Zum Inhalt springen

ADB:Gallitzin, Amalia Fürstin

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Gallitzin, Adelheid Amalia Fürstin von“ von Josef Bernhard Nordhoff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 8 (1878), S. 338–345, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gallitzin,_Amalia_F%C3%BCrstin&oldid=- (Version vom 13. November 2024, 23:28 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Gallinarius, Johannes
Band 8 (1878), S. 338–345 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Amalie von Gallitzin in der Wikipedia
Amalie von Gallitzin in Wikidata
GND-Nummer 118537342
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|8|338|345|Gallitzin, Adelheid Amalia Fürstin von|Josef Bernhard Nordhoff|ADB:Gallitzin, Amalia Fürstin}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118537342}}    

Gallitzin: Adelheid Amalia Fürstin von G., geb. den 28. August 1748, entstammt der altungarischen, unter Mathias Corvinus in die Grafschaft Glatz verzogenen Familie von Schmettau, die seit Beginn des 18. Jahrhunderts den Kaiserlichen wie den Preußischen Staats- und Kriegsdiensten zwei ausgezeichnete Glieder gestellt hat. Es war der bedeutendste des Geschlechts ihr Vater, der preußische Feldmarschall und Reichsgraf Samuel von S., ihre Mutter dessen zweite Gattin, eine Freiin Maria Anna von Riffer oder Ruffor (Ruffert), diese katholisch, jener evangelisch. Nach des Vaters Tode am 18. Aug. 1751 wurde Amalia, während die Brüder der Confession des Vaters folgten, vier Jahre alt in ein katholisches Pensionat nach Breslau geschickt und trotz ihres geweckten und empfänglichen Wesens so äußerlich unterwiesen, daß sie nach acht oder neun Jahren, als sie heimkehrte, nur ungeschickt las und schrieb, Statuen heidnischer Götter für solche von Heiligen ansah und sich ehrerbietig vor ihnen verneigte. Solche Blößen der Erziehung fielen um so unangenehmer auf, als das Haus der Mutter ein gesuchter Mittelpunkt der vornehmsten Familien von Berlin war, und Amalia mußte nochmals auf anderthalb Jahre eine französische Erziehungsanstalt der Residenz besuchen, um den geselligen Forderungen des Tages gemäß Tanzen, Französisch und Mythologie zu lernen. Dem Elternhause zurückgegeben und dann ins Hofleben eingeführt, fühlte sie sich im Zwange des Ceremoniels und der Vergnügungen gar bald gelangweilt, sehnte sich dafür nach geistiger Nahrung und suchte sie in der längst liebgewonnenen Musik, in Romanen, wie sie deren vorfand, und in Helvetius’ Schrift „Vom Geiste“, obwol diese, mangels einer philosophischen Vorbildung, ihre höchste Kraftanstrengung in Anspruch nahm. Zweifeln und Wahrheit suchen bezeichnen also die ersten Acte ihres selbständigeren Lebens; was sie errungen, äußerte und vertheidigte sie, und was dabei ihre kühne Discussion verstieß, begütigte geschickt ihre Anmuth im Verkehr. Eine 1765 mit einem v. Gersdorf auf Betreiben der Mutter eingegangene Verlobung wurde wegen bedenklicher Verhältnisse des Bräutigams wieder gelöst. 1768 begleitete sie als Hofdame die Prinzessin Ferdinand, Schwägerin Friedrichs des Gr., in die Bäder von Spaa und Aachen, und ihr ebenso hohes wie bestimmtes Auftreten erweckte das Wohlgefallen des russischen Fürsten Dmitry Alexejewitsch Gallitzin, der dort seine Heimreise von Paris unterbrochen hatte. Beide schlossen schnell, noch im August, zu Aachen den ehelichen Bund. Amalia versprach sich von ihrem Gemahl, der ein Freund der Wissenschaften, der französischen Philosophie [339] und ihrer Hauptvertreter war, eine erfolgreiche Stütze ihrer Ausbildung und Aufklärung, und glaubte sich den geistigen Bestrebungen um so mehr hingeben zu können, als ihre äußeren Verhältnisse behaglich, selbst glänzend geworden waren. Das Geschlecht der Gallitzin leitete sich ab von Gedimin, dem Stammvater