ADB:Stricker
Rudolf von Ems ihn heißt, ward meist von ‚stricken‘ (Sc. maere) hergeleitet und als compositor, also als angenommener oder beigelegter Gattungsbegriff für ‚Dichter‘ gedeutet, während andere die seltene orthographische Variante ‚Strîchaere‘ vorzogen und als ‚Wandersänger, fahrender Spielmann‘ auffaßten. Obzwar nun schon die ältesten Handschriften öftere Verwechslung mit tihtaere zeigen und der Geschlechtsname St. seit 1190 in Oesterreich mehrfach vorkommt, dürfte die allein übliche Benennung eine Gewerbetitulatur darstellen, wie sie damals zahlreich auftraten und wohl auch bald als ständige Familiennamen Geltung erlangten. Erklärt man da den Sinn z. B. als ‚Seiler‘ oder ‚einer der Netze stellt‘, so gewinnt man für die Frage, ob ein Vatersnamen vorliegt, nichts. Seine bürgerliche Herkunft zweifelt niemand an; sie belegen deutlich seine herben Tadelworte über die Verderbniß des Ritterstandes, der das Bürgerthum verhöhnt und die Bauern durch Drangsal zu wilder Rache reizt, ferner die Klagen über die gesunkene höfische Zucht, die Wahl der Stoffe und manche Besonderheiten in Anschauung und Ausdruck. Trotz alledem entstammten seine Bildung und sociale Auffassung der unmittelbaren Theilnahme an der [581] Glanzperiode höfischer Sitte; wo er freilich diese Schule genoß, bleibt ganz unklar. Denn so sicher ihn auch Erwähnungen verschiedener Zustände und sogar locale Anspielungen für die Zeit seiner Reife und des letzten Alters in den österreichischen Landen wohnen lassen, daß er dort geboren und aufgewachsen, geht weder aus eingestreuten sachlichen Zeugnissen noch aus sprachlichen Anklängen mit überführender Kraft hervor. Vielmehr ist es wahrscheinlich, daß des Strickers Heimath etwa am Uebergange des fränkischen Dialekts in den bairischen lag, wo oft noch gelegentliche mitteldeutsche Einflüsse hineinspielen, daß er dort seine Kindheit und Knabenjahre verbracht, als Jüngling und poetischer Debütant aber bald im bairischen Grenzgebiet (wo der Franciscaner Lamprecht von Regensburg auffallende Uebereinstimmungen mit ihm besitzt) Aufenthalt genommen und dann in Oesterreich dauernd Fuß gefaßt hat. Dafür sprechen nicht bloß der allmähliche Umschwung in der vorwaltenden Mundart, zwischen die sich auch litterarisch angeeignete Wörter drängen mögen, und der Wandel der Reimvocale, sondern auch stark bemerkliche innere Aenderungen, wie die zunehmende Abkehr vom erhabenen Stile des heroischen Epos, das Eingreifen des Humors, die satirische Stimmung und die hierbei überall mehr und mehr durchbrechende Neigung zur Einflechtung zeitgenössischer Vorgänge und realistischen Behandlungsweise. So gab man denn neuerdings die These von seiner österreichischen Nationalität, wie sie früher, weil hundertmal, wenn auch ohne positive Indicien wiederholt, unangefochten dastand, fast allerseits auf, zumal die Entstehung der Handschriften dafür keine Stütze bietet. Ein Südostdeutscher mag er allgemein genannt werden. Vermuthlich aber hat er als ein ‚Fahrender‘ wenn auch nicht als Spielmann, süddeutsche Höfe besucht und daselbst seine Fertigkeit des Singens und Sagens, unzweifelhaft ohne den Beisatz höherer Bildung, gefestigt, und ebenso zweifellos hat er sie darauf lange in Oesterreich geübt, vielleicht daselbst auch irgend einen Beruf ausgefüllt; ihn irgendwo, z. B. gerade in Wien, anzusiedeln, liegt kein Anlaß vor, daher auch nicht ‚die Wiener Meerfahrt‘ des mitteldeutschen, ebenfalls in Oesterreich lebenden ‚Freudeleeren‘ auf sein Conto zu setzen (v. d. Hagen’s Germania, V 121 ff.). Wann seine litterarischen Erzeugnisse sich bei der Oeffentlichkeit meldeten, hängt weniger im dunkeln. Die weitesten Grenzen dafür ziehen die Jahre 1210 und 1250, sodaß man etwa 1185–90 seine Geburt ansetzen könnte. Wirklich