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Strafrechtspflege

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Autor: Ernst Beling
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Titel: Strafrechtspflege
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Fünftes Hauptstück: Die Rechtsprechung, Abschnitt 26, S. 353−362
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
Entstehungsdatum: {{{ENTSTEHUNGSJAHR}}}
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[353]
26. Abschnitt.


a) Strafrechtspflege.
Von
Dr. Ernst Beling,
o. Professor der Rechte an der Universität München.

Literatur:

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Eine umfassende systematische Darstellung der Strafrechtspflegepolitik als solchen fehlt. Über Einzelprobleme ist seit der Aufklärungsperiode (vgl. insbes. Beccaria, Dei delitti e delle pene 1764, deutsche Übersetzung von Esselborn, 1905) unübersehbar viel geschrieben worden. Mit ihnen beschäftigen sich regelmässig mehr oder minder auch die dogmatischen Darstellungen des Strafprozessrechts (teilweise unter Erwähnung der Literatur de lege ferenda):

die Lehrbücher des Strafprozessrechts von
Geyer (1880),
v. Kries (1892),
Ullmann (1893).
Bennecke (1895).
Bennecke-Beling (1900),
Rosenfeld4. 5 (1912),
Graf Dohna (1913);
die „Vorlesungen“ von Birkmeyer (1898);
der Grundriss von Binding5 (1904);
die Handbücher von v. Holtzendorff (1877–1879) und Glaser (1883. 1886);
die kurzgefassten Darstellungen von v. Lilienthal in Birkmeyers Enzyklopädie der Rechtswissenschaft2 (1904) und Beling in v. Holtzendorff-Kohlers Enzyklopädie der Rechtswissenschaft7 (1913).
Reiches Material an gesetzgebungspolitischen Erwägungen bieten die Verhandlungen des deutschen Juristentages (seit 1860) und die Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (seit 1889).
Vgl. ferner
Motive zu dem Entwurf (I) einer deutschen Strafprozessordnung, Berlin, Kgl. Geh. Oberhofbuchdruckerei, 1872;
desgl. zu Entwurf II. daselbst 1878;
zu Entwurf III. Drucksachen des Reichstages II. Legislaturperiode, II. Session 1874, zu Nr. 5 (A);
Protokolle der Kommission für die Reform des Strafprozesses, 2 Bde, Berlin, Guttentag, 1905.
Aschrott, Reform des Strafprozesses, 1906: (Reichsjustizamts-) Entwurf einer Strafprozessordnung nebst Begründung. Amtl. Ausgabe, Berlin. Liebmann, 1908;
Begründung zu den (Bundesrats-) Entwürfen einer . . . . . . Strafprozessordnung, Drucksachen des Reichstages, 12. Legislaturperiode, I. Session, zu Nr. 1310 A;
Verhandlungen des 19. deutschen Anwaltstages, Jurist. Wochenschrift, Bd. 38 S. 568 ff.;
Änderungsvorschläge zum Entwurf einer Str.-Pr.-O., veröffentlicht vom Berliner Anwaltsverein, Berlin, Heymann. 1910.
Fortlaufende Berichte „zur Strafprozessreform“ in der Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft seit Bd. 24 (1904).

Wie müssen die Strafrechtspflegeeinrichtungen und ihr Wirken beschaffen sein, um den Lebens- und Entwickelungsbedingungen der im Staate geeinten Gesellschaft am besten zu entsprechen? Das ist das in Frageform gefasste Programm der „Politik der Strafrechtspflege“. [354] Wenn „politische“ Betrachtungsweise diejenige ist, die die Einzelerscheinungen des menschlichen Gesamtlebens, soweit sie menschlicher Gestaltung zugänglich sind, mit der idealen Gestaltung des Staates vergleicht und sie unter diesem Gesichtspunkt wertend dem Ideal anzupassen bestrebt ist, so ist es selbstverständlich, dass sich auch die Strafrechtspflege solcher Betrachtungsweise nicht entziehen kann. Den politischen Gesichtspunkt an die Strafrechtspflege heranbringen heisst also diese letztere deskriptiv-kritisch derart würdigen, dass das „Soll“-Ergebnis dieser Würdigung im Einklang steht mit dem politischen Gesamtideal. Unvermeidlich ist, dass sich auch auf diesem engbegrenzten Gebiete die Geister nach ihrer politischen Gesamtauffassung scheiden müssen. Starke Betonung des Werts des Individuums, der Würde der Persönlichkeit, der einbruchssicheren Privatsphäre wird gerade für den Strafprozess eine ganz andere Ausgestaltung bedingen, als eine sozialistische Grundauffassung jener Art, die den Wert des Einzelnen nichts oder nur wenig gelten lässt, wo Gesamtheitsinteressen gegen das Einzelinteresse anlaufen. Ein auf individualistischen Grundton gestimmter Strafprozess wird dahin neigen, den Beschuldigten ganz wie den Beklagten im Zivilprozess zu stellen, ihn von jeder Auskunftspflicht zu entbinden, seine Anwesenheit nicht durch Untersuchungshaft zu erzwingen, ihn zum Eide zuzulassen, die Verteidigung in weitesten Grenzen freizugeben, ein Manko an Beweis stets zu Gunsten des Beschuldigten ausschlagen zu lassen, Rechtsmittel gegen das gesprochene Urteil in möglichster Breite zu eröffnen und dabei auch der Rechtskraft möglichst wenig einengende Bedeutung zu verleihen, vielleicht sogar das gesamte Rechtsmittelsystem lediglich dem Verurteilten zur Verfügung zu stellen und dem Kläger zu versagen. Ein solcher Strafprozess wird aber auch ungern Dritte in Mitleidenschaft ziehen, demnach nicht nur Beschlagnahme- und ähnlichen Zwang gegen sie vermeiden, sondern auch die Ablehnung einer Zeugenaussage im Hinblick auf private Interessen des Dritten möglichst weit zulassen. Ein aus sozialistischer Grundauffassung erwachsener Strafprozess wird umgekehrt Erscheinungs- und Geständnispflicht des Beschuldigten normieren, die Untersuchungshaft zur voraussetzungslosen Regel machen (wie es der vormalige Militärstrafprozess tat), die Folter – solange sie nicht als untaugliches Mittel zur Erzielung wahrheitsgemässer Geständnisse erkannt ist – gegen den leugnenden Beschuldigten anwenden, die Verteidigung in bescheidene Grenzen bannen, das gesprochene Urteil und gar erst das rechtskräftige gegen Anfechtung durch den Beschuldigten schützen und womöglich nur Prozesserneuerung zu Ungunsten des Beschuldigten gestatten usw., aber auch gegen Dritte die Schonung beiseite setzen, Sicherungszwangsmittel auch gegen sie ausspielen, Beweisverbote, die dem privaten Interesse dienen, ablehnen, ja sogar (wie das römische Recht) auch die Zeugen erforderlichenfalls unter die Folter stellen.

