Der Aufruhr von Amalfi

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Autor: Theodor Herzl
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Titel: Der Aufruhr von Amalfi
Untertitel:
aus: Philosophische Erzählungen, S. 67–86
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1900
Verlag: Gebrüder Paetel
Drucker: G. Bernstein
Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: ÖNB-ANNO und Commons
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[67]
Der Aufruhr von Amalfi.[1]
1888.


[69] Wir waren nach der Mahlzeit. Befanden uns in der glücklichen und nachsichtigen Stimmung, in der man bereitwillig braune Geschichten erzählt und selbst die rosenrothen nicht übermäßig höhnisch aufnimmt. Der Impresario Spangelberg,[2] der unser Tischgenosse gewesen, hielt denn auch den Augenblick für gekommen, uns wieder einmal ein Kapitel aus seinem Leben vorzutragen. Der Gasthaussessel, auf dem er so gerne rittlings sitzt, wird unter Spangelberg immer zum Hippogryphen. Wenn es ihn hinausreißt ins farbige Land der Erzählung, thun wir zwar entrüstet, lauschen aber doch den Worten des liebenswürdigen Lügners. Was da kommen wollte, erkannten wir an einer weiten erzählerischen Gebärde, die er vorausschickte. Er legte sich gewissermaßen aus wie ein Fechter:

„O, meine Herren, die Technik der Posaunenstöße allein macht nicht den Impresario. Sie genügte bloß für den Ruhm des biblischen Feldzeugmeisters von Jericho, des Ahnherrn jener Musik, die den Zuhörer zermalmt. Der Impresario von größerem Wuchs muß noch auf anderen Instrumenten spielen. Um die Massen zu bewegen, muß man sie annähernd verstehen. Die Menge unterscheidet sich, wie Sie wissen, nicht nur durch die Zahl vom Einzelnen; die Menge ist aus dem Einzelnen garnicht zu erklären; Hundert schläfrige Dummköpfe sind in der Vereinigung [70] unberechenbar und gefährlich, wie ein Mann von Geist! Hundert geistreiche Leute zusammengenommen sind zuweilen Ein Dummkopf. Die Menge ist bekanntlich großmüthig und boshaft, intelligent und albern, tollkühn und feig – Alles in demselben Augenblick – sie weicht einem Milchkarren vorsichtig aus und geht in die Bajonette hinein, sie lacht über einen Witz und versteht keinen Spaß, wird durch eine sentimental aufgedonnerte Phrase gerührt und jubelt einer Grausamkeit zu. Die Nuancen sind unerschöpflich. Darum kann ein Demagog ebensowenig wie ein Impresario voraussehen, wie sich der Erfolg gestalten werde. Der Impresario ist ja dem Demagogen innig verwandt. Das ist kein verwegener Dessertausspruch, meine Herren! Ich bin fest überzeugt, Gambetta würde es auch verstanden haben, einen Tenor zu managen. Und wenn Barnum sich nicht auf die Elephanten, sondern auf die höhere Politik geworfen hätte, so wäre er vielleicht Präsident der Vereinigten Staaten geworden.

Ich selbst… Nun, ich will von mir nicht reden. Das heißt – wenn es Sie doch interessiren könnte? – mir fällt da ein kleines Erlebniß ein, beinahe ein Roman, der fast schlecht geendigt hätte… Wollen Sie hören? Sollte ich die Geschichte schon Einem der Anwesenden erzählt haben, so bitte ich ihn, unterdessen ein wenig zu schlummern, aber nicht zu schnarchen, weil mich das stören würde.

