Deutsche Bühnenschriftsteller der Gegenwart

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Autor: Rudolf Hermann
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Titel: Deutsche Bühnenschriftsteller der Gegenwart
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 168–172
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Deutsche Bühnenschriftsteller der Gegenwart.

Die Bühne ist ein Spiegel der Zeit und ihrer wechselnden Geschmacksrichtungen; sie ist ein Spiegel des Volksgeistes und in dieser Hinsicht kann man stets von einer Nationalbühne sprechen, wenngleich das Lessingsche Ideal einer solchen nie bisher in Deutschland Verwirklichung gefunden hat. Neben der von der Zeitflut fortgespülten Masse des Vergänglichen, das nur vorübergehende Spiegelungen des Zeitgeistes und des Volksgeistes bot, finden sich aber immer einzelne Werke, welche Dauer finden, weil sie entweder ein besonders glücklicher dramatischer Griff sind oder das Gepräge genialer Offenbarungen tragen; sie bilden das Urgestein, das unter den späteren Ablagerungen noch immer zu Tage steht, mächtig und unverwittert.

Die Geschlechter der Menschen lösen sich ab, auch die Geschlechter der Schriftsteller; doch das Neue vermag niemals ganz das Alte zu verdrängen. Lange Zeit geht beides nebeneinander her; dann gewinnt das erstere den Vortritt; doch das Alte tritt nicht so schnell aus der Reihe der Entwicklung aus, wenn ein lebenskräftiger Kern ihm innewohnt. Und die großartigsten Offenbarungen des dramatischen Genies bekunden ihr unsterbliches Wesen immer aufs neue auch auf der Bühne. So bildet sich das Bühnenrepertoire der Gegenwart aus litterarischen Schichten, welche verschiedenen Jahrhunderten angehören, und wenn wir es nur in Bezug auf unser eigenes Jahrhundert und auf deutsche Werke in Betracht ziehen, so findet sich auch hier dieselbe Mischung von Alt und Neu.

Abgesehen von unseren Klassikern, die zum Teil nun schon länger als ein Jahrhundert die Grundlage unseres Repertoires bilden und denen sich der geniale Heinrich von Kleist, dessen markige dramatische Kraft nur durch nervöse Verstimmungen und Anwandlungen träumerischer Mystik beeinträchtigt wurde, und der hochbegabte Grillparzer, das Haupt der österreichischen Dramatiker, anschließen, sind es vorzugsweise die jungdeutschen Dramatiker, welche vor und nach 1848 die Bühne dem modernen Geiste zu erobern suchten, deren Hauptwerke sich noch jetzt in der Gunst des Publikums erhalten. Karl Gutzkow, ein Geist von großer Feinspürigkeit, Beweglichkeit, Elasticität wie durchdringendem Scharfsinn, von großer Begeisterung für die Ideen der Zeit, rasch der praktischen Bühne näher tretend und ihre Mittel beherrschend, war der Führer jener Richtung, welche die Verjüngung der dramatischen Litteratur durch die Zeitgedanken anstrebte. Doch schon jetzt haben sich von seinen zahlreichen Werken, die auch, so geistvoll und bedeutend sie waren, nicht alle von Hause aus den gleichen Erfolg hatten, nur drei bis vier, diese aber mit nachhaltiger Wirkung, auf dem Repertoire behauptet: die Tragödie „Uriel Acosta“, in der damaligen lichtfreundlichen Zeit ein Weckruf freier religiöser Anschauung und Toleranz und als ein Bild des Kampfes, in den das freie Denken mit den Schranken der Gemeinde und der Familie gerät, auch den Spätergeborenen wert; das treffliche Lustspiel „Zopf und Schwert“, mit seiner launigen Charakterzeichnung und seiner Verherrlichung der Mission Preußens, in dem der Dichter sich als ein glänzender Vorgänger der späteren Hohenzollerndramatik bewährt hat, und das satirische Lustspiel „Das Urbild des Tartüffe“, eine interessante Studie über das Verhältnis der Lustspielsatire zu den tonangebenden Zeitgenossen und zu den verschiedenen Ständen, die sie mit ihrer Geißel heimsucht. Ein weiteres Stück, aber von geringerem Wert, „Der Königslieutenant“, eine dramatische Episode aus Goethes Jugendzeit, wird viel gegeben, weil die Titelrolle von hervorragenden Darstellern bei ihren Gastspielreisen bevorzugt wird. Der andere jener Stürmer und Dränger, Heinrich Laube, in seiner Jugend burschikos und von sporenklirrender Bravour, im Alter barsch und durchgreifend, hat mit seinen „Karlsschülern“, die das Anekdotische aus Schillers Jugendzeit mit frischem Ton dramatisch gestalteten und zu einem Konflikt politischer Anschauungen steigerten, sowie mit seinem „Graf Essex“, einem dramatisch markigen und durchaus bühnenwirksamen Trauerspiel, nachhaltige, noch heute andauernde Erfolge errungen. Auch seine in scenischer Hinsicht sehr geschickte, ihrem poetischen Wert nach aber bedauerliche Fortsetzung des Schillerschen „Demetrius“ erhält sich auf der Bühne. Gutzkow und Laube weilen nicht mehr unter den Lebenden, ebenso Gustav Freytag,

