ADB:Tobler, Ludwig

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Artikel „Tobler, Ludwig“ von Edward Schröder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 635–638, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tobler,_Ludwig&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 03:38 Uhr UTC)
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Tobler *): Ludwig T., Germanist und Sprachphilosoph, wurde am 1. Juni 1827 zu Hirzel im Kanton Zürich geboren: als ältester Sohn des Pfarrers Salomon Tobler, der besonders durch seine epische Dichtung „Die Enkel Winkelrieds (1827) sich in der schweizerischen Litteratur einen Namen gemacht hat (siehe L. Tobler’s „Kleine Schriften“ S. 1–24). Mit Ludwig T. und seinen jüngeren Brüdern, dem Romanisten Adolf T. und dem Historiker Wilhelm T., ist die altzürcherische Familie, die durch sechs Generationen im Pfarramt gewaltet hatte, aus dem geistlichen Beruf in das akademische Lehramt übergetreten. Ludwig freilich war zunächst auch zum Geistlichen bestimmt: auf dem Züricher Gymnasium vorgebildet, wo Sauppe in den classischen Sprachen und der zwar originelle, aber wenig anregende Ettmüller im Deutschen seine Lehrer waren, studirte er von 1845 ab an der heimischen Hochschule Theologie unter Ferdinand Hitzig und Alexander Schweizer und wurde 1849 ordinirt. Aber als ihm seine ersten Versuche auf der Kanzel als Mißerfolg erscheinen mußten, entschloß er sich, zum Beruf des Lehrers überzutreten, und nahm seine Studien im Herbst dieses Jahres in Berlin wieder auf: sein Hauptinteresse galt jetzt der Philosophie, [636] und ihr blieb er auch während der 11/2 Jahre (Herbst 1850 bis Ostern 1852) treu, die er in Leipzig als Hauslehrer bei einer landsmännischen Familie zubrachte. Nachdem er durch eine Dissertation über Spinoza den Doctortitel erworben hatte, kehrte er in die Heimath zurück, um sich zunächst als Lehrer der alten Sprachen, des Französischen und der Geschichte an der Bezirksschule in Aarau sieben Jahre ohne Befriedigung und Erfolg im Schuljoch zu quälen. Immerhin bot ihm die gut ausgestattete Kantonsbibliothek die Möglichkeit, sich in der Sprachwissenschaft und besonders in der deutschen Philologie fortzubilden. Seine ersten Arbeiten über den relativen Gebrauch der Conjunction „und“ und über die verstärkenden Zusammensetzungen im Deutschen (1858), zeigen ihn aufs gründlichste ausgerüstet und weisen bereits die Richtung und die speciellen Vorzüge auf, welche alle seine sprachwissenschaftlichen Arbeiten auszeichnen: Verbindung von philologischer Akribie und philosophischer Beobachtungsweise, Weite des sprachlichen Horizonts bei liebevoller Beobachtung des heimischen Wortgebrauchs. Es ist für T. bezeichnend, daß er die Gegenstände dieser Erstlingsarbeiten dauernd im Auge behalten hat: über die Umarbeitung, welche er beiden im J. 1868 zu Theil werden ließ, bis in das „Schweizerische Idiotikon“ hinein, wo sein Artikel „und“ von eigenartigem Werth ist und die verstärkenden Composita von ihm mit unverkennbarer Liebe behandelt sind.

Ueber Biel kam T. im Herbst 1860 an das Gymnasium zu Bern, wo er im folgenden Jahre unter dem Titel „Die Schweiz“ eine Zeitschrift für vaterländische Litteratur und Kunst begründete und mit einem programmatischen Aufsatz „Ueber schweizerische Nationalität“ vortrefflich einführte; sie hat sich nur bis zum Jahre 1864 gehalten. Zehn Jahre später hat T. einen neuen Anlauf als Publicist unternommen, in dem er, gewiß auf directe Anregung seines Vetters Salomon Hirzel, in den Jahren 1874–1881 (von Zürich aus) Berichte „Aus der Schweiz“ für die von jenem ins Leben gerufene Wochenschrift „Im neuen Reich“ lieferte. Er schrieb immer ein gutes Deutsch, aber nie einen flüssigen Stil: denn da er den höchsten Werth auf Klarheit in den Grundbegriffen legt, so ringen sich alle seine wissenschaftlichen Abhandlungen und auch manche der mehr populären Aufsätze etwas mühsam durch die Vorerörterung durch.