der Jagellonen, rühmte sich thatenreicher Kriegs- und Staatsmänner, – und ihr Gemahl war Günstling der Kaiserin Katharina, Minister, Staatsrath und zum Gesandten im Haag ausersehen. Die Neuvermählten begaben sich über Brüssel, Berlin nach Petersburg, stellten sich dem Hofe vor, und nachdem der Fürst für den Haag förmlich ernannt war, traten sie dahin Ende 1769 die Reise an, abermals über Berlin. Hier genaß die Fürstin eines Töchterleins, Marianne (Mimi), ein Jahr darauf im Haag eines Sohnes, Demetrius oder Mitri. Die Fürstin fesselte überall durch ihre geselligen Talente, ihr geschicktes und anmuthiges Benehmen; sie selbst gewahrte in dem äußeren Glanze ihres Hauses, der hohen Verbindungen, der zahllosen Vergnügungen, die sie an der Seite des Gemahls mitmachen mußte, eine drückende Leere – und dies Alles um so tiefer, als der Fürst, dem sie mehr aus Geistes-, denn aus Herzensneigung anhing, die Grundsätze des Helvetius befolgte, und diese ihre Seele, statt zu füllen, verwirrten. Freundschaften, die sich als falsche herausstellten, Undank für erwiesene Wohlthaten, und anderes Mißbehagen kamen hinzu, ihr die Freude an der geselligen Seite des Lebens zu verleiden. Es reifte daher in ihrer Brust der seltsame Plan, der Welt zu entsagen und so gut wie ausschließlich ihren Studien und damit zugleich der Erziehung ihrer Kinder zu leben, wenn nur der Fürst einwilligte. Da erschien auf einer Reise nach Petersburg, im Mai 1773, zum Besuche des Fürsten in ihrem Hause Diderot, und hatte er früher eine ungünstige Meinung von der Fürstin, so ist er jetzt, wie er nach Paris schrieb, vernarrt in sie, verkehrt mit dem Ehepaare wie mit guten Geschwistern, bejaht ihr die Erreichbarkeit beruhigender Kenntnisse und bestimmt den Fürsten, ihr für ihre Wünsche freie Hand zu lassen. Sie beginnt gleich mit ihren Studien, hält sie aber unter den gesellschaftlichen Verhältnissen ihres Hauses sobald für erfolglos, daß sie im nächsten Jahre 1774, wo der Philosoph auf der Rückreise wieder bei ihr einkehrte, unter Zustimmung des Fürsten plötzlich und so völlig mit der vornehmen Welt bricht, daß sie ihre Prunkkleider ablegt und ihr schönes Haupthaar kahl abscheeren läßt. Nun wurde studirt und mit dem Philosophen über die ernstesten Fragen des Menschen und der Welt discutirt, ja, um ihren geistigen Bedürfnissen noch ungestörter abzuhelfen, verläßt sie, nochmals mit Einwilligung des Fürsten, die Residenz, bezieht ein einsames Bauernhaus am Wege nach Scheveningen und gibt diesem auf einem Schilde die Inschrift: Niethuys (d. i. Nicht zu Hause), zur Abwehr jeden unberufenen Besuches. Zutritt behielten nur, außer dem Gemahl, die Fürstin von Oranien, Friederike Sophie Wilhelmine, eine geborne Prinzessin von Preußen, deren Söhnchen, der spätere König Wilhelm I. von Holland, Mitri’s Gespiele war, sodann der eigenartige Philosoph Franz Hemsterhuys, und die Briefe ihrer auswärtigen Bekannten, namentlich Grimm’s aus Paris. Hemsterhuys, eine unscheinbare Gestalt, dessen Anschauungen dazu erheblich von den herrschenden Theoremen der Franzosen abwichen, war ihr wol seit Diderot’s erstem Besuche nahe getreten, aber wenig angesehen; bald änderte sich die Stellung: er wußte ihr für ihre Studien die Bahnen anzuweisen, führte sie in die griechische Literatur, besonders in die Schriften Plato’s ein, woran sie Geschmack und feste Fundamente der Erkenntniß fand. Bewogen von der hohen Dame trug er nun im Sophilus und Aristäus – beide in Form des Dialogs – vor, was beide nahe verbundenen Geister in wechselnder Rede als Gemeingut errungen hatten. Jener behandelte die Möglichkeit, Wirklichkeit und Nothwendigkeit der Idee und die Immaterialität der Menschenseele, dieser beschäftigte [340] sich mit dem physico-theologischen Beweise vom Dasein Gottes, die Jüngerin wird von den Lehren