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Richard Voß. Hermann Sudermann. Ludwig Fulda. Gerhard Hauptmann.
Martin Greif. Arthur Fitger. Adolf Wilbrandt. Ernst v. Wildenbruch. Paul Lindau.
Ludwig Ganghofer. Paul Heyse. Wilhelm Jordan. Rudolf v. Gottschall. Ernst Wichert
Franz v. Schönthan. Gustav v. Moser. Ernst v. Wolzogen. Oskar Blumenthal. Adolf L’Arronge.

Deutsche Bühnenschriftsteller der Gegenwart.

[170] ein Dramatiker, der in der „Valentine“ und in „Graf Waldemar“ die gleiche Richtung mit der ihm eigentümlichen Grazie verfolgte, später aber als eifriger Gegner derselben auftrat. Sein Lustspiel „Die Journalisten“ ist das beliebteste Kind der heiteren Muse, das in jener Zeit auf unserer Bühne Bürgerrecht gewonnen, ein Kleinod, das im Hausschatze keines deutschen Theaters fehlt. Ebenfalls an das Junge Deutschland in seinen Tendenzen, noch mehr aber an Grabbe und seine kraftgeniale Darstellungsweise knüpfte Friedrich Hebbel an, dessen „Judith“ und „Nibelungen“ durch eine über das Durchschnittsmaß hinausgehende Macht und Energie der Darstellung und durch große für Heroinen geschaffene Frauencharaktere auf den ersten Bühnen eine bleibende Stätte gefunden haben. Auch seine „Maria Magdalena“, ein bürgerliches Trauerspiel, das in seiner herben Kraft und scharfen Charakteristik auf realistische Wirkungen ausging, hat dieses Schicksal; neben ihm ist der stimmungsverwandte Dichter des „Erbförsters“, Otto Ludwig, zu nennen. Wie diese zwei ist auch Friedrich Halm längst verstorben, der einst mit „Griseldis“ und dem „Sohn der Wildnis“ ein mächtiger Beherrscher der Bühne war und mit seinem weniger romantisch beleuchteten als patriotisch schwungvollen „Fechter von Ravenna“ noch immer auf den Gastspielrepertoiren der „tragischen Mütter“, welche die Thusnelda spielen, verzeichnet steht.

