weisheit sind wohl mehr als alle anderen philosophischen Abhandlungen geeignet, zündende Funken in die Geister zu werfen. Plato legt in Diotima’s Mund die wunderbarsten geheimnißvollsten Lehren über Eros und Anteros, Liebe und Gegenliebe. Er läßt selbst den weisen Sokrates durch Diotima überzeugen, daß Eros der größte der Dämonen sei, der den sterblichen Theil des Menschenthums mit der Unsterblichkeit vereinige, daß die Liebe nichts anderes sein könne als das Verlangen mach Schönheit und Güte, daß Vervollkommnung und Verklärung alles Irdischen nur durch die Götterkinder Eros und Anteros verliehen werden könne. Es war natürlich, daß ein Mann, wenn auch noch so sehr Philosoph, einer jungen, schönen Schülerin gegenüber in süße Verwirrung gerieth bei den Auseinandersetzungen dieser Probleme und daß er endlich selbst von den Flammen ergriffen wurde, die er nur schildern wollte.
Die junge Fürstin scheint einen Augenblick geschwankt zu haben, ob sie dem „Dämon der Liebe“ Gehör schenken dürfte, aber ihr guter Genius und ihr fester Charakter schützten sie vor ihrem eigenen Herzen, das der lebhaftesten Empfindungen fähig war und bereits mit unverhohlener Zärtlichkeit dem gelehrten Freunde anhing. Sie entzog sich ihm mit Festigkeit, aber nicht ohne den Trost ihrer Vergebung und ihrer enthusiastischen Verehrung für ihn.
Ein Menschenkenner hat gesagt, jede Frau ertheile Absolution für das Verbrechen sie zu lieben; die Briefe der Fürstin an ihren Sokrates beweisen dies von Neuem. Es ist ein reizendes Gemisch von Tugendstolz und echt weiblicher Koketterie darin; man merkt fast an jeder Redewendung, wie das Frauenherz durch Thränen lächelt über das Glück, geliebt zu werden. Leider sind die Briefe französisch geschrieben und verlieren durch die Uebersetzung an ihrer ursprünglichen Naivetät. Die Briefe sind übrigens hauptsächlich Antworten auf philosophische Abhandlungen, die Hemsterhuys der Freundin sandte; sie bespricht sie voll Ernst und tiefem Verständniß, oft sogar mit lateinischen Citaten. Das erotische Beiwerk der niedergekämpften Leidenschaft nimmt sich dazwischen aus wie die glühende Abendröthe, die von einem düsteren Eichenhain halb verhüllt wird.
„Mein Sokrates! Bei Durchlesung des herrlichen Schriftstücks, welches Du mir mitgetheilt hast, empfand meine Seele einen brennenden Durst nach mehr; der sanfte Thau Deiner Beredsamkeit wird ihn hoffentlich bald löschen. Du erweckest meine Seele zu fruchtbaren Gedanken durch diese Beredsamkeit und Dein Genius lehrt mich, die einst eine arme Sclavin der eitlen Welt war, die Wissenschaft lieben und die Philosophie verstehen. Die Zeit fehlt mir, um Dir alles zu sagen, was ich denke, ich muß mich damit begnügen Dich ehrfurchtsvoll zu grüßen – und auch zärtlich trotz des Zornes, in den Du mich erst heute Morgen versetztest. Mein unvergleichlicher Sokrates, glaube an Deine Diotima.“
„Ja, mein theurer Sokrates, ich fühle den seligen Frieden, den ich Dir vergebens so oft geschildert habe, und doch verdanke ich ihn eigentlich Dir selbst; Du hast jetzt eingesehen, daß unsere Verbindung der reinsten Freundschaft unzerreißbar sein muß, wenn wir sie unter den Schutz der Venus Urania, der Schutzgöttin unirdischer Liebe, stellen ... Und so verlasse ich Dich denn, weil es die Vernunft erheischt ... Keine Macht der Welt wird mich von dem Entschluß zurückbringen, von nun an nur meinen Kindern zu leben und unsern Umgang möglichst zu beschränken, bis Du für immer gelernt hast, Dir keine Täuschung über die Art meiner Gefühle zu erlauben.“ ...
Solche und ähnliche Aeußerungen in den Briefen der Fürstin deuten darauf hin, daß sie ihre geliebte Einsiedelei verließ, um den Freund in pflichtmäßige Schranken zurückzuweisen. Sie hatte den Entschluß gefaßt die Schweiz zu ihrem Aufenthalt zu wählen, machte aber vorher eine Reise nach Münster, wo damals der Freiherr von Fürstenberg das Ländchen unter dem Krummstab geradewegs zu einem kleinen Musterstaat von trefflichen Institutionen emporhob. Namentlich wurden die Schulanstalten und die Grundsätze der Erziehung von seinem wahrhaft humanen und aufgeklärten Geist geleitet.
