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Der Vampir (Reymont)/Achtes Kapitel

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aus: Der Vampir (Reymont)
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Achtes Kapitel

Er konnte nicht mehr antworten, er war allein im Flur zurückgeblieben, Ada ging die weißen Marmortreppen hinauf, er fing nur ihre letzten Blicke auf, die wie berauschende Blüten auf ihn herabfielen, ehe er in dem Geräusch der Straßen und im Nebel unterging. Er war erregt über dies alles, und ihre letzten Worte hatten einen solchen Brand in seinem Herzen entfacht, daß er von einer merkwürdig glückseligen Freude flammte.

„Und alles zusammen ist kaum zu glauben,“ dachte er. „Wie ein Kapitel eines noch ungeschriebenen Romans! Erlebt, und doch durchaus unwahrscheinlich!“ flüsterte er, während er ein wenig nüchtern wurde an einer Straßenkreuzung, die so dichtgedrängt von Wagen war, daß es unmöglich schien, auf die andere Seite zu gelangen. Er ging jedoch unter dem Schutze eines Policeman hinüber, auf dessen Wink dieser ganze furchtbar reißende Strom sich spaltete und auf der Stelle erstarrte.

„Wie das Leben selbst,“ sann er weiter, hier und dort vor den Auslagen der Läden stehen bleibend und ohne zu wissen, worauf er schaute, so ganz erfüllt war er von Erinnerungen und einer freudigen Rührung. Mechanisch ließ er sich von den Massen hintragen [243] wie ein Stück Holz, das der Strom fortreißt, – ohne zu denken, wohin er fließe und wozu.

„Wie merkwürdig das ist!“ Er war verwundert, denn er verstand jetzt erst die ganze Ungewöhnlichkeit von allem, was er soeben erlebt hatte.

So geriet er in den Hydepark und irrte lange auf den leeren Wegen umher. Der Tag breitete sich grau und düster aus, von allem ringsumher wehte ihn eine traurige Totenstille an, die blätterlosen Bäume bebten ohnmächtig, das Wasser hatte den Schimmer matter, erblindeter Augen, hoch über dem Parke kreisten Scharen von Vögeln, zuweilen krächzten Krähen. Die Traurigkeit dieses düsteren Tages sickerte langsam in sein Herz, und ihre Stiefschwester, die Melancholie, begann ihre moderigen Leichenhände auf seine fieberigen Augen zu legen. Es bemächtigte sich seiner eine unerklärliche Apathie, das Feuer erlosch, und die Langeweile breitete die grauen Wolken der Ohnmacht darüber. Er wurde hoffnungslos traurig in seinem Herzen, – sogar jene zauberhaften Visionen, an denen sich noch vor einem Augenblick seine Einbildung berauscht und vor denen er verzückt gekniet hatte, begannen sich in gewöhnliche Wirklichkeit zu verwandeln, etwas Zufälliges und Alltägiges zu werden. Selbst die letzten Worte Adas kamen ihm wie ein längst verklungener leerer Schall vor. Mit einer Art Schreck fühlte die Wallungen und das wunderbare Glück, das er vor kurzem empfunden hatte, die zugleich mit Adas Erscheinen wieder aufgewacht waren, zu Nichts werden und aus seiner Seele herausfließen, wie Wasser aus einem zerbrochenen Kruge, [244] und nur ein beißender Schmerz über die eigene Ohnmacht blieb zurück.

„Das Wunder währte einen Augenblick, und kaum erweckt, stirbt es den ewigen Tod!“ sann er mit nagendem Schmerz, denn in diesem Augenblick fühlte er im Herzen die bittere Wahrheit, daß er Ada nicht mehr liebte, daß die kleine Wanda ihm fremd und gleichfalls gleichgültig war. Doch er wollte es sich noch nicht gestehen, er wehrte sich vor sich selbst und schob die Schuld daran der augenblicklichen Ermüdung zu. Doch plötzlich wurde ihm so bitter ums Herz, und er schämte sich seines eigenen Zustandes so, daß er sich alle Mühe gab, nicht weiter darüber nachzudenken, und schnell nach Hause eilte.

Im Eßzimmer traf er niemand an, – so ging er gleich nach dem Frühstück zum Café in den Reading-Room.

Mrs. Tracy spazierte wie immer im Zimmer umher mit einer Katze im Arm, und zwei andere Katzen, die weiß wie Schnee waren, folgten ihr wie ihr Schatten.

Mr. Smith wärmte am Kamin sein orangengelbes, trockenes Gesicht, und einige Pensionsdamen saßen in Tücher gehüllt auf dem großen Sofa in der Ecke und flüsterten halblaut.

„Und wieder regnet es,“ stöhnte Mrs. Tracy und sah zum Fenster hinaus.

„Wie jeden Tag, – ein furchtbares Klima, ich habe beinahe vergessen, wie die Sonne aussieht, noch einige Wochen solchen Wetters, und ich …“ Zenon verstummte, denn irgendwo aus der Tiefe der [245] Wohnung drang das traurige Heulen des Panthers herüber.

„Dies Vieh bringt mich noch zur Verzweiflung!“

„Bagh, Sie?“ fragte sehr verwundert eine der Damen.

„Ich habe beinahe die ganze Nacht nicht schlafen können, so hat er gewinselt.“

„Das ist sonderbar, mein Zimmer stößt an die Orangerie, und doch habe ich nichts gehört,“ flüsterte Mrs. Tracy, zu den Damen hinüber sehend, ein verstohlenes verständnisinniges Lächeln glitt über die Lippen aller.

„Ich beneide Sie um diesen herrlichen Schlaf, ich bin von jedem Winseln wach geworden.“

„Er sehnt sich nach seiner Herrin.“

„Und vielleicht spricht er mit ‚Ihm‘,“ sagte geheimnisvoll Mr. Smith, während er eiligst gleichsam etwas von seinen Fingern abschüttelte.

Wieder erscholl ein kurzes Brüllen Baghs, und zwar so nahe, daß die Katzen mit krummem Rücken und gesträubtem Fell in die Arme der Mrs. Tracy sprangen, welche ratlos dastand und ihre Augen erschrocken umherschweifen ließ.

„Wissen Sie nicht, wann Miß Daisy zurückkehrt?“ unterbrach sie endlich das unangenehme Schweigen, die erschrockenen Damen atmeten auf, und Mr. Smith stieß so heftig nach einem Scheit im Kamin, daß die Funken das Zimmer überschütteten.

„Ich weiß nicht!“ Ihn wunderte die Frage, doch heimlich trafen sich die Blicke aller, – sie wußten Bescheid.