des Meisters wohlthätig berührt, geistig bereichert und zu weiterm Denken angespornt. – Um das Jahr 1776 erschien im Auftrage seiner Vaterstadt Genf Danton im Haag, und verkehrt, eingeführt von Hemsterhuys, mit der Fürstin; diese wünscht, um mit den beiden Geistesweckern noch enger und ausschließlicher verkehren zu können, mit ihnen und ihren Kindern statt Holland Genf aufzusuchen, dann, als der Fürst am Genfer See das Gut Lavigny angekauft hatte, dies zu ihrem Studien- und Erziehungssitz zu machen. Wiederum ertheilt der Gemahl die Erlaubniß. Ehe jedoch der Umzug ins Werk gesetzt wurde, erhält sie Kunde von den epochemachenden Schulreformen, welche der Freiherr Franz Friedrich Wilhelm von Fürstenberg (s. oben S. 237), als Generalvicar und Minister in dem abgelegenen Hochstift Münster mit den schönsten Erfolgen anbahnte, und will erst diese, sowie ihren Urheber näher kennen lernen. Im Mai 1779 verweilt sie 19 Tage in Münster, zu eng bemessen, um das System und die Principien der Erziehung sich anzueignen, kehrt deshalb im August zum zweiten Male mit ihren Kindern zurück, und zwar absichtlich auf ein ganze Jahr; da heimeln bald die Persönlichkeit, die Lebensanschauungen Fürstenberg’s, die hoffnungsvollen Aussichten auf eine wirkungsvolle Stütze bei der Kindererziehung, das idyllische Antlitz der Stadt, die natürliche Ländlichkeit ringsher die Fürstin so an, daß sie in Münster ein Haus, den späteren Aschenberger Hof ankauft, die Hauptstadt Westphalens statt des Genfer Sees zum dauernden Aufenthalt nimmt, um ungekannt und ungestört leben, studiren, erziehen zu können, und nur den Personen Zutritt zu gestatten, die ihr dabei hilfreich sein möchten. Daher verkehrt sie auch erst nach Jahren, und später überhaupt mit nur wenig Familien des Adels, und daher miethete sie etwa eine Meile von der Stadt einen einsamen Bauernhof, das Haus Angelmodde in der Nähe des gleichnamigen Dorfes, als Landaufenthalt vom Grafen von Merveld, und empfing hier nur die Besuche der Münsterischen Freunde, und auf mehrere Wochen jene des Fürsten, der im Sommer mehrentheils zu Aschaffenburg am Mainzer Hofe weilte, und ihres alten Studienleiters Hemsterhuys. – Anscheinend besorgt um das Befinden der Gemahlin bestimmt der Fürst jedenfalls den großen Anatomen Camper, von Holland seinen Rückweg über Münster zu nehmen, wo er die Fürstin besucht, Fürstenberg kennen lernt, aber an Allem, was er sah und hörte, viel Vergnügen fand. Hemsterhuys’ Bild klärt sich der entfernten Freundin immer reiner und idealer ab, sein brieflicher oder persönlicher Einfluß wird immer wohlthuender, seine Schriften, zumal der neue Dialog „Simon, oder von dem Vermögen der Seele“, findet bei ihr allen Anklang; sie beklagt, daß er in Münster nicht genug bekannt sei, und führt dies darauf zurück: Münster sei das Königreich der exacten Wissenschaften, sie, Diotoma, er, Sokrates, liebten mehr die Philosophie. Es währte nicht lange, und die Fürstin denkt und plant so selbständig, daß sie dem alten Lehrer offen heraus schrieb: „Zu lange habe ich mein Loos abhängig gemacht, fortan will es selbst regieren“. Damit war das empfindselige Band, nicht das der Freundschaft, durchschnitten, die Zudringlichkeit des Philosophen entschiedener abgewiesen; es bleibt der Austausch von Ideen, die Widmung von Schriften bestehen, so lange der Philosoph († 1790) lebte. – Immer imponirender wurde ihr die geistige Bedeutung Fürstenberg’s und seine religiöse Anschauung, obwol sie derselben nicht huldigte; denn ihres Erachtens glaubte Niemand an das Christenthum, als der Pöbel, und Fürstenberg, ein gläubiger Katholik, mußte seinen Glauben wol als ein Vorurtheil aus der Erziehung überkommen haben. Sie verbat sich gleich anfangs jeden Bekehrungsversuch, denn in Bezug auf Gott könne sie Nichts in sich leiden, was