ADB:Harnack, Theodosius
Harnack: Theodosius H., geboren am 3. Januar 1817 [22. December 1816 a. St.] in St. Petersburg, † am 11./23. September 1889 als Professor emer. der praktischen Theologie in Dorpat – hat nicht bloß in der lutherischen Kirche seines Heimathlandes, insonderheit der Ostseeprovinzen, eine hervorragende Stellung eingenommen, sondern ist auch in Deutschland durch seine akademische Wirksamkeit in Erlangen (1853–66) und durch seine vielseitige schriftstellerische Thätigkeit namentlich in den kirchlich gesinnten Kreisen bekannt und anerkannt worden.
Er gehörte zwar nicht zu den bahnbrechenden Geistern. Die Aneignungsfähigkeit und Reproductionskraft war in ihm stärker entwickelt als die urwüchsige Eigenart und geniale Productivität. Seine gleichwohl glänzenden Leistungen auf dem Gebiete der Wissenschaft und des kirchlichen Lebens waren theils in seiner reichen Begabung, theils in seinem eisernen Fleiß und jener warmchristlichen Glaubensüberzeugung begründet, die ihn von Jugend auf beseelte und sich mehr und mehr zu gesunder und charaktervoller Entschiedenheit entwickelte.
Dabei war er eine für alle höheren und idealen Interessen, namentlich auch für die Kunst aufgeschlossene und begeisterungsfähige Natur. Kunstgeschichte, archäologische Studien und kirchliche Alterthümer haben ihn – neben der Pflege guter Kirchenmusik – stets angezogen. Die schöne archäologische Sammlung in Dorpat war eine Frucht seiner eifrigen Arbeit. Auf dem Gebiete der Hymnologie und Liturgik that ihm seine musikalische Begabung gute Dienste.
Sein Hauptinteresse und seine Hauptleistung blieb aber – neben der Untersuchung der Cultusgeschichte – die strenge Systematisirung der gesammten praktischen Theologie vom Standpunkte evangelisch-lutherischer Glaubensüberzeugung. Freilich kam die feste kirchliche Richtung erst nach mannichfachem [9] Suchen und Sehnen in seinen Mannesjahren zur Reife und zu harmonischer Entfaltung.
Die christliche Atmosphäre, die ihn während seiner Jugendjahre in St. Petersburg umgab, war eine pietistisch angehauchte. Sein frommer Vater, ein angesehener Bürger der nordischen Großstadt, dessen Geschlecht – wie der Name Harnack (tschechisch = „Bergmann“) vermuthen läßt – auf die Herkunft aus Böhmen hinweist, war gleichwohl durch und durch deutsch gesinnt. Obwohl Leiter eines großen Herrenkleidergeschäfts hatte er seine vielseitigen ästhetischen Gaben zu entwickeln gewußt. In steter Fühlung mit den gebildeten christlichen Kreisen Petersburgs stehend sorgte er für eine gründliche Ausbildung des einzigen Sohnes in der damals schon blühenden St. Petri-Schule. Die zartfühlende und reich veranlagte Mutter hatte der Knabe schon in seinem 7. Jahre verloren. In seiner geistigen Entwicklung rasch und gedeihlich fortschreitend erwies er sich im hohen Grade empfänglich für geistliche Anregung. Namentlich hat die unter Pastor Nielsen’s Wirksamkeit aufblühende Brüdergemeinde, sowie die durch Goßner hervorgerufene religiöse Bewegung auf Herz und Gemüth des Jünglings einen durchschlagenden Einfluß geübt. Mit jener Glaubenswärme und Gefühlsinnigkeit ging aber eine gewisse unklare Verschwommenheit Hand in Hand, gegen die – wie er selbst zugestand – er später ernstlich zu ringen hatte.
Im J. 1834 bezog der strebsame Jüngling die Universität Dorpat. Auch hier waltete noch die subjectivistische Gefühlsrichtung vor. Durch den Einfluß des damaligen Curators – des frommen Fürsten Lieven – und des ihm eng befreundeten Rectors Gustav Ewers waren gläubige Professoren an die theologische Facultät berufen worden. Der Exeget Kleinert und der Dogmatiker Sartorius hatten im positiv-christlichen Sinne gewirkt. Der leidenschaftlich gegen allen Rationalismus zu Felde ziehende Professor Busch regte durch seine litterarische Gelehrsamkeit den jungen Theologen zu historischen, der geistvoll grübelnde Dr. August Carlblom (seit 1835 Nachfolger von Sartorius) zu religionsphilosophischen Studien an. Vor allem hat aber der die praktische Theologie vertretende ehrwürdige Professor (später Bischof) Ullmann die Wahl des Berufes beeinflußt, dem H. sich zu widmen beschloß.