directe Beziehungen zu Zeitereignissen hat man aus mehreren Gedichten herauslesen können. Doch liefern auch die genauer localisirten keinen unverrückbaren chronologischen Anhalt, z. B. weder das über den Verfall der Dichtkunst in Oesterreich (v. d. Hagen’s Germ., II 82), da die hier gerügte Verwilderung des Geschmacks bis ins zweite Jahrzehnt zurückreicht, noch das lehrreiche „Maere von den Gäuhühnern“, wo es sich um zerfahrene Zustände handelt, die noch 1251 Ottokar’s Landfrieden erheischten. An einen bestimmten österreichischen Fürsten vermag man die Person des St. nicht anzulehnen, obzwar er den Landesherrn nebst seinen schlechten Rathgebern öfters erwähnt, ja, nach der und jener hingeworfenen Glosse, den Babenberger Hof durch Augenschein kennen gelernt haben mag. Auch daß die einst als freigebig weithin gepriesenen Herren von Oesterreich karge Spender geworden, bringt keinen neuen Punkt zur zeitlichen Festlegung, sondern höchstens einen weiteren Beweis dafür, daß der St. ein gernder war, der sich den Unterhalt auf Reisen von Fürstensitz zu Fürstensitz erwarb. Und dies zwar, trotzdem ihm die zweite Hälfte seines Daseins und fast die ganze Spanne seines Dichtens wol ‚Osterlant‘ regelmäßige Unterkunft gewährte, sicherlich durch eigene Mittheilung seiner jüngsten Schöpfungen. Wie ließe sich sonst seine spätere Auslassung darüber rechtfertigen, seine Dichtungen, kaum daß er sie ein- oder zweimal vorgetragen, gälten als veraltet, und nun gar die angeknüpfte Beschwerde über die Oberflächlichkeit der [582] Beachtung? Auch die Wende in der poetischen Tendenz, die die „Klage“ und die „Frauenehre“ vornehmlich an den Tag legen, bestätigt einmal seine wachsende Unzufriedenheit mit den österreichischen Verhältnissen, andererseits mit seiner eigenen Lage, da er trübe in die Zukunft der Poesie blickt. Das erstere Gedicht vollzieht des Stricker’s Uebertritt von dem Zweck der Unterhaltung, der ‚Kurzweil‘, zu der ernsteren Aufgabe, wider die einreißende Abnahme all der edlen Tugenden des Ritterthums, die Verlotterung des Glaubens und der Sittlichkeit zu predigen; das zweite die trotz des Unmuths über mangelnde Rücksicht erfolgte Rückkehr zum Herzensbedürfniß des Dichtens, für das ihm im Lobe des weiblichen Geschlechts ein neues ruhmwürdiges, freilich gerade ihm sich wenig schmiegendes Problem winkt. Beide fügen sich den Erfordernissen des Zeitgeistes und verrathen die Einsicht der Nothwendigkeit, fürder strengere Themata ins Auge zu fassen. Aber mit dieser Erkenntniß war es zu spät. Nicht nur waren ihm die alte Frische und Freudigkeit abhanden gekommen: auch das Alter meldete sich gemach: „was ich von der Schwäche sage, mit der die alten Leute behaftet sind, das sollt ihr umso eher glauben, als ich dabei aus eigener Erfahrung rede.“ Die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, als mit Kaiser Friedrich’s II. Tod die Pracht höfischen Lebens und Gesanges endgültig erlosch, sah St. kaum noch; wenige Jahre vorher wird er gestorben sein, welt- und schaffensmüde, aber berufen als ein Pfleger der guten alten Kunst. Als einen solchen führt ihn Rudolf von Ems auf, erstens im „Alexander“, zweitens im „Wilhelm“, rund um 1240, beidemal aber doch als einen reifen und bekannten Meister, von dem man noch manches erwarten dürfe. Andererseits erschließt man ein ungefähres Datum für die Eröffnung seiner litterarischen Laufbahn aus dem Verhältnisse seines „Daniel“ zu den verwandten Werken „Wigalois“ und Heinrich’s von dem Türlin „Krone“, die etwa auf 1210 bez. 1215 zu fixiren sind. Danach sowie aus der ziemlich festen Annahme über die Entstehung des „Karl“ gewinnt man als terminus a quo c. 1215 oder etwas früher. Dazu stimmt das Gedicht über die Geistlichen, das wohl ebenfalls um 1215 fällt.
