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ADB:Lambert, Johann Heinrich

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Artikel „Lambert, Johann Heinrich“ von Ernst Laas in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 17 (1883), S. 552–556, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lambert,_Johann_Heinrich&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 18:06 Uhr UTC)
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Lambert: Johann Heinrich L., berühmter Mathematiker, Astronom, Physiker und Philosoph, geb. am 26. August 1728 in Mülhausen im Ober-Elsaß; † als Mitglied der Berliner Akademie und „Oberbaurath“ am 25. Sept. 1777. Seine Vaterstadt war 1728 schweizerisch; sein Großvater war aus der Pfalz eingewandert. Das Französische lernte er auf der Schule und im späteren Leben; als er es für die Mémoires der Akademie schreiben mußte, enthielt es noch so viele, für einen des Deutschen Unkundigen sogar zum Theil unverständliche „tournures étrangères“, daß ein späterer Herausgeber eines dieser Aufsätze (sur la resistance des fluides, Paris 1846, p. VI) sich zur sprachlichen Nachhilfe veranlaßt sah. Freilich ist auch sein Deutsch voll rauher Idiotismen. – Sein Vater war Schneider (Protestant), die Familie zahlreich, das Leben im Hause dürftig. Schon mit 12 Jahren mußte der Knabe die Stadtschule verlassen, um seinem Vater im Handwerk zu helfen. Seine schöne Handschrift und autodidaktische Unermüdlichkeit brachten ihn weiter. Er wird Hilfsschreiber auf der Stadtkanzlei; 15 Jahre alt kommt er ins Bureau eines Eisenwerkes zu Sept (Seppois) bei Mömpelgard, 17 Jahre alt als Schreiber zu Prof. Joh. Rud. Iselin nach Basel; von hier als Hauslehrer zum Reichsgrafen Peter von Salis zu Chur. Er hatte einen Enkel desselben (Anton), dessen Vetter (Baptista) – beide geb. 1737 – und einen weiteren etwas jüngeren Verwandten (Joh. Ulr. v. Salis Seewis, Vater des Dichters) zu unterrichten. Der Aufenthalt dauerte hier vom 17. Juli 1748 bis zum 1. Octbr. 1750 und war neben dem Lehren dem rührigsten Lernen gewidmet. Zugleich wurden einige seiner wichtigsten späteren Publicationen vorbereitet. Vom Studiren zum Produciren war für diesen regsamen und fruchtbaren Geist nur ein Schritt.

Der Ausgangspunkt seiner wissenschaftlichen Neigungen war die Geometrie; Mag. Pfaff auf der Mülhausener Schule hatte den Keim gelegt. L. bevorzugte sie Zeit seines Lebens vor der Analysis. Seine nächtlichen Studien führten ihn früh dem gestirnten Himmel und der Astronomie zu. Schon als Schreiber zu Sept versuchte er den Lauf des 1744 erschienenen Kometen zu berechnen. Um ihm beizukommen, untersuchte er die Eigenschaften der Parabel und fand auf geometrischem Wege das berühmte Theorem, das noch heute seinen Namen trägt, daß in einer parabolischen Bahn die Zeit, in der ein Bogen durchlaufen wird, allein von der Sehne desselben und von der Summe der radii vectores nach ihren Endpunkten abhängig ist. (Vgl. Insigniores orbitae cometarum proprietates 1761.) Lagrange, der das Theorem mit Hülfe der Analysis herzuleiten versuchte, gestand, daß die geometrische Betrachtung hier den Vorzug verdiene. In der Physik interessirten ihn vorzüglich die Erscheinungen der Wärme, des Lichts und der Farben. Auch beschäftigten ihn in Chur Jahre lang barometrische, hygrometrische und manometrische Bestimmungen. Die Noth gewöhnte ihn, in seinen naturwissenschaftlichen Forschungen mit den dürftigsten äußeren Mitteln auszukommen. Noch 1769 legte er der Akademie eine Kometenberechnung vor, angestellt à la simple vue et en ne se servant que des cartes célestes et de la montre (Mém., Ann. 1770, p. 45). Die nöthigen Instrumente verfertigte