Wenden wir uns nun den Lebenden zu, von denen man sagen kann, daß sich Werke von ihnen auf der Bühne wahrhaft eingebürgert haben und deren Bildnisse wir hier auf einem Gruppenbilde unsern Lesern vorführen, so beschäftigen wir uns zunächst mit den Dramatikern jener älteren Generation, die im Wetteifer mit den Vorgenannten erstarkte. Von der großen Fülle talentvoller dramatischer Erzeugnisse solcher Autoren des gleichen Alters, die es zu einem andauernden Erfolg nicht brachten, müssen wir unter dieser Beschränkung hier absehen. Paul Heyse, ein geborener Berliner, seit langen Jahren in München heimisch, Meister einer graziösen feinen Form in seinen Novellen und Gedichten, ist ein sehr schöpferischer Dramatiker, welcher antike und romantische Trauerspiele, Dramen aus der Rokokozeit und der Revolution, moderne Schauspiele und Lustspiele gedichtet hat, von denen die große Mehrzahl zur Aufführung gekommen ist, wenn auch oft nur an dieser oder jener Bühne. Größere und nachhaltige Erfolge errang sein Schauspiel „Hans Lange“, eine dramatisierte mittelalterliche Anekdote, deren Held ein schlauer energischer Bauer ist; das Stück ist reich an vielen genrebildlichen Zügen; „Kolberg“, ein Schauspiel, dem dasselbe nachzusagen ist, behauptete sich im deutschen Norden, besonders in Berlin, durch den patriotischen Geist, der das Stück belebt, „Die Weisheit Salomos“ wiederum fesselte durch den Kontrast ansprechender Charaktere, durch poetischen Hauch und eine Fülle sinniger Aussprüche. Unter den übrigen zahlreichen Stücken Heyses finden sich dramatische Dichtungen von großer dichterischer Schönheit wie „Hadrian“ und „Alkibiades“, von lebendig bewegter Handlung wie „Graf Königsmark“, doch das Bühnenglück war ihnen nicht hold. Adolf Wilbrandt beherrscht mehr als Paul Heyse das dramatische Pathos; wie sehr ihm dessen hinreißende Beredsamkeit zu Gebote steht, beweist sein „Gracchus, der Volkstribun“. Ein geniales Drama ist „Arria und Messalina“; die beiden das Laster der Cäsarenzeit und die Tugend des alten Rom vertretenden Frauencharaktere sind in scharfen Kontrast gestellt und die Verknüpfung der Handlung durch die Liebe von Arrias Sohn zur verbrecherischen Kaiserin hat tragische Bedeutung. In der „Tochter des Herrn Fabricius“ schuf Wilbrandt ein modernes Schauspiel, das manche packende Situationen enthält; seine Lustspiele, wie „Die Maler“ zeichnen sich durch geistreichen Dialog und kräftige Frische aus. Rudolf von Gottschall hat durch sein Lustspiel „Pitt und Fox“, ein Lieblingsstück der Wiener, welchem Laube nachrühmt, daß der geschichtliche Stoff erfindungsreich angefaßt und behende ausgebeutet sei, sowie durch sein Trauerspiel „Katharina Howard“, das über beinahe alle deutschen Bühnen gegangen ist, sich vorzugsweise in die Reihen der erfolgreichen Dramatiker gestellt. Wilhelm Jordan, der Dichter der neuen „Nibelunge“, die er diesseit und jenseit des Oceans selbst mit Erfolg vorgetragen, hat sich als stilvoller Lustspieldichter in seinen poetischen Stücken „Die Liebesleugner“ und „Durchs Ohr“ bewährt, in denen ein Dialog in gewandten und schlaghaften Reimversen der nur zu oft verwahrlosten Lustspielform künstlerischen Adel verleiht.