Stricker: der St. ist die einzige überlieferte Bezeichnung eines in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunders lebenden süddeutschen Epikers, über den sonst im einzelnen keinerlei bestimmte Thatsachen berichtet werden. ‚der Strickaere‘, wie er sich selbst (stets in dritter Person) und sein wenig jüngerer ZeitgenosseEs muß vorläufig noch unentschieden bleiben, welches seiner Werke dem St. den litterarischen Pfad geebnet hat. Theils liegt vieles und zwar wesentliches noch nicht im Drucke vor, theils auch steht gründliche Untersuchung des einzelnen aus. Ein verläßliches Bild der Reihenfolge muß auf den Ergebnissen fußen, die man erhält, wenn man, auf der Basis ausreichender Handschriftenkenntniß, Sprachform, Ausdruck, Stil, Metrik sorgfältig abwägt. Jedoch täuscht auch hier nicht bloß der anfängliche Eindruck, sondern auch selbst wirklicher Vergleich mit Danebenliegendem. So setzte man bisher fast allgemein „Daniel von Blumental“ als erste Frucht an, die gleichsam als Jugendsünde zu betrachten sei. Die unleugbare Milde im Versbau und in der stofflichen Technik nahm man als mehr als studirende Unbeholfenheit: als die schwankenden Ansätze des Dilettanten. Allerdings bedeutet dieses Werk keinen Gipfel der schier endlosen deutschen Artusromanlitteratur, nicht einmal in deren zweiter, unabhängiger gehaltenen Periode. Aber der Anspruch auf eigene Erfindung, den er selbst ablehnt, indem er, darin doch wol dem damaligen Brauche huldigend, als Strohmann den Alberich von Besançon, die Quelle zum „Alexander“ des Pfaffen Lamprecht, und noch dazu mit dessen Worten, vorschiebt, kommt ihm zu, zum wenigsten insofern, als er eine Unmasse ererbter Ingredienzien unter dem Streben nach kunstvoller Einheit zu verschmelzen suchte. Als Vorbilder dienten ihm allerhand deutsche Epen vom „Alexander“ bis zum „Wigalois“, als directe stoffliche Unterlagen die im wesentlichen auf mündlichem Wege zu ihm gelangten nordfranzösisch-bretonischen Sagenbearbeitungen, wenn auch gewiß keine als rechtes Reservoir, sodann verschiedene Requisiten und Episoden der deutschen Heldensage, der classischen Mythen und der [583] wandernden Märchenromantik: Meerungeheuer, Vampyre, Riesen und Zwerge, Zauberschwerter, Polyphem, Salomolegende u. s. w. Schon die Zuflucht zu diesen Schmuckmitteln zeigte, daß der St. auf seine Fähigkeit zur Anlage eines stilgerechten Artusromans selbst wenig vertraute. Er konnte jedenfalls ebenso wenig französisch – ob er deswegen allegorische Namen häufte, statt unrichtig erfundene zu riskiren? –, wie ihm die Eigenthümlichkeit der Ideenwelt, in der die Artusfabeln fußen, geläufig war. Daher watet man bei ihm auch nicht in schier endlosen Liebesabenteuern; vielmehr erschollen in bunten Variationen der Kampfschilderung die Hiebe des volksthümlich personificirten Heldenschwertes. Dagegen bestätigt „Daniel“ seinen ausgedehnten Verkehr mit gleichzeitigen Dichtgenossen und den Leistungen der älteren Classiker. Hartmann von Aue und Wirnt von Grafenberg liehen ihm auch im einzelnen mancherlei. Gerade hier ließen sich bei genauer Parallelisirung Blicke thun, die für die Einsicht in die Entwicklung des höfischen Stils äußerst wichtig wären.