er sich größtentheils selbst. Einige Glasplatten, kleine Spiegelchen, 2 oder 3 Linsengläser und ein Glasprisma machten fast den ganzen Apparat aus, auf den er seine Photometrie (erschien 1761) gründete. Die Unvollkommenheit seiner Instrumente suchte er durch methodische Kunstgriffe unschädlich zu machen und ihre Fehler durch mathematische Speculationen zu eliminiren. In der Vorrede zu den cosmologischen Briefen (1761) bemerkt er (S. VI), daß er seit vielen Jahren sich damit beschäftigt habe, sowohl von seinen eigenen als anderer ihren Erfindungen nicht leicht eine vorbei zu lassen, da er nicht gesucht hätte, die Kunstgriffe und Regeln, so dabei vorkommen, zu abstrahiren und sich eine Sammlung davon [553] zu machen. In diesem seinem logischen (und methodologischen) Interesse las er Wolff’s Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und Locke’s Versuch über den Verstand. Die geringfügigsten Anlässe regten ihn zu wissenschaftlichen Einfällen, Reflexionen und Erfindungen an. Das[WS 1] in den cosmologischen Briefen ausgestaltete Aperçü, daß das Fixsterngebäude nicht sphärisch, sondern flach und sehr stark abgeplattet sei und daß die Milchstraße aus Fixsternsystemen bestehe (Br. XII), kam ihm 1749 bei einem Blick durch das Fenster auf den Himmel. Eine algebraische Aufgabe, in der einer seiner Schüler einen nicht sofort durchsichtigen Fehler gemacht hatte, ward ihm Veranlassung, eine Maschine zur Erleichterung der perspektivischen Zeichnung zu erfinden (vgl. seine Schriften über die freie Perspective 1759, und über den Proportionscirkel 1768). In Chur veröffentlichte er seine erste schriftstellerische Leistung, indem er 1755 als Mitglied der phys.-math. Gesellschaft zu Basel in deren Verhandlungen (Acta Helvetica II, 172 ff.) sein Tentamen de vi caloris (als Vorläufer seiner Pyrometrie) drucken ließ.

Das Glück wollte, daß er noch einige Jahre der ruhigen Erwerbung von Kenntnissen und Vorbereitung von Publicationen widmen konnte. October 1756 begleitete er seine Zöglinge Anton und Baptista zum juridischen Studium nach Göttingen. Ob die Beschreibung des „Purpurregens“ (Gött. Anzeigen 1756, S. 44), die Kant in seinem Aufsatze über das Erdbeben von 1755 benutzt, von L. herrührt? Auf Titeln späterer Schriften ist er als reg. soc. sc. Goetting. commercio literario adjunctus bezeichnet. Als Hannover nach der Schlacht von Hastenbeck in die Hände der Franzosen gefallen war, begab sich L. mit den jungen Salis nach Utrecht. In Leyden sah er den Newtonianer Muschenbroek. Er selbst stand in der Kosmologie auch auf Newton’s Seite; die Gesetze des Lichts suchte er indessen unabhängig von Theorien überhaupt zu halten. Im Haag ließ er seine Monographie: „Les propriétés remarquables de la route de la lumière par les airs etc.“ (116 p.) erscheinen. Die Brechungskraft der Luft wird u. A. dazu benutzt, die beobachteten mit den Barometer-Höhen der Berge in Einklang zu bringen. Die in der Einleitung (p. 4 f.) gegebene Ankündigung der Photometrie war das praktische Hauptmotiv der Veröffentlichung. Il m’emporte, schreibt er an Albr. v. Haller, de faire voir l’étendue des sujets que j’y traiterai. In demselben Jahre erschienen drei lateinische Aufsätze in den Acta Helv. zur Statik, math. Analysis und Meteorologie gehörig. Von Utrecht ging’s nach Paris, Marseille, Nizza, Turin, Mailand, zurück nach Chur, wo man 1758 mit „Honig der Weisheit beladen“ anlangte. Aller Verkehr mit der Welt hatte nicht vermocht, dem Gelehrten gewisse linkische und abschreckende Sonderbarkeiten abzustreifen. Als er Mai 1759 auf der Reise in seine Heimath (Joh. Geßner’s wegen) in Zürich sich aufhielt, liefen ihm die Buben auf der Straße nach.