[246] „Mrs. Blawatska erkundigt sich täglich mehrmals nach ihr, und ich kann ihr nichts Bestimmtes sagen,“ erklärte Smith. „Die Freunde von Miß Daisy müßten es doch wissen!“

„Ich dachte auch, Sie würden mich aufklären,“ drängte Mrs. Tracy.

„Ich? Welche Vermutung! Ich kenne Miß Daisy weniger als irgend jemand in der Pension.“ Aber da Zenon an ihren Gesichtern erkannte, daß man ihm nicht glaubte, und da er eine Art Neugier bemerkte, begann er eifriger, als er es vielleicht wünschte, zu versichern, daß er nichts von Miß Daisy wisse.

„Dann weiß es Bagh allein,“ brummte Mr. Smith ernst.

„Es ist nur unmöglich, etwas von ihm zu erfahren! Und das ist schade!“ sagte Zenon ironisch und schickte sich an, zu gehen.

„Wir können es nicht, aber Sie, wenn Sie nur wollten …“

Zenon lachte auf, ihn belustigten die feierliche Miene und Stimme des Mr. Smith.

„Ich will ihn herführen, er soll es selbst sagen.“

Mr. Smith stürzte wie ein Tiger zur Tür, die Damen sprangen schreiend auf, und Mrs. Tracy stöhnte mit ersterbender Stimme, totenblaß:

„Erbarmen, wir sterben vor Entsetzen!“

„Also die Herrschaften haben im Ernst angenommen, daß ich Bagh hereinführen könnte?“ fragte Zenon, durch ihr Entsetzen verwirrt, aber die Damen schwiegen, denn sie konnten sich nicht beruhigen; nur Mr. Smith stammelte bittend:

[247] „Ich flehe Sie an, sprechen Sie nicht einmal seinen Namen aus!“

„Sollte er eine Inkarnation Baphomets sein …?“

Mr. Smith taumelte geradezu an die Wand, nahm mit blitzartiger Geschwindigkeit Salz aus der Tasche und bestreute sich sorgfältig damit.

Zenon konnte das Lachen nur mit Mühe unterdrücken und näherte sich, nachdem er wegen des Scherzes um Verzeihung gebeten hatte, dem Ausgang.

„Ich habe eine große Bitte an Sie,“ so hielt ihn eine dünne Stimme auf.

Er blieb an der Tür stehen, die Langeweile, die sich plötzlich seiner bemächtigt hatte, mit Höflichkeit verdeckend.

„Wir veranstalten am Sonnabend in unserer Loge eine große Versammlung,“ sagte ernsthaft Mr. Smith und faßte ihn an einem Rockknopf.

„Mrs. Blawatska wird über ihre Reise nach Tibet und ihre Beziehungen zum Dalai-Lama Bericht erstatten. Geradezu unerhörte Sachen. Sie hat einen der tibetanischen Brüder mitgebracht, ein außergewöhnliches Medium. Nach dem Vortrag wird im engeren Kreis eine Seance stattfinden, Sie werden wahre Wunder sehen. Die Blawatska selbst wünscht Sie kennen zu lernen und wünscht, Sie möchten zur Versammlung erscheinen. Es werden nur Eingeweihte da sein. Wir haben es sogar Stead abgeschlagen, aber es liegt uns sehr daran, daß Sie kommen, sehen und sich von der Wahrheit unserer Lehre überzeugen …“

„Wird Mr. Yoe dort sein?“

[248] „Leider hat Mr. Yoe den Kreis der Brüder verlassen, er hat uns für Miß Daisy und ‚Ihn‘ verraten.“ Der gelbe Herr schaute sich ängstlich um.

„Ich weiß nur, daß er sehr schlecht auf sie zu sprechen war.“

Mr. Smith flüsterte ihm geheimnisvoll ins Ohr:

„Und jetzt ist er ihr verkaufter Sklave. Man hat uns versichert, er sei bereits der Palladinischen Loge beigetreten, in der sie die ‚Meisterin des vollkommenen Dreiecks‘ sein soll. Ich aber weiß ganz sicher, daß sie dort das ‚Lamm der weißen Messe‘ ist, – furchtbar, was?“

„Es kann sein, aber bloß für Leute, die verstehen, was das bedeutet.“

„Sie ist ‚Ihm‘ selbst geweiht … ‚Seine‘ Braut.“

„Sie müssen mir einmal diese ganze geheimnisvolle Nomenklatur erklären.“

„Ich bin bereit, es sofort zu tun, damit Sie die ganze Abscheulichkeit dieser Miß Daisy verstehen und die Größe der Gefahr ermessen können, in der Mr. Yoe schwebt.“

„In diesem Augenblick habe ich keine Zeit, aber ich werde Sie am Sonnabend nach der Versammlung darum bitten!“ Zenon drückte ihm die Hand und ging eilig in seine Wohnung. Doch die Erzählung des Mr. Smith, sein ängstliches Flüstern und die ganze Stimmung, die im Reading-Room geherrscht hatte, bewegte in ihm vergessene Gedankenschichten, er konnte sich nur an nichts Bestimmtes erinnern, – nur Trümmer von Szenen, Personen, Klängen [249] und Farben zuckten mit der Schnelligkeit von Blitzen durch sein Hirn.

„Palladinische Loge! Lamm! Weiße Messe! Baphomet! Was bedeutet dies alles in Wirklichkeit?“ Zenon wollte diesen beunruhigenden Wirrwarr von Gedanken von sich abschütteln.

„Erinnerst du dich?“ es war ihm, als flüstere ihm jemand ins Ohr, so daß er sich mißtrauisch in der leeren Wohnung umsah.

Er stand ratlos da und starrte in den unentwirrbaren Knäuel der Erinnerungen, die unter seiner Hirnschale wie ein Orkan von wahnsinnigen Visionen kreisten.

„Habe ich das einmal geträumt? Oder vielleicht irgendwo gelesen, – und kann mich jetzt nicht mehr daran erinnern!“