Wenn diese Dichter mehr oder weniger an die früheren Ueberlieferungen anknüpften, so war dies auch auf dem Gebiete des Lustspiels der Fall. Da waren Benedix mit seinen Lustspielen aus bürgerlichen Lebenskreisen, in denen der Situationswitz vorherrscht, und Bauernfeld mit seinen Salonstücken und ihrem geistreichen Unterhaltungston die Alten vom Berge, welche für jüngere Nachfolger die Losung ausgaben. An Benedix schloß sich Ernst Wichert an, der mit seinem Lustspiel „Ein Schritt vom Wege“ einen besonders glücklichen Wurf gethan, auch in anderen Lustspielen ansprechende Bilder aus dem häuslichen Leben entrollt hat, als tüchtiger Sittenmaler des ostpreußischen Lebens in seinen Novellen und als ostpreußischer Walter Scott in seinen geschichtlichen Romanen ein markiges Darstellungstalent verrät. Adolf L’Arronge, als Theaterdirektor ein Förderer der klassischen Dichtung, ist in seinen eigenen Werken, nachdem er sich von dem Ton der Berliner Gesangsposse, der seine ersten Erfolge angehören, freigemacht, ein Jünger von Benedix und hat auf dem Gebiete des bürgerlichen Sittengemäldes mit seinem „Doktor Klaus“ den größten Treffer gezogen. Sein Bestreben ist, bessernd auf die Sitten zu wirken, und namentlich auf dem Gebiete der Familienerziehung, deren Schattenseiten er mit scharfer Satire gegeißelt hat, ist er ein beredter Lehrmeister der Eltern und dadurch auch ein tapferer Anwalt der Kinder geworden. Auch der Schöpfer des Offizierslustspiels, Gustav von Moser, der niemals seine muntere Laune und sein liebenswürdiges Naturell verleugnet, trat anfangs in die Fußstapfen von Benedix, mit dem er ja gemeinsam das Lustspiel „Das Stiftungsfest“ verfaßte. Doch schon bei dieser Mitarbeiterschaft schieden sich ihre Wege. Benedix billigte nicht die schwankartigen Zusätze von Moser und der letztere lenkte immer mehr auf die Wege des modernen Schwanklustspiels ein. Zu seinen Haupttreffern gehören „Der Veilchenfresser“ und das mit Franz von Schönthan gemeinsam verfaßte Lustspiel „Krieg im Frieden“; er hat den preußischen Offizier auf unserer Bühne volkstümlich gemacht und damit auch im Lustspiele der Aera unserer nationalen Siege gehuldigt, welche Heer und Volk aufs innigste verschmolzen hat.

Der Stammbaum der Salondramatik, dessen Wurzeln in Eduard von Bauernfelds Stücken zu suchen sind, wuchs von Hause aus in einem Erdreich, dem es nicht an fremder Beimischung fehlte. Ein vielgerühmtes Lustspiel Bauernfelds „Die Krisen“ war ja die Bearbeitung eines französischen Stückes und bald brach die französische Dramatik, besonders am Wiener Burgtheater gepflegt, sich immer siegreicher in Deutschland Bahn. Der feinfühlige Augier gewann nur langsam Boden; aber der heißblütige jüngere Alexander Dumas mit seinen grellen und kecken Erfindungen und Charakterzeichnungen und seiner oft hinreißenden Leidenschaftlichkeit, vor allen aber Victorien Sardou mit seinem feinen Humor, seiner virtuosen Bühnengewandtheit, seiner unermüdlichen Schaffenskraft wurden auf unseren Bühnen heimisch, und zwar mehr als der eigenen nationalen Entwicklung derselben förderlich war. Unser Publikum gewöhnte sich daran, den Salon mit seinen sozialen Fernblicken auf der Bühne zu sehen; es gewöhnte sich an einen geistreichen Dialog, der auch bedeutsame Fragen streifte. Einer unserer gewandtesten Feuilletonisten, Paul Lindau, der auch mehrere dieser Dramen übersetzt hat, zeigte eine große Verwandtschaft mit den französischen Autoren, was glänzende geistige Beweglichkeit betrifft; und so war er längere Zeit ein Matador des deutschen Salonlustspiels, das zwar nach dem französischen hinüberschielte, aber doch nach deutscher Eigenart strebte; denn Lindau vermied nicht nur anstößige Verwicklungen, sondern er gab auch deutsche Stimmungsbilder, welche das Gemüt ansprachen. „Maria und Magdalena“ behandelt in solcher deutschen Weise einen Konflikt, welchen ein Alexander Dumas zu verletzender Schärfe herausgearbeitet haben würde, sein Lustspiel „Ein Erfolg“ ist frisch aus unserem litterarischen Leben herausgegriffen, anmutig und elegant ausgeführt.

