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ADB:Werder, Karl Friedrich

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Artikel „Werder, Karl Friedrich“ von Albert Köster in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 44 (1898), S. 479–485, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Werder,_Karl_Friedrich&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 13:45 Uhr UTC)
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Werder *): Karl Friedrich W., Philosoph und Dichter, wurde am 13. December 1806 in Berlin als Sohn eines Seidenfabrikanten geboren. Als er das Joachimsthal’sche Gymnasium absolvirt hatte, bezog er 1825 die Universität, zunächst um mehr aus Verlegenheit als aus Neigung Jurisprudenz zu studiren, dann um sich ganz in Hegel’s Bann mit Feuereifer der Philosophie zuzuwenden. Die beiden einzigen rein philosophischen Arbeiten Werder’s („De Platonis Parmenide“, Berliner Dissertation von 1833, und „Logik“, erste [und einzige] Abtheilung, Berlin 1841) athmen denn auch ganz den Geist des „verklärten Meisters“. Dennoch hat W. selbst nie viel von diesen Leistungen und von seinem akademischen Doctorgrad gehalten. Mitten in seiner Studienzeit traf ihn ein schwerer Schicksalsschlag; sein Vater verlor sein ganzes Vermögen. Aber eben dies Ereigniß hat den Sohn nur enger an den Alten gekettet, er sieht es noch spät als eine Bereicherung seines Lebens an, daß er die Eltern, seine „alten müden Kinder“, bis in hohe Tage hat pflegen dürfen. Freilich, zu einer strengen Lebensführung hat er sich entschließen müssen; auf Möglichkeit des Erwerbes mußte er frühzeitig sehen. 1834 habilitirte er sich und verkündete nun auch als Privatdocent und seit 1838 als außerordentlicher Professor mit beredtem Mund die Lehre Hegel’s. Die Studenten hingen begeistert an ihm, aber auch er mit gleicher Wärme an seinen Schülern. So schien eine glänzende Kathederthätigkeit vor W. zu liegen. Als jedoch nach Altenstein’s [480] Tode die Hegel’schen Schüler vor Eichhorn’s Augen wenig Gnade fanden, da traf auch W. das Schicksal, bei Seite geschoben zu werden. Er hat es niemals weiter als bis zum Extraordinarius gebracht; und der Geheimrathstitel konnte für die erfahrene Kränkung kein Ausgleich sein. Seine Gedichte verrathen uns, wie er die Enttäuschung zu überwinden wußte. – Aber die Wirkung vom Lehrstuhl herab genügte W. nicht, er brauchte lebendigen Verkehr mit Menschen. Und er wußte Viele der Besten an sich zu fesseln. Zu seinen Freunden gehörten Boeckh und Alexander v. Humboldt, die Hegelianer Gans, Hotho, Carrière, die Russen Stankiewitsch-Bakunin, Turgenjew, die Schauspieler Theodor Döring, Ludwig Devrient, Seydelmann und viele Andre. Auch bei Hofe, obwol er dort jedem Amt ängstlich aus dem Wege ging, war er gern gesehen; Friedrich Wilhelm IV. hat ihn so hoch geschätzt wie Wilhelm I., dem er Vorlesungen über Litteratur hielt. Denn sein weltmännisch freies Wesen, seine temperamentvolle Heiterkeit, sein Idealismus, der frei von aller Weinerlichkeit war, seine echte Frömmigkeit, die sich doch von äußerer Werkheiligkeit oder pflichtschuldiger Kirchengängerei ganz fern hielt – Alles das machte seinen Umgang und sein Gespräch zu einer Erquickung. Die ganze Hälfte aber seiner Lebenssorgen gehörte der Bühne. In allen Fragen des Theaters fühlte er sich als Autorität. Unaufhörlich besuchte er die Vorstellungen und wußte zu lauschen wie kein Zweiter. Aufs Kleinste, bis zur Kunst des Schminkens, erstreckte sich sein Interesse. Man wurde daher in Berliner Hof- und Theaterkreisen früh auf ihn aufmerksam. Er hätte, als Herr v. Küstner 1851 die Intendantur des Hoftheaters abgab, wol an dessen Stelle treten mögen und können; eine starke Hofpartei war der Sache günstig. Aber der Plan zerschlug sich aus unbekannten Gründen, und W. war um eine neue, die größte Enttäuschung seines Lebens reicher. Seine Liebe und sein Rath galt aber dennoch auch in Zukunft der Bühne, nicht nur dem Berliner Schauspielhause, sondern auch dem jungen Unternehmen des Herzogs von Meiningen. W. ist einer der frühesten Verkündiger der Meininger Bestrebungen gewesen.