Hm, in welchem Jahr ist es denn nur gewesen? … Einen Augenblick! War’s auf meiner ersten oder zweiten italienischen Reise? … Darauf kommt’s eigentlich gar nicht an. In Amalfi … Halt, jetzt besinne ich mich. Auf meiner zweiten italienischen Tour geschah es. Ich hatte einen Klavierspieler bis nach Neapel mitgenommen. [71] Dort ging er mir durch – eine ältere, aber warmfühlende Gräfin hatte sich in seine Affektationen verliebt und entführte ihn. Ich war darüber nicht in Verzweiflung, denn ich hatte mit diesem abgeschmackten Bengel miserable Geschäfte gemacht. In eine ziemliche Verlegenheit brachte er mich allerdings. Für das nächste Konzert hatte ich nämlich schon eine Anzahl Sitze voraus verkauft und mußte nun das Geld zurückerstatten. Dazu wäre ich mit Vergnügen bereit gewesen – wenn ich es noch gehabt hätte. Aber wir lebten von vorgegessenem Brod. Ein paar Napoleons hatte ich wohl noch. Die waren nicht hinreichend. Was thun? Ich that Folgendes: ich annoncirte, daß unser nächstes Konzert – von dem ich wußte, es könne nie mehr stattfinden – in acht oder zehn Tagen stattfinden werde, weil sich mein Virtuose den kleinen Finger der linken Hand verstaucht habe. In acht oder zehn Tagen konnt ich mir die nöthigen Fonds aus aller Welt zusammengetrommelt haben und meinen Verpflichtungen nachkommen. Denn dem Publikum bin ich nie etwas schuldig geblieben. Da ich aber voraussah, daß ich mich während dieser Wartezeit in Neapel nicht behaglich fühlen dürfte, so suchte ich mir einen stilleren Ort in der Umgebung aus, wo ich billig leben und – wo mich Niemand finden konnte.

So entschloß ich mich, nach Amalfi zu gehen. Dahin fahren höchstens die Fremden, nie ein Neapolitaner… Meine Herren, es reist sich schön, wenn man Banknoten in der Tasche hat, oder – wie man alterthümlich sagt – wenn die Geldkatze geschwollen ist. Der sonnige Schein des Goldes überglänzt die Gebirge. Aber schöner, viel, viel schöner ist es, ohne Geld zu reisen. Nämlich nicht ganz ohne Geld, sondern nur mit so wenig, daß man sich eine Menge reizender Dinge nicht kaufen kann. Wie begehrenswerth [72] erscheint einem dann die ganze Welt! Das Räthsel des Glückes hat für jeden Menschen eine andere Lösung. Die meinige ist: nicht genug Geld haben. Ich war oft so glücklich.

Ich stieg also eines schönen Morgens am Kai von Santa Lucia in die tanzende Barke und ließ mich an den Dampfer übersetzen. Wir fuhren. Anfangs sah ich nicht ohne Melancholie nach dem anmuthreichen Orte zurück, an dem ich außer einigen unglücklichen Sperrsitz-Inhabern auch noch eine Gläubigerin meiner Liebe verlassen hatte: Madamigella Teresina vom Ballet des Teatro San Carlo, die sich während der letzten Wochen meiner irdischen Glückseligkeit angenommen hatte. Ein liebes Geschöpf! Sie schwor immer, sie werde es nicht überleben, wenn ich je von ihr ginge. Sie malte mir die Todesarten, die sie wählen würde – täglich eine andere – mit verschwenderischen Farben. Ich glaube so etwas immer. Auf dem Schiffe nun dachte ich darüber nach, ob die Heißgeliebte zehn Minuten oder gar eine Viertelstunde lang untröstlich sein werde. Da mir aber diese Gedanken auf die Dauer zu schwarz wurden, so vertiefte ich mich in den aufheiternden Anblick eines blonden Haarknotens, der glücklicher Weise mit an Bord war. Das reine gesponnene Gold. Die Besitzerin, eine junge Engländerin, die keinen Blick von ihrem Reisebuche verwandte. Wenn diese Engländerinnen sich entschließen, schön zu sein, dann sind sie es überraschend. Die, von der ich spreche, hatte sogar kleine Füße. So klein – ich übertreibe nicht. Und dabei die hohe Wölbung, genau nach der alten Schönheitsregel, daß ein kleiner Vogel darunter Platz haben müsse. Ich nenne deshalb Füße dieser Art: zwitschernde Füße. Ich möchte ihnen immer gerne meinen Sammetmantel unterbreiten, [73] wenn ich einen hätte und in den Zeiten der Ritterlichkeit lebte… Und das Gesicht von adeliger Feinheit, und der Hals, der Schulternfall, die weiche Linie des jungen Leibes!… Kurz, ich betete sie gleich an. Denn das war noch meine gute Zeit, in der ich nicht nur geliebt wurde, sondern ab und zu auch selber liebte. Uebrigens wird Sie das nicht interessiren.