Ein Rückschlag gegen das Franzosentum fand auf dem Gebiete der ernsten Dichtung statt, welche durch die Wahl patriotischer Stoffe an das Nationalgefühl appellierte. Ein junger preußischer Beamter, der als Offizier die Kriege von 1866 und 1870 mitgemacht und einzelne Großthaten derselben in lyrisch-epischen Dichtungen verherrlicht hatte, Ernst von Wildenbruch, wandte sich dem Drama zu und errang mit seinen schwunghaften „Karolingern“ und seinem „Harold“ durch glückliches und rasches dramatisches Tempo und eine Diktion, die etwa zwischen Shakespeare und Schiller die Mitte hält, in einer der Tragödie abgeneigten Zeit [171] überraschende Erfolge. In die preußische Geschichte zurückgreifend, schuf er das Drama „Vater und Söhne“, welches von den schmachvollen Niederlagen des Jahres 1807 bis zur glänzenden Erhebung von 1813, einen längeren Zwischenraum überspringend, geschichtliche Tableaus vorführt, und dann das Drama „Der Mennonit“, ein Werk von trefflichem dramatischen Aufbau, das in der Zeit Ferdinands von Schill spielt und den Kampf zwischen Vaterlandsgefühl und den Glaubenssätzen einer religiösen Sekte darstellt. Einen viel durchschlagenderen Erfolg errang Wildenbruch mit seinen Hohenzollerndramen, besonders mit den „Quitzows“ und dem „Neuen Herrn“. Das erstere erlebte eine selten hohe Zahl von Aufführungen an der Berliner Hofbühne, wozu neben dem schönen Aufschwung einzelner dichterischer Scenen auch der Witz der Berliner Lokalposse beitrug, der es sich hier im mittelalterlichen Kostüm wohl sein ließ. In dem „Neuen Herrn“ interessiert der durchgreifende Charakter des jungen Kurfürsten. Einen großen Erfolg errang Wildenbruch neuerdings mit seinem deutschen Kaiserdrama, das den Kampf zwischen Heinrich IV. und Gregor zum Inhalt hat. Ernst Wichert hat in seinem am „Berliner Theater“ aufgeführten Schauspiel „Das Recht des Stärkeren“ den Großen Kurfürsten in seinem Kampfe mit den ostpreußischen Ständen zum Helden gemacht, auf Grundlage seines großen geschichtlichen Romans gleichen Stoffes. Im volkstümlichen Stil hat Martin Greif, ein stimmungsvoller Lyriker, der mit Knappheit des Ausdrucks Innigkeit der Empfindung vereinigt und seine historischen Stoffe mit Vorliebe der bayrischen Geschichte entnimmt, verschiedene Dramen gedichtet, die sich von der Bühne herab beifälliger Aufnahme erfreuten, es seien genannt seine „Agnes Bernauer“ und „Ludwig der Bayer“.

Das patriotische Schauspiel hat eine volkstümliche Grundlage, bewegt sich aber meistens mit idealem Schwung auf geschichtlichem Boden. Volkstümlich auch in ihrer Tendenz waren die Bauernstücke, welche das Volk, wie es leibt und lebt, selbst mit den Eigentümlichkeiten seines Dialektes darstellen in ernsten und heitern Bildern, in tragischer und humoristischer Beleuchtung. Der zu früh verstorbene Oesterreicher Ludwig Anzengruber, dessen Stücke sich immer mehr die norddeutschen Bühnen erobern, war auf diesem Gebiete ein glänzendes Vorbild: in tiefgehende Risse im Volksleben, gesellschaftliche Schäden wußte er eine scharfe dramatische Sonde einzuführen; markig war seine Darstellungsweise und er hat einige Gestalten geschaffen, wie den Wurzelsepp, welche bevorzugte Aufgaben für Charakterdarsteller bleiben. Wenn einzelne dieser Dramen einen tiefen tragischen Grundton hatten, so sind die oberbayrischen Dramen von Ludwig Ganghofer weniger dunkel gehalten und neigen sich mehr zu versöhnlichem Abschluß, obschon es an ernsten Konflikten in denselben keineswegs fehlt. Sein „Herrgottschnitzer von Oberammergau“, „Der Prozeßhansl“, „Der Geigenmacher von Mittenwald“, die alle drei von ihm gemeinsam mit dem Schauspieler Hans Neuert geschaffen wurden, sind durch die „Münchener“ unter Hofpauers Leitung über die Bühnen fast aller größeren deutschen Städte geführt worden; es weht frische Alpenluft in diesen Stücken, und die Hauptscenen haben dramatisches Leben. Dies gilt auch von Ganghofers anderen Bauerndramen, die mit seinen lebensvollen warmblütigen Romanen und Novellen aus der Hochgebirgswelt den Vorzug teilen, treu nach der Wirklichkeit gestaltet zu sein. In Norddeutschland hat man gleichzeitig den Fritz Reuterschen Humor theatralisch mundgerecht zu machen gesucht und Reuters Inspektor Bräsig und andere mecklenburgische Volksoriginale spazieren jetzt über die weltbedeutenden Bretter.