Inzwischen verrann das äußere Leben Werder’s in Berlin gleichförmig. Er blieb Junggesell, denn jenes rührend zarte Verhältniß zu seiner sechs Jahre älteren Cousine führte nicht zur Ehe. Als er, ein zehnjähriger Knabe, Caroline zum ersten Male sah, war sie bereits verlobt; und ihre Ehe mit dem später bis zum Generallieutenant beförderten Herrn v. Fidler ist sehr glücklich gewesen. Aber so lange Fidlers in Berlin wohnten, war W. ihr täglicher Gast; er las der Freundin vor, seine innigsten und treuesten Ueberzeugungen theilte er mit ihr; und besonders als ihr Sohn Hugo unheilbar erkrankte, war er ihr eine Stütze und mühte sich um den Leidenden wie ein Vater.

In solcher Sorge um fremdes Glück ist aus dem jungen Werder der alte Werder geworden, der etwas altmodisch elegante Herr, der allmählich fast ein ganzes Jahrhundert voll ungeheurer Weltereignisse an sich hatte vorbeiziehen lassen, der Alles, was in seinen Gesichtskreis kam, mit den hellen blauen Augen theilnehmend anschaute und in treuem Gedächtniß behielt. Was konnte er erzählen, wenn er einmal anfing, in seinen Erinnerungen zu kramen! Er wußte noch, wie ihn als Kind die Mutter aus dem Bett gerissen hatte, um ihm die einziehenden Kosacken zu zeigen, die Befreier vom französischen Joch. Generationen waren an ihm vorübergegangen; er hatte noch Goethe ins Auge geblickt und Blücher, er hatte noch Friederike Bethmann-Unzelmann im alten Schauspielhause spielen sehen. Mit Varnhagen und Rahel, mit Zelter und Felix Mendelssohn-Bartholdy, mit Tieck, Grabbe, E. T. A. Hoffmann und vielen Anderen hatte er verkehrt. Aber er lebte doch nicht etwa weltabgewandt in der Vergangenheit, sondern schritt bis in seine letzten Jahre rüstig mit seiner [481] Zeit voran. Standen ihm in der Dichtkunst auch begreiflicherweise die antiken und neueren Classiker obenan, waren in der Musik Mozart’s „Figaro“ und Gluck’s „Armide“ seine Lieblinge, so zeigte er sich doch auch ganz modernen Werken zugänglich: die Schriften Nietzsche’s, die Dramen Ibsen’s u. A. hat er unbefangen auf sich wirken lassen. Und diese rege Empfänglichkeit hat ihn jung erhalten auch bei weißen Haaren.

W. hat es auf siebenundachtzig Jahre gebracht. Noch am 6. April 1893 hatte er das Theater besuchen können, dann raffte eine Erkältung ihn schnell dahin, am 10. April Vormittags um 10 Uhr. Ehe man ihn auf dem Garnisonfriedhofe an der Seite Carolinens v. Fidler beisetzte, fand in der Garnisonkirche unter Theilnahme des Hofes, der Universität und der Theater eine Trauerfeier statt. Das Haus an der Ecke der Charlotten- und Französischen Straße, das im Erdgeschoß die Weinstube von Lutter & Wegner enthält, und dessen zweiten Stock W. fast fünfzig Jahre lang bewohnt hat, ließ der Magistrat durch eine Gedenktafel auszeichnen. Auf dem Grabe aber erhebt sich ein schlichtes Monument, das einer der treuesten Schüler des Alten gestiftet hat, Kaiser Wilhelm II.: Amico imperator.