Die Fürstin Gallitzin fühlte, daß ihr hauptsächliches Lebensinteresse ihre Kinder sein mußten, und der Wunsch, ihnen eine Erziehung nach festen Principien zu geben, hatte sie nach Münster in die Nähe Fürstenberg’s geführt. Die mächtige Persönlichkeit des geistvollen Mannes fesselte sie gleich so sehr, daß sie beschloß, unter seinen Auspicien das Werk der Erziehung nach einem neuen Plan zu beginnen. Sie blieb in Münster und gab die Reise nach der Schweiz auf. In ihrem Tagebuche aus jener Zeit findet sich eine merkwürdige Selbstschilderung ihrer Beweggründe zu der Wahl dieses Aufenthaltsortes. Sie erzählt, daß sie mit einer Art „von Wuth“ sich auf die Vervollkommnung ihrer Kinder geworfen hätte und oft voll eifernden Zorns gegen sie gewesen wäre, wenn sie nicht die Fortschritte gemacht hatten, die sie von ihnen erwartete. Auch klagte sie über ihren unheilbaren Unglauben, den sie doch ihren Kindern nicht mittheilen wollte. Sie beschuldigte ihre Umgebung, daß diese ihre Wißbegierde, ihren Ehrgeiz nicht getadelt, sondern ihr nur stets das übertriebenste Lob gespendet habe. Hemsterhuys namentlich habe ihren Werth so sehr überschätzt und auch andere berühmte Menschen hätten in der schmeichelhaftesten Weise immer von „ihrer Seelengröße und ihrem Genie“ gesprochen.
Der Drang nach Demüthigung, nach Selbstverleugnung und nach positiver Religion für sich und ihre Kinder fesselte sie in Münster, wo der kluge Fürstenberg das verlorene Schaf der katholischen Kirche wie in einer Heimath aufnahm. Einige bedeutende Geistliche, wie Katerkamp, die Droste-Vischerings und auch strenggläubige Protestanten schaarten sich um die Fürstin Gallitzin und verehrten sie bald wie ihr Haupt. Die Brüder Jakobi und Hamann gehörten zu den Letzteren.
Hamann wurde der Magus des Nordens genannt, er war ein religiöser Schwärmer geworden, nachdem er in der Jugend durch Zweifelsucht und Ausschweifungen sich unglücklich gemacht hatte. Im Begriff sich das Leben zu nehmen fiel ihm die Bibel in die Hände und veranlaßte ihn zu innerer und äußerer Umkehr. Er schrieb religiöse Flugblätter, die in der damaligen Zeit der Gährung kurz vor der französischen Revolution große Wirkung hervorbrachten. Bald kam auch Graf Leopold Stolberg mit seiner Gemahlin nach Münster und vollendete dort seine Bekehrung zum Katholicismus. Die Fürstin befreundete sich auf’s Innigste mit dem frommen Ehepaar und sie, die einstige Zweiflerin, ist jedenfalls die erste Veranlassung zu dem Religionswechsel desselben gewesen.
[363] Die Erziehung ihrer Kinder betrieb die Fürstin noch immer mit dem alten Eifer, namentlich erreichte ihr Abhärtungssystem Aufsehen in Münster. „Mitri und Mimi“, der einzige Sohn und die einzige Tochter, mußten mitten im Winter auf Spazierfahrten aus dem Wagen steigen und stundenlang nebenher laufen oder sich in’s Wasser stürzen, um Schwimmkünste zu machen. Die Mutter schwamm auch und gab überhaupt ein gutes Beispiel durch Frühaufstehen, Wenigessen und Vielgehen. Es gelang ihr jedoch nicht, ihren Kindern durch diese Erziehungsweise Gesundheit und Geisteskraft zu geben. Die Tochter blieb unbedeutend und häßlich, der Sohn blöde und sehr schwächlich. In späteren Jahren ist die religiöse Einwirkung der Mutter wohl die Veranlassung gewesen, daß er als Missionär zur Bekehrung der Heiden nach Afrika ging. Die Fürstin empfing auch in Münster mehrmals den Besuch ihres Gemahls und ihres Freundes Hemsterhuys; der Fürst scheint ihr seltsames Erziehungssystem durchaus gebilligt zu haben, wie überhaupt keinerlei Mißbilligung über ihre exaltirte Frömmigkeit oder ihre Lebensweise von ihm ausgegangen ist. Er gestattete ihr jede Freiheit und gewährte ihr reichliche Geldmittel; sie genoß Beides nach ihrer Weise, gab letztere den Armen und lebte selbst sehr einfach. Den Winter brachte sie immer in Münster zu, den Sommer in einem nahen Dörfchen, Angelmodde, wo sie bei einem Pächter sehr bescheiden wohnte und ihre fernen und nahen Freunde zum Besuch zu sich einlud.