Er quälte sich vergebens ab und bemühte sich, wenn auch nur für einen Augenblick, den Wirrwarr seiner Gedanken zu ordnen. Plötzlich stürzte alles in ihm zusammen und versank in den Abgrund des Vergessens. Er tauchte mit einem Male in das graue und traurige Licht des Tages, wie unter bewegten Wellen hervor, ohne zunächst verstehen zu können, weswegen er mitten im Zimmer stand? Wohin hatte er doch gehen, was hatte er tun wollen? Dies währte jedoch nur einen Augenblick, denn in ihm erwachte das ganze Bewußtsein der Wirklichkeit: daß er von nun an einen neuen Abschnitt eines gewöhnlichen und normalen Lebens begonnen hätte. Er kehrte zu dieser etwas eintönigen Alltäglichkeit zurück und sah sie wie früher etwas gleichgültig und von oben herab [250] an. Er behandelte nämlich das Leben mit einer erhabenen Nachsicht. Sogar die Gesellschaft, die sich am Pensionstische zu versammeln pflegte, störte ihn nicht mehr mit ihrer spiritistischen Manie und ihrem ewigen Gezänk. Er schaute auf sie hinab, wie auf amüsante Tollhäusler, und hörte ihren endlosen Diskussionen mit einer diskreten Ironie zu. Und Daisy und alles, was einen Zusammenhang mit ihr hatte, schien ihm jetzt fern und verblaßt zu sein, wie etwas, was er vor langer Zeit einmal in irgendeiner phantastischen Erzählung gelesen hätte. Und doch war es noch nicht lange her, daß sie fortgefahren war! Auch Yoe verlor in seinen Augen die früheren Umrisse, er hörte auf ihn zu interessieren, und wenn er ihn in Bartelet-Court traf, behandelte er ihn wie einen Menschen, den er gerade erst kennen gelernt hätte. Er fühlte sich so nüchtern, daß er nur die Oberfläche des Lebens und dessen gröbere Umrisse bemerkte, als hätte er die Fähigkeit eines tieferen Verstehens und Empfindens der Welt und der Menschen eingebüßt. Es ging ihn nichts mehr etwas an, mit Ausnahme von ganz persönlichen Angelegenheiten, er spottete zudem bei jeder Gelegenheit über alle idealeren Gemütsregungen. Dies war eine ganz unerklärliche Abstumpfung des Empfindungsvermögens, gleichsam ein Verschwinden jedes feineren Gefühls, jeder höheren Vorstellung. Dieser merkwürdige Umschlag bei ihm war so auffallend, daß man es sogar in Bartelet-Court bemerkte.

Eines Tages nämlich hatte Miß Dolly nach dem Frühstück die Frage des Verfalls der Ethik bei den [251] Volksmassen entrollt und war bei dieser Gelegenheit leidenschaftlich über die Männer, ihr Lasterleben und ihren Egoismus hergefallen.

Mr. Bartelet verspottete sie mit Überlegung und unterhielt sich dabei köstlich.

Das Gespräch wurde immer lebhafter, denn auch Yoe, der gewöhnlich schwieg, begann, übrigens aus Rücksicht auf den Vater ein wenig vorsichtig, zu beweisen, daß die Wurzel des moralischen Verfalles im Kapitalismus liege, in der Verkommenheit der herrschenden Klassen und der allgemeinen Materialisierung der Menschheit. Und schließlich griff er das Christentum an, als den Verbreiter von Irrtümern und gesellschaftlichen Lügen, indem er ihm die reine Lehre Christi, wie sie die Evangelien enthielten, gegenüberstellte. Miß Ellen unterstützte ihn eifrig, sagte verschiedene heilige Sprüche her und rief schließlich erhitzt und unerschrocken, nur das Evangelium könnte die Welt erlösen.

Zenon hatte sich die ganze Zeit hindurch mit Betsy über seine Verwandten unterhalten, die er am nächsten Sonnabend zum Tee mitzubringen versprach, aber durch Yoes Ausführungen und die weinerliche Stimme der Miß Ellen gereizt, bemerkte er bitter:

„Nicht das Evangelium beherrscht die Menschheit, sondern nur der Stock, die Übermacht und die Angst. Das Strafgesetzbuch, das mit Gefängnis und Galgen droht, hat mehr moralischen Einfluß auf die Menschenherde als alle Religionen zusammengenommen. Und keinen Messias, keinen Erlöser braucht und [252] erwartet die Menschheit, sondern nur einen Herrn, der es versteht, ihr unerbittlicher Gebieter und Henker zugleich zu sein.“

Sie waren so verblüfft über seine unbarmherzigen Anschauungen und seinen bitteren Sarkasmus, daß das Gespräch bald abbrach. Alle fühlten sich unangenehm berührt und verlegen, man konnte nicht verstehen, was ihm zugestoßen wäre. Betsy war sogar vergrämt seinetwegen, doch beim Abschied drückte sie ihm die Hand heißer als sonst.

„Also am Sonnabend erwarten wir Sie mit den Ihrigen.“

„Ich bringe sie sicher mit. Sie müssen sie liebgewinnen.“

Das Mädchen fragte nach kurzem Zögern schüchtern:

„Ist Frau Ada schön?“

„Sehr. Aber ich kenne eine gewisse kleine Miß, die hundertmal schöner und lieber ist, – hundertmal!“ flüsterte er und küßte ihr die Hände. Sie riß sich strahlend und glücklich los, und vergaß alle Bitterkeit.

„Wirst du bei diesem Feste der Verbrüderung der Völker auch zugegen sein?“ wendete er sich an Yoe, als sie schon vor dem Hause waren.

„Mit Vergnügen werde ich deine Familie kennen lernen!“ sagte der herzlich.

Schon trug sie der Zug über die Stadt hin, die ganz in schmutzige Rauch- und Nebelwolken getaucht war, als Yoe wieder bemerkte:

„Du sprachst heute, als hätte jemand deine Seele umgeformt.“

[253] Zenon lachte trocken und spöttisch auf.

„Ich bin nüchtern geworden! Ich fühle mich gesund, schlafe ausgezeichnet, habe Appetit, arbeite vorzüglich, bekümmere mich um nichts, – das ist das ganze Geheimnis meines Zustandes. Weißt du, ich fühle mich bis zu dem Grade wohl, daß ich mich endlich entschlossen habe, unsere Pension zu verlassen!“

„Ich habe bereits davon gehört. Man sagt, Mrs. Tracy habe Mr. Smith damit betraut, dich zum Bleiben zu veranlassen.“

„Ein amüsanter Mensch! Du ahnst nicht, was er mir von dir gesagt hat!“

„Er hat sich wohl darüber beklagt, daß ich aus der Loge ausgetreten bin!“

„Auch davon war die Rede, doch er sagte mir mit tiefem Bedauern und tiefer Furcht, du wärest ein Anbeter der Miß Daisy geworden, und Ihr beide dientet dem Baphomet. Ja, richtig, und du wärest irgendeiner Palladinischen Loge beigetreten!“

„Das ist nicht wahr, ich gebe dir mein Ehrenwort darauf!“ rief Yoe heftig. „Ich sollte mit ihnen gehen? Ich im Dienste Baphomets und dieses höllischen Vampirs? Was für eine abscheuliche Erfindung!“ Er schüttelte sich gleichsam vor Ekel oder Furcht.