Im J. 1864 erreichte T. das lang erstrebte Ziel der Habilitation, und 1866 gelang es in erster Linie den Bemühungen von M. Lazarus, ihm eine außerordentliche Professur für allgemeine Sprachwissenschaft und germanische Philologie an der Berner Hochschule zu verschaffen. T. war sich bewußt, in seiner Richtung als Sprachforscher Niemandem mehr zu verdanken als H. Steinthal, und zu der von Lazarus und Steinthal herausgegebenen „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft“ hat er vom ersten bis zum letzten (20.) Bande eine große Anzahl der werthvollsten Beiträge geliefert: beginnend mit dem „Versuch eines Systems der Etymologie“ (1860), schließend mit einem Artikel „Ein Fall von partieller Aphasie“ (1890); in seinen meist tief eindringenden Recensionen hat er hier und anderwärts die Fortschritte der Linguistik und besonders die Principienfragen mit sicherer Objectivität begleitet. Den anderen Pol seiner wissenschaftlichen Arbeit bildeten dauernd seine Dialektstudien, besonders seit er 1862 in Zürich den „Verein für das schweizerdeutsche Wörterbuch“ mit begründet hatte. Und zwischen beiden Gebieten, der philosophischen Sprachbetrachtung und dem intimen Studium des heimischen Wortschatzes und Sprachgebrauches ziehen sich zahlreiche feine aber festgespannte Fäden hinüber und herüber. Tobler’s Arbeiten zur Völkerkunde und Mythologie sind von der Völkerpsychologie und von der Dialektkunde [637] gleichmäßig gefördert und befruchtet worden, den Ausgangspunkt aber haben späterhin nicht selten die Materialien des Idiotikons gebildet: das sieht man z. B. an der Abhandlung „Die alten Jungfern in Glauben und Brauch des deutschen Volkes“ (1883), die ganz deutlich aus dem Artikel „Giritzenmos“ herausgesponnen ist, obwohl T. das durch eine lange, nicht eben glückliche Einleitung zu verwischen strebt.

Im Winter 1871 erkrankte T., durch Infection in einem Eisenbahnbahnwagen, an den Pocken und hatte das Unglück, ein Auge zu verlieren und die Stimme soweit einzubüßen, daß er zeitlebens auf den mühsamen Gebrauch eines heiseren Organs beschränkt blieb. Seine Lehrthätigkeit, die nie starken Erfolg gehabt hatte, war nun auch äußerlich gehemmt, und die Wahl T.’s zum ao. Professor an der Universität Zürich (Mai 1873) galt in erster Linie dem berufenen und unentbehrlichen Mitherausgeber des „Schweizerischen Idiotikons“. Als Gelehrter von reichem Wissen und als eine starke sittliche Persönlichkeit, die an der Seite der spät, in den Tagen des schwersten Leides, heimgeführten Gattin (einer Tochter des St. Galler Germanisten Hattemer) das harte Loos mit Heroismus, ohne Bitterkeit ertrug, hat er sich freilich auch in Zürich Schüler erworben, deren Verehrung ihm über das Grab gefolgt ist. Im Herbst 1893 wurde T. Ordinarius, am 15. August 1895 erlag er einem Gehirnleiden, dessen erste Spuren ein Jahr zuvor zu Tage getreten waren.