Einige weitere Reisen unternahm sie jedoch fast jedes Jahr, namentlich nach Düsseldorf, wo sie auf dem reizenden Pempelfort, dem Landsitz der Jakobi’s, verweilte. Auch war sie öfter in Weimar und zwar in Begleitung ihrer Freunde Fürstenberg und Hemsterhuys und des Hauslehrers Sprickmann, der ihrer Kinder wegen die Reise mitmachen mußte. Daß diese seltsame Karawane in Weimar Aufsehen erregte, geht aus mehreren zeitgenössischen Briefen hervor. Goethe schrieb unter Anderem an Frau v. Stein unterm 20. September 1785: „Es sind interessante Menschen, und es ist wunderbar, sie miteinander zu sehen.“
In einem anderen Brief sagt Caroline Herder am 15. October 1785: „Ein Weib von so festem Charakter wie die Fürstin Gallitzin habe ich noch nie gesehen, und dann blickt sie mit ihren dunkelblauen, feurigen Augen so voll Liebe umher, daß wir sie recht lieb gewonnen haben. Fürstenberg ist ein sehr verständiger Mann, ein fröhlicher Weltmann und ein heiterer Philosoph. Hemsterhuys weiß unsäglich viel und ist ein so zarter, jungfräulich alter Jüngling, daß wir ihn sammt und sonders sehr in Affection genommen haben. Sprickmann ist eine treue deutsche Biederseele. Sie sind acht Tage hier gewesen und haben den guten Eindruck hinterlassen, daß es gute, edle Menschen sind.“
Die Fürstin stellte auf diesen Reisen öfter eine Selbstprüfung mit sich an, um zu ermitteln, ob sie in der christlichen Demuth fortgeschritten sei, denn der Weihrauch und Beifall, die sie bei solchen Gelegenheiten erntete, konnten ihr wohl als eine Versuchung zum Hochmuth vorkommen. So sagt sie in ihrem Tagebuch über Goethe: „Er ist der Einzige der berühmten Männer, der mich als Mensch wahrhaft begeistert und mein Herz berührt hatte, und gerade er gab mir den schmeichelhaftesten Anlaß, mit ihm in Correspondenz zu treten, indem er mir nach meiner Rückkehr von Weimar schrieb, ich allein hätte den Schlüssel seines lange verschlossenen Herzens gefunden, mir möchte er sich ganz öffnen und nach meinem Vertrauen verlange ihn, aber ich unterließ, ihm zu antworten, weil ich zu viel Zerstreuung in solchem Briefwechsel voraussah. Kurz vorher hatte Lavater mir einen ähnlichen Antrag gemacht, mit ihm in Correspondenz zu treten, und ebenso Herder, aber ich schwieg ebenfalls ihnen gegenüber, und zwar ohne Kampf, den ich doch bei Goethe empfunden hatte. Diese Wahrnehmungen beruhigten mich, und ich fing an Gefallen zu finden an meiner Ehrgeizlosigkeit. Da aber kam Hamann und zeigte mir erst den Himmel wahrer Demuth und Ergebenheit – Kindersinn gegen Gott. Er begeisterte mich über Alles, was ich bis dahin gesehen hatte, für die Religion Christi, indem er mich das Bild ihrer wahren Anhänger von der erhabensten Seite lebendig an sich wahrnehmen ließ. Er verdammte auch meinen Vervollkommnungstrieb, den Fürstenberg und die anderen Freunde mir als hohe Liebenswürdigkeit anrechneten, Hamann nannte ihn Stolz. Ich liebte ihn mehr als jemals für diese väterliche Härte.“
Es ist merkwürdig, daß die Fürstin Gallitzin nie den Versuch wagte, diesen christlichen Freund katholisch zu machen, da sie doch so viel Talent zur Proselytenmacherei bei den Stolbergs bewiesen hat. Hamann’s Kränklichkeit wurde durch seine verbesserten Vermögensverhältnisse, die ihm seine Münsterschen Freunde gestaltet hatten, nicht vermindert, er starb unerwartet im Hause der Fürstin, die sich dabei mit unglaublicher Exaltation benahm. Sie erzählt selbst in ihrem Tagebuch, daß sie stundenlang an seinem Bett gekniet und seine Hände geküßt hätte, und sie ließ ihn in ihrem Garten begraben, um beständig sein Denkmal unter Augen zu haben.