Zu bedauern ist es wohl, daß sich der angehende Studiosus, als entschiedener Gegner des damals noch herrschenden Duellzwangs, von dem Verkehr mit den Commilitonen fast ganz fern hielt. Hier wäre das noch weiche Metall seines Naturells vielleicht zu größerer Festigkeit gestählt worden. Auch gegen die Eitelkeit, die gerade solch begabten Jünglingen nahe liegt, und die wohl zu dem „Gemeinen“ gehört, das – nach Goethe’s Wort – „uns alle zu bändigen“ droht, wäre jene goldene Rücksichtslosigkeit der corporativen Genossenschaft ein vortreffliches Gegengewicht gewesen. Statt dessen blieb Harnack’s Verkehr auf den engeren Kreis hervorragender junger Theologen beschränkt. Auch suchte er in Dorpat wieder Fühlung mit der Brüdergemeinde, deren Betstunden er fleißig besuchte. Dabei verzehrte er sich schier in der einseitigen Pflege seines inwendigen Glaubenslebens. Wie wenig dieses noch geklärt und gefestigt war, zeigte sich in dem wogenden Hin und Her der nächsten 5 Jahre (1837–42). Nach absolvirtem Studium wurde der junge Candidat auf ein paar Jahre Hauslehrer in der gräflich Stackelberg’schen Familie (auf dem Landgute Ellistfer bei Dorpat). Die hocharistokratische Atmosphäre dieses vornehmen Hauses erschien wohl kaum geeignet, den mit viel geselligen Talenten begabten, gesangeskundigen, in wallendem schwarzem Lockenhaar prangenden, stets salonmäßig fein gekleideten jungen Mann zur Schlichtheit und Festigkeit zu erziehen. Da mußte das ernste Leben und die göttliche Führung härter eingreifen, um den Hochfliegenden [10] auf festen Boden zu setzen und dem weich Angelegten Rückgrat zu verleihen.
Im J. 1840 zog er in die deutsche Welt hinaus, wo damals die Wogen im Kampf um Union und Lutherthum hochgingen. Um seine wissenschaftlichen Studien fortzusetzen, suchte er verschiedene Universitäten auf. In Bonn wurde er besonders durch I. Nitzsch angezogen. In Berlin lernte er Hengstenberg persönlich kennen, schloß sich aber besonders nahe dem Hofprediger Strauß an. Auch hat die damals in Berlin noch herrschende Hegel’sche Richtung (Marheineke) ihn zu philosophischen und dogmatischen Studien angeregt. In Elberfeld befreundete er sich intim mit dem berühmten reformirten Prediger Fr. W. Krummacher.
Durch all diese Einflüsse gerieth H. ganz in den Bannkreis der preußisch-unirten Kirche. Selbst die theologische Facultät in Erlangen, die er zuletzt aufsuchte, und wo namentlich Harleß akademisch wirksam war, vermochte nicht, ihn für entschiedenes Lutherthum zu gewinnen. So kehrte er im J. 1842, nachdem seine erste Druckschrift: „Jesus der Christ, oder der Erfüller des Gesetzes und der Propheten“ als „ein biblischer Versuch“ erschienen war, in das durch Philippi’s Einfluß (seit 1841) streng lutherisch gewordene Dorpat zurück; um sich der akademischen Laufbahn zu widmen. Seine lateinisch geschriebene Habilitationsschrift (über den Prolog des Joh. Ev. 1843) verschaffte ihm die venia legendi. Ja, man übertrug dem jungen Ankömmling den seit Ullmann’s Fortgang (1842) erledigten Lehrstuhl der praktischen Theologie.