Aber auch der eigentliche parteipolitische Standpunkt wird folgerichtig für die strafjustizpolitischen Forderungen des Einzelnen richtunggebend sein, wie denn auch die Parteiprogramme zum Teil Punkte, die zur Strafjustiz gehören, berühren, und jeweils die Strafprozessvorlagen in den Parlamenten eine itio in partes nach rechts und links ausgelöst haben. Konservative und liberale Grundauffassung haben z. B. verschiedene Haltung zur Folge gehabt in den Fragen nach Gestaltung der Verteidigung, in den Fragen nach Sicherstellung der Parlamentsgebäude und der Abgeordneten vor prozessualer Durchsuchung, Befreiung der Abgeordneten und der Zeitungsredakteure von der Zeugnispflicht usw.

Aber so sehr diese Zusammenhänge zwischen subjektiver Grundauffassung und den an die Strafrechtspflege zu stellenden Anforderungen vorhanden sind und Beachtung heischen, so erscheint doch der Versuch nicht aussichtslos, den Subjektivismus dadurch bis zu einem gewissen Grade zu überwinden, dass die der Strafrechtspflege immanenten Bedürfnisse, Notwendigkeiten und Möglichkeiten zum Ausgangspunkte genommen, dann erst die auftretenden Werte und Gegenwerte in Rechnung gestellt werden, und dadurch der Doktrinarismus der subjektiven Prinzipien ausgeschaltet wird. Nicht, als ob bei einem methodischen Vorgehen solcher Art die fundamentalen politischen Strebungen als gänzlich bedeutungslos beiseite geschoben werden könnten: sie melden sich auch so an der Stelle zum Worte, wo die Werturteile einsetzen. Aber diese Werturteile werden anders ausfallen und grösseren Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können, wenn die „Prinzipien“ auf ihr Passen und ihre Fruchtbarkeit hin an der Eigenart der Strafrechtspflege gemessen werden, als wenn umgekehrt diese lediglich vor den Richterstuhl der „Prinzipien“ gestellt wird. [355] Der Versuch, die Politik der Strafrechtspflege von innen heraus aufzubauen, soll im Folgenden unternommen werden.

Der nachfolgenden Untersuchung sind indes enge Grenzen gesteckt: quantitativ insofern, als es sich lediglich um eine Skizze handelt; qualitativ insofern, als lediglich die „Strafrechtspflege“ in politische Beleuchtung gerückt werden soll. Das letztere will freilich nicht sagen, dass von den sog. politischen Prozessen und nur von ihnen zu handeln wäre. Mit dieser Bezeichnung belegt man in der Regel solche Prozesse, bei denen die in Rede stehende Tat als sog. politisches Delikt (etwa Hochverrat) in Frage kommt oder unter Begleitumständen begangen ist, die der ihrer juristischen Wesensart nach ein unpolitisches Delikt (z. B. Beleidigung, Meineid) darstellenden Tat einen politischen Einschlag geben. In solchen Fällen liegen die politischen Gesichtspunkte auf dem Felde des materiellen Strafrechts, nicht auf dem der Strafrechtspflege. Letztere fordert zu politischer Betrachtung aber auch da heraus, wo der Gegenstand des Prozesses eine Tat ohne jede politische Bedeutung ist. Beispielsweise taucht die Frage nach den Grenzen der Verteidigung als eine strafrechtspflegepolitische auch da auf, wo ein des politischen Interesses ganz entbehrender Diebstahl zur Untersuchung gezogen wird. Aber auch dann, wenn man diejenigen Prozesse „politische“ nennen wollte, an denen Persönlichkeiten in politischer Stellung irgendwie als Beschuldigte, Zeugen pp. beteiligt sind oder das prozessualische Handeln in die politische Region, etwa in Parlamentsgebäude übergreift, würde sich die Strafjustizpolitik nicht auf sie zu beschränken haben: auch wo all solche Umstände fehlen, behalten die für die Strafrechtspflege auftretenden Probleme ihren besonderen politischen Charakter. Die politischen Prozesse dieser oder jener Art mögen vielleicht zu besonderen strafjustizpolitischen Erwägungen Anlass geben (Öffentlichkeit der Verhandlung, Fesselung des Angeklagten usw.). Aber das Objekt der Strafrechtspflegepolitik bildet das kriminelle Prozessieren überhaupt. Es gilt festzustellen, wie die zum Strafrechtsschutz berufenen Einrichtungen beschaffen sein und wie sie wirken sollen.

Rein theoretisch müsste das Programm freilich dahin eine Erweiterung erfahren, dass nach dem „0b“ einer Strafrechtspflege überhaupt gefragt würde. Aber praktisch erledigt sich diese Frage. Es liegt im Wesen der Strafrechtsordnung, wenigstens sobald sie die ältere Entwicklungsstufe der Privatstrafe überwunden hat, dass sie sich nicht anders als durch das Eingreifen der öffentlichen Gewalt durchzudrücken vermag. Ohne Eingreifen der Strafrechtspflege wäre die Strafrechtsordnung selbst verloren.

Auf dem hiernach umrissenen Raum spaltet sich die Untersuchung in zwei Gedankenreihen. Die eine zielt dahin ab, klar zu stellen, wie die Gesetze beschaffen sein sollen, die für die Strafrechtspflegeeinrichtungen und ihr Wirken massgebend sein sollen. Die andere geht hinaus auf Richtschnuren für die Staatsorgane da, wo die Gesetze dem Handeln Raum lassen und auf Ermessen und Zweckmässigkeitserwägungen abstellen. Die Strafrechtspflegepolitik im ersteren Sinne kann als die Strafprozessrechtspolitik bezeichnet werden. Bei den Erwägungen der zweiten Art handelt es sich um ein Stück Staatskunst; es mag gestattet sein, von einer Politik der Strafrechtspraxis zu sprechen.