Die lyrischen Gedichte, die W. hinterlassen hat, sind von ihm nie als Sammlung publicirt worden. Nur für den Kreis der Freunde waren sie bestimmt und zu des bescheidenen Dichters eigenem Genügen. Erst nach seinem Tode sind sie von befreundeter Hand herausgegeben worden („Karl Werder’s Gedichte, hsg. von Otto Gildemeister“. Berlin 1895). W. war gewiß eine poetisch veranlagte Natur und auch von seiner Dichtergabe überzeugt, Einer, der durch die Poesie Lust und Schmerz ertragen gelernt und der den Weg aus Vereinsamung zur Arbeit zurück immer nur durch die Dichtkunst gefunden hat. Aber dieser Sehnsucht nach Aussprache war die Kraft des Wortes nicht genug gewachsen. Er verfügt nur über eine beschränkte Zahl von Tönen und variirt die gleiche Stimmung unermüdlich. Der Philosoph hat dem Dichter geschadet. Was W. über die tiefsten Lebensfragen gesonnen hat, das übermittelt er meist abstract dem Verstande, nicht der Anschauung. Er war ein Mensch, dem das gleichmäßig verfließende Leben mehr Stimmung und gestaltloses Ahnen, als concretes Erlebniß zuführte. Zwar nennt er seine Lieder des öfteren klare, frische Lieder, er spricht von ihrem Löwenmark; aber so jugendlich das klingt und so heiter sie stellenweise sind, es liegt doch selbst über den Erzeugnissen der Mannesjahre schon etwas von der Milde des nahenden Alters. Lehrhaft äußert er sich; gern wendet er eine Zweitheilung an und bietet ein Bild und seine verstandesmäßige Deutung, einen kleinen Vorgang und seine Nutzanwendung dar. Manche Gedichte sind nur in Verse gebrachte Philosophie, schwerfällige, überlange Perioden, wortreiche Ergüsse; was Goethe in vier Zeilen („Eines schickt sich nicht für Alle“) gesagt hat, dazu braucht W. acht Strophen. So sprachgewandt, wenn auch nie sprachgewaltig der Dichter ist, er ringt doch, was bei diesem Nachempfinder künstlerischer Leistungen Wunder nimmt, mit der Form. Strophische Bildungen haben ihm offenbar Mühe gemacht, sie sind ihm nur in wenigen Fällen rein gelungen. Aber selbst da, wo nicht die Form entzückt, fesselt doch die Wärme des Gefühls und die Reinheit der Gesinnung. Die meisten Lieder sind ernsten Charakters, ganz selten einmal (S. 82 f., 180 f.) kommt der Humor zu Wort. Selbst ein Thema wie die Verherrlichung des Weins (S. 71) ist nicht humoristisch, sondern im Sinne jener veredelten Anakreontik behandelt, wie wir sie bei Klopstock finden: „Wen Gedanken zu dir laden, dem bist du ein Born der Gnaden“. Wo der Dichter nicht in Betrachtung von Tod und Ewigkeit versenkt ist, da richten sich seine Gedanken am [482] liebsten „frühling-, himmel-, liebewärts“. Seine Gottergebenheit und Weisheit ist das Resultat langen, ernsten Ringens. Er hat das Wirken des Schöpfers in aller Creatur erkannt und findet Ruhe und Frieden in Gott nur dann, wenn er in und mit der ganzen Natur lebt, wenn er mitfühlt mit dem geringsten Geschöpf. Seinen Sinnen ist die Schönheit der Welt, auch die Schönheit der Kunst aufgegangen; sie zu genießen, und diesen Genuß wieder Andre zu lehren, sah er als Aufgabe seines Lebens an. Denn solche Genußfähigkeit und -freudigkeit war ihm durchaus nicht bloße Erholung und Zeitvertreib. Es ist ein echt Werder’sches Wort: „Wenn Genießen nicht auch Thun ist, hab’ ich wenig nur gethan; wo für Andre nichts als Ruhn ist, fängt mein Wirken erst recht an“. Aber er war auch nicht blind gegen die Gefahr, die in solcher Meisterschaft des Ruhens, in solcher bloß reproducirenden Thätigkeit liegt; das