Es war unleugbar ein gewaltiger Fehlgriff, einem in der kirchlichen Amtsführung gänzlich unerfahrenen und confessionell noch ungefestigten Jüngling von 27 Jahren dieses Katheder anzuvertrauen, das jedenfalls einen in der Praxis erfahrenen, reiferen Mann fordert. Aber für den jungen Docenten, wie für die lutherische Kirche Livlands, erwuchs doch aus dieser scheinbar unvernünftigen Wahl ein unberechenbarer Segen. Gott der Herr hat ihn hier in eine Schule genommen, die ihn von Jahr zu Jahr sichtlich erstarken ließ, nicht bloß in seiner Glaubensrichtung, sondern auch in Betreff seiner Leistung, wie für die Wissenschaft der praktischen Theologie, so für die kirchlich-amtliche Lehr- und Lebenswirksamkeit. Für seinen inwendigen, ja ich möchte sagen auch für seinen äußeren Menschen wurde Philippi’s mannhaft-charakterfeste und doch liebevolle, kaustisch-humoristische und doch warm empfindende Persönlichkeit von durchschlagendem Einfluß. Die impressionable Natur Harnack’s ward durch ihn tief innerlich bewegt und ergriffen. Zunächst gab es harte Kämpfe. Schließlich überwand ihn Philippi’s Ueberzeugungskraft. Der jugendliche College fügte sich ihm nicht etwa wie einer äußerlichen übermächtigen Gewalt. Vielmehr wurde er von ihm berührt, wie von einem starken Magnet, der die schlummernden Eisentheile im wogenden Innern des strebsamen Theologen gewaltig anzog, während das Feuer der sarkastischen Philippi’schen Kritik jenes glänzende, aber noch unklar gemischte Metall zu gesunder Läuterung schmolz, um es sodann durch Abkühlung gleichsam zu brauchbarer Festigung zu härten. So wurde H. ein „kirchlicher“ Theologe im tieferen Sinne des Wortes, d. h. nicht durch äußerliche Aneignung traditioneller Ueberlieferung, sondern durch tiefgreifendes Selbstgericht, durch schmerzliche Sündenerfahrung, durch heißerrungene Glaubensüberzeugung auf dem Grunde des göttlichen Wortes.
Dies zeigte sich schon in seiner 1845 erschienenen Schrift: „Die Grundbekenntnisse der evangelisch-lutherischen Kirche“, wo der confessionelle Standpunkt als ein selbständig erkämpfter zu Tage trat, während seine kurz vorher erschienene Magister-Dissertation („Die Idee der Predigt“ 1844) und die darauf folgende Doctorschrift („De theologica practica recte definienda et [11] adornanda“ 1847) mehr den fachmännischen Gelehrten auf dem von ihm erwählten Specialgebiete erkennen lassen. Wie rasch und wie erfolgreich sich H. in seine akademische Thätigkeit einarbeitete, bewiesen sowohl seine Katheder-, als seine Kanzelvorträge. Ich nenne absichtlich beide zusammen. In seinem Colleg verstand er es, klipp und klar, vielleicht allzusehr systematisirend und schematisirend, den Stoff mit praktisch-pastoraler Anwendung vorzuführen. Hingegen trugen die Predigten, die er (seit 1847) als Universitätspastor zu halten hatte, etwas doctrinären Charakter und ließen das homiletische Schema wohl zu sehr zu Tage treten. Als Liturg am Altare war er sozusagen in seinem Element. Die ganze Würde der Persönlichkeit, die hohe Gestalt, die ästhetische Bewegung, die klangvoll schöne Stimme, der weihevolle Gesang, – alles wirkte zusammen, um diesem Theil des Gottesdienstes erhöhte Feierlichkeit zu verleihen. Auf der Kanzel war es doch anders. Man fühlte es seiner Predigt zwar ab, daß sie aus eigenster Glaubenserfahrung herausgeboren wurde. Aber es fehlte ihr das Packende, das praktisch Durchschlagende, kurz jene frische Unmittelbarkeit, wie sie aus der lebendigen Fühlung mit der Gemeinde erwächst. Diese war eben als selbständige Universitätsgemeinde damals noch nicht begründet. Anregend und gedankenreich waren seine Kanzelreden immer; aber sie trugen doch meist Abhandlungscharakter. Daher fanden auch die im J. 1848 von ihm in Druck gegebenen „Zwölf Predigten“ keine weitere Verbreitung.
Tiefer griff H. ein in das praktische Leben der baltischen Kirche durch seine rege Antheilnahme an den Synodalverhandlungen und durch seine hervorragende Mitarbeit in den von der livländischen Provinzialsynode gewählten Ausschüssen zur Ausgestaltung der Liturgie. Ihm vor allem verdankt die evangelisch-lutherische Kirche Rußlands die 1872 erschienenen „Liturgischen Formulare“ und die aus ihnen hervorgegangene vortreffliche neue Agende, die seit dem J. 1898 in Gebrauch ist.