Diese Scheidung ist freilich nicht dahin zu verstehen, als stehe von vornherein fest, in welchem Masse die Strafjustiz gesetzlich festzulegen sei, und von wo ab bei ihr den Staatsorganen freie Hand zu lassen sei. Im Gegenteil setzen schon hier die Meinungsverschiedenheiten ein. Soll das Gesetz möglichst wenig oder soll es tunlichst alles in feste Regeln giessen? Unzweifelhaft geht heute eine starke Strömung dahin, die starre gesetzliche Regelung mit ihrem unvermeidlichen Formalismus nach Möglichkeit zurückzudrängen.[1] In der Tat ist auch nicht zu verkennen, dass die Gesetzesregel mit ihrem Formenzwang, ihrem Fristenzwang usw., mit ihrer Gleichmacherei und Abstraktion den Lebensinteressen abträglich sein kann. Aber die Gesetzesfessel ist auf der anderen Seite auch ein Schutz gegen Willkür und schiefe Interessenwägungen durch die Justizorgane, sowie ein Schutz dieser letzteren gegen den Vorwurf der Willkür oder Verkehrtheit der Entscheidungen; und insonderheit gewährleistet nur das feste [356] Gesetzesrecht mit seiner Berechenbarkeit die unbedingt erforderliche Rechtssicherheit. Deshalb wird der Staat sein Absehen darauf richten müssen, die Strafrechtspflege in der Hauptsache gesetzlich festzulegen und das Ermessen der Justizorgane nur in solchen Punkten zu entfesseln, wo die Möglichkeit exakter Formulierung versagt oder Werturteile im Spiele sind, die der Gesetzgeber nur ins Blaue hinein fällen könnte (z. B. Frage, in welcher Reihenfolge Zeugen vernommen werden sollen).

Im übrigen ist dabei auch nicht zu übersehen, dass zwischen der „gesetzlichen Regelung“ und der „Freigabe des Ermessens der Organe für den Einzelfall“ noch Zwischenglieder inmitten liegen. Eine Regelung kann sehr wohl eine „feste“ sein, ohne dass sie vom Gesetz ausginge. Damit soll nicht auf die Regelung im Verordnungswege angespielt sein. Gesetz und Verordnung mögen hier als eine einheitliche Gruppe zusammengefasst sein, einmal weil Verordnungen strafprozessrechtlichen Inhalts, abgesehen von den Strafjustizverwaltungsverordnungen, heute keine erhebliche Rolle spielen, sodann weil die Aufteilung des zu regelnden Stoffes zwischen das Gesetz im konstitutionellen Sinne und die Verordnungsgewalt für die Strafrechtspflege kaum nach besonderen Gesichtspunkten zu erfolgen haben wird. Wohl aber sei hier auf die interessante Erscheinung des englischen Rechtslebens: die rules der Gerichte hingewiesen.[2] Die Frage wird der Erwägung wert sein, ob nicht zahlreiche Punkte innerhalb der Strafrechtspflege zwar an sich einer „festen“ Regelung bedürfen, doch aber einer – die Änderung erschwerenden und die verschiedenen Justizstellen zu schablonenhaft gleichmässig behandelnden – gesetzlichen Festlegung widerstreben. Ist dies der Fall, so bieten die englischen rules einen praktischen Ausweg.

Im Folgenden sind unter A die Probleme eingestellt, die herkömmlich als Gesetzgebungsfragen behandelt werden; unter B folgen solche, die gewöhnlich nicht als solche der lex ferenda aufgefasst werden.

A. Strafprozessrechtspolitik.

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I. Die Rechtsschutzstellen.

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1. Ausser Diskussion steht heute, dass nur staatliche Stellen geeignet sind, über die Erteilung des Strafrechtsschutzes zu entscheiden; dass eine unmittelbare Beteiligung des Staatshaupts an der Rechtsprechung (Kabinettsjustiz) schon deshalb ausgeschlossen sein muss, weil die Rücksicht auf die Rechtssicherheit Justizorgane bedingt, die hinsichtlich der Gesetzmässigkeit ihres Handelns einer Verantwortlichkeit unterliegen; dass eigene staatliche Stellen für die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit vorzusehen sind, die zwar auch mit sonstiger Gerichtsbarkeit, aber nicht mit Aufgaben der Verwaltung (exkl. Justizverwaltung) betraut sein dürfen; dass diese Gerichte ebensosehr an das Gesetz zu binden wie von einer Befolgungspflicht gegenüber den (nicht justizverwaltungsmässigen) Weisungen vorgesetzter Stellen unabhängig zu stellen sind; dass gültig Recht zu sprechen nur Stellen berufen sein können, die das Gesetz vorsieht, nicht „Ausnahmegerichte“, deren Konstituierung ausserhalb des Gesetzes steht.

Unausgetragen ist in diesen Beziehungen nur die Frage, ob nicht die Abrügung geringfügiger Verfehlungen bestimmten Verwaltungsbehörden (Polizei-, Zoll- und Steuerbehörden usw.) zu überlassen sei. Das Reichsrecht hat die gesetzgeberische Entscheidung hierüber in der Hauptsache dem Landesrecht überlassen; daher die Erscheinung, dass z. B. polizeiliche Strafverfügungen in Bayern und Hessen im Gegensatz zu den meisten Einzelstaaten nicht Rechtens sind. Gegen eine Verhängung von Strafen durch Verwaltungsstellen wird meist das Argument geltend gemacht, dass deren Blick berufsmässig zu stark auf die öffentlichen Interessen gerichtet sei, und das Individuum deshalb möglicherweise Not leide. Aber auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass die verwaltungsmässige Erledigung regelmässig kürzer, wohlfeiler und ohne den oft für das Individuum lästigen Apparat der Justiz erfolgt, dass die Verhängung einer Strafe durch eine Verwaltungsbehörde im Publikum minder tragisch genommen wird als gerichtliche Bestrafung, endlich dass bei einem Teil der Fälle (so bei Gefällsstrafsachen) der Richter nicht derart Spezialist ist, wie die [357] betr. Verwaltungsbehörde. Deshalb wird nur die eine Forderung zu erheben sein, dass es dem Individuum frei stehen muss, gegenüber der Straffestsetzung durch die Verwaltung die ordentliche Strafrechtsschutzstelle, das Gericht anzurufen – eine Forderung, der das geltende Recht wenigstens grundsätzlich genügt.