Wenn diese volkstümliche Dramatik schon ganz auf dem modernen realistischen Boden steht, aber innerhalb beschränkter Volkskreise, so kamen von der anderen Seite kraftgeniale Dramatiker, welche die gesellschaftlichen Zustände in grelle Beleuchtung rückten und sich auch in der Mitte des realen Lebens bewegten, obschon sie demselben soviel Romantik wie möglich abzugewinnen suchten. Der hervorragendste derselben ist Richard Voß, dessen frühere Werke, wie die „Patrizierin“, den Pulsschlag eines echten dichterischen Talentes und einen leidenschaftlichen Zug zeigten. Später wählte er Stoffe aus dem modernen Leben, dem Zeitgeschmack folgend, der unter der Herrschaft der französischen Dramatik stand. Es ist etwas von Hebbel und etwas von Victor Hugo in ihm; auch hat er Eigenschaften, die an die beiden Alexander Dumas erinnern. Gern wählt er Stoffe, die sensationeller Wirkungen sicher sind; er liebt Konflikte, in denen das Tragische und das Kriminelle ineinandergreifen. Besonders gilt dies von seinen neueren dramatischen Dichtungen wie „Alexandra“, „Eva“, „Schuldig“. Langjähriger Aufenthalt in Italien legt ihm auch Stoffe nahe, welche den sozialen Gegensätzen des modernen italienischen Lebens entnommen sind, wie „Pater Modestus“, „Malaria“. Arthur Fitger zeigt besonders in den „Rosen von Tyburn“ Geistesverwandtschaft mit Richard Voß und der französischen Romantik; die sich am Schluß auf der Bühne heranschleichende Pest ist einer der gewagtesten Triumphe des neuen Naturalismus. „Die Hexe“, das beste Werk Fitgers, behandelt mit dramatischer Steigerung den Konflikt einer Freidenkerin mit der überlieferten Satzung und mit der abergläubischen Menge; trotz der geschichtlichen Einkleidung bewegen sich hier die Gegensätze auf modernem geistigen Boden.

Inzwischen war die Entwicklung unserer Dramatik noch durch eine andere ausländische Größe bestimmt worden, die eine fanatische Anhängerschaft fand: der Norweger Henrik Ibsen, von vielen litterarischen Wortführern als Reformator der ganzen dramatischen Dichtung ausgerufen, machte bei uns Schule. Ein kritischer Kopf, in dem zugleich eine etwas nebelhafte Romantik spukt, besitzt er Gestaltungsgabe und theatralisches Geschick und übt damit oft verblüffende, aber wenig stichhaltige Wirkungen aus. In der gährenden Unklarheit seiner Sozialkritik suchte man eine wunderbare Tiefe und seine wortkarge Knappheit galt zugleich für die Runensprache geheimnisvoller Offenbarung wie für ein Muster des dramatischen Tons und Stils. Scharfeinschneidend in seinen satirischen Gesellschaftsbildern, nicht ohne Reiz in seiner oft traumhaften Seelenmalerei, ein Meister in der Zeichnung krankhafter Frauencharaktere, die im Grunde alle nicht recht wissen, was sie wollen, aufregend durch seine Auffassung moderner Vererbungstheorien, drang er allmählich ruckweise auf den deutschen Bühnen vor, eroberte sich immer mehr Terrain und wirkte vor allem bestimmend auf jüngere Talente.