Insonderheit bewegten aber damals heiße innere Kämpfe die lutherische Kirche Livlands. Es handelte sich nicht bloß um Abwehr der mit allen Mitteln der Verführung auftretenden griechischen Propaganda (seit 1845), sondern auch um Klärung der innerkirchlichen Zustände. Namentlich gegenüber der wachsenden herrnhutischen „Separation“ und der sie begünstigenden unionistisch-verschwommenen Richtung mancher Pastoren that ein unumwundenes Zeugniß noth. In seiner Schrift: „Die lutherische Kirche Livlands und die herrnhutische Brüdergemeinde“ (1860) faßte H. nur zusammen, was er auf mehreren Synoden als die sectirerische Gefahr jenes „Specialbundes“ bezeichnet und gerügt hatte. Es ist und bleibt ein höchst bedeutsames Zeugniß für das gefestigte und geklärte Urtheil des Mannes, der früher selbst jener Richtung huldigte, daß er nunmehr so energisch zum Kampf gegen ihre Auswüchse mahnte und zwar mit den rein geistlichen Mitteln des Gotteswortes. „Früher“ – so bekennt er selbst – habe er Herrnhut als den „heimischen Heerd im Hause Gottes“ angesehen. Aber in Livland sei er durch Erfahrung belehrt worden, daß jenes schwarmgeistige Wesen unter der Herrschaft des „Looses“ einen heuchlerischen Pharisäismus großgezogen habe, der die Volksseele zu vergiften und zu entnerven, ja sie widerstandsunfähig zu machen drohe in dem nothwendigen Kampfe gegen die Conversionsversuche der griechischen Kirche. Denn – wie das Bengel’sche Wort als Motto jenes Buches besagt –: „Das geistliche Haus Christi wird nicht aus Schwämmen, sondern aus lebendigen Steinen gebaut“.
In jener Zeit suchte H. durch wiederholte Vorträge über „die Kirche, ihr Wesen und ihre Merkmale“ den Brüdern im Amt seinen confessionellen Standpunkt darzuthun. Die lutherische Kirche galt ihm nicht bloß als die „wahrste“, [12] sondern als die wahre Kirche; zwar nicht sofern sie sich als äußerlich umgrenzbare Confessionsgenossenschaft darstelle oder in einem „Kirchenthum“ organisire, wohl aber sofern sie als die Inhaberin des wahren, weil schriftgemäßen Bekenntnisses im Glauben und Leben sich erweise. Denn „das lauter und rein gepredigte Evangelium“ und die demgemäß „verwalteten Sacramente“ seien – nach Art. VII der Augustana – die Kennzeichen der wahren Kirche.
Diese Grundanschauung – mit Abschleifung einiger allzuscharfer Ecken und Kanten – hat H. auch in einer Reihe von Schriften zu vertheidigen gesucht, die er im Laufe der nächsten Jahre veröffentlichte. So zuerst in seinem Sendschreiben (vom J. 1855) an Jul. Müller: „Die Union und ihr neuster Vertreter“; ferner (zum Theil gegen W. Löhe gerichtet): „Die Kirche, ihr Amt und Regiment“ (1862); sodann (gemeinsam mit Harleß herausgegeben): „Die kirchliche Bedeutung der reinen Lehre von den Gnadenmitteln“; und schließlich: „Die freie lutherische Volkskirche. Der lutherischen Kirche Deutschlands zur Prüfung und Verständigung vorgelegt“ (1870). Durch all diese Arbeiten wollte H. nicht nur der Kirche seines Heimathlandes einen Dienst leisten, sondern auch nach Möglichkeit eine lebendige Fühlung zwischen der evangelischen Mutterkirche und ihrer baltischen Tochter herbeiführen. Auf größere Theilnahme von Seiten der deutschen Glaubensbrüder glaubte er berechtigten Anspruch erheben zu dürfen. Denn die lutherische Kirche der russischen Ostseeprovinzen bildet den „einzigen lebensvollen Berührungspunkt unserer evangelischen Glaubensgenossen mit dem großen osteuropäischen Reiche“. Deutsche Gesinnung und Gesittung habe sich dort auf dem Grunde lutherisch-kirchlichen Glaubens und Lebens gebildet und durch Jahrhunderte trotz aller Anfeindung erhalten.