2. Aus dem Gros der Strafsachen sind heute gesetzlich bestimmte Gruppen derart herausgehoben, dass ihre Erledigung besonderen Stellen zufällt, die in ihrer Gesamtheit die Organe für eine von der „ordentlichen“ abgezweigte „Sonderstrafgerichtsbarkeit“ darstellen. Von diesen Sonderstrafgerichten haben sich die Elbzoll- und Rheinschiffahrtsgerichte zweifellos überlebt; ein praktisches Bedürfnis für sie besteht um so weniger, als sie de facto schon in die Hierarchie der ordentlichen Gerichte übergeführt sind (Amtsgerichte); ihrer Beseitigung stehen nur internationale Verträge entgegen, an deren Aufrechterhaltung in dieser Beziehung aber schwerlich ein Interesse der beteiligten Staaten besteht. Gleichfalls nur noch als historisch überkommen sind zu nennen die sog. Austrägalgerichte gegen die Häupter der standesherrlichen Familien (verbrieftes Privileg). Kaum durch innere Erwägungen gerechtfertigt sind ferner die sog. ausserordentlichen Stand- und Kriegsgerichte, die da, wo der sog. Kriegs-(Belagerungs-)zustand verhängt ist, die ordentlichen Gerichte in gewissem Umfang ablösen; die von ihnen erwartete Schleunigkeit der Prozedur kann auch innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit durchgeführt werden; die von ihnen erwartete Strenge der Beurteilung ist zu missbilligen, soweit sie nicht als eine durch das Gesetz gedeckte gedacht ist, und ist, soweit sie de lege ferenda berechtigt erscheint, durch das materielle Strafrecht zu gewährleisten; der Gedanke, dass die Vorstellung, man werde vor ein ausserordentliches Stand- oder Kriegsgericht gestellt werden, besonders unheimlich sei und daher von der Verübung strafbarer Handlungen abschrecken werde, ist, solange die Belagerungszustandsgerichte wie alle anderen auch nur „Recht“ sprechen und nicht Gewalt üben dürfen, verfehlt.

Anders steht es mit den Militärgerichten. Für sie spricht vornehmlich der Grund, dass die aus dem militärischen Leben erwachsenen Strafsachen regelmässig nach der tatsächlichen, oft aber auch nach der rechtlichen Seite hin besser von militärischen „Spezialisten“ beurteilt werden können, sowie der andere, dass die Erledigung dieser Strafsachen durchschnittlich eine Störung des geordneten Ganges des militärischen Lebens mit sich bringt, und diese Störungen viel grösser sind, wenn die mit dem Heeresverband nicht in Fühlung stehenden ordentlichen Gerichte die Strafsache zu erledigen haben.[3] Die Idee der „Gleichheit aller vor dem Gesetz“ kann demgegenüber nicht durchschlagen, sofern nur die Gerechtigkeitsgarantien hüben und drüben gleich gross sind.

Die reichsrechtlich zugelassenen Sondergerichte gegen Mitglieder der landesherrlichen Familien endlich rechtfertigen sich mindestens so lange, als das Reichsrecht weitergehend sogar ihre völlige Befreiung von der Gerichtsbarkeit zulässt. Im übrigen lässt sich dieses Problem wohl kaum anders als aus der subjektiven politischen Grundauffassung heraus beantworten.

3. Ob und inwieweit die Strafrechtspflege auf Selbstverwaltung gestellt werden soll, ist hier insoweit nicht zu erörtern, als es sich um die Zuziehung des Laienelements handelt (darüber vgl. Abschn. 22 und 24b dieses Handbuchs). Dagegen ist hervorzuheben, dass das geltende Recht eine Selbstverwaltung der unteren Gerichtsstellen im Gegensatz zu den vorgesetzten Behörden insofern kennt, als ihnen die Bildung der Rechtsprechungskörper an den Gerichtsanstalten (teilweise) und die Geschäftsverteilung zugewiesen ist. Diese Einrichtung bedeutet eine Art Autonomie der Gerichte und weist einen verwandten Zug mit den englischen rules auf. Sie ist ebenso als Garantie der Unparteilichkeit schätzenswert, wie sie zugleich auch die Leiter der Justizverwaltung vor Verdächtigungen bewahrt.

4. Die Forderung, dass die Richterstellen den Frauen eröffnet werden sollen, lässt sich (unbeschadet der durchaus zu trennenden Fragen, ob Frauen zum Rechtsanwaltsberuf und zu sonstigen nichtrichterlichen Funktionen zuzulassen seien) jedenfalls für die Strafrechtspflege kaum verteidigen. Der Strafrichter muss imstande sein, seine Sympathien mit dem Angeklagten und [358] seine Antipathien gegen um völlig auszuschalten; eine aus persönlicher Sympathie oder Antipathie geborene Strafjustiz würde schwere Erschütterungen im Gefolge haben umsomehr, als jene Gefühle häufig sehr individuell und selbst für den, der sie in sich trägt, schwer kontrollierbar sind. Unzweifelhaft ist aber die weibliche Psyche viel weniger, als die männliche, imstande, in einer konkreten Angelegenheit ein Urteil zu fällen, das von Liebe und Hass unbeeinflusst ist.