Ob der „Karl“ älter oder jünger ist als der „Daniel“ – neuerdings entscheiden sich die meisten, im vollen Gegensatz gegen die herrschende Ansicht, für Priorität – hat deshalb nicht viel auf sich, weil es sich doch bloß um wenige Jahre dreht. Die Methode im Umguß einer und derselben Stelle des deutschen Rolandsliedes in beiden Gedichten fällt für des „Karl“ Erstgeburt in die Wagschale. Auch hier bemessen wir den ästhetischen Werth nicht eben hoch; ja vielmehr scheint nur die berichtigte Neuherausgabe eines hervorragenden Originals des Stricker’s geringe Begabung für die Manier des großen Epos zu verdecken. Aufmerksamkeit gebührt dieser Arbeit, die sichtlich einem Verlangen der Zeit Rechnung trug, aus litterarhistorischen Gründen. Diese Erneuerung von des Pfaffen Konrad Rolandslied spiegelt sowol in den Veränderungen des äußeren Schnitts und des sprachlichen und metrischen Kleides als auch in den Motiven der Striche und gewandten beschreibenden Zusätze, bei denen andere Quellen, wol Ableitungen aus dem Französischen, und ältere deutsche über Karl’s des Großen Jugend, aushalfen, den beträchtlichen Fortschritt des Geschmacks von 1140 bis 1220. Sonderliche Treue kann man dem St. weder im Tenor der Erzählung, noch in der Composition nachrühmen; darin übertrafen ihn andere ‚Verbesserer‘ der alten naiven Darstellung bei weitem. Auch damit verletzte er die Pietät, daß er den im Bewußtsein der Litteraturfreunde vorwaltenden Helden Roland entthronte und alle Treffer auf Kaiser Karl zuspitzte. Aber allen solchen Vorwürfen halte man getrost entgegen, daß hier eben noch nicht der reife Dichter vor uns steht, sondern der St. im „Karl“ auf einem Gebiete tastet, das seinem Naturell nicht lag. Schon deshalb wäre die übliche Ansetzung um oder gar nach 1230 abzulehnen. Beide Proben der Bethätigung des St. im Heldengedicht fallen vor 1220 und wurden wahrscheinlich auch beide von ihm als mißglückt empfunden. Setzt man den „Daniel“ etwa zwischen 1215 und 1220, so darf man den „Karl“, der wie bei vielen größeren Poeten den Aufstieg mit einer Umdichtung eröffnete, ungefähr ins Jahr 1215 weisen.
Schon im „Daniel“ schimmert ein bemerklicher Zug im Talente des Strickers durch, ein Zug, der vielleicht gerade an dem episodenreichen Karl-Roland-Stoffe genährt worden sein mag: die nachdrückliche Vorliebe für die Kleinkunst der Erzählung. Wie er sich jedes Anlasses zur Detailzeichnung freut, wie er gern verweilt, wo es etwas eingehender zu schildern giebt, wie er sich in lebenswahre Bilder vertieft und sie sauber und anmuthig ausputzt, all das und der Grund davon, eine echte Beobachtungsgabe, leuchteten ihm selbst bald genug ein. Er schüttelte die schweren Waffen der Ritterepik, die er überaus gezwungen führte, ein für allemal von sich und griff zur ungleich leichteren Feder des Tagesnovellisten, die sich ja so oft durch den Pinsel des Genremalers, oder auch des [584] Caricaturisten ablösen läßt. Hier ruhte seine Stärke, und Gottlob kam ihm diese Einsicht auch schnell. So ward er der eigentliche Vater, aber auch zugleich der Classiker der mittelhochdeutschen Fabelerzählung. Wenn auch im allgemeinen die Moralfabel und die Novelle, die im Stofflichen das Schwergewicht sucht, bei ihm beinahe in einander überfließen, so lassen sich doch zwei Gruppen dieser einfachen epischen Gattung scheiden: lediglich auf Unterhaltung hinzielende und darum meist schwankartig ausstaffirte, andererseits lehrhaft angehauchte, satirisch eingekleidete, bis aufwärts zu ideal-sittenrichterlicher Tendenz. Und zwar verkriecht sich letztere nicht immer in das kaum beachtliche Zöpfchen einer Schlußmoral, mag diese auch noch so breit und fast lästig ausgesponnen werden; bisweilen durchrankt der didaktische Zweck das Ganze und erstickt die Handlung, soweit eine solche noch fühlbar ist, so in der biographisch bedeutsamen „Klage“ und der „Frauenehre“. Eine Dreigliederung der vielen hergehörigen Nummern vorzunehmen, in Maere, Bîspel und wirkliche Lehrgedichte oder Satiren, ist unnöthig; der zweite und dritte Abschnitt unterständen eben der didaktischen Kategorie. Die ‚Maere‘, gedrängte Novelletten meist stark realistischen Anstrichs und oft durch derbe Schnurren gewürzt, finden sich zuerst unter des Stricker’s Leistungen, und man möchte ihn, zu dessen Eigenart sie trefflich passen, als Erfinder anerkennen, wenn sie nicht zu häufig das Französische nachahmten und sein Nichtverständniß dieser Litteratur offenkundig ist, anderntheils aber Belege für eine deutsche Vermittlung an ihn fehlen. Freilich bleibt zu berücksichtigen, daß die große Mehrzahl dieser Geschichtchen, die auch bei weniger munterem Inhalte hurtig dahinhüpfen, namenlos überliefert ist und die Aussonderung des dem St. Gehörigen infolge der argen Aehnlichkeit in Ton und Abtönung leicht scheitert. Außerdem sind noch nicht alle in Betracht kommenden Handschriften gemeinsam und systematisch durchmustert: eine unerläßliche Vorbedingung. Dasselbe gilt von den ernsten Kleinigkeiten, obschon nicht in diesem Grade; doch werden auch viele Fabeln dem St. zugeschrieben, die nicht sein eigen sein können, mag die Form innerlich und äußerlich auch noch so innig anklingen. Etwa 10–20 Maere darf er unanfechtbar reclamiren. Davon behandeln mehrere tragikomisch das uralte Thema des Ehezwistes, wobei, wie auch in einigen anderen, Dorfleute Modell sitzen und durch die Ungetrübtheit der Farben überraschen. Andere stehen auf der Grenze des richtigen Märchenlandes, so „das Ritter-Spiegelbild“, „der Traum des Gefangenen“, besonders die wandernde Legende vom nackten König (Robert von Sicilien). Tieferen Sinn bergen „der Richter und der Teufel“, eine drastische Reproduction der Volksmeinung über die Buchstabenjuristen, und „der Luderer“, die naturalistische Entwicklung eines Völlers und Schmarotzers mit Tartuffe-artigen Zügen.
In den sogenannten „Beispielen“, die Parabeln, Allegorien, Gleichnißreden, Spruchdeutungen u. a. umfassen und hie und da den biblischen Charakter verrathen, wird das epische Element mitunter ganz an die Wand gedrückt, und die Lehre überwuchert alles Thatsächliche. Die Nutzanwendung wird entweder, nicht selten ein bischen aufdringlich, angehängt oder ist zwischen den Zeilen mühelos herauszulesen. Eine gewisse Nüchternheit verdunkelt den gefälligen Eindruck des glatten Vortrags, dazu hie und da sogar Weitschweifigkeit. Wiederum spendet der St. hier sein bestes, wo Laune und fröhlicher Spaß regieren. Im Vergleich mit den meisten seiner Nachbeter läßt er kaum je dem Humor die Zügel schießen; denn wol alles, was uns ausgeartet erscheint, muthete damals nicht ungewöhnlich scharf an. Stellenweise schlägt der Wind um: bitterer Ernst beflügelt nun das Schifflein, und bald empfängt man den Ausfluß herben Spottes, bald feierlicher Mahnung. Da weicht auch jene Gleichgültigkeit und Blässe des Stils. Das sind die Stücke, wo der alternde Dichter den Fuß bannt – man vergleiche [585] das herrliche Gemälde vom „Alter“ –, Einkehr hält und die Summe seiner Erfahrungen zieht, durchdrungen von dem Bewußtsein menschlicher Hinfälligkeit und des Schicksalsganges, der gebieterisch auf ein Höheres außerhalb des Alltagslebens weist. Hier tritt der Stricker auch als ein aufrichtig frommer Mann daher, der ohne alle dogmatische Starrheit innere Buße anempfiehlt und in der Religion den einzigen Rettungsanker des Sünders erschaut. Diese wenigen rein didaktischen Gedichte, die eine phrasenlose praktische Ethik auszeichnet, bilden den Gipfel seines Schaffens; auch formell: knapp umrissen, ohne Redeschwall oder Geplauder, eindringlich in Aufbau und Wortwahl. „Die Edelsteine“, „die Beizer“, „der kläffende Hund“ symbolisiren jene abgeklärte und prunklose Lebensweisheit geradezu vollendet.