Nun, H. selbst wurde in die Lage versetzt, diese wärmere Berührung zwischen der baltischen und deutschen evangelischen Kirche durch seine persönliche Wirksamkeit zu fördern. Daß er der im J. 1853 von Erlangen aus an ihn gelangenden Aufforderung, die durch Höfling’s Abgang erledigte Professur der praktischen Theologie zu übernehmen, nach kurzem Bedenken Folge leistete, läßt sich mit aus der Rücksicht auf seine Familienverhältnisse erklären. Schon im J. 1848 hatte er sich mit Marie, der jüngsten Tochter des in Dorpat allbeliebten Ewers’schen Hauses verlobt. Sie hatte schon als unmündiges Kind ihren prächtigen Vater verloren. An ihrer Begabung und Originalität war es zu spüren, wie heilsam die gesunde Mischung des urwüchsig-deutschen väterlichen Bauernblutes mit der schlicht vornehmen Eigenart einer Tochter aus dem baltischen Adel sich erwies. Gustav Ewers, der (1781–91) auf einem westfälischen Dorfe aufwuchs und als Knabe barfuß die Gänse seines Vaters gehütet hatte, war unter der Fürsorge des Pastors seines Geburtsortes durch Fleiß, Begabung und Ausdauer zu höherer Bildung gelangt. Nachdem er das Gymnasium absolvirt und in Göttingen die höchste akademische Würde sich errungen, folgte er einem Rufe als Hauslehrer nach Livland, wo er in der Familie des Landraths v. Richter (auf Waimel) dessen Pflegetochter Dorothea Baronesse Maydell, die er selbst Jahrelang unterrichtet hatte, so lieb gewann, daß er sie (1811) heirathete, nachdem er schon im J. 1809 als Professor der Geschichte, Statistik und Geographie Rußlands an die Dorpater Universität berufen worden war. Bei den Studenten und Collegen allbeliebt, wurde er 12mal zum Rector erwählt und errang sich durch seine litterarischen Arbeiten als erster Begründer der russischen Rechtsgeschichte einen berühmten Namen. Erst 49 Jahre alt starb er, allgemein betrauert, im J. 1830 und hinterließ seiner Wittwe einen Sohn und vier Töchter, von denen die jüngste, Marie, damals 3 Jahre alt war. Unter der liebevollen und zugleich straffen Zucht ihrer charakterfesten [13] Mutter reifte sie zu ausgeprägter Selbständigkeit heran. In ihr vereinigten sich heißer Freiheitsdurst mit pietätvollem Ernst, hohe geistige Verstandsbildung mit demüthiger Glaubensüberzeugung, die namentlich unter Philippi’s Einfluß sich zu lutherischer Festigkeit entwickelte. Trotz ihrer etwas herben und scharfen Eigenart wußte sie durch sprudelnd originellen und zugleich echt weiblichen Geist den geliebten Mann ihrer Wahl in seinem theologischen Beruf, sowie vor allem in der Erziehung der Kinder zu unterstützen.
Vier Jahre reich gesegneter Ehe verlebte H. noch mit ihr in Dorpat, zur Freude seiner Schüler und Berufsgenossen, die mit wärmster Theilnahme das stetige Reifen und die inneren Fortschritte des akademischen Lehrers verfolgten und dankbar empfanden. Nach Philippi’s Berufung an die theologische Facultät zu Rostock (1852) wurde H. das Katheder der systematischen Theologie zeitweilig übertragen. Da erwies sich seine hohe Begabung für dogmatische Geistesarbeit durch die frische und feine Art, wie er sich in dieses ihm bisher fremde Gebiet hineinzuarbeiten verstand. Gleichwohl hatte jener im J. 1853 an ihn gelangende Ruf nach Erlangen etwas Verlockendes. Dort hoffte er wieder in das ihm genehme Fahrwasser zu gelangen. Dazu kam, daß seine Gattin, trotz ihrem warm baltischen Grundgefühl, doch im Hinblick auf die Erziehung der Kinder und in Rücksicht auf die regere Geistesbewegung im deutschen Mutterlande entschieden zur Uebersiedelung rieth, so schwer ihr auch die Trennung von der innig geliebten Heimath fiel. In Erlangen begann nun für H. die zweite Periode seines beruflichen Lebens und Wirkens. Während der ersten in Dorpat hatte er in jugendlich rüstigem Eifer den Acker bestellt und den guten Samen gestreut. Dort erlebte er auch noch die beginnende Blüthezeit. Während der nun folgenden 13 Jahre akademischer Lehrthätigkeit in Deutschland (1853–66) war jene Saat mehr und mehr zur Reife gelangt. In der Schlußperiode seines Lebens (1866–89), wo er wiederum in der alten Heimath wirkte, konnte er – trotz seiner durch ernste Erkrankung seit 1872 gelähmten Kraft, die ihm neuen Acker zu brechen nicht gestattete – doch in stiller, freudiger Zuversicht und mit eisernem Fleiß die reiche Erntefrucht seiner bisherigen Arbeit einheimsen. – Tiefgreifende schmerzliche Erfahrungen wurden ihm nicht erspart. Gott hat ihn gerade in Erlangen die bitterste Anfechtung und die schwerste Kreuzesschule durchkosten lassen. Zuerst litt er sowohl, als namentlich seine Frau – die mit allen Fasern ihres Wesens in der baltischen Heimath und Kirche wurzelte – schwer unter dem Heimweh. Es wurde ihnen nicht leicht, in die Erlanger Verkehrsweise sich zu finden. Obwohl intimere Beziehungen zu manchen Häusern – so namentlich dem Thomasius’schen – sich anknüpften; obwohl die Studenten Harnack’s glänzenden Vortrag gern hörten und manch treuer Schüler ihm persönlich nahetrat; obwohl er das volle Vertrauen der Collegen genoß, die ihn zum Prorector erwählten, wollte es ihm nicht gelingen, in dem neuen Wirkungskreis sich ganz heimisch zu fühlen. Dazu kam der schwere Schlag, der ihn zu zermalmen drohte: sein innig geliebtes Weib, das ihm vier Söhne und eine Tochter geboren hatte, starb über der Geburt des jüngsten Sohnes (im J. 1857).