Erfahrung hatte ich allerdings schon damals. Ich wußte, wie man ein Boot entert. Jedenfalls war ich sofort entschlossen, sie nicht mehr aus den Augen zu lassen, mitzufahren bis ans Ende der Welt oder wenigstens bis an das Ende meiner Baarmittel, welches näher gelegen war. Ich besah mir ihre Gesellschaft unauffällig. Es war ein Vater und eine Mutter da, sowie ein verdächtiger Kerl mit rothen Whiskers, in dem ich gleich den angehenden Bräutigam witterte. Unverkennbar die angeborene Flegelhaftigkeit und das Bestreben, dieselbe vor Mister, Mistreß und Miß Coverley nicht in einem die National-Gewohnheiten übersteigenden Maße zu verrathen. Der Herr mit den Whiskers war Kapitän Hatton-Green. (Die Namen erfuhr ich natürlich erst später.) Es zeigte sich bald, daß die Engländer dasselbe Ziel hatten, wie ich. Wir ignorirten uns aber gegenseitig auf das kunstvollste. In Sorrent bestiegen drei Bänkelsänger unser amalfitanisches Schiff. Ich gab ihrem Häuptling einen Wink. Die drei Musikanten führten nun mit Tambouringeklirr, Guitarrengezirp und Geigenquieken, singend und tanzend, ein paar groteske Ständchen auf. Die Miß dankte mir mit einem vorüberhuschenden reizenden Blick, den ich nicht wahrzunehmen für gut fand. Nach dem zweiten oder dritten Liedchen hatte ich einen wahrhaft fürstlichen Einfall. Ich warf Jedem der Spielleute einen Louisd’or hin, absichtlich [74] ungeschickt, so daß die Goldstücke in der Richtung der Coverleys entrollten. Die Wirkung war magisch. Die drei Barden ließen ihre Instrumente fallen und setzten ihrem flüchtigen Scheibchen nach, daß es nicht ins Meer entschwinde. Einer kroch unter die Bordbank, alle Drei lagen menschlich ordinär auf dem Bauche, bis sie es hatten. Mr. Coverley sah beim Aufklingen des Goldes instinktiv nach mir, in seinem Blicke lag Verdammung und Bewunderung. Mrs. Coverley betrachtete mich mit dem träumerischen und prüfenden Blicke einer Mutter, die Schwiegermutter zu werden bereit ist. Miß Coverley benahm sich noch am besten: sie lächelte über die Goldjäger, aber in dem Lächeln war auch Anerkennung für meine Freigebigkeit enthalten. Der Mann mit den rothen Whiskers wurde grün und gelb vor Aerger. Aber Alle lagen auf dem Bauche. Gönnen Sie sich einmal einen ähnlichen Scherz, meine Herren! Der Anblick, den die Zuschauer darbieten, ist dreimal zwanzig Francs werth. … Die Minnesänger von Piedigrotta verliehen mir alsdann den Titel „Eccellenza“ und legten ihre ganze Seele in das folgende Lied. Einer dieser Gesänge fand besondere Gnade bei der schönen Miß. Sie äußerte auf Englisch lebhaften Beifall zu ihren Leuten gewendet. Daraufhin gebot ich den Musikanten, dieses Stück zu wiederholen. Sie dankte mir mit einem ganz kleinen Kopfnicken und wurde auch ein wenig roth. Diesmal verneigte ich mich, selbstverständlich in der zurückhaltendsten Weise. Doch das Eis war gebrochen. …

Verweilte ich bei dieser Prozedur zu lange? Wenn man, wie ich, seine grauen Haare nicht mehr zu zählen vermag, so scheint Einem der Anfang das Allerbeste zu sein. Was später kommt, ist ja fast immer von erdrückender [75] Banalität. Ich will Sie entschädigen, indem ich über den weiteren Verlauf des Bekanntwerdens hinweggleite.