Nachlassen des Willens, die Unentschlossenheit und Trägheit, in die er zu Zeiten verfällt, hat er selbst als die große Sünde, als den Dämon, der ihn quält, bezeichnet. In solchen Zeiten richtet er ernste dichterische Mahnungen an sich selbst; er faßt kräftige Vorsätze, damit er seines höchsten Erdenwunsches sich werth erweise: ein freier Mann zu sein, keines Menschen Herr, aber auch keines Menschen Diener. Das ist ihm denn zu Theil geworden. Wie im Leben stellt er sich auch in den Gedichten frei und unabhängig dar. Was ihn an alle Geschöpfe Gottes bindet, ist keinerlei Rücksicht oder Selbstsucht, sondern nur die grenzenlose Liebe, mit der er sie alle umspannt. Er, der Kinderlose, umgibt sich mit Thieren, weil ihr Thun und der Blick ihrer Augen ihn festigt in der Liebe zu Gott und Welt. Er kettet treue Freunde an sein Leben; und wenn er sie bedingt (S. 85, 94), so sind die Eigenschaften, die er an ihnen feiert, meist auch die, nach denen er selber rang. Ein Zug patriarchalisch traulicher Verehrung fesselt ihn an das preußische Herrscherhaus. Seinem armen geisteskranken Neffen, der aus dem Zusammenbruch seines Intellects nur die kindlich reine Seele mit hinübergerettet hatte, widmet er ein rührendes Gedicht. Schlicht und herzlich feiert er den Lebensabend der Eltern, seiner „alten Kinder“, denen er zu Weihnacht bescheert. Aber die innigsten und zahlreichsten Lieder widmet er der Freundin seiner Jugend und seines Alters, Caroline v. Fidler. Es sind Liebeslieder, doch ohne Begehren, Lieder der Resignation, die, wo sie sich spruchweise verdichten, zu dem Besten der Werder’schen Lyrik gehören. Wenn alter Groll, Hypochondrie und Klagen aufkommen wollen, er weiß, daß er bei ihr, die ihm „von Ewigkeit“ beschieden ist, immer wieder stillen Trost und Frieden findet, aber auch Kraft- und Jugendgefühl, Frohsinn und neue Lieder. Wie einst bei Klopstock, nur freier und nicht so träumereich, fließt bittend und dankend auch bei W. das Gebet zu Gott und die Sehnsucht nach der theuren Frau, himmlische und irdische Liebe, in Eins zusammen.

So innig werth ihm jedoch diese Gedichte waren, so hoffte er doch nicht durch sie, sondern durch sein einziges Drama zur Unsterblichkeit einzugehen, durch seinen „Columbus“. Die Arbeit an diesem Werke hat ihn durchs ganze Leben begleitet. Und als er starb, wußte er seinem Kaiser nichts Theureres zu vermachen, als das kleine vergilbte Columbusbild, das über seinem Sopha gehangen hatte. – Wer vertraut ist mit Werder’s künstlerischen Ueberzeugungen, erkennt unschwer, daß er in seinem Drama sein Credo hat zur That machen wollen. Die beispiellose überirdische Gerechtigkeit, die er vor allem im „Hamlet“ entdeckte, hier sollte sie aufs neue in Erscheinung treten, in der langen Kette von Ereignissen, die im Drama den betheiligten Personen wie Zufälle vorkommen und die doch vor dem Auge der Götter – oder was hier dasselbe ist: der Zuschauer – sich sämmtlich als Ursachen und Folgen offenbaren. Blickt man genau hin, so ist in Werder’s Drama der erste Ursprung alles Jammers eine [483] Untreue Ferdinand’s des Katholischen; hierhin läßt alle Schuld sich zurückverfolgen, diese eine Unthat vergiftet weithin wirkend jedes, auch das reinste Wollen und Handeln. Und dann eine zweite Ueberzeugung Werder’s, die er in dem Schicksal des mächtigen Entdeckers verkörpern wollte: wer der Welt wohlthut, dem muß sie wehthun. Das ist das Schicksal aller wahrhaft großen Männer, all derer, die ihre Lebensaufgabe