Schon von Paris aus hatte er den Versuch gemacht, durch Haller eine Professur in Göttingen zu erhalten, was nicht gelang. Er mußte sehen, wie er anderweit das höchste Bedürfniß seines Lebens, Muße für wissenschaftliche Forschungen zu haben, befriedigen mochte. Von Mülhausen begab er sich nach Augsburg, wo er mit dem gelehrten Mechaniker Brander in freundschaftliche Verbindung trat und 3 seiner Cardinalwerke (die „Photometria“, die „Insigniores orbitae cometarum proprietates“ und die „Cosmologischen Briefe“) drucken ließ. Schon vorher war er in die am 28. März 1759 gegründete baierische Akademie (mit 800 Gulden Gehalt) aufgenommen worden; der 1. Band der Abhandlungen der Akademie (1763) enthält 2 Beiträge von ihm. Das Verhältniß löste sich bald wieder, da er nicht der Vorschrift gemäß in dem katholischen München seßhaft werden wollte. Den Winter 1761/62 brachte er in Zürich zu; vom Sommer [554] 1762 bis Herbst 1763 war er wieder in Chur. Eine Ueberschwemmung der Douane in Wallenstadt verdarb ihm (Juni 1762) seine Manuscripte und Bücher, wie es „drei bis vier Jahrhunderte“ nicht vermocht hätten. Er benutzte das Mißgeschick zu interessanten Reflexionen über Tinte und Papier (die in den Mém. der Berl. Akad., Ann. 1770, S. 58 ff. zu lesen sind). Ende des Jahres 1763 und Anfang 1764 finden wir ihn in Leipzig, wo er sein „Neues Organon“, 2 Bde., eine Verbindung von formaler Logik (mit Einschluß und besonderer Betonung der Wahrscheinlichkeitslehre [4. Theil, 5. Hauptstück; Bd. II, S. 318 ff.]), Methodologie, Sprachkritik und Erkenntnißtheorie drucken ließ. Er beabsichtigte praktikable Regeln für Meditation und Erfindung an die Stelle traditioneller Scholastik zu setzen. Ueberzeugt, daß die Vervollkommnung der Metaphysik von der Logik abhänge, suchte er den Weg zu einer Locke’s und Euklid’s Methoden verbindenden, Wolf überholenden Ontologie zu ebnen. Sehr instructiv für seine Denkart ist das 9. Hauptstück des 1. Theiles, wo er der „historischen“ Erkenntniß die „wissenschaftliche“ überordnet: letztere gründe sich „auf die Abhänglichkeit einer Erkenntniß von der andern; man reicht dadurch über den Gesichtskreis der Sinne hinaus; auf diese Art blieb Newton in seinem Zimmer und bestimmte aus einigen ihm bekannten Wahrheiten die Figur der Erde, die mechanischen Gesetze der himmlischen Bewegungen etc.“ In der Absicht nach Petersburg zu gehen, um dort eine seinem wissenschaftlichen Bedürfniß entsprechende Stellung zu suchen, kam er Februar 1764 nach Berlin. An der Akademie dominirte die schweizer Schule (Euler, Joh. Bernoulli, Prémontval, Sulzer u. A.): in der Physik Newtonianer, in der Philosophie antiwolfische Eklektiker. Sie wünschten den hochgelehrten Landsmann und Gesinnungsgenossen bei sich zu behalten, was trotz des üblen Eindrucks, den seine Persönlichkeit auf den König machte, den unablässigen Bemühungen Sulzer’s endlich auch gelang. Er wurde Mitglied der physikalischen Classe mit 500 Thlrn., später auch Mitglied der ökonomischen Commission der Akademie und „Oberbaurath“ mit 1100 Thlrn. Gehalt. Bei seiner Einführung (24. Januar 1765) hielt er einen für seine Geistesrichtung höchst bezeichnenden Discours: Sur la liaison des connaissances, qui sont l’objet de chacune des quatre classes de l’académie (Mém. Ann. 1765). Er war der einzige Akademiker der von dem Rechte, Arbeiten in jeder Classe zu lesen, ausgedehnten Gebrauch machte. Nur in der Classe des belles lettres finden sich keine Abhandlungen von ihm. Für die Spiele des Witzes hatte er weder Neigung noch Achtung noch Talent.