In dieser Zeit seines Wittwerstandes widmete er sich der Erziehung seiner verwaisten unmündigen Kinder, und versenkte sich tief in litterärische Arbeit. Besonders gereichte ihm zum Trost und zur Glaubensstärkung die Versenkung in Luther’s Werke, zu der ihn seine selige Frau mit eindringender Wärme wiederholt gedrängt hatte. Noch während ihrer Lebzeiten hatte er seine zur Jubelfeier der Dorpater Universität (1852) verfaßte Schrift: „Darstellung des Cultus im apostolischen Zeitalter“ neu bearbeitet und als selbständiges Buch herausgegeben unter dem Titel: „Der christliche Gemeindegottesdienst im [14] apostolischen und altkatholischen Zeitalter“ (mit besonderer Berücksichtigung der sogenannten Arkan-Disciplin 1854). Zwei Jahre darauf erschien eine textkritische Untersuchung: „Der kleine Katechismus Luthers in seiner Urgestalt“ (1856). Außerdem veröffentlichte er vom J. 1860 ab jene oben schon genannten Schriften über die „Kirche“. Im J. 1862 vollendete er den ersten Band seines groß angelegten Werkes: „Luther’s Theologie, mit besonderer Beziehung auf seine Erlösungs- und Versöhnungslehre“, ein Buch, das er „mit seinem Herzblut geschrieben“. Daß es in jener Zeit, wo die großen Köstlin’schen Werke über Luther erschienen, nicht allgemeinere Beachtung fand, lag wohl mit daran, daß die vorwaltend systematisirende Behandlungsweise des großen Stoffes der historisirenden Zeitrichtung nicht entsprach.
Nach siebenjährigem Wittwerstande schloß H. (im J. 1864) eine zweite Ehe, abermals mit einer Tochter der baltischen Lande: Helene Baronesse Maydell. Auch sie war, obwohl aus Estland stammend, in Dorpat unter Philippi’s Einfluß zu gesund lutherischer Gesinnung herangereift. Sie wurde ihm eine treue und traute Genossin seiner Leiden und Freuden, eine ebenso ernste als begeisterte Beratherin in seiner Berufsthätigkeit, wie namentlich in der Erziehung seiner noch unmündigen fünf Kinder.
Im J. 1866 war die Dorpater Professur der praktischen Theologie durch Erhebung A. Christiani’s zum livländischen Generalsuperintendenten vacant geworden. So schwer ihm das Scheiden aus Deutschland wurde, glaubte er doch dem an ihn gelangenden Ruf in einer Zeit schwerer Anfechtung der livländischen Landeskirche folgen zu müssen. Hier entfaltete er bis zum J. 1872 insonderheit auf liturgischem Gebiete seine oben erwähnte litterarische Thätigkeit. In seinem Hause hatte er während jener 9 Jahre der Dorpater Berufswirksamkeit große Freude an der Entwicklung seiner Kinder. Streng und liebevoll wußten die Eltern jedes einzeln nach dessen Eigenart zu fassen und durch das Beispiel steter Selbstzucht zur Selbständigkeit und Pflichttreue anzuregen. Insonderheit den Söhnen gegenüber folgte der Vater dem ausgesprochenen Grundsatz: „sie müssen eine Macht über sich fühlen, um zu Männern heranzureifen“. Zwar blieb auch jetzt in dem so reich sich entfaltenden häuslichen Leben der heiße Schmerz den Eltern nicht erspart. Die einzige Tochter (Anna) wurde ihnen in ihrer vollsten Jugendblüthe nach kurzer schwerer Krankheitsnoth genommen. Die hochbegabten Söhne aber entwickelten sich in baltischer Luft als Jünger der damals noch blühenden alma mater Dorpatensis und als hervorragende Glieder der Corporation Livonia zu tüchtigen Männern, die bald – ein jeder in seiner Art – anerkannte Stellungen sich errangen. Es dürfte wohl selten vorkommen, daß aus einem Hause die vier einzigen Söhne nicht bloß in den vier Facultäten es zu der höchsten akademischen Würde brachten, sondern auch durch litterarische Fruchtbarkeit und erfolgreiche Lehrthätigkeit sich auf deutschen Hochschulen bewährten.