er nicht selbst in ihr geschaffen; Gott bitte sie um Licht, ihm sei ihr Herz [341] offen. Ein um so angenehmeres Band schlang um beide Geister Fürstenberg’s Interesse für die Wissenschaften und deren Verbreitung; vorzugsweise bildeten den Boden ihres Geistesverkehrs die Mathematik, die Naturwissenschaften, militärische Disciplinen, Politik, politische Geschichte zumal der Römer, der neue Aufschwung der deutschen Literatur. Bald stehen der Generalvicar und die Fürstin inmitten eines Kreises von heimischen und auswärtigen Gelehrten, der übersprüht von Geistesarbeiten, von dem zahlreiche Funken nach außen wirbeln, und fast ebenso viele schießen von dort zurück. Der dritte im Bunde ist Anton Matthias Sprickmann, seit 1779 Professor in Münster, der gewandte Dichter, der exacte Jurist, in vielen Dingen Fürstenberg’s rechte Hand, gekannt und verehrt von den meisten Stätten der neudeutschen Literaturblüthe, mit deren Hauptvertretern er engere Beziehungen hatte, als vierter der große Philosoph F. H. Jacobi zu Düsseldorf; schon seit 1778 mit Fürstenberg bekannt, nimmt er durch Wort und Schrift den regsten Antheil an allen wichtigen Fragen, welche den Münsterischen Kreis bewegten, stimmt zu oder tadelt herbe, führt neue Kräfte hier ein, und knüpft ein Band zwischen hier und den rheinischen und thüringischen Männern. Franz Bucholz, Gutsherr zu Welbergen, der sein Vermögen zum Besten der geistigen Güter ausnutzte, erhält durch Sprickmann Zutritt zur Fürstin, übermittelt ihr die „Sokratischen Denkwürdigkeiten“, löst die bedrängte Lage des Verfassers durch ein fürstliches Geldgeschenk, und zieht ihn dann nach Münster herüber; es war Hamann, der Vertheidiger des positiven Christenthums, er findet 1787 gastliche Aufnahme in Welbergen und bei der Fürstin, und nach seinem Tode, am 21. Juni des nächsten Jahres, eine Ruhestätte in deren Garten zu Münster. 1783 kam auf Fürstenberg’s Ruf der Kaplan Bernhard Overberg die Normalschule zu leiten und den Volksunterricht zu fördern, eine milde, religiöse, in sich harmonische Natur. Andere Notabilitäten, der gläubige Theologe Wizenmann, der Zenda-Vest-Forscher Kleuker zu Osnabrück, jedenfalls auch Möser, waren dem Kreise auf diesem oder jenem Wege näher getreten. Die Reisen, zumal der Fürstin, dehnten den Umfang von Strebens- und Wissensgenossen immer weiter aus, 1785 besucht sie mit ihren Kindern, Fürstenberg, Hemsterhuys und Sprickmann das Bad Hofgeismar, dann, um musterhafte Bildungsanstalten und gefeierte Männer zu sehen, Weimar und Jena, darauf Halle, auf dem Rückwege wieder Weimar. Herder konnte gerade vor Kränklichkeit wenig um die Fremden sein, Goethe fand sich mit den Männern wohl zurecht, nicht so anfangs mit der Fürstin, die ihm das erste Mal zu weit aus ihrer Zeit und Weiblichkeit heraustrat, das zweite Mal aber so mit ihrem reichen Geiste imponirte, daß er offen gestand: „Diese herrliche Seele hat uns durch ihre Gegenwart zu mancherlei Gutem geweckt und gestärkt“. In Halle wird das Pädagogium besucht, und von der Fürstin an der Tafel der pythagoräische Lehrsatz auf verschiedene Weise bewiesen; ihre Kinder wetteifern mit den Halloren im Schwimmen, die Pädagogen Niemeyer und Eberhard sind des Lobes voll über eine solch’ geweckte Gesellschaft. Der Anatom Sömmering sandte ihr, vielleicht auf Eingebung Campe’s[WS 1], von seinen Schriften und Präparaten. Bevor wir die Bahnen der hohen Frau weiter verfolgen, müssen wir eines Ereignisses im Leben der Fürstin gedenken, das für ihre Geistesrichtung und die Erfüllung ihrer Lebensaussichten nach allen Richtungen hin entscheidend wurde. Kaum den Schuljahren entwachsen suchte sie mit ihren staunenswerthen Anlagen nach Wahrheit über alle Fragen, die die Menschenbrust bewegen, und in der Wahrheit nach Ruhe für Geist und Herz. Religiös vernachlässigt in