Wir wohnten alle im oberen Capuziner-Hotel, das man auf Anglo-Italienisch „Upper-Capuccini“ nennt. Das Wort erinnert angenehm an die oberen Zehntausend, an erhabene Preise und dergleichen. Aus den schmalen Fenstern des alten Hauses genießt man einen weiten Ausblick auf die verwitterte Felsenküste und auf das grüne Meer … Ich blieb fortwährend in der Gesellschaft der Coverleys, den Kapitän Hatton-Green mußte ich natürlich auch mit in den Kauf nehmen. Was mir seine Anwesenheit versüßte, war der große Verdruß, den ihm die meinige offenbar bereitete. Meine Eitelkeit sehnt sich immer nach Rivalen – weil ich es liebe, vorgezogen zu werden. In Allem ließ ich ihn meine Ueberlegenheit fühlen. Wenn er ein Lied gekrächzt hatte, sang ich eins. Ich tanzte besser als er, lief schneller, ruderte geschickter, ritt verwegener, traf mit dem Revolver mehr Vögel im Fluge; ich war gelassen, wenn er gereizt war, und übermüthig, wenn er verstummte. … Wir waren also immer beisammen; bei schlechtem Wetter im Salon, bei gutem im Freien. Amalfi! Das ist für mich die unvergeßliche Landschaft. Wir machten köstliche Ausflüge: Eselsritte hinauf nach Ravello, Spaziergänge nach Majori, Minori und Barkenfahrten nach – nach dem Sonnenuntergang. Miß Mabel Coverley strahlte mich mit zärtlichen Augen an und gab mir die förmliche Erklärung, daß sie sich noch nie so gut unterhalten habe.

Denn wie ich schon die Ehre hatte, Ihnen mitzutheilen, war das meine prachtvollste Zeit. Ich war damals noch ein großer Amuseur. Ich war unerschöpflich in Schwänken, Mätzchen, Späßen von tausenderlei Art. Wie hat Miß Mabel sich das Taschentuch in den lachenden Mund gestopft, [76] wenn ich unsern Hotelgenossen, den Amerikaner Mr. Timberlake, täglich nach dem Diner in einer von mir vorher angesagten Minute dahin brachte, eine und dieselbe Geschichte zu erzählen, die ich ihn nie vollenden ließ. Wenn der dicke Ehrenmann bei der Stelle angelangt war: „Der Zug stand still. Da tauchten plötzlich sechs vermummte Indianer auf …“ so wußte ich immer irgend ein kleines Unglück zu improvisiren, das ihn zwang, innezuhalten. Man hat im Upper-Capuccini-Hotel nie erfahren, was die sechs Vermummten thaten; aber täglich mußte der arme Mr. Timberlake von vorne beginnen, „weil wir den Anfang nicht mehr wüßten …“ Ich will Ihnen nicht alle diese Dummheiten erzählen. So etwas ist eigentlich nur lustig im ersten Augenblicke, wo der Streich ersonnen und ausgeführt wird. Auch die Prellereien haben eine beauté du diable … Hatton-Green versuchte wohl ab und zu, mir den Spaß zu verderben, er hielt immer Wetten gegen mich. Aber man lachte doch, und die Wetten verlor er.

So machte ich mich auch einmal anheischig, zu Miß Coverley’s Unterhaltung einen Aufruhr in dieser braven Stadt Amalfi zu insceniren, und zwar mit einem Aufwande von nur zehn Francs. Einen regelrechten Aufruhr ohne Blutvergießen, aber mit einschreitender Polizeimacht, erbitterten Bürgern, heulenden Weibern, kreischenden Gassenjungen und beschwichtigendem Sindaco. Der Kapitän wollte zehn Flaschen Champagner dagegen wetten. Ich wich natürlich nicht zurück. Abgemacht! Nur wünschte Herr Hatton-Green ausreichende Garantien, daß ich nicht um einen einzigen Centesimo mehr zur Beunruhigung der Bevölkerung aufbieten würde. „Mein Wort genügt doch?“ sagte ich. – „In jedem anderen Falle,“ erklärte er; „bei einer Wette kann jedoch nur von objektiver Sicherstellung [77] die Rede sein.“ – Ich ließ ihn nicht entkommen: „Meinetwegen, Kapitän! Welche Sicherung wünschen Sie?“ – „Daß Sie Alles Geld, das Sie mithaben – bis auf die zehn Francs – bei dem Hotelier, Mr. Coverley oder mir deponiren, ehe Sie hinausgehen.“