„Verzeih mir diese ganz unbeabsichtigte Unannehmlichkeit! Er sprach davon zu mir ohne jeden Vorbehalt, darum wiederholte ich es dir ganz offen.“

„Nur ein geiler Kretin kann derartig nichtswürdige Assoziationen haben.“

„Was ist denn das, diese Palladinische Loge?“

„Ein Tempel, der dem Satanskultus geweiht ist! [254] Dort versammeln sich seine Getreuen, dort ist Miß Daisy wahrscheinlich seine Priesterin!“

„Sie ist Meisterin des vollkommenen Dreiecks! So sagte wenigstens Mr. Smith.“

„Wenn nicht das ‚Lamm‘ selbst,“ fügte Yoe halblaut hinzu, während er sich mißtrauisch in der Menge umsah, die zugleich mit ihnen die Station verließ.

„Wo ist diese Loge?“

„Man sagt: in der Umgegend von London, in irgendeiner alten Kirche.“

„Ich war ja dort!“ rief Zenon, der sich für einen Augenblick an die phantastischen Szenen in den unterirdischen Gewölben erinnerte.

„Du warst dort, hast es gesehen?“ fragte Yoe in tiefstem Staunen, zog Zenon aus der Menge hinaus unter ein Schaufenster und sog sich an ihm mit den Augen fest.

„Ja. Aber weißt du: ich erinnere mich an nichts mehr. Es muß mir nur so vorgekommen sein, denn jetzt, in diesem Augenblick – kann ich mich, bei Gott, an nichts mehr erinnern …“

„Erinnere dich nur! Die unterirdischen Gewölbe einer Kirche … Alte Grabkammern … Nacht … Eine prunkhafte Zeremonie … Baphomet … Daisy …“ sagte ihm Yoe mit Nachdruck vor …

„Leider, ich kann nicht … Etwas blitzte in meinem Hirn auf und versank wieder, wie ein Stein im Ozean … Warte einmal … Unterirdische Gewölbe? Sofort … Nein, nein, mir war bloß das Kellergewölbe des Exzentrikklubs eingefallen! Unsinn! Eine Augenblicksillusion! Wovon sprachen wir doch nur?“

[255] „Von der Palladinischen Loge, von Baphomet und Daisy …“

„Oder, mit anderen Worten, von gar nichts!“ flüsterte Zenon ironisch und fuhr zu Heinrich, wo er, wie jeden Tag, mit allen plauderte, geduldig die Klagen des Kranken anhörte und mit der kleinen Wanda spielte, die leidenschaftlich an ihm hing. Dann fuhr er, wie immer, mit Ada aus, ihr die Sehenswürdigkeiten der Stadt und Umgegend zu zeigen. Es war ein stummes Abkommen zwischen ihnen, daß sie nie die Vergangenheit berührten. Sie hielten sie beide heilig. Niemals, auch nicht mit einem Worte, verriet Ada, was in ihrem Herzen vorging, was für ein Sturm in ihr tobte, welche Verzweiflung an ihr nagte, – er ahnte es nicht einmal, denn immer sah er nur ihr heiteres Gesicht und die treuen Blicke der Freundschaft. Sie eroberte ihn jedoch mit einer Geduld, die sich des endgültigen Zieles voll bewußt war, so daß er gar nicht bemerkte, wie abhängig er von ihr wurde. Sie umgarnte ihn mit so wachsamer Freundschaft, gleichsam mit mütterlich liebenden Armen, daß er es nicht einmal versuchte, sich loszumachen. Und doch liebte er sie nicht, nur begann er, sie anzubeten wie ein wunderbares Gedicht des Lebens, oder wie ein großes Kunstwerk, vor dem er sich in freudiger Stille ästhetischen Betrachtungen der eigenen Seele hingeben konnte. Er vertraute ihr alle seine Träumereien und seine literarischen Eingebungen an. Manchmal brachten sie lange Stunden in Museen zu, in künstlerische Betrachtung versunken. Er entwickelte vor ihr die Ideen seiner künftigen Werke, denn er [256] sah, daß er sie besser und wirklicher vor sich sah, wenn er sie ihr erzählte, daß ihre klugen diskreten Bemerkungen sie vervollkommneten, daß sogar noch beinahe ungeborene Pläne, die er nur blitzartig berührte, eine feste Form und Leben annahmen.

Und bei alledem gab ihm Ada immer wieder ganz unauffällig die Idee ein, in die Heimat zurückzukehren, und zwar mit solcher Beharrlichkeit, daß er selbst anfing, sich danach zu sehnen. Sie entwarfen sogar den Plan, seine Werke in polnischer Sprache, und zwar in ihrer Übersetzung, herauszugeben. Sie war unermüdlich in diesem stillen Kampf um ihn und mit ihm und wurde immer siegesbewußter. Mit Unruhe jedoch nahm sie die Nachricht von dem geplanten Besuch in Bartelet-Court aus.

„Ich bin sehr neugierig auf dieses Haus!“ bemerkte sie kühl.

„Und Betsy auf dich. Sie fragte mich, ob du schön wärest.“

Die königlichen Augen Adas sahen ihn unruhig flackernd an.

„Ich sagte nur, was wahr ist!“

„Was nützt mir diese Schönheit,“ flüsterte sie, ihr blasses Gesicht und ihre Augen abwendend, in die ein Ausdruck von Trauer gekommen war. Er bemerkte dies nicht, wie er vieles nicht ahnte, in seiner völligen Abgestumpftheit, die ihn seit einiger Zeit beherrschte.

„Ich bin sicher, du wirst Betsy liebgewinnen,“ bemerkte er nach einem Augenblick.

„Ich wünschte es sehr.“

[257] Ihn machte nicht einmal ihre sonderbare, trockene Stimme stutzig.

„Aber du mußt mir offen und ehrlich sagen, wie sie dir gefällt!“

Sie versprach es feierlich, lenkte aber das Gespräch auf einen anderen Gegenstand.

Und damit war es beendet, und weder an dem Tage noch an den folgenden berührten sie diese Frage, sie gingen völlig auf in den Plänen zu einem großartigen Christusmysterium, das er zu schreiben beabsichtigte. Und er war so hingerissen von dieser Idee, daß er alles, was um ihn her geschah, wie unsinnige Bilder eines Kinematographen ansah.

„Weißt du, ich fühle mich, als wäre ich schwanger,“ sagte er eines Tages zu Ada, als sie sich begrüßten. „Ich habe an zweihundert Menschen in mir, die alle das Licht der Welt zu erblicken verlangen. Du hast keine Ahnung, wie furchtbar mir manchmal in diesem Gedräng zumute ist. Heute gegen Morgen umringten mich die Bauern … sie wollen nach Rom ziehen.“

Ada, die diese Sprache verstand, fragte gespannt:

„Und wirst du sie ziehen lassen?“

„Ich muß! Mögen sie diese gemeine heutige Zeit zermalmen! Er wird sie führen, die Welt zu erobern, um sein himmlisches Königreich zu befestigen. Der entscheidende Kampf wird auf der Engelsburg in Rom gekämpft werden, dort werden sie alle Könige und Herren der Welt belagern! Ein furchtbarer Kampf um die Herrschaft über die Welt und das Leben, der Kampf um das ‚morgen‘.“

[258] „Und werden sie siegen? Sie müssen doch siegen,“ flüsterte sie heiß.