Zu des Vaters siebzigstem Geburtstag (22. December a. St. 1886) überreichten ihm diese vier Söhne eine Denkschrift, in der ein jeder von ihnen aus dem Gebiete seiner wissenschaftlichen Specialforschung einen Beitrag geliefert hatte. Dies war für den hinsiechenden, aber doch noch geistig regsamen Greis eine wehmüthig-herzliche Freude. Denn damals war seine Vollkraft bereits gebrochen. Im J. 1872 hatte ihn ein Schlaganfall getroffen. Das herbe Geschick, das seinen Leib traf, war zugleich eine verklärende Gottesthat an seiner Seele. Er wurde je länger je schlichter, wenn auch die alte Vollkraft gebrochen erschien. Noch drei Jahre machte er den Versuch, den altgewohnten Stoff für seine Vorlesungen neu zu gestalten. Da er aber selbst fühlte, daß es ihm an [15] Frische und Freudigkeit gebrach, trat er als Professor emer. vom J. 1875 ab in den Ruhetand.
Aber ausruhen im Sinne eines otium cum dignitate vermochte sein immer noch arbeitender und fleißig sammelnder Geist nicht. Nach jener ersten schweren Erkrankung sprach er es selbst der sorgsam ihn pflegenden Gattin gegenüber aus: „Ja, äußerlich wird es enger, aber innerlich immer weiter, immer lichter!“ Unter der heißen Trübsal seines körperlichen Siechthums reifte nicht bloß sein inwendiger Mensch für die himmlische Ernte; sondern es ward ihm noch vergönnt, in emsigem Fleiße einzuheimsen, was er im Laufe 25jähriger akademischer Thätigkeit sich erarbeitet hatte. So erschien in den Jahren 1877/78 sein groß angelegtes System der „Praktischen Theologie“ (4 Theile in 2 Bänden), allgemein anerkannt als eine überaus gründliche Arbeit, deren nothwendig gewordene 2. Auflage leider von dem Verfasser nicht mehr zum Abschluß gebracht werden konnte. Auch seine im J. 1882 in 2 Bänden erschienene „Katechetik“ nebst „Erklärung des lutherischen Katechismus fand – namentlich bei den Pastoren der Ostseeprovinzen – eine freundliche Aufnahme. Außerdem fand er noch Zeit und Kraft, um für das Zöckler’sche Handbuch der theologischen Wissenschaften (3. Aufl.) die „Liturgik, Pastorallehre und Kybernetik“ zu bearbeiten. Ja, selbst an den Tageskämpfen in unseren baltischen Kreisen nahm er so lebhaften Antheil, daß er bei dem seit 1884 entfachten Streit über die „Irrthumsfreiheit der Bibel“ ein „Wort zum Frieden“ zu sagen und Oel auf die hochgehenden Wogen zu gießen wußte durch seine 1885 erschienene Schrift „Ueber den Kanon und die Inspiration“. Und wie ein abschließendes Testamentswort klang es, als er das Jahr darauf (1886) in dem ausführlichen Vorwort zum 2. Bande seiner „Theologie Luthers“ den jungen Nachwuchs vor der abschüssigen Bahn der Ritschl’schen Theologie warnte. Zunächst erkennt er das große, bleibende Verdienst dieses charaktervollen Forschers an, theils in dessen erfolgreicher Bekämpfung der Baur’schen Schule, theils in seiner Abwehr aller todten Orthodoxie und jener gefahrdrohenden Verquickung philosophischer Metaphysik mit der Theologie. Da hatte Ritschl geradezu reinigend und klärend gewirkt. Aber gleichzeitig warnte H. vor der drohenden Vermischung eines kantisch angehauchten „Moralismus“ und „Kriticismus“ mit den Elementen eines „modernen“ Christenthums, das sich – bei einseitiger Betonung der Bergpredigt und der Reich-Gottes-Idee – durch Hintansetzung der theologischen und christologischen Centraldogmen kennzeichne. So laufe man Gefahr, den „wesentlichen Ertrag der Reformation zu verlieren“ und „den Felsengrund des evangelischen Glaubens anzutasten“.