5. Der Gedanke, dass der zum Richten Berufene möglicherweise in einer konkreten einzelnen Strafsache nicht völlig unparteiisch sein, oder doch der Schein fehlender Unparteilichkeit obwalten kann, hat im geltenden Recht zu Bestimmungen geführt, kraft deren für die betr. Strafsache teils „Ausschliessung vom Richteramt“, teils „Ablehnbarkeit“ eintritt. In dieser Hinsicht ist hier von Interesse namentlich die Frage, ob und inwieweit eine etwa vorhandene politische oder konfessionelle Gegensätzlichkeit zwischen Richter und Angeklagtem Berücksichtigung verdient. Unzweifelhaft liegt in solcher Gegensätzlichkeit die Gefahr falscher, d. i. nicht objektiver Behandlung, zumal in den Fällen, in denen die politische oder konfessionelle Grundanschauung des Richters auch bei Würdigung der Tat (etwa als Beschimpfung religiöser Einrichtungen) mitsprechen kann. Gleichwohl kann die Tatsache, dass der Richter auf einem bestimmt ausgeprägten Standpunkte in konfessioneller oder politischer Hinsicht steht, für sich allein nicht zu seiner Ausschaltung führen. Die Konsequenzen einer solchen Bestimmung wären unübersehbar. Das Postulat würde am letzten Ende darauf hinauslaufen, dass nur politisch und konfessionell ganz indifferente Richter mit der Aburteilung betraut würden – und wie sollen solche gefunden werden? Auch kann der Schutz gegen unstatthaften Subjektivismus in der Ausbildung des Richters (strenge Gewöhnung an Objektivität) und in den Verfahrensbestimmungen gesucht und gefunden werden, die ihn nötigen, seine Gedankengänge aufzudecken und ihre Kontrolle – auch durch die öffentliche Meinung – zu ermöglichen. Freilich ist nicht zu verkennen, dass dem Laienrichter gegenüber in diesen Beziehungen eine gewisse Schutzlosigkeit besteht, da er weder zum Amte erzogen wird, noch in der Weise wie der Berufsrichter seine Entscheidungen motivieren kann und zu motivieren braucht.

II. Das Rechtsschutzverfahren.

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Man kann mit nur geringer Übertreibung sagen, dass, seitdem sich im 18. Jahrhundert die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Schäden des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses gelenkt hatte, der politische Liberalismus ständig der Träger aller Reformen gewesen und bis heute geblieben ist. War ehedem das Verfahren in allem Wesentlichen nur gedacht als ein Vorgang zum Schutze der Gesamtheit gegen das Verbrechertum – ne delicta maneant impunita – , so ist es heute der Schutz des Individuums gegen die Staatsgewalt, der für den Ruf nach Reformen den Grundton angibt: Schutz des Unschuldigen möglichst schon dagegen, dass ihm überhaupt ein Strafprozess aufgenötigt wird, jedenfalls aber dagegen, dass er zu Unrecht gestraft wird; Schutz auch des Schuldigen gegen unnötige und ungebührliche Leidenszufügung ; Schutz Dritter vor unnötiger und exzessiver Belästigung. Im Dienste dieser Idee hat sich der Strafprozess im 19. Jahrhundert reformiert zu einem Verfahren mit Anklageform und Staatsanwaltschaft, mit Mündlichkeit, Unmittelbarkeit, freier Beweiswürdigung und Öffentlichkeit. Aber die rein negative Forderung, dass für das Individuum eine Sphäre sichergestellt wird, vor der die Strafjustiz Halt zu machen hat, kann, so zentrale Bedeutung sie auch hat, das Problem der Gestaltung des Verfahrens schon deshalb nicht restlos lösen, weil sie für sich allein die Grenzen dieser Sphäre nicht umreisst, diese sich vielmehr erst im Zusammenhalt aller Bedürfnisse mit einander bestimmen lassen. Allzuweite Hinaussteckung dieser Grenzen käme auf eine Lahmlegung der Strafjustiz hinaus oder könnte wenigstens unliebsame Verzögerung und Verteurung im Gefolge haben. So werden auf Schritt und Tritt Interessenwägungen erforderlich. Übrigens treten die Ideale der möglichsten Treffsicherheit, der Promptheit und der Wohlfeilheit der Strafrechtspflege oft auch da herein, wo es sich nicht oder nicht in erster Linie um die Frage der Ausgleichung der Gesamtheits- und der Individualinteressen handelt. Für die Gesamtheit selbst ist namentlich das Bedürfnis der Prozessökonomie zu betonen: Erreichung des Zweckes mit dem geringstmöglichen Aufwand an Zeit, Kräften und Kosten. Dies um so mehr, als die Strafrechtspflege keine produktive Tätigkeit im wirtschaftlichen [359] Sinne ist, sondern zahlreiche Personen gerade produktiver Tätigkeit entzieht. Generell wird sich sagen lassen, dass der Gedanke der Proportionalität von Zweck und Mittel im heutigen Recht noch nach manchen Richtungen hin nicht genügende Beachtung gefunden hat. Namentlich lässt sich das heute noch unverhältnismässig entwickelte Schreibwerk stark beschneiden (in dieser Hinsicht wird heute nicht mit Unrecht auf das Vorbild Englands hingewiesen). Auch sollten die Opfer, die die Gesamtheit in Form von Richterkraft und -Zeit und Kosten bringt, sowie die Eingriffe gegen die Einzelnen noch viel grundsätzlicher auf den Gedanken abgestimmt werden, dass sich ihre Zulässigkeit und deren Mass nach der Wichtigkeit der Strafsache bestimmt.

Eine Aufrollung aller Einzelprobleme ist an dieser Stelle nicht möglich. Andeutungsweise sei Folgendes hervorgehoben:

1. Die Befugnis zur Auslösung der Strafgerichtsbarkeit versagt das geltende deutsche Recht grundsätzlich dem Einzelnen; nur der Staat befindet grundsätzlich darüber, ob ein Strafprozess stattfinden soll: Offizialprinzip, nicht Privat- oder – wie in England – Popularklage. Mit Recht, denn einesteils gefährdet die Überlassung der Initiative an Private das Gesamtheitsinteresse, weil dabei zahlreiche Strafsachen aus mehr oder minder zufälligen Gründen – Fehlen des Interesses der Einzelnen, Scheu vor Kosten und Mühe – auf sich beruhen bleiben, anderenteils belastet sie die Privaten mit einer Tätigkeit, die dem Gesamtwohl dient. (Nur ausnahmsweise, bei bestimmten Deliktsarten, insonderheit Beleidigung, mag der Gedanke durchschlagen, dass es konkrete Fälle gibt, in denen die Gesamtheit an der Betreibung der Verfolgung nicht stark genug interessiert ist, sodass folgeweise – wie es das geltende Recht tut – dem einzelnen Interessenten bei derartigen Delikten ein Privatklagerecht verliehen wird.) Ist aber der Staat souverän in der Entschliessung darüber, ob es zu einem Strafprozess kommen soll, so sind zwei Forderungen zu stellen: einmal, dass das Staatsorgan, das den Rechtsschutz für den Staat begehrt, nicht identisch ist mit demjenigen Staatsorgan, das darüber zu befinden hat, ob der Rechtsschutz dem Staate oder dem Beschuldigten zu gewähren ist; daher nicht Inquisitionsprozess – Verfolgung von richterlichen Amts wegen – , sondern Organisation einer Staatsanwaltschaft als staatlichen Klageorgans. Sodann: Unterstellung der staatsanwaltschaftlichen Entschliessung über die Klageerhebung unter Garantien gegen unbegründete Unterlassung der Klageerhebung. Im Falle der staatsanwaltschaftlichen Ablehnung der Klageerhebung muss entweder dem interessierten Einzelnen der Zugang zum Strafgericht als Kläger eröffnet werden – subsidiäre Privatklage, wie in Österreich – oder es muss ihm ein gerichtliches Verfahren offen stehen, in dem das Gericht über die Frage entscheidet, ob die Staatsanwaltschaft zu klagen habe (Klageprüfungsverfahren, so das deutsche Recht).