„Leider, nein, siegen muß der ursprüngliche Instinkt des Lebens … Es tut mit furchtbar leid um Christus und meine Bauern, aber es gibt keinen Platz mehr für sie auf dieser Welt, sie müssen zugrunde gehen.“

Er sprach mit so tiefer Trauer, daß ihre Augen sich mit Tränen herzlichen Mitleids füllten.

„Und nichts mehr kann sie retten, sie werden zugrunde gehen, und auf der Welt gibt es nur noch Platz für Warenhäuser und Fabriken! Der Mensch unserer Zeit hat sich ein unerschütterliches Ideal geschaffen: Genießen! Darüber hinaus versteht er nichts und braucht er nichts. Darum muß Christus in diesem letzten Kampf unterliegen. Alle werden ihn verlassen, und die Treuesten werden ihn verraten! Ich bin sogar sicher, daß sie ihn wieder kreuzigen werden an allen Kreuzwegen und in allen Hirnen, und daß sie seinen Namen dem Schimpf und dem Gespött preisgeben werden. Die Menschheit wünscht nur noch zu zeugen, zu fressen und zu krepieren! Und Christus stört sie in diesem freudigen und tierischen Genuß. Er weist ihnen noch andere Ziele, er stört sie und führt sie irre, wie die Qualen eines gemeinen Gewissens. Also fort mit ihm! Fort mit jeder Betrachtung, die aus dem Gleichgewicht bringt! Ich bin kein Christ, aber ich liebe diese wunderbare Gestalt des Nazareners, ich liebe ihn wie den übertraurigen Schrei der Seele, der durch Zeiten und Völker dahinfließt. Der arme Träumer, diese heilige Vision von Herzen, die sich [259] nach der Unsterblichkeit sehnen. Und es war wahr, was er zu seinen Jüngern sagte: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. – Fürwahr, es gab nicht einen einzigen Augenblick, in dem er auf Erden geherrscht hätte. Es predigten ihn die Lippen und Kirchen, doch die Herzen der Menschen verleugneten ihn in jedem Augenblick des Lebens. Seinen Ruhm verkündeten die Kirchen, und er lag da, tot, von Verrat und Verleugnung hingemordet. Es war nicht seine Schuld, es war Paulus aus Tarsos, der nach der Herrschaft über die Juden verlangte, Christi Träume entstellte und aus dem Traum vom menschlichen Glück ein kaltes rationalistisches Staatssystem machte. In seinen ruchlosen Händen wurden die mystischen Blumen der Sehnsucht zu Zeptern und Hirtenstäben, mit denen er die menschlichen Herden in Löcher trieb, aus denen es keinen Ausweg gibt. Er wurde ihr Herr durch Furcht und Gewalt. Das Christentum triumphierte, aber Christus war nie in ihm, niemals!

„Furchtbar ist das Leben,“ flüsterte Ada, zu Tränen gerührt.

„Nur die Menschen sind furchtbar, das Leben ist das einzige Gut, nur wir selbst haben daraus eine Folter für uns gemacht. Und darin liegt die ewige Tragödie!“

Sie gingen traurig auseinander, noch enger verknüpft durch die Gemeinsamkeit ihrer Empfindungen. Doch am Sonnabend, als sie von Bartelet-Court zurückkehrten, fragte Zenon:

„Erinnern Sie sich an Ihr Versprechen?“

[260] Sie sah ihn fragend an und konnte sich nicht erinnern.

„Sie haben versprochen, mir zu sagen, was für einen Eindruck Miß Betsy auf sie gemacht hat.“

„Ein bezauberndes Mädchen,“ rief sie ohne Zögern, doch mit einer Betonung, daß Heinrich eine Bewegung der Unruhe machte.

„Sie war heute nicht sonderlich gut aufgelegt!“ erklärte er und erinnerte sich an Betsys Schüchternheit und die ängstliche Neugier, mit der sie fortwährend Ada und ihn angeschaut hatte. „Ein originelles Haus, als hätte man die Leute lebend aus einem englischen Roman herausgenommen,“ fuhr er fort.

„Und namentlich die Tanten! Miß Ellen hat mir einen ganzen Stoß Broschüren mitgegeben …“

„Von der Bestimmung des Weibes! Ich kenne es auswendig, dieses altjüngferliche Gefasel. Sie gehört zu der ethischen Seite der ‚Evangelistinnen‘.“

„Mir wieder hat Mr. Yoe soviel Außergewöhnliches vor seiner Expedition nach Birma erzählt, daß es mir schon etwas phantastisch erschien,“ berichtete Heinrich.

„Es waren sicherlich keine Phantasien! Dies ganze Haus beherbergt eine hochstehende Klasse von Menschen in jeder Beziehung.“

„Aber sie haben uns doch sehr ‚englisch‘ empfangen! Man hätte sich einen Schnupfen holen können in dieser erhabenen, kühlen Atmosphäre …“

„Dir sind unsere Sitten lieber, wo man gleich beim Eintritt einen Doppelkuß bekommt, beim Abendbrot [261] heißt’s gleich ‚lieben wir uns‘ und am Morgen wird Bruderschaft getrunken; aber am anderen Tag gibt sich jeder höchst sorgfältig Mühe, den andern nicht zu kennen.“

„Und doch ist mir dies angenehmer als diese langweilige Zeremonialität,“ beharrte Heinrich bei seiner Meinung, durch den spöttischen Ton Zenons gereizt.

Ada besänftigte sie, und sie gingen in den Greenpark, denn das Wetter war ausnahmsweise heiter, warm und trocken. Die Wege waren voll von Menschen und ebenso die riesigen Rasenflächen. Schon senkte sich die Dämmerung herab als bläulicher Nebel, das Getöse der Stadt tobte in der Luft, und hier und da blitzten Lichter in den Häusern auf. Sie blieben vor einer Schar Mädchen in weißen Sweatern und Mützen stehen, die leidenschaftlich Fußball spielten, als plötzlich die kleine Wanda ängstlich flüsterte:

„Mamachen, die Dame sieht mich wieder an!“

Ada preßte das Kind schützend an sich, während sie zugleich jene „böse“ Dame suchte; die stand, einige Schritte entfernt, ganz in Schwarz gekleidet wie immer, ihre Haare glänzten metallisch, ihr Gesicht war merkwürdig blaß, mit blutigroten Lippen und saphirblauen, grausamen Augen.