Im Ganzen hat er in den 12½ Jahren bis zu seinem Tode 52 Abhandlungen für die Memoiren gearbeitet. Bedenkt man, daß er daneben etwa eben so viele für die von ihm angeregten seit 1774 (auf 1776 ff.) erscheinenden Ephemeriden Elert Bode’s, 12 für das von J. Bernoulli und C. F. Hindenburg herausgegebene Magazin und das von Hindenburg allein herausgegebene Archiv der reinen und angewandten Mathematik, ferner Aufsätze für die Acta Helv. und die Nova Acta erud. Lips., außerdem Nachrichten und Recensionen (unter den Zeichen E. G. [Bd. VII–XII], Sh. A. [XIII–XVIII], Sw. D. [XIX bis XXXVI]) für die Allg. Bibl. verfaßte, so begreift man kaum, wie ihm noch für größere Werke Zeit blieb, zumal da er einen regen und ausgedehnten Briefwechsel (mit Brander, Dan. Bernoulli, Holland u. A.) unterhielt. Und doch machte er als Akademiker noch 10 zum Theil aus mehr als einem Bande bestehende selbständige Werke druckfertig. Die Vorbereitung derselben reicht zum Theil in die Churer Zeit zurück. Die bemerkenswerthesten sind außer der schon erwähnten über den Proportionszirkel folgende: 1) „Beiträge zum Gebrauche der Mathematik und deren Anwendung“ (3 Bde., 1765, 1770, 1772, gegen 1900 S. 8°), eins der sprechendsten Zeugnisse seines Strebens, einmal die [555] Mathematik praktisch zu machen und dann soviel Erkenntniß als möglich auf synthetischem, demonstrativem Wege zu gewinnen (vgl. vorzüglich II, 363 ff.: Gedanken über die Grundlehren des Gleichgewichts und der Bewegung). Doch war er, wie Leibnitz, der Ansicht, daß „das was im eigentlichsten Verstande a priori seyn soll, nur Möglichkeiten enthalten kann“ (a. a. O. Vorrede, a 4). 2) „Anlage zur Architektonik oder Theorie des Einfachen und Ersten in der philos. und mathem. Erkenntniß“ (2 Bde., 1771, c. 950 S. 8°): in seinen 3 ersten Theilen die Grundlage der im Organon vorbereiteten Ontologie; der 4. Theil ist eine Philosophie der Mathematik. 3) „Beschreibung einer mit dem Calauschen Wachse ausgemalten Farbenpyramide, wo die Mischung jeder Farben aus Weiß und drey Grundfarben angeordnet, dargelegt und derselben Berechnung und vielfacher Gebrauch gewiesen wird“ (4°, 1772), eine Fortbildung der Arbeiten Lionardo da Vinci’s und Tobias Mayer’s. L. benutzte als Grundfarben: Carmin, Berliner Blau und Gummigutti, dem Hofmaler Calau verdankte er ein Wachs, das mit den Farben zugleich im Wasser aufgelöst dieselben auch nach der Auftrocknung frisch erhielt. 4) die „Sammlung astronomischer Tafeln“ (1776, 3 voll. 8°, nach Lalande (Bibliogr. astronomique) la plus étendue et la plus complète qu’on ait publiée jusqu’ici). Im letzten Lebensjahre legte er die Pyrometrie druckfertig. Er hatte seit 1756 wenig daran gearbeitet. Jetzt schloß sich seine letzte Schrift an seine erste an. Nach dem von ihm hinterlassenen monatlichen Register begann er die Ausarbeitung am 4. März 1777 und beendigte sie am 16. Mai. Die Veröffentlichung erlebte er nicht mehr; sie erschien mit einer Vorrede des Mathematikers Karsten und einer Abhandlung des Wolfianers Eberhard über Lambert’s Verdienste um die theoretische Philosophie (1779, 4°).