Das war für mich ein unangenehmer Augenblick. Mein Vermögen belief sich auf vier Napoleons und fünfzehn Lire in Silber. Ich wurde verlegen wie ein Armer. Statt dem Kapitän ins Gesicht zu lachen und zu erklären, daß ich überhaupt mit ihm nicht mehr wette – willigte ich in seine Bedingung. Ich hielt ihn für einen Gentleman. Ich sperrte meine Brieftasche, die außer Mahnbriefen nichts enthielt, sowie den Geldbeutel in meinen Kasten und lieferte den Schlüssel dem draußen wartenden Hatton-Green ab. Er bat mich hierauf zuvorkommend, auch das Zimmer zu verschließen und den Schlüssel einer dritten Person meiner Wahl zu hinterlassen, da wir uns ja erst seit einigen Tagen kannten. Diese unfeine Bemerkung hätte mich eigentlich stutzig machen sollen. … Ich gab den Zimmerschlüssel Mr. Timberlake. Für zehn Francs ließ ich mir kleine Kupfermünzen einwechseln, die mich sehr beschwerte, und dann ging ich.

„Miß Mabel,“ sagte ich, „in zwei Stunden ist Aufruhr in Amalfi! Vom Balkon des Hotels an der Marina können Sie Alles sehen.“

Sie lachte lustig und bat mich, nicht gar zu verwegen zu sein. O, man braucht die Weiber nur zu amüsiren, dann hat man sie gewonnen. Als ich die Felsentreppe vom Hotel hinunterschritt, kam mir eine hochrothe Rose nachgeflogen. Ich preßte sie an meine Lippen, wie wenn ich in die Schlacht gezogen wäre.

Meine Herren, Sie werden vielleicht finden, daß es [78] ein frivoler und impertinenter Scherz war, den ich mir mit dem armen Pöbel von Amalfi erlaubte. Aber Sie werden hören, wie ich dafür bestraft wurde. Auch war ich damals um zwanzig Jahre thörichter als heute. Auch setzte ich mich immerhin der Möglichkeit aus, ein paar Messerstiche aus dem Handel fortzutragen. Jedenfalls brauche ich mich meines Streiches weniger zu schämen, als der rothe Kapitän Hatton noch jetzt über den seinigen erröthen sollte …

Ich hatte also vor, die Münze allmählich unter die Leute zu streuen, was sie in Hitze bringen mußte. Wissen Sie, was das für Kerle sind? Arm, bettelarm, faul, dumm und gierig. Das brät in Lumpen an der Sonne, das liebe Leben hindurch. Als Kinder jagen sie barfuß und seelenvergnügt über die heißen Strandkiesel. In der mannbaren Zeit lungern sie schläfrig im Schatten. Die Greise sitzen wieder in der Sonne, auf den Stufen der großen Freitreppe vor der Kathedrale und küssen den feisten Priestern, die vorüberkommen, die Hand. Vielleicht möchten sie arbeiten? Aber die Menschenkraft ist billiger als die des Zugthieres. Für zwei Soldi thun sie Alles, was man will, sogar etwas Rechtschaffenes. Der Lazzarone in Neapel ist ein vornehmer, ein fleißiger Herr gegen den Faullenzer von Amalfi. Jedes kleine Ereigniß lockt Hunderte zusammen. Als die wildere Brandung eines Tages ein schlecht verwahrtes Boot zerbrochen hatte, war die halbe Stadt um den wehklagenden Padrone versammelt. Als das geringe Fahrzeug später ausgebessert wurde, umgab neuerlich eine dichtgedrängte Menschenmenge den einzigen arbeitenden Zimmermann … So ist das Völkchen beschaffen, mit dem ich experimentirte. Ich begann damit, die Gassenjungen um mich zu versammeln. Für zwanzig Centesimi kaufte ich gedörrte Kürbiskerne, von denen ich [79] eine Handvoll unter die Buben warf. Im nächsten Augenblicke wälzte sich ein wirrer Knäuel von Kämpfenden auf dem Straßenpflaster. Dann zog ich weiter, kreuz und quer durch die Stiegengäßchen, über den Marktplatz, an die Marina und wieder zurück, der reine Rattenfänger von Hameln. Die Buben jauchzten. Als die Kürbiskerne zu Ende waren, hatte ich schon eine riesige Eskorte. Ich stimmte einen ihrer beliebten Gassenhauer an, mit meinem Stocke den Takt schwingend. Die wilde Jugend heulte wonnetrunken mit. Mein Zug wuchs. Die Leute liefen aus den Häusern, um das Spektakel auch zu genießen. Ich immer vorauf, die Buben hinterdrein, und endlich die Erwachsenen, die sehen wollten, was der offenbar verrückte „Inglese“ noch unternehmen werde. Nachher stand ich auf der Freitreppe unterhalb der Kathedrale und begann ihnen Kupfermünzen zuzuwerfen. Vor mir der Marktplatz, auf dem die Menge anschwoll. Jetzt balgten sich nicht mehr die Kleinen, die zu schwach waren, sondern die Großen. Die Kinder hatten sich zu mir auf die Treppe gezogen, kreischten um mich her, streckten mir den wackelnden schmutzigen Zeigefinger entgegen: „Da mi un soldo! … Muojo di fame!“ Ganz Kleine, die das mit schelmisch liebenswürdiger Miene zwitscherten: „Signo’, Signo’, un soldo!“, und Größerer, die schon ein Messer führten, mit rauher Drohung in der Stimme: „Un soldo!“ Ab und zu mußte ich mich ihrer schon mit dem Stocke erwehren.