„Herr Zenon!“ Ada wollte ihn auf die Fremde aufmerksam machen.

Zenon hörte es jedoch nicht. Es war, als sei er hypnotisiert durch das unerwartete Erscheinen Daisys; sie lächelte ihn an und verschwand in [262] der Menge, so daß er sie vergebens ringsumher suchte.

„Sehn Sie die rothaarige Dame … Dort, dort, an jenem Blumenbeet.“

Er schaute unwillig nach jener Richtung.

„Sie ist schon verschwunden! Ich begegne ihr heute zum drittenmal, sie hat die kleine Wanda so zudringlich angeschaut, daß es mir geradezu aufgefallen ist. Sie ist außerordentlich schön, nur hat sie etwas Furchtbares an sich …“

„Ein Dämon und eine Madonna zugleich!“ flüsterte er unwillkürlich.

„Vielleicht kennen Sie sie?“

„Ich habe sie nur im Vorbeigehen bemerkt, der Vergleich drängte sich einem von selbst auf.“

Sie wünschte von dieser merkwürdigen Unbekannten zu sprechen, doch er redete sich auf eine Angelegenheit aus, die ihm plötzlich eingefallen wäre, und fuhr nach Hause.

Er täuschte sich in seinen Berechnungen nicht, denn er holte Daisy noch im Flur ein.

„Ich war sicher, daß Sie es sind,“ begann er freudig, aber durch ihren lässigen Händedruck abgekühlt, ging er dann schweigend die Stufen hinauf. Er wagte weder zu sprechen, noch sich ihr zu nähern, so sehr versperrten ihm ihre hochmütigen und durchbohrenden Blicke den Weg. Sie musterte ihn so beunruhigend, daß dieses flackernde und faszinierende Leuchten ihn in eine unerklärliche Verwirrung brachte.

„Sind Sie schon lange da?“ wagte er endlich zu fragen.

[263] Ihre Lippen bewegten sich mit der trägen Bewegung von Schlangen, und ein Flüstern wehte ihm in das Gesicht.

Er verstand die Worte nicht, doch ihn durchdrang der unfaßbare Zauber ihres Klanges.

Er begleitete sie bis an die Tür ihrer Wohnung und wollte gehen.

„Werden Sie heute auf der Seance bei der Blawatska sein?“

„Ich habe es zwar versprochen, aber, aber …“

„Aber Sie werden kommen, ich bitte darum,“ flüsterte sie befehlend, als sie sich trennten.

Natürlich versprach er es und zündete, als er sich in seiner Wohnung befand, völlig mechanisch die Lampen an und setzte sich an den Schreibtisch; aber die angefangene Szene des Mysteriums ließ ihn völlig kalt. Denn er durchkostete diese unerwartete Begegnung mit Miß Daisy, jede Einzelheit, jeden ihrer Blicke und jedes Wort suchte er in sich zu erwecken und erwog alles mit tiefer Aufmerksamkeit. Und alles kam ihm so unfaßbar merkwürdig vor, daß eine noch geräuschvollere Woge der Unruhe sich über sein Herz ergoß und ihn um den letzten Rest des Gleichgewichts brachte. Er versuchte, sich aus diesem irren Kreise der Erinnerungen herauszureißen, doch der Zauber, der ihm aus ihnen entgegenstrahlte, schlug ihn in immer schwerere Bande.

„Sie hat mich ganz offenkundig verzaubert.“ Er erinnerte sich dieser Volksbezeichnung, und sie schien ihm nicht mehr so lächerlich kindisch wie einst, denn er fühlte geradezu seine physische Abhängigkeit von [264] Daisy und ihre unbezwingbare und unerklärliche Gewalt über ihn.

„Es liegt irgendein teuflischer Spuk darin,“ dachte er, halb ironisch, doch plötzlich warf er sich zurück und erstarrte vor Entsetzen, wie am Rande eines unendlich tiefen Abgrundes, der sich vor ihm geöffnet hätte.

Massenvisionen von Szenen, die er einst in unterirdischen Gewölben gesehen hatte, drangen in sein Hirn und flossen vorüber in einem langen und unsagbar lebendigem Reigen. Deutlich sah er das übertraurige Antlitz Baphomets, der auf dem Throne saß, und zu seinen Füßen, vom Opferrauch verhüllt, den Kopf Daisys.

„Ja, das ist sie, jetzt sehe ich es deutlich,“ dachte er, seine ganze Aufmerksamkeit anstrengend, damit ihm nichts entgehe. Er neigte sich vor und starrte mit angestrengten Blicken, als geschähe das alles hier vor ihm, vor seinen Augen … Sogar jenen Gesang, der früher nur wie ein fernes Rauschen herübergeweht war, hörte er jetzt Wort für Wort und wiederholte ihn mit pathetischer Bewegung:

„Salute o Satana! O Ribelione.“
„O forca vindice. – Della Ragione!“
„Sacri ate salgano. – Gli incensie i voti.“
„Hai vinto il Geova. – Dei sacerdoti!“
– – – – – – – – – – – – – –

„Salute o Satana!“ flüsterte er, durchdrungen von dem heiligen Grauen, das das traurige Antlitz des Gebieters verbreitete, der sich barmherzig über die Schar seiner Anbeter neigte, die demütig zu seinen Füßen lagen. Und er zitterte nicht einmal, als sich die nackte [265] Daisy von der Bahre erhob und, von einer Wolke metallener Haare umflossen, Baphomet mit liebenden Armen umflocht. Ein blutigroter Schein verhüllte das Mysterium des Wahnsinns und hob es gleichsam hoch in den Raum, und aus der Erde loderte ein Scheiterhaufen auf, wie ein flammendes Gebüsch, auf das man zerbrochene Kreuze warf, Meßgewänder und bleiche, riesige Hostien, die aussahen wie tote Sonnen.

Bagh heulte düster auf.

„Salute o Satana! Salute! Salute!“ – Immer gewaltiger dröhnte die Hymne, als sänge sie die ganze Welt mit der ganzen erhebenden Kraft der Liebe, des Glaubens und der Hoffnung – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Es schlug schon acht Uhr, als die letzten Visionen langsam verblaßt, die letzten Klänge in der dumpfen Stille des Abends verklungen waren und Zenon den schweren Kopf von der unbeendeten Szene des Mysteriums erhob, die Feder beiseite legte, die er mechanisch in der Hand gehalten; und nach einer Weile des Nachdenkens resigniert flüsterte:

„Es wird sein, was sein muß.“

Und treu dem Versprechen, das er Daisy gegeben hatte, ging er zur Seance.