der Jugend hatte sie aus dem Zopfgewirre der Lehren, Doctrinen und Ideen, die sie aus Büchern, Romanen, philosophischen Unterhaltungen durstig einschlürfte, in der Tiefe des Innern einen Keim entwickelt, der stufenweise neue Sprossen trieb und allmälig die alten [342] Zweige als verdorrte abstieß, zuerst den rein philosophischen behaftet mit den Dornen des französischen Materialismus, dann an Hemsterhuys’ Hand den idealern, theosophischen verzweigt in die Schätzung des Geistes und des persönlichen Gottes, dann unter dem Gewoge von aneinanderplatzenden Ideen, wie sie Goethe und Jacobi von der einen Seite, die bibelgläubigen Protestanten Wizenmann und Hamann, die Katholiken Fürstenberg und Overberg anderseits durch Schriften und Worte auf sie eindringen ließen, den bibelfreundlichen Sproß, der endlich in den katholischen Glauben wipfelte. Sie hatte mächtig gerungen, jeden Fortschritt sich selbst abgewonnen; wie früher die sklavische Leitung Hemsterhuys’, so später die Insinuationen Goethe’s und Fürstenbergs abgewiesen. Das Licht über Gott, Welt und Mensch und über alle die Menschenseele aufregenden Probleme wollte sie mit ihren Kräften, ohne Sprünge und, so weit das möglich, aus eigener Ueberzeugung in Gott sich aufstecken, einen Punkt finden, der ihr Ruhe gebe im Herzen und im Geiste. Noch als sie 1783 von einer schweren Hypochondrie in eine Krankheit verfiel, daß am 12. März die letzten Hoffnungen für ihr Leben schwanden und Fürstenberg seinen Beichtvater schickte, ihr die letzten Tröstungen des Glaubens anzubieten, lehnte sie aus Mangel an Ueberzeugung ab, gab indeß eine den geistlichen Freund vorerst beruhigende Antwort. Nun folgten drei Jahre des Zweifelns und Forschens, das sie bei Tag und Nacht dann folterte, dann wieder erquickte. Ihre Zuflucht ward das Evangelium und besonders die Stellen, daß es von Gott ausgehe und der Wandel der Gläubigen dies beweisen werde; tröstlich und anziehend erschienen gewiß das Leben und die Beispiele des Glaubens, mit denen sie so nahe verkehrte: Overberg in Frömmigkeit und Demuth eine harmonische Erscheinung, Fürstenberg, im positiven Glauben unbeängstigt und doch so frei denkend und handelnd, ein Katholik, und kein unbedingter Freund der Curie, ein Feind des Febronianismus wie des Antifebronianismus, ein Mäcen der geistigen Bestrebungen, ein Staatsmann ersten Ranges. Es war an ihrem Geburtstage 1786, als sie auf das Wort Overbergs, den sie als Seelenführer wählte, trotz gewisser Zweifel, gläubig die Heilsmittel der Kirche empfing, und damit einen reichen Seelenfrieden erntete. Ein Jahr später folgten die Kinder dem Beispiele der Mutter. Dieser Act änderte aber auch ihre äußern Verhältnisse wie mit einem Schlage. Wohl zog Overberg nach Hamanns Tode zu der Freundin ins Haus; dies war für die ersten Jahre die Stätte stiller ascetischer Beschaulichkeit, nicht mehr so der Sammelpunkt von auswärtigen Capacitäten. Selbst Jacobi läßt sich nicht sehen, er verkehrt nur brieflich, obwol die Fürstin und der Generalvicar wiederholt in Pempelfort waren, die Fürstin anscheinend sogar Bekehrungsversuche bei Jacobi einleitete. 1787 besucht sie von Düsseldorf aus den Coadjutor von Dalberg in Aschaffenburg. Nur Ludwig Nicolovius, ein feingestimmter Theologe von Königsberg, erscheint 1789, um die letzten Lebensspuren seines Freundes Hamann bis ins Grab zu verfolgen, und der „heil. Familie“, wie Gallitzins Kreis hieß, Freund zu werden. Der Theologe Wiggermann, überhaupt die Lehrer der Kinder, die drei Gebrüder Droste (Erbdroste)[WS 2], welche mit dem jungen Fürsten aufgewachsen waren, Katerkamp, ihr erster geistlicher Erzieher, die Nichte Amalia von Schmettau vermehren oder ergänzen nach und nach die kleine, aber treue Zahl der Hausfreunde, seit 1800 auch dauernd der Graf Friedrich Leopold von Stolberg. Die Trappisten, welche behufs Agriculturen von Fürstenberg ins Stift (Darfeld) gezogen waren, gehen vielfach bei ihr ein und aus. Seit Beginn der neunziger Jahre beleben Besuche, Briefe und Reisen auch wieder die Beziehungen zu auswärtigen Freunden und Gelehrten; der Fürstin Geist und Charakter übte eine verlockende Anziehungskraft nach wie vor, und man mochte sich, wie Nicolovius bei einem Besuche in Münster überzeugen, daß es nicht einen Weg des Heiles für alle [343] gebe, und daß man Jeden seinen Gang und sein Ziel müsse verfolgen lassen. 