2. Die Frage, wer sich einen Strafprozess als Beschuldigter aufnötigen lassen muss, kann niemals dahin beantwortet werden, dass das Prozessieren nur gegen Schuldige rechtmässig sei; denn die Feststellung, ob Strafbarkeit gegeben ist, steht erst am Ende des Prozesses.

Wohl aber ist denkbar, dass persönliche Privilegien der Unverfolgbarkeit geschaffen werden. Das geltende Recht stellt ein solches für Abgeordnete auf, nicht sowohl aus der Erwägung heraus, dass volle Freiheit der Aussprache gewährleistet sein muss – denn diese Erwägung führt nicht zu blosser Unverfolgbarkeit, sondern zu Straflosigkeit der Berufsausübung –, als vielmehr aus der Erwägung heraus, dass der Abgeordnete nicht um eines Prozesses halber die Teilnahme an der parlamentarischen Tätigkeit soll versäumen müssen, worunter möglicherweise seine Wähler und die Partei sowie die Fraktion, der er angehört, leiden würden.

3. Eine mit dem Klagemonopol ausgerüstete Staatsanwaltschaft (oben Ziff. 1) muss notwendig zugleich auch dem Legalitätsprinzip unterworfen sein, d. h. es muss ihr gesetzlich zur Amtspflicht gemacht sein, ihr Einschreiten nicht wegen Inopportunität zu unterlassen, wo nach dem Gesetz keine Verfolgungshindernisse vorliegen. Das Opportunitätsprinzip, das heute zahlreiche Anhänger hat, müsste nicht nur das Vertrauen auf die Objektivität der Strafverfolgung gefährden, sondern auch den staatsanwaltschaftlichen Beruf schwer erträglich machen, weil auch bei objektivster Amtsführung Verdächtigungen unausbleiblich wären. Nur bestimmten Durchbrechungen des Legalitätsprinzips lässt sich, möglichst genaue Fixierung der Voraussetzungen für Unterlassung der Strafklage vorausgesetzt, das Wort reden.

[360] Überhaupt hat es seine Bedenken, die Tätigkeit der Beamten der Staatsanwaltschaft an andere Normen als die des allgemeinen juristischen Denkens zu binden. Ob es wohlgetan ist, sie, wie es das geltende deutsche Recht tut, an die Anweisungen der Vorgesetzten zu binden und ihnen die Garantien der richterlichen Unabhängigkeit (Unabsetzbarkeit usw.) zu versagen, lässt sich stark bezweifeln. Man sagt, dass diese Stellung der Staatsanwaltschaft unentbehrlich sei, weil die Regierung auf die Strafverfolgung müsse Einfluss üben können. Diese Beeinflussung von seiten der Regierung kann aber nur auf zweierlei hinaus wollen: Entweder: es soll ein juristisch nicht begründeter Strafprozess heraufbeschworen oder ein juristisch begründeter Strafprozess unterdrückt werden. Dass derartige Tendenzprozesse bezw. Tendenzunterdrückung von Prozessen für das Gemeinwohl schädlich sind, Erbitterung erzeugen und demoralisierend wirken, lehrt die Geschichte; aber auch die Regierung selbst kompromittiert sich durch solches Vorgehen in augenfälliger Weise mindestens dann, wenn es sich um grundlose Anklagen handelt, die von den Gerichten mit Freisprechung beantwortet werden. Oder aber der Einfluss der Regierung ist so gemeint, dass diese vor juristischen Skrupeln und Irrtümern des mit der Sache befassten Staatsanwalts sichergestellt wird. Dann ist es selbstverständlich erwünscht, wenn die Regierung, mag sie auch von politischen Motiven geleitet sein, Remedur schaffen kann. Zu diesem Behufe ist es aber nicht erforderlich, den Untergebenen durch Anweisungen oder Verkümmerung der unabhängigen Stellung die Hände zu binden. Es würde vielmehr die gesetzliche Bestimmung genügen, dass jede staatsanwaltschaftliche Entschliessung von vorgesetzter Stelle aus ausser Kraft gesetzt werden und die weitere Bearbeitung der Sache einem anderen Beamten übertragen werden kann (was in der Hauptsache schon jetzt Rechtens ist).

Aber auch nach anderer Richtung hin ist die Wahrheit, dass der Staatsanwalt nicht anders zu arbeiten und zu denken hat, als jeder andere Jurist, zum Teil verdunkelt. Noch ist viel, vielleicht überwiegend, die Meinung vertreten, dass der Staatsanwalt, wenngleich durch das Gesetz zu voller Beachtung und Anwendung des Entlastungsmaterials berufen, doch in dubio stets die dem Beschuldigten ungünstige Lesart zugrunde zu legen habe, und zwar nicht nur, wo er in tatsächlicher oder juristischer Hinsicht persönlich zweifle, sondern auch, wo er – bei juristischen Problemen – zwar persönlich im Sinne der dem Beschuldigten günstigen Lösung überzeugt sei, aber eine Streitfrage existiere. Darüber hinaus wird heute öfter an die Gesetzgebung das Postulat gestellt, sie möge nach englischem Muster den Strafprozess zum reinen Parteiprozess machen in dem Sinne, dass die Aufgabe der Staatsanwaltschaft auf Sammlung und Geltendmachung lediglich des tatsächlichen und juristischen Belastungsmaterials beschränkt werde.