Wortloser und grimmiger standen die Großen unter mir auf dem Marktplatze, der bald zu eng wurde. Anfangs war es ein Spaß. Wenn das Soustück geflogen kam, haschten sie lachend danach. Wenn sie es nicht im Fluge fingen, so warfen sich die Nahestehenden übereinander auf [80] den Boden, so daß die Gruppe von meinem Standpunkte sich ausnahm wie ein Polyp mit gierig zuckenden Armen. Die nicht nahe genug waren, um sich an der Konkurrenz zu betheiligen, sahen geringschätzig und neidisch hin – wenn ich aber den Soldo in weiter ausgreifendem Bogen bis zu ihnen warf, thaten sie genau ebenso. Und immer hingen an meiner schleudernden Hand so und so viele saugende Augen. Auf seiner Flugbahn begleiteten sie das Kupferstück durch die Luft. Um Einen Soldo! Aber multipliziren Sie diesen Soldo, meine Herren, und Sie werden finden, daß nicht nur auf dem Marktplatze zu Amalfi Aller Augen auf ihn gerichtet sind. … Anfangs, sage ich, war es ein Spaß. Nun vermehrten sich die Mitwerber. Die müßigen Fischer kamen von der Marina hergelaufen. Die Eseltreiber banden das Thier an, um freie Hand zu haben. Die wandernden Verkäufer brachten ihre Waare in Sicherheit, um mitzuthun. Geschäftsleute wurden zu Bettlern. Kurz, Handel und Wandel stockte. Und die Straßenpolizei? Es war ein Wachmann da, der wohl Versuche gemacht hatte, die Leute auseinanderzujagen, es dann aber als hoffnungslos aufgab. Er stand nun da, mit gerunzelten Brauen, gekreuzten Armen, würdevoll und mißbilligend. Erheitert nahm ich ihn zum Ziele. Er blieb unbeweglich im Soldo-Regen. Als aber eine der Münzen dicht genug an ihn herankam, da schnappte er mit dem Munde, wie der Hofhund, der eine Fliege fängt, und weg war sie. Ich hielt mir die Seiten vor Lachen … Mein Geldvorrath wurde geringer. Dagegen wuchs die Aufregung der Menge. Die schon etwas hatten, wollten noch mehr; die Anderen, die Ungeschickten oder Schwachen, ergrimmten. Heftiger kämpften sie um jedes Stückchen Kupfer, das unter sie fiel. Die Weiber kreischten, die [81] Männer fluchten. Kleiderfetzen rissen sie einander vom Leibe, setzten in sinnlos werdender Gier mehr ein, als sie gewinnen konnten. Brausend wurde der Lärm, wirrer, leidenschaftlicher das Getümmel. Die Leute erbosten sich über einander, steckten sich mit ihrer Wuth gegenseitig an. Und mich selber packte es mit aufregender Gewalt, dieses großartige Bild. Ein Stoff für Maler, die ihrer Zeit nicht aus dem Wege gehen wollen! Das heißt: Rechenschaft über diese Dinge gab ich mir erst später, viel später. Damals verstand ich sie kaum.