1792 kömmt von Düsseldorf aus Goethe, der die „anziehende“ Frau nicht vergessen konnte, die ihm gleichwol lange ausgewichen war, nun aber, wie später noch brieflich mit dem Gaste aufrichtig ihre Ideen austauschte. „Eine größere Gesellschaft war versammelt; geistliche Männer von Sinn und Verstand, heranstrebende Jünglinge, wohlgestaltet und wohlerzogen, an Geist und Gesinnung viel versprechend, waren gegenwärtig.“ Reisen machte die Fürstin außer den Badereisen nach Hofgeismar und Driburg seit 1791 wiederholt nach Wandsbeck (Hamburg) und Holstein, später auch als Begleiterin Fürstenbergs nach Hildesheim. Die erste Holsteiner Reise förderte einen näheren Verkehr mit Stolberg, Claudius, Voß und mit angesehenen Familien Holsteins, ein Verkehr, der zu den Familien Claudius und Stolberg sehr lebhaft ward und dazu beitrug, daß der Graf sich in Münster niederließ und zum katholischen Glauben übertrat. Politische oder wissenschaftliche Interessen ergaben persönliche und briefliche Beziehungen zum Preuß. Legationsrath von Dohm, zum Geschichtsschreiber Johannes von Müller und vielen anderen Capacitäten, familiäre zu ihrem Stammhause von Schmettau, selbst zur Kaiserin Katharina, die neuen Staatesgestaltungen zu hervorragenden Staatsmännern, nur nicht zum spätern Minister vom Stein, obwol sie Friedrichs des Gr. Politik mit aller Bewunderung anhing. Die geistigen Früchte ihres Verkehrs theilte sie mündlich aus oder legte sie in den Tagebüchern und Briefen, ihre begeisterten, zumal religiösen Empfindungen auch wol in Versen nieder. Ihre Tagebücher enthalten sonst allerhand Aufzeichnungen über gewöhnliche und ungewöhnliche Begegnisse und Erlebnisse, namentlich über die Studien der Kinder, ihr Befinden und ihre Tagesbeschäftigung. Die Zeiten für Arbeit, Erholung und Unterhaltung waren genau geregelt, die Abende durch Besuche und anregende Gespräche verangenehmert, die Mahlzeiten und der Comfort frugal, die Verkehrsformen schlicht und natürlich. Ihr Verkehr, ihre Reisen, Studien, Anstrengungen und Opfer sollten eben so sehr den beiden Kindern wie der Mutter zu Gute kommen, insbesondere auch der Aufenthalt in Fürstenbergs „Athen“. Alle Handlungen für Mitri und Marianne durchzittert ein Klang leidenschaftlicher Besorgniß. Sie sollten doch voraussichtlich einst hochangesehene und einflußreiche Lebensstellungen einnehmen und daher nicht so sehr eine gelehrte, als eine gesellige Bildung (Sprachen), demgemäß auch Gewandtheit des Körpers und Festigkeit des Charakters von Kindesbeinen her anstreben. Andern die Aufsicht überlassend, ertheilte die Mutter langehin den auf die anstrengendsten Vorstudien gestützten Unterricht selbst, später gewann sie für die gymnastische Ausbildung einen Fechtmeister (Miquel), für Geometrie, Zeichnen und Geniewesen einen Offizier der Münsterischen Garnison, seit 1784 für die klassischen Sprachen den begabten Gymnasiallehrer Kistemaker, für die deutsche Geschichte den schon genannten Professor Sprickmann – die beiden letzteren jedoch anscheinend erst, nachdem Jacobi und Goethe über Inhalt und Methode des frühern Unterrichts Bedenken geäußert hatten; denn Jacobi’s Sohn Georg nahm seit 1782, wie später die Nichte Amalia von Schmettau, an der Schulung der Fürstenkinder Theil. Die