Die gewaltige Halle der Theosophischen Gesellschaft war überfüllt. Hoch über den Köpfen, geradeüber vom Eingang, erhob sich ein großer Altar, auf dem ein riesiger goldener Buddha saß, der mit runden Augen stumpf vor sich hinstarrte. Aus goldenen Weihrauchbecken, die von steinernen, weißen Elefanten getragen wurden, schlugen Säulen duftenden Rauches [266] empor, die die Gottheit und den ganzen Saal in bläuliche Wolken hüllten. Auf den Stufen des Altars inmitten von Kränzen und Girlanden aus weißen Rosen, Hyazinthen und Narzissen zuckten die Flämmchen unzähliger Lampen, wie goldene Schmetterlinge. Mehrere Hindus, die auf den untersten Stufen saßen, spielten auf gewaltigen Instrumenten so wundersam leise, daß gleichsam nur das Flüstern einer ersterbenden Welle über die lauschenden Köpfe dahinwehte, zuweilen flog es vorüber wie Vogelgezwitscher, oder als summten Bienenschwärme. Und noch tiefer, zu Füßen Buddhas, auf einem etwas erhöhten Podium, stand ein Weib in einem weißen griechischen Gewande. Sie war gleichsam in Gebetsekstase versunken und berührte mit den Fingerenden der linken Hand den Kopf einer zusammengekauerten nackten Gestalt, die vor ihr kniete … Zenon blieb an der Tür stehen, denn alle blieben so unbeweglich, schweigend starrten sie vor sich hin und lauschten. Erst als die Musik leiser geworden war und die Lichter in den kristallenen Lotosblumen heller erstrahlten, näherte sich ihm Mr. Smith.

„Es werden heute außergewöhnliche Dinge vor sich gehen!“ flüsterte er und faßte ihn unter den Arm. „Miß Daisy bat, ich sollte Sie zu ihr führen! Das Medium ist heute in ausgezeichneter Verfassung. Gerade versetzt die Blawatska es in Trance. Sie werden sie später persönlich kennen lernen. Das Medium ist aus Tibet. – Nicht wahr, diese Mengen! Und das sind nur die Auserwählten der Auserwählten! Sonst wäre halb London hier! Und alle Schichten [267] sind vertreten, vom Lord bis zum einfachen Arbeiter. Ich habe Mr. Yoe geschrieben, er ist nicht gekommen!“ klagte Mr. Smith zum Schluß.

Zenon setzte sich neben Daisy und entließ den Alten mit einem Kopfnicken; er aber wendete während der ganzen Seance die Augen nicht mehr von ihnen.

„Lassen Sie die Stimmung nicht Herr über Sie werden!“ sagte Daisy.

„Ich bin zu nüchtern, als daß sie auf mich wirken könnte!“ entgegnete er voll Überzeugung.

Ein Lächeln glitt über ihre Lippen, doch sie sagte nichts, denn die Blawatska nahm ihre Hand vom Kopfe des Knieenden, und das hypnotisierte Medium blieb gleichsam in knieender Stellung hängen. Eine tiefe, starke und äußerst melodische Stimme erscholl in der Stille, aller Augen fielen auf die Blawatska wie ein flimmernder, unruhiger Schwarm. Sie erzählte zusammenhängend und in bilderreicher Sprache von ihrer letzten Reise nach Tibet und ihren Beziehungen zum Dalai-Lama. In der Stille zitterten die beschleunigten Atemzüge, die Augen begannen wie Phosphor zu leuchten, denn die phantastischen Erlebnisse, die Gefahren, die unerhörten Abenteuer, die Schneewehen, der Hunger, die Überfälle hungriger wilder Tiere, die Orkane, die Kämpfe mit bösen Gewalten, und am Ende der Raub dieser unsterblichen Geheimnisse des Daseins, von denen sie nur einen winzigen Bruchteil in der „Enthüllten Isis“ hätte zeigen können, erfüllten die Zuhörer mit solch einem Fieber der Ekstase und der Verzückung, daß, als sie aufgehört hatte zu reden, donnernder Beifall erscholl und sich [268] über sie ergoß wie ein langanhaltender Regenschauer. Sie setzte sich im Hintergrunde auf etwas von der Art eines Thrones und saß unbeweglich da, voll Majestät und Erhabenheit, und auf der Estrade erschien ein alter Hindu in einem wallenden goldgrünen Gewand, mit einem riesigen Turban auf dem Kopf und kündigte den experimentellen Teil an, der mit Beihilfe des Mediums vor sich gehen sollte, das angeblich aus einem lamaitischen, aus den völlig unzugänglichen Höhen des Himalaja gelegenen Kloster entführt worden war.

„Der Augenblick der Wunder naht!“ flüsterte Daisy ironisch. „Wie ist Ihnen die Prophetin vorgekommen?“ fügte sie leise hinzu.

„Das Gesicht sehr gewöhnlich, die Augen verschlagen, eine gewaltige Willenskraft, das Ganze: pyramidal!“ Er erklärte die Bedeutung dieser Bezeichnung und schloß: „Aber sie spricht ausgezeichnet.“

„O ja! Sie hält die Getreuen hervorragend zum Narren, und im besten Falle sich selbst mit! Doch nein, dafür ist sie zu klug! Sie weiß, daß die Leute vor allem nach Wundern lechzen!“

„Jeder Kultus stützt sich gern darauf und sucht sein Dasein damit zu begründen.“

Sie antwortete nicht, denn man hatte die Lichter etwas gedämpft, so daß in dem bläulichen Rauche der Becken nur die goldene Buddhastatue geheimnisvoll funkelte und an den Wänden nur hier und dort ekstatische Gesichter auftauchten, heilige Embleme und Zeichen.

Die weiße Gestalt der Blawatska leuchtete undeutlich [269] im Hintergrunde, wie eine Marmorstatue. Die Töne der Musik fielen herab wie ein süßer Staub und verstummten wieder, im ganzen Saale herrschte Grabesstille.

Es begannen die spiritistischen Wunder. Tische hoben sich, Stühle schwebten über den Köpfen, es fielen von der Decke frische Blumen und grüne Zweige von Tropenbäumen herab! Zuweilen dröhnte der furchtbare Ton eines Gong durch die Stille, so daß sich alle vor Entsetzen krümmten.

Und dann erschienen die weißlichen Umrisse von menschlichen Fratzen, leuchtende Hände irrten über verschiedenen Köpfen umher, es spielten unsichtbare Instrumente, die irgendwo hoch oben hingen, es wälzten sich in der Luft durchleuchtete Nebelkugeln, und Funkenschwärme bedeckten wie phosphoreszierender Tau die Wände und kreisten im Raume.