Schon jene de lege lata verfochtene Meinung ist weder irgendwie im Gesetz begründet, noch durch triftige Gründe rechtspolitischer Art gestützt. Tatsächlich pflegt die länger dauernde staatsanwaltschaftliche Tätigkeit ganz von selbst die Neigung zu erzeugen, die Dinge lieber schwarz als weiss anzusehen. Dem Staatsanwalt aber geradezu die Verpflichtung auferlegen, die ihm unterlaufenden Fälle nicht so zu erledigen, wie er es als Richter tun würde, heisst die Zwecke verkennen, zu denen die Staatsanwaltschaft geschaffen ist. Sie soll ja gerade prüfen, ob die Strafverfolgung im konkreten Falle nach dem Gesetz zu erfolgen hat. Eine Überschwemmung der Gerichte mit dubiösen Sachen wäre weiter ganz unökonomisch. Auch genügen das private Beschwerderecht, das Klageprüfungsverfahren und die Dienstaufsicht vollständig, um das Interesse am Eintritt einer Strafverfolgung gegenüber dem von unbegründeter Skepsis erfüllten Staatsanwalt zum Durchbruch zu bringen. Endlich ist wohl nichts so sehr geeignet, die Staatsanwaltschaft mit einem Odium zu belasten, als die Praxis der „ungünstigen Lesart.“[4]

In noch umfassenderem Masse ist die Forderung zu missbilligen, dass die Staatsanwaltschaft lediglich contra reum zu wirken berufen sein solle. Ein solcher „Parteiprozess“ würde ein Zerrbild ergeben, die Ermittelung der Wahrheit gefährden, gänzlich unökonomisch sein, das staatsanwaltschaftliche [361] Amt diskreditieren, überdies das Forum geradezu mit Notwendigkeit zu einer Stätte hässlichsten Parteikampfs machen. Nutzen hätte davon nicht die Gesamtheit, die vielmehr daran interessiert ist, dass keine Märtyrer einseitigen Klageeifers der Behörden geschaffen werden, und nicht der Beschuldigte.

4. Für die Stellung des Beschuldigten ist heute anerkannt, dass sie als die eines verteidigungsberechtigten Subjekts, nicht als die eines Inquisitionsobjekts auszuprägen ist. Keine Aussage-, geschweige denn Geständnispflicht. Gewährleistung voller Selbstverteidigung wie einer Verbeistandung durch Verteidiger. Diskutabel der Vorschlag, eine der Staatsanwaltschaft korrespondierende staatsamtliche Verteidigerschaft einzurichten.

5. Die grundsätzliche Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen bedarf heute keiner Rechtfertigung mehr. Seltsamerweise bestehen aber heute zum Teil unklare Auffassungen über die Konsequenzen des Öffentlichkeitsprinzips. Es sind gelegentlich Verurteilungen von Zeitungsredakteuren wegen Beleidigung des Angeklagten erfolgt, wenn die Zeitung wahrheitsgemäss über Vorgänge der Verhandlung (insbesondere über Zeugenaussagen mit einem dem Angeklagten ungünstigen Inhalt) berichtet hatte. Das ist mit dem Öffentlichkeitsprinzip unvereinbar, denn dieses ordnet gerade ausgesprochenermassen zahlreiche Interessen, darunter in erster Linie das Ehrinteresse des Beschuldigten, dem Interesse am Einblick der Allgemeinheit in die Vorgänge der Verhandlung unter. Unter dem Gesichtspunkt der Beleidigung kann deshalb die Übermittelung der Kenntnis von den Vorgängen an die Öffentlichkeit zum mindesten nicht rechtswidrig sein. Ob die Freiheit der Zeitungsberichterstattung, die ja unzweifelhaft auch eine unerfreuliche Seite hat (Sensationspresse), durch Rechtsmassregeln beschnitten werden soll, mag hier auf sich beruhen bleiben; jedenfalls sollte nicht übersehen werden, dass die Verkürzung dieser Freiheit das Öffentlichkeitsprinzip einschneidend berührt.

6. Von den zahlreichen Problemen auf dem Gebiete des Beweisrechts interessiert hier namentlich die Frage nach den Beweisverboten: Verbot des Hineinleuchtens in das Privatleben von Zeugen, Zeugnisweigerungsrechte von Abgeordneten, Redakteuren, Beamten, Schutz der Behörden und Parlamente vor Aufdeckung gewisser Tatsachen. Für die Würdigung dieser Fragen wird zunächst die Feststellung massgebend sein, dass, wenn Tatsachen infolge solchen Beweisverbots zweifelhaft bleiben, nach dem heute feststehenden Grundsatz „in dubio pro reo“ eine dem Beschuldigten günstige Entscheidung zu erfolgen hat, alle diese Beweisverbote also das Staatsinteresse, das für den Strafprozess charakteristisch ist, zu schädigen vermögen. Es wird also stets darauf ankommen, ob diese Schädigung lieber in den Kauf genommen werden soll, als eine Verletzung der entgegenstehenden Privat- und Staatsinteressen. Offenbar sollte bei solcher Abwägung die Schwere der betr. Strafsache ein gewichtiges Wort mitsprechen.

7. In ähnlicher Weise wird auch die Erstreckung oder Begrenzung des prozesspolizeilichen und des Sicherungszwangs (Untersuchungshaft, Beschlagnahme, Durchsuchung) je nach der Schwere der Strafsache abzustufen sein.

8. Die Einrichtung des Vorverfahrens ist heute in besonders hohem Masse strittig. Das Ziel der Entwickelung muss sein, das Vorverfahren als reines Selbstinformationsverfahren der Staatsanwaltschaft auszuprägen (dadurch auch Verminderung des Schreibwerks!), derart, dass das erkennende Gericht die Vorverfahrensakten nicht in die Hand bekommt. Dem Bedürfnis sachgemässer Leitung der Hauptverhandlung wäre dann am besten dadurch zu genügen, dass die Staatsanwaltschaft veranlasst würde, ihre Anklageschrift in ähnlicher Weise, wie eine zivilprozessuale Klageschrift, also mit detaillierten Tatsachenanführungen unter Bezugnahme auf Beweismittel abzufassen; eventuell so, dass der Vorsitzende die Vorverfahrensakten erhielte, aber an der Urteilsfällung nicht teilnähme.