Fürstin erholte sich selbstredend viel pädagogischen Raths bei Fürstenberg, dann bei Overberg, wohnte des letztern öffentlichen Katechesen an und steuerte ihrerseits wol manche Lehren bei zu seinen pädagogischen Schriften. Der Religionsunterricht sollte anfangs weder zum Unglauben, noch zu einer bestimmten Confession, die sie selbst nicht hatte, und die Kinder später nach Gutbefinden auswählen möchten, anleiten und bestand deshalb in einem objectiven Vortrage über das Christenthum. Nachdem sie zum Katholicismus übergetreten, die Kinder älter geworden waren, ging der Unterricht nach der Mutter Instruction wol völlig an Hauslehrer über, und die Religion ward von einem Geistlichen (Wiggermann) [344] nach katholischen Grundsätzen gelehrt; athmete doch das ganze Haus fortab einen durchaus kirchlichen Geist. Mitri, schon als Knabe von der Kaiserin Katharina zum Fähnrich ernannt, sollte mit dem 20. Lebensjahre die militärische und staatsmännische Laufbahn antreten und begab sich deshalb 1792 nach Amerika, nahm jedoch in Baltimore am 16. März 1795 die Priesterweihe und wirkte in Pensylvanien und im Alleghanygebirge unter gewaltigen Geldopfern für die Sache des Glaubens als Missionär bis in sein 70. Lebensjahr. Marianne, anscheinend mehr durch Verstand als Gemüth ausgezeichnet, vermählte sich fast im 50. Jahre mit einem verschuldeten Grafen von Salm-Reifferscheid-Krautheim und starb schon 1823 in Düsseldorf. Die Mutter hatte ihre Zöglinge dem Jahrhunderte, worin sie lebte, entfremden wollen, um ihnen die Grundsätze anderer Zeiten leichter einzupflanzen und sie für die Verbesserung der Zeitgenossen zu befähigen. Sie wollte ein Erziehungsideal verwirklichen, das namentlich moralisch fehlschlug und fehlschlagen mußte, weil es weder mit der Kindernatur, noch mit jenen Forderungen der Gegenwart rechnete, die sich nicht nach Theoremen und Zahlen gängeln lassen. Daher die schlichte, oft schlechte Kleidung; daher häufte sie Instruction über Instruction, schulmeisterte, nörgelte über die kleinsten Fehlgriffe, bis ihr Sohn, wie sie selbst klagte, mit dem 18. Lebensjahre noch ein Kind war und dieser wieder, nach eigenem Geständnisse, die Mutter erst erkennen und lieben lernte, als er sie nicht mehr hatte. Und doch hatte die Mutter es gut gemeint. – Abgesehen von den gewaltigen Welt- und Staatsumwälzungen flocht sich um das unruhige Haupt der hohen Frau in den spätern Lebensjahren ein Kranz von allerhand Unannehmlichkeiten. Ihr eigenes auf Gütern in Frankreich stehendes Erbtheil ging in der Revolution verloren; alte Leiden, Hüftenweh und Nervenreiz, repetirten; als der Sohn in Amerika war, lief von einem russischen Garderegimente die Aufforderung ein zum Eintritte in den Militärdienst; der Fürst hatte schon 1782, um einer Versetzung nach Turin auszuweichen, den Staatsdienst verlassen und seinen Wohnsitz nach Braunschweig verlegt, immer noch wissenschaftlichen Arbeiten und Bestrebungen ergeben; allein gewisse Hoffnungen auf die Gunst seines neuen Souveräns (Paul) erfüllten sich nicht; und als er am 16. März 1803 starb, fielen Gehalte und Pensionen für die Familie fort. Die Erbschaft anzutreten, stellten sich allerhand Hindernisse entgegen, sogar die Revenuen blieben zeitweise aus, und es mußten Prozesse angestrengt werden. Im Feldzuge 1812 wurden die russischen Besitzungen verwüstet; der Sohn in Amerika schrieb um Geld für seine Stiftungen, und erst später errang die Tochter ihr väterliches Erbtheil. Als Mitri’s Stiftungen sich mehr und mehr mit Schulden belastet hatten, verkaufte endlich Overberg eine Sammlung geschnittener Steine, die er von der Fürstin zu milden Zwecken, diese als Vermächtniß von Hemsterhuys erhalten hatte, an den König von Holland, und der Erlös ging wenigstens zum Theil über das Meer. Die Mutter hatte die letzten Scenen