Die Stimmung wurde immer furchtsamer, und die fieberhafte Erregung hatte ihren Höhepunkt erreicht, als plötzlich alle Leuchter aufflammten und das Medium in voller Beleuchtung anfing in knieender Stellung und unbeweglich in die Höhe zu schweben, mit geschlossenen Augen und auf der Brust gekreuzten Armen, – so blieb es in der Luft hängen.

Ein heiliger Schreck durchfuhr alle, man brach in hysterische Weinkrämpfe aus, viele Frauen fielen auf die Kniee und sangen mit tränenerstickter Stimme eine Lobeshymne. Viele Leute saßen wie gelähmt da und konnten ihre Augen nicht losreißen von diesem Wunder, das noch immer währte. Viele waren nahe an die Estrade herangekommen, sie konnten [270] ihren eigenen Augen nicht trauen. Mehrere photographische Apparate nahmen diese unerhörte Erscheinung auf. Schließlich erstickte das Staunen alle Stimmen und ließ alle Bewegungen zu Stein werden, so daß die Menschen in der ekstatischen Sprachlosigkeit der Bewunderung und zugleich der Furcht verharrten. Doch in einem unerwarteten Augenblick ward es wieder dunkel im Saale, und es begann eine neue Serie von Erscheinungen; ein neuer, quälender Traum voll beunruhigender Visionen und faszinierender Halluzinationen hielt alle Seelen umfangen. Nur Daisy saß ruhig da und wachte über Zenon, der in dieser hypnotisierender Atmosphäre völlig die Herrschaft über sich verloren hatte. Es bemächtigte sich seiner eine unbezwingbare Schlafsucht, er hatte zeitweise schon Halluzinationen, er wollte fort, irgendwohin, und flüsterte dabei etwas, unverständlich und wie im Fieber, – sie hielt ihn an den Händen, sie versuchte ihn mit gebietenden Blicken aufzurütteln, doch als er anfing steif zu werden und in völligen Trance verfiel, drückte sie ihm heftig die Daumen und flüsterte befehlend:

„Folge mir!“

Er ging automatisch hinter ihr her, ohne zu wissen, was mit ihm vorging.

Er kam erst in ihrer Wohnung zum Bewußtsein, am Kamin, in dem ein helles Feuer brannte. Bagh lag auf dem Teppich und starrte ins Feuer, und dahinter saß Daisy mit einer Zigarette in der Hand.

„Sie sind bei mir,“ antwortete sie auf seine erstaunten Blicke.

[271] „Aber wie bin ich hierher gekommen? Wir waren doch in der Theosophischen Gesellschaft?“

„Es war dort eng und heiß, sie wurden schwach, und das ist die ganze Geschichte!“

„Ich danke!“ – Er neigte sich, ihr die Hand zu küssen, doch Bagh knurrte und duckte sich so drohend zum Sprunge, daß er unwillkürlich zurückwich.

„Ich wollte nur meinen Dank aussprechen, aber Bagh gestattet es nicht.“

Sie lächelte und stützte ihre Füße auf den Rücken des Panthers.

„Sie sind spiritistische Seancen nicht gewohnt.“

„Ich habe eine ganze Reihe mitgemacht, aber auf dieser hatte ich fortwährend das Gefühl eines phantastischen Traumes, den ich nicht loswerden konnte. Ein erstaunliches Medium. Und wenn dies alles vorbereitet war, muß ich dem Veranstalter geradezu Genialität zusprechen …“

„Das war lauterste Wahrheit, ich bürge Ihnen dafür! Aber was hat das zu bedeuten: es sind doch nur Tatsachen und nichts weiter!“ Sie sprach gleichsam mit Verachtung und reichte ihm den Tee, den ein altes, gebücktes Hinduweib gebracht hatte. – „Eine stumme Wirklichkeit,“ fuhr sie fort, „Wahrheiten, die ganz überflüssig sind. Das widerliche Gestammel von zu ewigem Verderben Verurteilten. Zudem kann ich diese Jahrmarktswundermacherei nicht leiden, sie erregt nur Abscheu und Ekel in mir. In den tieferen Regionen der Erdatmosphäre wimmelt es von solchen Larven, es ist eine große Leichenkammer von menschlichen Gespenstern, die, ehe sie in sphärischen Staub [272] zerfallen, von ihrem früheren Dasein auf Erden träumen. Das sind nur Emanationen von Seelen, Spiegelexistenzen, Vampire, die ringsum lauern, um auf unsere Kosten ihr elendes Schattendasein zu fristen, das sind nur Keime von Verbrechen und Gemeinheit, die, in den dunkelsten Tiefen der Erde erstanden, ewig über ihr schweben und unfähig sind zu einem unsterblichen, sonnigen Dasein. Wie sich Hunde in einer kalten Nacht hungrig und obdachlos in geheizte Stuben drängen, so kreisen auch sie in den leuchtenden Regionen schöpferischer und unsterblicher Gebieterseelen.“

„Ein entsetzliches Bild, die wahre Hölle!“ flüsterte er voll Mitleid.

„Erschaffen von ihrem Gotte!“

Er machte eine unruhige Bewegung und erhob die Augen neugierig zu ihr.

„Ja, die wahre und einzige Hölle! Ewiges Heulen und Zähneklappern! Und er lebt von ihren Tränen, mästet sich mit ihrer Qual. Er hat sich aus ihren Leiden, aus ihrem Elend einen Thron gebaut, auf dem er ruht und nie satt werden kann an Macht und Ruhm! Wo nur immer Jammer, Krankheiten, Unglück, Verbrechen und ewige Finsternis sind, dort ist die Quelle seiner Macht, dort ist er, der Gebieter der Dunkelheit, der Furcht und des Todes!“ rief sie, und ihre Augen schleuderten Blitze, ihre gekrampften Hände erhoben sich drohend.

Und Zenon, von ihrer Erregung hingerissen, flüsterte unbewußt:

„Salute o Satana! – O Ribelione.“
„O forca Vindice. – Della Ragione!“

[273] Sie hatte die Hände gefaltet, ihren Kopf geneigt und vertiefte sich in eine ekstatische Betrachtung. Nur zuweilen bewegten sich ihre Lippen, ein Lächeln umspielte ihren Mund, die Brust hob ein unterdrückter Seufzer, und über ihr verzücktes Gesicht huschte der Abglanz betender Glut.

Da er nicht wagte, sie zu unterbrechen, blieb er ohne Bewegung und starrte die Krone ihrer metallenen Haare an, gleichsam wie eine Lichtgloriole, und seine bezauberte Seele sang der Anbetung stummes Lied.

Doch nach einiger Zeit rief er, da ihn ihre kataleptische Unbeweglichkeit beunruhigte, die alte Inderin herbei und ging fort.

Bagh schmiegte sich unterwürfig an ihn und begleitete ihn bis zur Tür