Die anhaltenden Geistesarbeiten untergruben seine von Haus aus nicht starke Gesundheit. Mißachtung der Krankheitsanfänge und schrullenhafte Selbsttherapie verfrühten sein Ende noch mehr. Er hoffte bis zuletzt. Nach seiner Rechnung hatte er 8000 kleine Abscesse in den Lungen auszuhusten, um demnächst noch 15 Jahre zu leben. Mehr todt als lebend wohnte er noch am 18. September einer Sitzung der Akademie bei. Am 25. Septbr. unterhielt er sich über physische Gegenstände, aß wie gewöhnlich und mit Lust etwas Leichtes zur Nacht und starb bald darauf. Sein Nachlaß kam an Joh. Bernoulli, der daraus u. A. seinen deutschen gelehrten Briefwechsel (5 Bde., 1781 ff.) veröffentlichte. L. war gleichgültig gegen Alles, was das Leben sinnlich schön, reizend und behaglich macht. Sein Kopf arbeitete unbehelligt durch feinere Kulturbedürfnisse oder gar Leidenschaften wie eine schwer zum Stehen zu bringende Maschine. Das romantische Schwärmen für das unbewußte Weben des Geistes lag weit von ihm entfernt. Seine Gefühlsweise war dabei kindlich, harmlos und naturwüchsig. Fromm gewöhnt, fiel er in Berlin anfänglich durch fleißiges Kirchengehen und eigenthümlich andächtige Haltung beim Gottesdienste auf. Allmählich accommodirte er sich.

Er stand in der Mathematik, wie er selbst einräumte, nicht auf der Höhe von Euler und Lagrange; in der Astronomie war er kein Herschel, in der Physik kein Newton; in der Philosophie gebrach es ihm an Leibnizens Fülle und Beweglichkeit und an Kant’s bohrendem Tiefsinn. Aber daß er alle vier Disciplinen mit grundlegenden und fortbildungsfähigen Arbeiten befruchtete, macht ihn doch den größten ähnlich. Er hat vor Kant und Leibniz sogar den Vorzug, daß man weniger als bei diesen nöthig hat, Gewebe wieder aufzutrennen. Er hatte wissenschaftlicher Seits vielleicht nur den einen Fehler, die Grenze nicht immer zu merken, wo das Bedeutende und Fruchtbare in das Unbedeutende, wol gar Futile übergeht.