dieser Familienleiden nicht mehr erlebt; sie war zu Münster inmitten ihres nähern Familien- und Freundeskreises schon am 27. April 1806, im 58. Lebensjahre, verschieden und drei Tage später nach ihrem Wunsche zu Angelmodde auf dem Friedhofe, dicht an der südlichen Langwand der Kirche, am Fuße eines Kreuzes bestattet, dessen Sockel das Todesjahr und eine Stelle des Philipperbriefes (III, 8) und sonst blos die biographische Nachricht enthält: „So war gesinnet, so lebte die Mutter der Armen und Bedrängten, die Fürstin Amalia von Gallitzin, geborene Gräfin von Schmettau, deren Gebeine vor diesem Bilde in der Hoffnung ihrer glorreichen Auferstehung ruhen.“ – Wem nach Briefen und Tagebüchern manche ihrer Aeußerungen zu rückhaltlos oder eitel, ihr Verkehr mit den Freunden frei vorkommen, der bemesse das nach den Sitten und emancipirten Umgangsformen der Zeit und der großen Welt, worin sie aufwuchs, [345] nicht nach den Urtheilen der spätern Zeit oder einer kleinen Stadt, worin sie lebte. Tadeln lassen sich ihre utopischen Erziehungsideale und mit Goethe ihr Heraustreten aus der Weiblichkeit – aber wie viel Edles und Menschliches hat sie dafür nach allen Seiten bis in die untersten Volksclassen hinein ausgestreut! Welch’ ein Weib muß es gewesen sein, dessen Geist durch die feinen Augen, ja durch alle Fibern ihres schlanken Leibes blitzend, fast Jeden, der ihr nahte, anzog, die ersten Größen ihrer Zeit zu Lob, Hochachtung, Bewunderung hinriß. Welch’ Seele und Gemüth mußte das Wesen erfüllen, das Dieser „leutselig“, Jener „hold“, ein Dritter „himmelvoll“, ein Vierter „unermeßlich schön und groß“ nannte. Sie hat, so ähnlich urtheilt L. Giesebrecht, der kundige Herold ihrer culturgeschichtlichen Bedeutung, mitgewirkt, daß neben Goethe’s humanem Weimar Fürftenbergs geistliches Münster an dem geistigen Aufschwunge unseres Vaterlandes Theil bekam, daß, als jenseits des Rheines Christenthum und Herkommen gewaltsam zu Boden geworfen wurden, hier sich durch Unterricht und Erziehung in allen Volksschichten feste Grundsäulen, gegen die Erschütterungen und Drohungen der Revolution, für Religion und Vaterlandsliebe erhoben.

Vgl. den Artikel Friedr. Wilh. Franz von Fürstenberg. – Schriften und Briefwechsel Jacobi’s, Goethe’s, Hamann’s u. A. – Th. Katerkamp, Denkwürdigkeiten aus dem Leben der Fürstin Amalia von Gallitzin, geb. Gräfin von Schmettau. Mit besonderer Rücksicht auf ihre nächsten Verbindungen … Münster 1828. 2. A. 1839. – L. Schücking, die Fürstin von Gallitzin und ihre Freunde, im Rheinischen Jahrbuch 1840. – P. H. Lemcke, Leben und Wirken des Prinzen Demetrius Augustin Gallitzin, Münster 1861. – Miss Sarah Brownson, Life of D. A. Gallitzin, prince and priest, with an introduction by O. A. Brownson, LL. D. New-York 1873 – Mittheilungen aus dem Tagebuch und Briefwechsel der Fürstin Adelheid Amalia von Gallitzin nebst Fragmenten und einem Anhange. Stuttgart, Liesching. 1868. (Der Anhang enthält eine zeitgenössische „Nachricht von den Jugendjahren der Fürstin“). – Briefwechsel und Tagebücher der Fürstin Amalie von Gallitzin. Enthaltend bisher ungedruckte Briefe … (Herausg. von Christoph Schlüter.) Münster 1874. – Neue Folge. Tagebücher der Fürstin aus den Jahren 1783 bis 1800 enthaltend. (Herausg. von demselben.) Münster 1876. – Emile Grucker, François Hemsterhuis. Sa vie et ses œvres. Paris 1866.Herbst, Mathias Claudius, der Wandsbecker Bote. 4. Aufl. Gotha 1878. Derselbe, J. H. Voß. Bd. 1–2. Leipzig, 1872–76. – J. Janssen, Friedrich Leopold, Graf zu Stolberg, Bd. 1–2. Freiburg 1877. – E. Raßmamn, Nachrichten von dem Leben und den Schriften Münsterländischer Schriftsteller. Münster 1866. s. v.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. gemeint: Peter Camper
  2. Clemens August, Franz Otto und Max Kaspar Droste zu Vischering