Die gegenwärtige dramatische Dichtung unsrer „Neuesten“ baut sich aus diesen Elementen auf und das Ungünstigste dabei ist, daß sie soviel Fremdländisches in sich aufnimmt und mit sich verschmelzen muß. Uebrigens ist sie nicht nur durch den Einfluß von außen gezeitigt, sondern nachweisbar sind ihre Zusammenhänge mit den Richtungen und Werken älterer deutscher Dichter. So ist z. B. Hebbels „Maria Magdalena“ so jüngstdeutsch in Bezug auf reale Lebenswahrheit und die Gewagtheit des aufgestellten sittlichen Problems wie nur irgend ein Erzeugnis der neuesten Schule. Es liegt gar keine Veranlassung vor, von einer wirklichen „Revolution“ in der Litteratur zu sprechen, und unter eine bestimmte Fahne läßt sich nur ein mühselig zusammengebrachtes Häuflein ordnen: so verschiedenartig sind die jüngeren Talente. Auch hier ist für unsere Auswahl ihre Einbürgerung auf der Bühne bestimmend.

Das bedeutendste Talent unter den jüngeren besitzt ohne Frage Hermann Sudermann; er hat den echten dramatischen Wurf, den hinreißenden Zug der Handlung, einen belebten markigen Dialog. In Bezug auf Beherrschung der dramatischen Form, auf fesselnde Scenenführung hat er von den Meistern der modernen französischen Bühne gelernt; in seiner Hinneigung zur scharfen Beleuchtung sozialer Mißstände zeigt sich Ibsenscher Einfluß; seine Stoffe aber wählte er mit voller Selbständigkeit aus dem deutschen Leben der Gegenwart. Er vereinigt in sich die Gabe, mit großer Lebenswahrheit Kreise und Typen des modernen Großstadtlebens zu schildern, mit dem Trieb, die sittlichen Schäden unserer sozialen Verhältnisse bis an die Wurzel bloßzulegen, wodurch er sich vielfache Anfechtung zuzog. In seiner Kritik ist er aber voll Geist und Witz und neben der Darstellung von Entartung und Elend finden sich in seinen Dramen immer auch Personen und Charakterzüge, die uns sympathisch berühren. Wie er die inneren Konflikte aus den Gegensätzen, die unsere moderne Gesellschaft zerklüften, mit Vorliebe herleitet, so liebt er es, diese Gegensätze scenisch auch in ihrem Aeußern mit realistischer Deutlichkeit anschaulich zu machen. So stellte er in der „Ehre“ dem üppigen Leben im „Vorderhaus“ das Bild proletarischer Verkommenheit im „Hinterhaus“ gegenüber; so bricht in der „Heimat“ die Heldin mit all den Ansprüchen eines freizügigen Künstlerlebens in die Idylle einer patriarchalischen Lebensanschauung ein. Auch Sudermanns neueste Dramen „Die Schmetterlingsschlacht“ und „Das Glück im Winkel“ mit ihren versöhnlicheren Schlüssen haben eine verwandte Struktur. Er hat mit seinen trotz mannigfachen Widerspruchs nicht zu leugnenden starken Erfolgen nicht nur die deutschen, sondern auch die ausländischen Bühnen erobert; von allen jüngeren Schriftstellern besitzt er die größte dramatische Energie.

[172] Ganz anders geartet ist Gerhard Hauptmann. Er ist mehr dramatischer Genremaler und im Durchführen naturalistischer Prinzipien pedantisch kleinlich; er steht ganz unter dem Einflüsse Ibsens; seine „Einsamen Menschen“ tragen das Gepräge der oft blutleeren skandinavischen Muse. „Vor Sonnenaufgang“ enthält neben brutalen Scenen und Wendungen auch einzelnes poetisch Anmutende. Die Verwüstungen der Trunksucht in den Familien der Bauern zu schildern, ist mehr die Aufgabe des Sittenmalers als die des dramatischen Dichters. In „Kollege Crampton“ ist es dasselbe Laster, an welchem ein begabter Künstler zu Grunde geht. „Die Weber“ lösen sich ganz in Tableaus auf, durch welche kein dramatischer Faden hindurch geht; es ist eine scenisch zersplitterte Tragödie des Elends mit einzelnen packenden Auftritten. Am meisten von sich sprechen machte „Hannele“, eine Traumdichtung, in welcher ein roher Realismus neben einer visionären Phantastik waltet und der Jammer der Erde von himmlischer Glorie eingerahmt wird; ein paar lyrische Prachtstücke sind hier in die allernüchternste Werktagsprosa verwebt. Hauptmanns neuestes Werk „Florian Geyer“, das bei seiner ersten Aufführung im Berliner „Deutschen Theater“ entschieden abgelehnt wurde, scheiterte an dem Versuch, die Prinzipien des einseitigen Naturalismus auf das Gebiet des historischen Trauerspiels zu übertragen.