nicht von Menschen, sondern von ihrem Gott empfangen haben. Als solch ein Gottgesandter fühlt sich Columbus: in den Propheten des alten Bundes sieht er seine Meerfahrt vorausverkündet; und auch die Vollendung des neuen Bundes soll durch ihn geschehen. Den letzten Heiden soll das Evangelium werden, Christophorus wird das Kind der Jungfrau übers Wasser tragen. Und nun verketten sich die Ereignisse; die Folgen eben jenes königlichen Meineids verstricken auch ihn, den Reinen, in Schuld, sein kühnes Unternehmen bringt ihm nur Qual, Schmach und Friedlosigkeit. W. hat einen Plan entworfen, eines großen Gestalters werth; aber gerade der war er nicht. Er ist des Stoffes nicht Herr geworden. Der eigentlichen fünfactigen Tragödie (Columbus’ Tod) hat er ein zweiactiges Drama (Die Entdeckung) und diesem wieder einen einactigen Prolog vorausgeschickt. Siebenzehn Mal wechselt in diesen acht Aufzügen der Schauplatz; Bühnenbilder von wunderbarem Reiz tauchen auf, Reden von hinreißender Kraft werden laut. Aber gleich neben dem menschlich Eigenartigen steht wieder das conventionellste Theatergespräch. Die meisten der zeitlich weit von einander liegenden Acte bedürfen am Eingang erst wieder einer langen exponirenden Erzählung, wobei viel farblose Worte gemacht werden und episodische Figuren kommen und gehen. Was aber das Entscheidende ist: auch die Hauptpersonen gewinnen kein ganzes Leben. Sie interessiren nur durch ihre Gesinnung; Gesinnungen aber verbürgen keine Theaterwirkung. Durch solches Urtheil, das sich bei jeder neuen Lectüre bestätigt, konnte man den Dichter schwer kränken; denn für ihn war ein Drama, das nicht die Bühnenprobe bestand, überhaupt kein Drama. Seinem „Columbus“ aber, der es noch immer zu keinem nennenswerthen Erfolg gebracht hatte, prophezeite er die rechte Würdigung erst im zwanzigsten Jahrhundert. – Das Stück wurde auf Tieck’s Verwendung zum ersten Male im Januar 1842 mit Seydelmann in der Titelrolle gegeben; aber Seydelmann starb bald darauf. Ein zweiter Versuch 1847 im Charlottenburger Schloßtheater, wo Hendrichs den Columbus spielte, hinterließ keinen nachhaltigeren Eindruck, als die Mannheimer Aufführung von 1882 oder die Berliner von 1892.

W. war eben bei all seiner poetischen Begabung doch keine productive, sondern eine reproductive Natur. Und daher hat er die reichsten Früchte geerntet nicht wo er selber dichtete, sondern wo er die Dichtungen Anderer deutete und ihre Schönheiten verkündete. Das geschah in seinen berühmt gewordenen Vorlesungen über einzelne große Dramen der Weltlitteratur. W. besaß wie Ludwig Tieck ein hervorragendes Talent, sich in eine fremde dramatische Schöpfung einzuleben, und dazu die unerläßliche Gabe der Recitation. Er hat auch ohne Zweifel sein Bemühen als eine Fortsetzung des Werkes Tieck’s aufgefaßt. Der Inhalt seiner Vorlesungen ist jetzt einem Jeden zugänglich, denn sie sind trotz dem Sträuben ihres Verfassers wörtlich gedruckt worden. Vierzig Semester hindurch hat W. seine Erläuterung von vier Tragödien vorgetragen. Er begann im Winter 1859/60 mit dem „Hamlet“ („Vorlesungen über Shakespeare’s Hamlet“, Berlin 1875; 2. Aufl. 1893). Nach langer Polemik gegen Schlegel, Gervinus, Kreyssig, Flathe und andere Erklärer erörterte er die wichtigsten Probleme: die Stimmung Hamlet’s bei der zweiten Hochzeit seiner Mutter, die Wirkung der Enthüllung des Geistes, den Entschluß, ein närrisch Wesen anzulegen, die fünf großen Monologe, Hamlet’s Verhalten [484] gegenüber dem betenden König, seine Schuld gegen Polonius, gegen Rosenkranz und Güldenstern, gegen Ophelia, die letzte Katastrophe; vor allem aber die Tragik der lückenlosen Handlung im Ganzen. Auf diese Weise wies er die Richtigkeit des Wortes nach, das er schon im Anfang der Untersuchung ausgesprochen hatte: Hamlet könne gar nicht anders handeln als er thut; denn nicht zur Ermordung, sondern zur Entlarvung des Claudius fordere der Geist ihn auf. – Mit ebenso emsiger Mühe suchte W. dann 1860 in den Kernpunkt des Charakters Macbeth’s einzudringen („Vorlesungen über Shakespeare’s Macbeth“, Berlin 1885). Kam im „Hamlet“ alles auf das Gefüge der Handlung an, so ist hier der eine Mensch die Tragödie. Auf die Beziehungen aller Uebrigen, auch der Lady, zu diesem Einen hat man zu achten. Macbeth selbst aber ist nicht, wie man ihn bisweilen aufgefaßt hat, ein blutdürstiger Tyrann, auch kein Verführter, sondern ein langsam vorschreitender großer Frevler mit ganzer Verantwortlichkeit für sein Thun. Seine Gedankenschuld, der Anfang seiner ehrgeizigen Wünsche liegt weit vor dem Beginn des Stückes. – Im Winter 1860/61 hielt W. zum ersten Mal seine Wallenstein-Vorlesung („Vorlesungen über Schillers Wallenstein“ , Berlin 1889). Selbstverständlich ist für W. das Drama keine Trilogie, sondern Ein Trauerspiel in zehn (noch richtiger in fünf) Acten mit einem Prolog. W. leugnet Wallenstein’s Treubruch nicht; aber er schiebt die größere Hälfte der Schuld dem Kaiser zu. Dann kann aber die Ermordung auch keine tragisch gerechte Strafe für den Verrath am Kaiser, keine Vergeltung sein. Die tiefere Schuld des Friedländers liegt für W. vielmehr in dem Abfall von der Menschlichkeit, darin, daß Wallenstein die Kriegsfurie zur Herrin der Dinge macht. Das entartete, selbstsüchtige Heer, das er sich geschaffen (denn er konnte für seine Zwecke nur ein entartetes brauchen), ist sein Unglück. Das innerste Motiv seines Charakters aber ist der maßlose Wahnglaube an sich selbst; dieser Wahn ist die Nemesis für ihn. Versöhnend wirkt bei alledem nur dies, daß Wallenstein die eigne verderbliche Anlage gar nicht kennt und daher völlig naiv handelt. Viel Wärme setzt W. für die Vertheidigung Octavio’s ein, d. h. Octavio’s, des Vaters, nicht des legitimen Unterthanen; dann wendet sich die Betrachtung zu den übrigen Personen, Buttler, der Gräfin Terzky, Max und Thekla (mit sehr beachtenswerthen Einwänden), um endlich beredt und mit kundigen Vorschlägen für die Aufführung des ganzen Wallenstein an Einem Abend einzutreten. – Der letzte der vier Cyklen von Vorlesungen trat 1862 ins Leben und behandelte den „Nathan“ („Vorlesungen über Lessing’s Nathan“, Berlin 1892). Auch diese Exegese hat, wie das Drama selbst, die Polemik entbinden helfen. W. muß erst die Mißdeutungen Schiller’s, Vischer’s, Stahr’s weghauen, um Bahn für die eigne Erklärung zu haben. Die Dichtung ist für ihn weder Tragödie, noch Schauspiel; nichts Tragisches kommt in ihr auf, daß etwa nur am Schluß glücklicher Auflösung sich entgegenneigte. Der „Nathan“ ist vielmehr ein rührendes Stück im allerhöchsten Sinne, das einzige Exemplar dieser Gattung. Vorurtheile über Vorurtheile hat gerade bei diesem Werke W. zu bekämpfen: der Tempelherr handelt nicht aus Fanatismus; Recha ist keine Liebende, ja selbst der Tempelherr im Innersten kein Liebhaber von wahrer Leidenschaft; der „Nathan“ ist nicht den Christen zum Tort, den Juden zur Huldigung geschrieben und Vieles mehr.