T. hat kein Buch geschrieben, das einen starken Eindruck gemacht und ihm einen wissenschaftlichen oder litterarischen Erfolg eingetragen hätte; die noch heute fruchtbarer Wirkung fähige Arbeit „Ueber Wortzusammensetzung“ (Berlin 1868) ist separat wohl nur erschienen, weil sie als Beitrag zu der Lazarus-Steinthal’schen Zeitschrift zu umfangreich ausgefallen war. Und die trefflich vorbereitete und ausgerüstete Sammlung der „Schweizerischen Volkslieder“ (Frauenfeld 1882. 1884) hat unter der von T. nicht verschuldeten Vertheilung auf zwei Bände dauernd zu leiden. – Aber ein sicherer Träger seines rühmlichen Andenkens ist zunächst das „Schweizerische Idiotikon“ (Frauenfeld 1881 ff.): nächst dem Schweizervolke selbst, das für den überwältigenden Reichthum dieses Riesenwerkes gesorgt hat, haben die beiden Jugendfreunde Friedrich Staub und Ludwig Tobler (dessen Mitarbeit bis zum Schluß des dritten Bandes reicht) doch das größte Verdienst um das Unternehmen, das nach 20jähriger Vorbereitung, als eine ebenso gelehrte wie volksthümliche Erscheinung, imponirend ans Licht trat. Und ohne der einzigartigen Befähigung und Hingabe Staub’s zu nahe zu treten, wird man doch Tobler als den bezeichnen müssen, der allem Andrängen und allen Versuchungen der Popularität gegenüber das wissenschaftliche Gewissen verkörpert und den jüngeren Mitarbeitern eingepflanzt hat. Dies Verdienst ist vielleicht größer noch als das seiner realen Beisteuer: sie tritt quantitativ wohl gegenüber der Leistung Straub’s[1] zurück, aber es verdient hervorgehoben zu werden, daß sich T. niemals bequeme Paradestücke oder Leckerbissen ausgesucht, sondern einen großen Theil der schwierigsten und leicht undankbar erscheinenden Artikel auf sich genommen hat: so die Mehrzahl der Präfixe, Partikeln und Conjunctionen, deren Behandlung bei ihm oft überraschend fruchtbar erscheint.

Zu diesem unvergänglichen Verdienste des heimathlichen Sprachforschers gesellt sich für den historischen Betrachter ein anderes, wenn er in der sorgfältigen Bibliographie im Anhang von Tobler’s „Kleinen Schriften“ die lange Kette der Aufsätze mustert, welche T. zu der „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft“, der „Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung“, zu Pfeiffer’s „Germania“, zur „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche [638] Philosophie“, zur „Zeitschrift des Vereins für Volkskunde“ u. s. w. beigesteuert hat. Da sehen wir deutlich, daß eine ganze Reihe von sprachlichen Erscheinungen und von Aufgaben der Linguistik, für welche ein allgemeineres wissenschaftliches Interesse erst durch Wilhelm Scherer und die grammatische Bewegung der 70er Jahre wachgerufen worden ist, schon die Aufmerksamkeit Tobler’s besessen haben, der lange, ehe man lärmend die „Principienwissenschaft“ proklamirte, zäh und energisch nach Principien gerungen hat, ohne je einer Orthodoxie zu verfallen, dem die Grenzen zwischen Naturwissenschaft und Sprachwissenschaft frühzeitig klar geworden sind, sodaß er wie Wenige berufen war, die Unklarheiten im Begriff und in der Anwendung des „Lautgesetzes“ aufzudecken (1879), der aber mit derselben unbestechlichen Ehrlichkeit auch die Verworrenheit hervorhob, an der K. Weinhold’s Einleitung zur Zeitschrift des Vereins für Volkskunde krankte (1891). – Die deutsche Grammatik hat keine Beiträge oder gar Entdeckungen Tobler’s auf dem Gebiete der altgermanischen Laut- und Flexionslehre zu verzeichnen, aber sie wird sich dauernd erinnern müssen, daß in der Zeit etwa von 1860 bis 1875 L. Tobler einer der Wenigen, ja zeitweise der einzige Germanist gewesen ist, welcher die seit Jacob Grimm vernachlässigten und zum Theil verwaisten Gebiete der Wortbildungslehre, der Bedeutungslehre und der Syntax durch Specialuntersuchungen und Erörterungen principieller Art gefördert hat.

Kleine Schriften zur Volks- und Sprachkunde von Ludwig Tobler. Herausgegeben von J. Baechtold und A. Bachmann. Mit Portr., Lebensabriß und Bibliographie (Frauenfeld 1897). Die Sammlung enthält fast nur Aufsätze, die „für einen weiteren gebildeten, zumal vaterländischen Leserkreis“ von Interesse sein sollen. Aber der Anhang bringt eine annalistisch geordnete, genaue Bibliographie. Die anderweit erschienenen Nekrologe ergeben nicht mehr als die Einleitung der Herausgeber. – Für T.’s Persönlichkeit legt Zeugniß ab H. Morf, Aus Dichtung und Sprache der Romanen (Straßburg 1903), S. 509–515.

[635] *) Zu Bd. LIV, S. 705.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. Tobler, Ludw. LV 637 Z. 11 v. u. l.: Staub’s (statt Straub’s). [Bd. 56, S. 398]