Weil ich nicht mehr viel Soldi hatte, mußte ich das Geld allmählich sparsamer hinauswerfen. Das erbitterte sie gegen mich. Grelle Pfiffe, zornige Schreie stiegen auf. Es schien fast, als ob dieser arme Pöbel plötzlich zum Bewußtsein der Demüthigung gelangt wäre, die ich ihm zufügte. Meine Herren, ich gestehe, daß mir das Lachen verging. Ich hatte die Wildheit des Thieres, mit dem ich spielte, unterschätzt. Es war zu spät, um zurückzuweichen. Das Entfesselte wuchs mir über den Kopf. Die Wüthenden drängten mir immer näher. Es gab nur Ein Beschwichtigungsmittel: weiter Geld unter sie werfen! Aber wie lange reichte es noch? Schon begann der Abend zu dämmern. Ich verlor einen Moment lang die Ruhe und schleuderte mehr Münzen auf einmal hinunter. Brüllend fielen sie darüber her. Was jetzt vor mir tobte, war eine Straßenschlacht. Ein paar Wachleute waren vorhin aufgetaucht, um Ruhe zu schaffen, und wurden einfach weggetrieben. Bis sie Verstärkung bekamen, konnte ich längst zertreten sein. Instinktiv wendete ich mich nach Rettung um. Die Kathedrale! Aber ich hatte vielleicht fünfzig Stufen zu steigen. Ein Versuch. Laufend wollte ich hinauf. Das war eine Thorheit. Kaum hatte ich ihnen den [82] Rücken gewendet, überholten mich dreißig, vierzig der Kerle. Ich blieb stehen und deckte mir den Rücken an der Treppenbrüstung. Ich war wieder besonnen. Von drei Seiten rückten sie mir jetzt auf den Leib mit dem heiseren Wuthruf: „Un soldo! Un soldo! …“ Ich hatte keinen mehr. Ich schrie es den Nächsten zu. Sie glaubten mir nicht. Auch drängte man von hinten nach. Ein paar Dreiste griffen mir an den Rock. Ich stieß sie zurück. Mit dem Stocke säbelte ich mir jetzt einen Durchgang bis an den Fuß der Treppe. Dann fing einer hinter mir das sausende Holz und entriß es mir… Und dann weiß ich keine Einzelheit mehr. Weiß nur, daß ich umhergestoßen und mißhandelt wurde, bis sie mich zufällig an ein Hausthor warfen. Das sprang unter meinem Anprall auf. Ich taumelte hinein. Im nächsten Moment hatte ich die Thür hinter mir zugeschlagen, den Riegel vorgeschoben. Draußen heulten die Kerle laut auf und wollten mich wieder haben. Diesmal hätten sie mich zerrissen. Prasselnd kamen Steine an das Haus geflogen. Der Hausherr aber war mildherzig und geleitete mich zur Hinterpforte, die auf den Berg führte, und von da erreichte ich in zerfetztem Gewande, mit Beulen auf dem Kopfe und Striemen im Gesichte „Upper-Capuccini“. Ich machte Toilette.

Miß Mabel und die anderen Erschrockenen waren längst von der Marina zurückgekehrt, wo sie einen Theil mit angesehen. Man hatte mich scheußlich zugerichtet, aber meine Wette war gewonnen. Aufruhr tobte durch Amalfi. Aus der unteren Stadt kamen Bulletins: der Sindaco hatte eine Rede gehalten, die Zollwache war zur Unterstützung der Polizei aufgeboten worden, und daß mich heute kein vergossenes Blut belastet, verdanke ich einem Platzregen, der endlich die Straßen säuberte. Unterdessen [83] tranken wir Hatton-Green’s Champagner … Der rothe Kapitän war außerordentlich gut gelaunt. Er verlor mit Anstand. Die Coverleys aber, die bisher von so überströmender Liebenswürdigkeit gewesen, waren gegen mich jetzt völlig erkaltet. Auch Miß Mabel! Und um ihr zu gefallen, hatte ich doch den wilden Streich unternommen.

Das ist die Geschichte meines Aufruhrs von Amalfi, in welchem ich gezeigt habe, daß ein richtiger Impresario auch Straßenszenen arrangiren kann … Wollen Sie nun aber das groteske Ende der Liebes-Aventiure hören?