Aber wenn man sich auch in dieser Weise die Hauptzüge des Inhalts der Werder’schen Vorlesungen vergegenwärtigt, ihren eigentlichen Werth hat man damit noch nicht erfaßt – der liegt nicht in den mitgetheilten Resultaten. W. wollte kein Gelehrter sein oder Jünger zur Gelehrsamkeit heranbilden; er wollte nicht das Wissen über die Kunst, sondern das Gefühl für die Kunst bereichern. [485] Deshalb hat er in seinen Vorlesungen den Stoff niemals historisch behandelt, nie den schaffenden Künstler charakterisirt, nie nach der Entstehung, nach Quellen, nach Werden und Wachsen gefragt. Nur das fertige Kunstwerk war Gegenstand der Betrachtung. Dazu kommt, daß seine Vorlesungen eigentlich gar nicht für die stille Lectüre bestimmt sind. Gedruckt nehmen sie sich mit ihren beständigen Unterstreichungen, mit ihren Recapitulationen und ihrem unaufhörlichen „Das ist der Punkt“ oder „Das ist die Sache“, mit dem rechthaberischen Ton oder dem humorlosen Schelten gar nicht sehr erfreulich aus. Man mußte sie eben hören, und nur von ihrem Verfasser hören. Denn W. war ein Meister des Vortrags. Wer in seine Vorlesungen ging, that es hauptsächlich um des Redners willen. Das wußte W., und es schmeichelte ihm. Bei seinem berühmten Abendcolleg war der größte Hörsaal der Universität dicht gefüllt; neben den Studenten saßen würdige Grauköpfe, Officiere, und auch Damen. Schon die Zurüstung war mit einer gewissen Feierlichkeit verbunden und erregte die Erwartung; der Stuhl auf dem Katheder mußte immer in der gleichen schiefen Richtung stehen. Dann kam der kleine Herr eiligen Schrittes herein, warf den Pelzmantel malerisch über den Sitz, legte die goldne Uhr neben sich und begann. Er setzte leise beim Sprechen ein, bedeutungsvolle Pausen, vorbereitende Gesten unterbrachen den Vortrag; allmählich aber schwoll die Stimme zu vollem Klang an. In alledem steckte viel schauspielerische Berechnung; aber ihm stand sie an. Er wußte, wie man durch das Zusammenwirken von Klang der Stimme, Gestus, Blick des Auges, Beugung des Körpers Stimmung erzeugen kann; und er brauchte Stimmung für seine Zwecke und weckte sie ja auch thatsächlich.

Und doch, in dieser stilisirten Form konnte der Mann immer noch nicht sein Bestes geben. Das behielt er den Bevorzugten auf, die ihn in seiner Wohnung besuchen durften. Ein wundersames Junggesellenheim hatte er sich eingerichtet, überladen mit Erinnerungen, ohne Comfort und doch voll Behagen. Urväter Hausrath hatte sich da angesammelt, altmodische Canapes und Lehnstühle, Gipsabgüsse, verstaubte Dichterbüsten, zahllose Bildchen aus alten Tagen. Dort hauste W., empfing den Gast anfangs vielleicht etwas steif und greisenhaft. Aber wenn er, im Sophawinkel halb sitzend, halb liegend, ein Thema ergriffen hatte, das ihm werth war, dann wurde er warm. Dann konnte er lebhaft reden wie ein Jüngling, schelten und lachen, schwärmen und prophezeien. Und dann geschah es auch wol, daß der Schauspieler in W. zum Durchbruch kam; er sprang auf, spielte ganze Scenen und schloß gern mit einem „So muß es gemacht werden“.

So lebt der alte Werder noch in der Erinnerung Vieler weiter, als ein Zeuge längst vergangener Zeit, und doch zugleich als ein Anreger für die Allerjüngsten.

Quellen für diesen Aufsatz sind, außer den Werken Werder’s, mündliche Berichte und Nekrologe aus dem Jahre 1893, die es nicht lohnt, einzeln zu notiren. Handschriftliches Material, um das ich den Besitzer des Nachlasses bat, wurde mir leider versagt. – Vgl. sonst: E. Loevinson, Cristoforo Colombo nella letteratura tedesca. Roma 1893. – F. Mauthner, Columbus auf dem Theater. Magazin für Litteratur 61, S. 692/94. – H. Wichmann veröffentlichte Briefe Werder’s in der Deutschen Revue, 1893, 4, S. 132–138. – L. Geiger, Berlin 1688–1840. Berlin 1893/5, Bd. 2, S. 443/4. – L. Geiger, Dichter und Frauen. Berlin 1896. Darin ein Aufsatz: „Leopold Schefer und Karl Werder“.

[479] *) Zu Bd. XLI, S. 766.