Dies Begräbniß wurde ihr sehr verdacht, und man erzählte allerlei Anekdoten über die Art, wie es bewerkstelligt worden sei. Sie theilt dieselben selbst in ihrem Tagebuch folgendermaßen mit: „Frau v. R. erzählte mir allerlei dummes Gerede über mich und Fürstenberg bei Gelegenheit von Hamann’s Begräbniß. Wir hätten uns maskirt und unter allerlei mystischen Ceremonien den Körper selbst getragen und in den Sarg gelegt, ich hätte mich laut weinend über ihn geworfen und hätte ihn über und über mit Rosen bestreut. Dann wären auf den Sarg beim Einsenken in das Grab immer schichtweise Erde und Rosenblätter geworfen. Dann hätten Fürstenberg und ich uns die Hände gereicht und über dem Grabhügel allerlei Zeichen gemacht, auch wären wir noch lange mit seltsamen Touren im Garten umher gegangen. – Die Reflexion, daß man nicht einmal ohne das kritische Auge und die Schmähsucht der leeren Weltmenschen einen Freund begraben kann, gab mir ein entsetzlich ödes und ekles Gefühl.“
Bald nach Hamann’s Tode erschien Hemsterhuys wieder bei der Fürstin Gallitzin und versuchte sie zu trösten über seinen Nebenbuhler in der Freundschaft, aber sie war durchaus nicht von seinen Argumenten erbaut und nannte ihn in ihrem Tagebuch einen „guten Mann“, der nicht ahne, wie hoch Hamann als Christ und Mensch über ihm gestanden hätte. Seine „hochtrabende gräcisirende Redeweise“ sei ihr völlig „unerträglich“.
Diese Abneigung sollte jedoch nicht lange dauern, eine lebensgefährliche Krankheit warf den Freund darnieder und weckte ihr Mitleid und Interesse für ihn wieder auf. Sie pflegte ihn mit der alten Gefühlswärme und kniete ebenso an seinem Krankenlager, wie an dem von Hamann. Der Tod schien auch ebenso sicher seine Füße zu ergreifen; die Füße und Hände waren schon steif und kalt geworden. Als die Fürstin eigenhändig heiße Umschläge von Wein und Kräutern machte, hatte sie jedoch die Freude, den Kranken sanft einschlafen zu sehen um gestärkt wieder zu erwachen. Die Darlegung der Empfindung durch körperliche Zeichen war in damaliger Zeit so viel mehr gebräuchlich als jetzt, daß man nicht ohne Erstaunen in dem Tagebuch der Fürstin den naiven Bericht lesen kann, wie Hemsterhuys seine Pflegerin umarmte und küßte zum Dank für ihre sorgende Aufopferung!
Nach dieser schweren Krankheit sah er die Fürstin nicht wieder, er starb zwei Jahre später, 1790, im Haag, er hat ihre Briefe aufbewahrt, damit sie dem Druck dereinst übergeben werden konnten. Sie zerstörte dagegen die seinigen, was zu beklagen ist, denn es ist dadurch auch das Verständniß der ihrigen erschwert worden. Nach dem Tode von Hemsterhuys wendete die Fürstin Gallitzin ihre Freundschaft dem Freiherrn v. Fürstenberg noch mehr als bisher zu, sie nannte ihn auch Du und schrieb ihm oft.
Im Jahre 1806 starb die Fürstin Gallitzin zu Angelmodde, dem Dörfchen bei Münster; ihr Gemahl war schon drei Jahre früher gestorben. Ihre beiden Kinder überlebten sie nicht lange. In der letzten Lebenszeit hatte sie noch die Freude, die ganze Familie Stolberg nach Münster übersiedeln zu sehen.
An der kleinen weißgetünchten Dorfkirche zu Angelmodde lehnt ein Kreuz, von wilden Rosen umrankt, unter denen das vielbewegte Herz der Fürstin Gallitzin, der einst so stolzen Philosophin und nachher so demüthigen Christin, Ruhe gefunden hat. Die Gräber berühmter Menschen sind oft die deutlichsten Wahrzeichen von der Unberechenbarkeit der Schicksale; wie verschieden sind ihre Gräber meistens von ihrer Wiege! (Schiller und Goethe in der Fürstengruft.)
Der einsame Pfad in dem weltfernen Dörfchen des Münsterlandes, der zum Grabe der Fürstin Gallitzin führt, wird nur noch von Dichtern heimgesucht. Immermann hat ihn oft betreten und Levin Schücking, der in einer geistvollen Abhandlung zuerst wieder an die berühmte Frau erinnert hat.