Lediglich auf diesem unerschütterlichen Fels der Erlösung und Versöhnung durch den menschgewordenen Gottessohn wolle er – so schließt H. jene Einleitung – sein Haus gebaut haben, nicht auf den Triebsand der Tagesmeinung, die mit ihrer sogenannten „inneren“ Kritik das wahre Christenthum aus der Welt hinauskritisire und an dessen Stelle ein selbstgemachtes setze. Dagegen sei vor allem die ernsthafte „Selbstkritik“ am Platze, jene „Kritik des Gewissens“, die zu vertiefter „Erkenntniß des Grundwesens der Sünde“ führe. Da müsse Luther mit seinem ernsten „Trutzruf“ wieder auf den Leuchter gestellt und seine Warnung vor jenen „wilden Wegen“ beachtet werden, auf denen wir „Christum, den tröstlichen Heiland, verlieren“.
So herb und scharf diese Worte klingen mögen, – sie sind doch versöhnlich gemeint und aus tiefster Ueberzeugung eines gereiften Gottesmannes heraus geboren. Gerade in der letzten Leidenszeit war der treue Arbeiter zu friedliebender Schlichtheit und demuthsvoller Selbstbescheidung gelangt, dies beweisen nicht bloß die letzten Jahre des collegialen und freundschaftlichen [16] Verkehrs, sondern auch die häuslich concentrirte Art seines Wirkens, sowie seine geradezu rührend kindliche Ergebung in die Leidenswege, die Gott ihn führte. Ein Jahr vor seinem Tode kam noch die erschütternde Nachricht von dem Heimgange seines heißgeliebten Sohnes Axel, der im rüstigsten Mannesalter – fast im Beginn seiner reichgesegneten Thätigkeit an der polytechnischen Hochschule in Dresden – einem tuberculosen Leiden erlag. Dieser Schlag traf den greisen Vater mitten ins Herz, vermochte aber nicht, ihn in seinem festen Glauben an Gottes erbarmende Liebe irre zu machen. Die fast gleichzeitig eintreffende Kunde von der ehrenvollen Berufung des älteren Zwillingsbruders Adolf an die Berliner Hochburg der Wissenschaft war nicht im Stande, jenen Schmerz zu stillen, erfüllte vielmehr den besonnen urtheilenden Vaters mit ernster Sorge. Hatte doch der streng kirchlich gesinnte Mann die zur modernen Theologie hinneigende Richtung des berühmt gewordenen Sohnes mit innerster Theilnahme begleitet, ohne je Pression auf ihn zu üben. Denn er lebte und starb der Ueberzeugung, daß Gott einen jeden Christenmenschen und so auch jeden wahren Theologen seine besonderen Wege führe, um ihn zu vertiefter Sündenerkenntniß und persönlichem Heilsglauben, ja zu wahrer Sterbensfreudigkeit gelangen zu lassen. Es dauerte auch nicht mehr lange, bis dem geprüften und gereiften Jünger des Herrn ein seliges Sterbestündlein vergönnt ward. Am 13./25. September[1] 1889, in noch nicht vollendetem 73. Lebensjahre verschied er still und friedlich in den Armen seiner Gattin, die ihm mit selbstloser Aufopferung während der langen Zeit seines Siechthums zur Seite gestanden.
„Der Tod dieses greisen Pilgers“ – so heißt es in dem Nachruf eines seiner nächsten Freunde – „war so sanft, als ob ihm die Seele weggeküßt würde“, ein schöner Tod nach langer und banger Lebensmühsal! Auch er hat es erfahren müssen, was im 90. Psalm zu lesen ist, daß selbst das „Köstliche“ d. h. das Scheinende und Prangende unserer irdischen Wallfahrt: der Glanz und die Ehre, das Ansehen und der Ruhm unter den Menschen eitel „Mühsal und Nichtigkeit“ sind. Aber Gott der Herr wandelte ihm das Mühselige in Seliges, das glanzvoll Eitle in eitel Gold der Wahrheit und Gnade. Im Feuer der Anfechtung wurden die Schlacken seiner menschlich-natürlichen Eigenart weggeläutert und der Silberblick seiner christlich-geheiligten Persönlichkeit trat immer heller zu Tage. Unter den Hammerschlägen göttlicher Schickungen „zum Manne geschmiedet“, hat er sich als ein echter und rechter Gotteskämpfer bewährt. Und wenn ihm auch über dem Ringen „das Gelenk seiner Hüfte gerührt“ ward und er schließlich „hinkend“ aus dem Kampfe hervorging, – ihm brach doch die Morgenröthe an mitten im Dunkel der Nacht. Er wußte sich von Gott gesegnet und wurde eben dadurch vielen zum Segen.“
[Zusätze und Berichtigungen]
- ↑ Harnack, Theodos. L 16 Z. 20 v. o. l.: 11./23. (statt 13./25.) September. [Bd. 56, S. 397]