B. Politik der Praxis.

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Soll die Strafprozessgesetzgebung auch darauf bedacht sein, das Dürfen und Müssen der Staatsorgane tunlichst exakt zu umreissen, so bleiben doch zahlreiche Sachlagen übrig, für die das nicht möglich ist, wie auch die Art und Weise des behördlichen Handelns in weitem Umfange [362] gesetzlich höchstens durch eine kautschukartige Formel (etwa, wie in den Beamtengesetzen „achtungswürdiges Verhalten“) umschrieben werden kann. Soweit hiernach das Gesetz die exakte Antwort auf die Frage nach Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Verhaltens bestimmter Art schuldig bleibt oder eine Handlung zur „Ermessenssache“ stempelt, müssen notwendigerweise Werturteile, also Zweckmässigkeitserwägungen die Direktive für das Handeln abgeben.

Solche nach Tunlichkeit zu objektivierende Zweckmässigkeitserwägungen müssen im Strafprozess namentlich dahin führen, dass – im Grunde genommen alles Trivialitäten! – die Behörden leidenschafts- und vorurteilslos verfahren, namentlich nicht vor vollem Abschluss der Beweisaufnahme einen Beschuldigten als Schuldigen, einen Zeugen als unglaubwürdig behandeln; dass Parteipolitik und Klassenjustiz keinen Eingang in den Gerichtssaal finden, dass jedermann ohne Ansehen des Standes, der politischen Parteistellung und seiner sozialen Stellung gleich höflich und seinem Alter, seinen Gesundheitsverhältnissen pp. entsprechend, aber auch ohne privilegierende Auszeichnung (Entbindung von Betreten der Anklagebank, Anrede als „Herr“ Angeklagter) behandelt wird ; dass auch der leiseste Schein der Unaufmerksamkeit, der Überhastung oder Ungründlichkeit vermieden wird[5] usw.

Für die Haltung der Staatsanwaltschaft ist namentlich eins zu betonen: sie hat gegenüber den Strafanträgen wegen übler Nachrede (oder Verleumdung) auch dann grösste Zurückhaltung zu üben, wenn jene von sozial Höhergestellten oder amtlichen Stellen ausgehen. Hat jemand, etwa in einer Zeitung, gegen einen Privaten oder Beamten einen Vorwurf inkorrekten Verhaltens erhoben, so muss die erste Aufgabe die sein, der Richtigkeit dieser Anschuldigung auf den Grund zu gehen und gegebenenfalls eine umfassende Strafverfolgung in dieser Richtung eintreten zu lassen. Es ist verkehrt, den Spiess umzukehren und gegen den, der den betr. Vorwurf erhoben hat, sogleich auf Grund mehr oder weniger oberflächlicher Erhebungen die Beleidigungsklage zu erheben. Das Fiasko, das solche Beleidigungsklagen häufig erleben, wie manche Vorkommnisse der letzten Zeit zeigen, ist für das Ansehen der Behörde ebenso abträglich, wie es unbillig und sachwidrig ist, denjenigen ans Messer zu liefern, der ein Geschwür aufgedeckt hat, statt an das Geschwür selbst zu rühren!

Endlich ist aber auch Behörden aller Art ausserhalb staatsanwaltschaftlicher und richterlicher Funktionen vielfältige rechtliche Möglichkeit gegeben, durch Ermessensentscheidungen fördernd oder hemmend auf den Strafrechtsschutz einzuwirken: sie sind nicht selten vor die Frage gestellt, ob sie einen Strafantrag stellen, ob sie einem zugehörigen Beamten die Zeugenaussage oder die Tätigkeit als Sachverständiger ermöglichen, ob sie Benutzung ihrer Akten zu Prozesszwecken gestatten sollen, ohne dass dabei die Entschliessung durchweg durch feste gesetzliche Direktiven geregelt wäre. In derartigen Sachlagen liegt – psychologisch sehr begreiflich – für die Behörde die Versuchung nahe, ihr spezifisch behördliches Interesse massgebend sein zu lassen, z. B. Zeugenaussagen durch Beamte und Akteneinsicht deshalb zu inhibieren, weil anderenfalls Fehlgriffe von Beamten ans Tageslicht treten würden. Es bedarf keiner Ausführung, dass solche Praxis ebenso bureaukratisch engherzig ist, wie sie dem Gesamtwohl abträglich sein muss, und dass speziell das Amtsgeheimnis nicht Selbstzweck sein darf. Das behördliche Interesse ist hier wie immer als ein nur abgeleitetes zu werten. Auch hier muss sich die Entschliessung auf die Höhe der Staatskunst überhaupt erheben: salus rei publicae suprema lex.





  1. Über die Zusammenhänge dieser Bewegung mit der nach „freier Rechtsfindung“ bei der Auslegung drängenden vgl. Rich. Schmidt, Richtervereine 1911.
  2. Vgl. Gerland, Die Einwirkung des Richters auf die Rechtsentwickelung in England, S. 8 ff.; Derselbe, Englische Gerichtsverfassung S. 232 ff., 287 ff. und sonst.
  3. Auf die Abgrenzung der Militär- und der ordentlichen Gerichtsbarkeit kann hier nicht eingegangen werden.
  4. Etwas ganz anderes ist selbstverständlich, dass der Staatsanwalt die Anklage schon bei hinreichendem Verdacht zu erheben hat. Die Annahme, dass hinreichender Verdacht vorliege, ist gesetzliche Voraussetzung für die Eröffnung des Hauptverfahrens durch den Richter. Ob diese Voraussetzung gegeben ist, hat der Staatsanwalt mit richterlichem Auge zu prüfen.
  5. Es ist zu missbilligen, dass sich ein Richter während der Verhandlung anderweit, etwa mit Lesen von Akten, beschäftigt. Zu widerraten auch die flüsternde oder auf konkludente Verständigung durch Kopfnicken usw. beschränkte Beratung des Kollegiums im Sitzungssaal. Geradezu peinlich und erbitternd wirkt es, wenn diese „Beratung“ nur einen Augenblick währt und nur in einem Austauschen von Blicken besteht. Wer wollte es hier dem Unbeteiligten verargen, wenn er ein vor Eintritt in die Verhandlung abgekartetes Spiel wittert!