Daß frühere Einflüsse auf die neueste Gestaltung der dramatischen Dichtung miteinwirken, ist unverkennbar. Das Traum- und Märchendrama ist keineswegs von der Bühne verschwunden: hier vor allem zeigt sich das Vorbild des sinnigen und oft tiefsinnigen Grillparzer noch in voller Geltung; denn nicht etwa mit den Zauberpossen haben diese neuen Dichtwerke Gemeinschaft, sondern mit hochpoetischen Werken wie Grillparzers „Der Traum ein Leben“. Daran erinnerten schon Wilbrandts Drama der Wiedergeburten „Der Meister von Palmyra“ und Heyses „Schlimme Brüder“, und auch die neueste so erfolgreiche Märchendichtung „Der Talisman“ von Ludwig Fulda verleugnet die Schule Grillparzers nicht; sie bewegt sich zwar nicht in der Traum- und Zaubersphäre, aber sie ist in die Gewandung des orientalischen Märchens gekleidet. Dieses dramatisierte Epigramm ist aus dem reichen Schatz von Epigrammen hervorgegangen, den Fulda in seinem schriftstellerischen Schrein verwahrt. In der That vereinigt er auf diesem Gebiete geistige Schärfe mit großer Formgewandtheit und diese Vorzüge verraten sich auch in seinen modernen Gesellschaftsdramen „Die Sklavin“, „Das verlorene Paradies“, noch mehr aber und mit größerer Frische in seinen Lustspielen, die wie „Die wilde Jagd“ auf den von Bauernfeld und Lindau eingebürgerten Salonton gestimmt sind. Dasselbe gilt von Ernst von Wolzogens Stücken „Die Kinder der Excellenz“ und „Lumpengesindel“, in denen es an launig ausgeführten Genrebildern nicht fehlt, aber auch gesellschaftliche Mißklänge scharf in die Capriccios des Humors hineintönen, den Einfluß Ibsens auf den Autor markierend.

Im übrigen herrscht auf unserer Bühne der Lustspielschwank, ein Gebiet, auf welchem auch G. von Mosers Lustspielmuse zuletzt immer mehr heimisch geworden ist. Oskar Blumenthal, in seinen ersten Lustspielen wie in seinem glücklichsten Wurf „Der Probepfeil“, in den Bahnen Paul Lindaus wandelnd, wenn auch im Dialog weniger feingeistig und mit derberem Nachdruck, hat jetzt mit seiner „Großstadtluft“ und ähnlichen Schwänken, in denen die Lustigkeit die Grundstimmung bildet und ein derber Schlagwitz herrscht, sich alle Bühnen erobert. Auch Franz von Schönthan mit seinen Mitarbeitern Paul von Schönthan und Gustav Kadelburg, welcher auch Blumenthal in der „Großstadtluft“ und anderen Erzeugnissen zur Seite stand, hat mit dem spaßhaften „Raub der Sabinerinnen“ und neuerdings mit dem drolligen „Der Herr Senator“ nachhaltige Lacherfolge errungen.

Wir haben in großen Zügen den Entwicklungsgang der neuesten dramatischen Litteratur und damit auch des Theaters in Deutschland gezeichnet. Wie sich auch die älteren und neueren Richtungen befehden mögen: die Mannigfaltigkeit und der Reichtum des deutschen Geisteslebens zeigt sich auch auf diesem Gebiete. Auch ist zu hoffen, daß die Gegensätze sich immer mehr ausgleichen werden; in wohlthuender Neuerung wird man dann keine Vermessenheit, in der Pflege des wohlverdienten Alten keine geistige Beschränktheit sehen. Der biblische Spruch: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“, gilt auch mit Bezug auf das geistige Leben und unsere Litteratur; wo aber heftiger Streit entbrennt über Richtungen und Programme des dramatischen Schaffens, da ertöne der Friedensruf: „Habt nur Talent und Genie, so wird euch alles übrige von selbst zufallen!“ Rudolf Hermann.