[556] Seit dem Aufkommen der Kantphilologie ist es Manier geworden, L. als Vorläufer Kant’s aufs Korn zu nehmen. Aber der Berliner Akademiker ist von Kant’s transcendentalphilosophischen Unternehmungen himmelweit entfernt. Er stand auf dem Boden der Newton-Locke’schen Voraussetzung einer an sich realen, materiellen Raumzeitwelt, die er aus den Phänomenen etwa wie der Astronom die wirklichen Bewegungen der Himmelskörper herauszudeuten suchte. Die von ihm geplante Reform der Metaphysik, welche ihn mit Kant in Correspondenz brachte (vgl. Kant’s W., Rosenkr. I, 345 ff.), war nichts als ein Versuch, die Euklidische Methode für die Ontologie fruchtbar zu machen, ohne in dieser nach den folgenden Theilen der Metaphysik „hinzuschielen“ (a. a. O. S. 367). Die Kantische Lehre von der Idealität der Zeit vermochte er sich nicht zurechtzulegen. Von dem berühmten „Resultat der transcendentalen Analytik“ (W. W. II, 204 f.), das den Grundgedanken der Architektonik rundweg verurtheilt, würde er nicht haben erbaut sein können. Den „sinnreichen“ Satz, „daß beständiger Schein für uns Wahrheit ist“, behandelt Kant auf das geringschätzigste (Proll. a. a. O. III, 156) etc. In der Kosmologie finden sich allerdings merkwürdige Coincidenzen; doch gab L. keine Kosmogonie wie Kant. Scheint ihm auch die Bewegung aller Planeten, sowie ihrer Trabanten in Einer Fläche und Richtung noch einen andern Grund zu fordern als den der (pythagoräisch-keplerschen) Harmonie, so kommt er doch, teleologisch befangen, auf die genialen Gedanken eines Kant und Laplace nicht. In der Logik und Erkenntnißlehre ist er mehr Anhänger Locke’s als Wolf’s. Doch zeigen vor allen seine Bemühungen um eine wissenschaftliche Zeichensprache, um den „logischen Calcül“ (vgl. Neues Organon, 3. Theil: Semiotik und die Aufsätze in den Acta erud. 1765, 1767, 1768) und um eine „Agathometrie“ (N. Org., Alethiologie § 107 ff., Archit. I, 81) sehr deutlich den Einfluß Leibnizens. Aehnlich wie dieser lebte er des Wunsches und der Hoffnung, daß es durch richtige Methoden gelingen möchte, Weltweise, Gottesgelehrte, Moralisten und Staatslehrer so einig in ihren Bemühungen zu machen, wie die Mathematiker und Astronomen, um „eine allgemeine Gedenkensart und Glauben in der Welt einführen zu können“ (Vorrede zur Beschreibung einer neuen ekliptischen Tafel, 1765).

Auf Anregung des Pfarrers Gräf zu Mülhausen bildete sich, als das Centenarium seiner Geburt herannahte, ein Comité, um dem verdienten Forscher in seiner Vaterstadt ein Denkmal zu errichten. 278 Subscribenten brachten 2942 Frcs. auf. Die Beschreibung des Monuments und der Säcularfeier (27. August 1828) von Franz Chr. Joseph, ev. Pfarrer zu Mülhausen und Secretär des Lambert’schen Vereins, erschien bei Joh. Riß & Co., 8°; voran steht ein lithogr. Porträt Lambert’s, darunter ein Autograph desselben. Aus Anlaß derselben Feier gab der Basler Mathematiker Dan. Huber 1829 eine Sammlung von 3 Abhandlungen heraus: 1) sein Leben von M. Graf; 2) Sim. Erhardt (aus Heidelberg): Lambert’s Verdienste um die theoretische Philosophie; 3) Versuch über die Verdienste Lambert’s in den mathem. und phys. Wissenschaften von Huber selbst. Hinter der Graf’schen Biographie folgt ein (von Ungenauigkeiten und Druckfehlern nicht ganz freies) Verzeichniß der Schriften Lambert’s; einige Berichtigungen und Zusätze giebt D. Huber hinter seinem Aufsatze. Die math.-astron.-physik. Arbeiten sind am vollständigsten in Poggendorff’s biograph.-litterar. Hdwb. aufgezählt. Der bei Gelegenheit der Säcularfeier geäußerte Gedanke, Lambert’s Schriften nach chronologischer Ordnung wiederabzudrucken, ist bis jetzt ein frommer Wunsch geblieben.

R. Wolf, Biographien zur Kulturgesch. der Schweiz. Dritter Cyclus, 1860, S. 317–356; Joh. Lepsius, J. H. Lambert, Eine Darstellung seiner kosmologischen und philos. Leistungen, München 1881.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Daß