Am vollkommensten prägt aber des Stricker’s Individualität doch sein einziges größeres novellistisches Werk aus, „der Pfaffe Amîs“, das etwa zwischen 1230 und 1235 entstanden ist. Denn einerseits hantirt der St. darin schon souverän mit der Technik der schnakigen Maere, und zwar auch im umschlingenden Rahmen; das Büchlein stellt in Deutschland das älteste, in ein festes Netz eingeschlossene Schwankbündel dar. Andrerseits übersprudelt der Verfasser noch so von Heiterkeit und Schelmerei, daß er sich sicher noch in der Blüte der Kraft und vor den traurigen Zerwürfnissen in seinem österreichischen Wahlvaterlande befindet. Der Held dieser zwölf neckischen Abenteuer, die altes Erbgut des internationalen Räthsel- und Anekdotenschatzes höchst geschickt wieder erwecken und zierlich vernesteln, ist ein gescheiter englischer Kleriker Ameis, der aus Noth in der Fremde dem Broterwerb nachjagt, die Schliche, die er hierbei anwendet, ziemen sich zwar nicht für ein Mitglied des geistlichen Standes. Aber des Stricker’s Liebenswürdigkeit und seine witzige Ader verwischen diesen Ausgang der Historie im Gedächtnisse fast vollständig, obwohl der kirchliche Beruf wiederholt zur Anknüpfung neuen Trugs herhalten muß. Daß der ehrlich fromme Dichter in Uebereinstimmung mit der Anschauung seines Jahrhunderts derlei, noch dazu in der Wurzel unfreiwillige, Ausschreitungen eines fidelen Weltpriesters nicht auf die schwere Achsel nahm, erhellt am besten aus Ameis’ nach formeller Reue erfolgtem Avancement zum Abt und seligem Tode. Dafür zeugt auch die aus mehrfachen Citaten, die Allgemeinverständlichkeit voraussetzen, ersichtliche weite Bekanntschaft, die das Werkchen rasch genoß, ebenso die Wiederaufnahme mehrerer Streiche in den Narretheien Till Eulenspiegel’s; den zweiten, die Kirchweihmesse, hat auch Hans Sachs neu gereimt.
Unleugbar zählt der Stricker nur den zweitclassigen Vertretern der mittelhochdeutschen Epik bei. Aber er hat mit gesundem Urtheil, als er den Glanz der höfischen Poesie mehr und mehr erbleichen sah, nicht wie andere hier noch um jeden Preis Lorbeeren pflücken wollen, auf Kosten der Natürlichkeit und Rechtlichkeit; war doch die Hauptquantität des Reizes, den die gleichzeitigen Pfleger des heroischen Epos ausströmen ließen, theils gespreizt und fade, theils – gelinde gesagt – erborgt. Er lenkte die Aufmerksamkeit einer verborgen blühenden Richtung zu der flotten kleinen Erzählung leichteren Gehaltes oder der belehrender Absicht. Mit außerordentlichem Glücke hat er sie auf eine stilsichere litterarische Fläche erhoben, und bald lief sie der sinkenden Ritterepopöe den Rang ab. Es kam ihm dabei sein Verständniß nationaler und volksthümlicher Weise zugute, indem es ihn überall zu dem Unmittelbaren und Klaren in Stoff und Stil hinzieht. So hindert denn nichts, sich ihn als rechten Volksdichter zu denken, der, abhold dem Regelzwange der adeligen Sänger auf der Burg, sich frei unter den niederen Schichten bewegte, wenn er auch trotz mancher Verwandtschaft der Kaste der Declamatoren, die in der Schenke und unter der Linde grause Heldenthat wie tollen Scherz zur Fiedel sangen, nicht einzureihen ist. Allbeliebt wurden [586] die Kinder seiner Muse binnen kurzem und lebten im Munde der Poesiefreunde, in Bruchstücken auch bei Compilatoren fort.