Am nächsten Morgen theilte Mr. Coverley mir ohne Weiteres mit, daß er mit seinen Leuten Amalfi verlasse. Sie wollten nach Capri. Mich forderten sie nicht auf, mitzufahren, obgleich früher davon die Rede gewesen. Nur Kapitän Hatton-Green fragte mich – fast schien es mir wie Spott – ob ich nicht mit wolle. Als ob er gewußt hätte, daß ich von „Upper-Capuccini“ nicht fort konnte – wegen der Rechnung. Ich sagte dumm, daß ich es in Amalfi sehr behaglich fände, ich würde jedoch in einigen Tagen nachkommen. Miß Mabel hatte daraufhin einen leichten Hustenanfall … Ich habe ihr noch ein schönes Blumenbouquet zum Abschied in die Hand gedrückt, unten an der Marina, ehe sie das Boot bestieg. Sie dankte eisig. Verglommen der Liebesstrahl in diesen blauen Augen. Warum, Miß Mabel? … Dann stand ich und sah dem Schiffe nach, das hinausflog aus der Bucht von Amalfi, hinter dem Felsenvorsprunge verschwand. So blieb ich unbeweglich, bis eine kleine Horde von Kindern neben mir auftauchte mit dem bekannten Rufe: „Signo’, signo’, un soldo!“ Ich sah zu, daß ich weiter kam.

Drei Tage war ich noch, der Ablösung harrend, auf „Upper-Capuccini“, sendete Telegramme um Geld in der [84] ganzen bewohnten Welt herum. Aber mehr als das quälte mich die Frage: Warum, Miß Mabel? … Endlich war meine Rechnung beglichen. Nun, auf nach Capri! Nein, im letzten Augenblicke kam das Stubenmädchen und fragte mich schluchzend, ob mir nichts weggekommen wäre? Der rothe Kapitän hatte sie durch ein reiches Trinkgeld überredet, ihm mein Zimmer aufzusperren, während ich in der unteren Stadt den Aufruhr machte. Zuerst war Hatton allein, dann kam er mit Mr. Coverley wieder, und sie öffneten meinen Kasten. …

Meine Herren, ich habe laut aufgelacht, als ich diese Lösung erfuhr. So laut, so heiter, daß die brave Stubenjungfer sich beruhigte. Es war mir ja auch wirklich nichts abhanden gekommen außer einer Illusion. Dies sagte ich ihr. Da schluchzte sie wieder: ob so etwas sehr theuer sei und ob sie es mir ersetzen müsse? „No, no,“ sagte ich ihr tröstend, „das ist unersetzlich, und doch ist man um so besser dran, je weniger man davon besitzt.“ Ich wage allerdings nicht, zu behaupten, daß sie mich verstanden habe… Und ich fuhr nicht nach Capri, sondern in lebhaften Selbstgesprächen nach Neapel. O Miß Mabel! Ich zürne Ihnen nicht. Ich verlange von den schönen Weibern nicht, daß sie unpraktisch seien. Ich begreife ganz gut, daß Sie sich von mir zurückzogen, nachdem Sie so erschöpfende Einsicht in meine Verhältnisse genommen. Aber um wieviel sind Sie und Ihre Leute besser, als dieser soldo-begeisterte Pöbel von Amalfi, der Ihnen solchen Ekel einflößte? Um wieviel, Miß Mabel? …

Mein erster Gang in Neapel war zu Madamigella Teresina. Ich wurde nicht vorgelassen. Ihre Zofe legte vertraulich den Zeigefinger auf den Mund: „Ein reicher Russe …“

[85] Und wieder habe ich recht herzlich gelacht und bin fortgegangen. An den wunderbaren Strand. Ein Frühlingsabend war es. Blaurothe Lichter wiegten sich auf dem Golf. Drüben die rosige graue Wolke Capri. Noch einmal zogen die Bilder dieser vollen Tage durch meinen Sinn. Mir war, als hätte ich etwas Unvergeßbares erlebt. Der triviale Liebestraum konnte es nicht sein. Was denn? etwas Größeres! Halt, jetzt wußte ich es plötzlich. … Der Marktplatz von Amalfi ist die Welt. Und dieser häßliche Aufruhr ist das Leben. …“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Amalfi ist eine Kleinstadt an der Küste Süditaliens, siehe auch Amalfi
  2. Spangelberg ist auch Hauptfigur der Erzählung Pygmalion