Die in obiger Darlegung verwobenen Ansichten ruhen auf gründlicher Prüfung des ausgedehnten Materials und können hier nicht Punkt für Punkt belegt werden. Das meiste für des Stricker’s Kenntniß und Erkenntniß that nach Docen (Miscellaneen z. Gesch. d. dtsch. Litt. I u. II, 1807) Karl Bartsch (in seiner Ausgabe des „Karl“ und verschiedenen kleinen Beiträgen); doch sind jetzt viele seiner Aufstellungen nicht mehr stichhaltig. Das bibliographische Material hat man in der Hauptsache bei Goedeke, Grundriß z. G. d. d. D. § 43 beisammen; dessen Angaben ergänzt gut Piper in seinen beiden Bänden ‚Spielmannsdichtung‘ (II, 113, 29 ff.) und ‚Höfische Epik‘ (III, 86 ff.) in Kürschner’s ‚Deutscher National-Litteratur‘, außerdem Koberstein-Bartsch6, I, 268, 81 u. 189, 26. Von neueren Sonderforschungen fördert L. Jensen, Ueber den Stricker als Bîspel-Dichter, seine Sprache und seine Technik mit Berücksichtigung des „Karl“ und „Amîs“ (Marburger Diss., 1885), abgesehen von den, übrigens nicht verwertheten, phraseologischen Sammlungen, sehr wenig und verrückt durch einen historischen Irrthum die Chronologie fälschlich (vgl. Seemüller, Dtsch. Litteraturztg., VII, 1526–28), da für Ausschälung und Sichtung der Stricker’schen Poesien aus den Handschriften noch die starke Hälfte zu leisten ist. Um so energischer bringen G. Rosenhagen’s gediegene ‚Untersuchungen über Daniel vom Blühenden Tal vom Stricker‘ (Kieler Diss., 1890) vorwärts, dessen einschneidende Resultate von der Kritik mit Recht fast samt und sonders angenommen wurden (vgl. S. Singer, Dtsch. Litteraturztg., XII, 703 ff.; J. Meier, Litteraturbl. f. germ. u. rom. Philol., XIII, 217–220; namentlich Seemüller, Anzgr. f. dtsch. Alterth., XIX, 247–253). Für Erläuterung und Quellenkunde von „Amîs“ und „daz bloch“ verdankt man verschiedenes Willkommene deren Herausgeber Lambel (in ‚Erzählungen und Schwänke‘, 1872; 2. Aufl. 1883), der jüngst auch „die Frauenehre“ (vgl. Kummer, Ztschr. f. dtsch. Alterth., XXI, 290–301) näher gewürdigt hat (‚Zur Ueberlieferung und Kritik der Frauenehre des Strickers‘ in: Symbolae Pragenses. Festgabe der deutschen Gesellschaft für Alterthumskunde in Prag zur 42. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Wien 1893’); zum „Amîs“ Einzelheiten R. Sprenger (‚Germania‘ und ‚Ztschr. f. dtsch. Philol.‘). In textkritischer Hinsicht wartet noch reiche Arbeit, sobald man über Hahn’s schmächtiges Bändchen ‚Kleinere Gedicht von dem Stricker‘ (1839) und v. d. Hagen’s Zufallsauslese (in ‚Gesammtabenteuer‘) hinaus einen hinlänglichen Ueberblick besitzen und die gesicherten Nummern für das ‚Beispiel‘ (dessen Wesen jetzt E. Schröder, Ztschr. f. dtsch. Alterth. XXXVII, 255–57 sprachgeschichtlich neu erörtert) u. s. w. nebeneinander betrachten können wird. Aber auch in stoffvergleichender: man sehe z. B. die Parallelen zum „bloßen Kaiser“ bei Wackernagel, Litteraturg. I, 280 A. 21, Varnhagen, Ein indisches Märchen auf seiner Wanderung (1882), R. Köhler Arch. f. Littgesch. XI, 582 (G. R. Lorenz in „Die Gegenwart“, 44, Nr. 38, S. 205). H. Chr. Andersen’s Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ und Ludw. Fulda’s dramat. Märchen „Der Talisman“ (1893); oder für die Burleske „Der begrabene Ehemann“ Liebrecht, Zur Volkskunde S. 124–141 (besonders 128 ff.), Jensen S. 43 ff., Fränkel in den Abhandlungen der Folklore-Gruppe des Chicagoer ‚World’s Congress Auxiliary‘ von 1893, Curiosità popolari tradizionali herausg. v. Pitrè, XII (1893) Nr. 2. Und das Aufspüren der Fäden, die zu Vorgängern – wie zu den epischen Meistern, deren Reimgefüge er vereinfachte, oder zu Walther von der Vogelweide, dem er eine Fabel entlehnte (W. v. d. V., hg. von Simrock und Wackernagel, II 171) –, Zeitgenossen und Jüngern leiten, verspricht anziehende Enthüllungen. So hat der wenig spätere Steirer Herrand von Wildonje des Stricker’s Beispiel vom freienden Kater umgemodelt, und dessen Landsmann der Pleier trat sogar in der strengen Epik in seine Fußstapfen. [587] Das Lehrreichste aber würde doch einer reinlichen Ergründung von Sprache und Stil des Stricker’s im Verhältnisse zu den Sternen der älteren höfischen Kunst entspringen.