Die Gartenlaube (1862)/Heft 30
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No. 30. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Zwei Welten.
Als Hugo nach der Treppe zu seinem Zimmer schritt, kam ihm Henderson mit einem bedeutungsvollen Augenzwinkern von der Vorderthür entgegen. „Wenn Sie Mr. Graham kennen lernen wollen – er kommt soeben,“ sagte er halblaut. „Ja doch!“ setzte er, wie den Ausdruck von Hugo’s Gesicht beantwortend, hinzu, „Sie verrenken sich den Hals auch nicht, um ihn zu sehen; es geht Ihnen darin wie mir – das sind Privatsachen, und ich darf’s Ihnen sagen!“ Er warf dem jungen Manne einen launigen Blick voll Einverständniß zu und wandte sich dann nach den seitwärts liegenden Kaufmannsgütern; der Deutsche aber stieg die Treppe hinauf und suchte vergebens nach dem Sinne der Aeußerung, und erst als er, in sein Zimmer gelangt, sich seines Gesprächs mit dem Alten vom Abend zuvor erinnerte, als einzelne Blicke und die Betonung mancher Worte desselben vor sein Gedächtniß traten, fragte er sich, ob es möglich sei, daß der Mann mehr von seinen Empfindungen für die nunmehrige Mrs. Graham errathen, als jemals unter den jetzigen Verhältnissen gut sein konnte.
Er hatte die Thür verschlössen, um sich für den Besuch in Winter’s Familie umzukleiden, und nach wenigen Minuten unterbrachen doppelte Tritte auf der Treppe seine Gedanken. Die Heraufkommenden passirten sein Zimmer; bald vernahm er aber durch die Seitenwand ein Geräusch wie herbeigerückte Stühle, und das erste dort laut werdende Wort überzeugte ihn, daß irgendwo unter der Tapete eine dünne Stelle, eine frühere Thüre oder dergleichen vorhanden sein müsse, und unwillkürlich unterbrach er seine Bewegungen.
„Sie wühlen wie die Prairiehunde, Winter,“ wurde eine erregte Stimme laut, „sie wollen eine Bürgerversammlung abhalten und ein Untersuchungscommittee ernennen, ich habe heute schon die Namen Derer, die sie auf uns hetzen wollen, erhalten. Gott mag wissen, wo der Verräther steckt, aber ich weiß, daß sie Kenntniß von Details haben, die mich zwingen werden, die Bücher vorzulegen, wenn wir nicht Alles aufbieten, um die ganze Bewegung niederzustimmen. Und nun nehmen Sie unter Ihren Freunden die Sache in die Hand, Freund, es ist die höchste Zeit dafür; wenn die große Geschäftswelt sich gegen diese Untersuchung als eine Untergrabung des städtischen Credits erhebt, so ist unser Spiel schon ein gewonnenes!“
„Well –!“ klang Winter’s ruhige Stimme, „ich glaube kaum, liebster Graham, daß ich auch nur einen Finger in der ganzen Angelegenheit rühren werde; ich weiß längst, was sich vorbereitet, aber ich, als völlig parteiloser Geschäftsmann, würde einen keineswegs nützlichen Verdacht auf mich laden, wenn ich ausfallend thätig die Partei der Stadtverwaltung nähme –“
„Aber glauben Sie denn, daß Sie außer Verdacht sind, Sir?“ rief Graham mit einem ärgerlichen Lachen.
„Um so weniger werde ich diesen noch mehr bestärken, Sir. Sie sind allerdings mein Schwiegersohn, was mich in der öffentlichen Meinung von selbst mit Ihnen in Verbindung bringt, aber was habe ich außerdem mit der Finanz-Verwaltung der Stadt zu thun?“
„Natürlich nichts, als daß Sie Ihren Gewinnantheil in die Tasche stecken. Wissen Sie wohl, Sir, daß ich im Augenblicke nicht weiß, was ich mehr bereuen soll, den ersten Schritt, den ich zu einer Geschäftsverbindung mit Ihnen that, oder den letzten, der mich zu Ihrem Schwiegersohne machte?“
Winter ließ ein völlig natürliches Lachen hören. „Gut, wirklich gut!“ rief er, „habe ich denn in Beidem nicht nur Ihren drängenden Bitten nachgegeben? Sie sind aufgeregter, als Ihnen gut ist, Graham. Was zwischen Ihnen und Jessy liegt, weiß ich nicht, ist auch nicht meine Sache, im Uebrigen aber sagen Sie mir doch, um was Sie besorgt sind. Haben Sie denn etwas in Ihren Büchern, das Sie bei einer Untersuchung zu fürchten hätten? So weit meine Geschäftsverbindung mit der Stadt geht, sind doch alle Ihre Posten darin die Unschuld selbst – was kümmert Sie denn diese ganze Untersuchungs-Komödie? “
„Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, daß die Hauptwühler Kenntniß von einzelnen Details haben, die, eben weil meine Bücher nichts davon wissen, uns einen völligen Sturm bereiten müssen, sobald wir nicht Herr der jetzigen Bewegung werden? Ich sage Ihnen noch einmal, Sir, vereinen Sie Ihre Kräfte mit den unsern, wenn Sie nicht selbst mit in den Strudel hineingezogen sein wollen!“
„Und ich sage Ihnen, Mr. Graham,“ klang Winter’s Stimme in voller Bedeutsamkeit, „daß ich Sie nicht verstehe, daß ich nicht den entferntesten Grund sehe, weshalb ich mich in Dinge mischen soll, die mir absolut fremd sind. Ich bin der Agent der Stadt gewesen, das ist Alles, was geht mich als solcher die innere Verwaltung an?“
„Aha!“ ließ sich der Andere mit einem kurzen, gezwungenen Lachen hören, „Sie ziehen den Kopf aus der Schlinge und nehmen die Beeren mit sich. Very, well, so mag Jeder, ohne eine Verpflichtung gegen den Andern, seinen eigenen Weg gehen. Von heute ab, Mr. Winter, sind wir geschiedene Leute.“
„Ich sehe auch dazu keinen Grund, Sir,“ war die ruhige [466] Erwiderung; „es wird vielleicht sehr nöthig werden, dieser Untersuchungs-Partei zu zeigen, daß man sich gar nicht um sie kümmert. Arrangiren Sie einen Ball, wenn die Bewegung in ihrer vollen Höhe ist, und ich werde mit Vergnügen dafür sorgen, daß meine Freunde sich in voller Zahl einfinden – so etwas wirkt mehr in der öffentlichen Meinung, als jede Rechtfertigung, die sich auf gleichen Fuß mit den Widersachern stellt. Sie haben ohnedies in Ihrem Hause noch keine Gesellschaft seit Ihrer Verheirathung gesehen.“
„Ich werde selbst beurtheilen, was jetzt nothwendig wird,“ klang Graham’s Antwort. „Die letztausgegebenen Stadt-Schuldscheine sind noch in Ihrer Hand, Sir, ich werde mir diese unter den jetzigen Umständen von Ihnen zurückerbitten.“
„Ich bin völlig unglücklich, Sir, Ihnen nicht willfahren zu können; die Papiere sind bereits abgegangen, und es würde mich und die Stadt lächerlich machen, sie jetzt zurückzufordern.“
Eine kurze Pause entstand, dann hörte Hugo die Stühle rücken, und Winter sagte: „Ich gehe ein Stück Wegs mit Ihnen, Sir; hoffentlich sehe ich Sie morgen weniger aufgeregt und den Dingen ihren rechten Werth gebend.“
Eine Thür klappte, und die früheren Tritte näherten sich wieder der Treppe. Als sie das Zimmer des Deutschen passirten, ward ein Versuch zum Oeffnen der Thür gemacht, und Hugo vermuthete, daß Winter zu spät sich der Möglichkeit seiner Anwesenheit entsonnen. Der verschlossene Eingang schien ihn indessen beruhigt zu haben; der junge Mann hörte Beide die Straße betreten, und jetzt warf er sich auf den Divan, in völliger Unsicherheit über seine nächste Handlungsweise. Daß die Anreger einer Untersuchung gegen die Stadtverwaltung volle Ursache für ihr Verfahren hatten, daß Winter in die stattgefundenen Unredlichkeiten wenigstens theilweise eingeweiht war und sie zu seinem eigenen Nutzen ausgebeutet hatte, stand völlig fest in ihm; sollte er aber wegen etwas Vergangenen aus seiner kaum gewonnenen Stellung treten, jetzt, wo derartige Geschäfte von selbst ihr Ende gefunden zu haben schienen? Und vermochte er denn überhaupt zu beurtheilen, wie viel Schuld auf Winter’s Kopf fiel, der anscheinend sich in völliger Sicherheit fühlte? Er versuchte sich wieder in das Gedächtniß zu rufen, was Marquart, der Wirth und Stadtrath, über Winter geäußert – aber es waren nur dunkele Andeutungen; er hätte gern noch einmal mit dem Manne, der im Besitze von bestimmten Thatsachen zu sein schien, gesprochen, wenn er nur nicht gefürchtet hätte, dadurch eine Art Untreue gegen das Geschäftshaus, von dem er jetzt noch einen Theil bildete, zu begehen. Ueber alledem aber, welche Aussichten hatte er denn für seinen künftigen Unterhalt, wenn er aus vielleicht übertriebenen Gewissensscrupeln seine jetzige Stellung verließ? Er richtete sich auf und begann in leisen Tritten das Zimmer zu durchschreiten, bis der Gedanke, daß Winter zurückkehren und seine Anwesenheit wahrnehmen könne, ihn zum Verlassen des Hauses drängte. Einen vorläufigen Entschluß hatte er wenigstens gefaßt. Er sah jetzt klarer als vorher und er wollte abwarten, bis er durch eine bestimmte Thatsache ein Verlassen seiner Stellung ebensowohl gegen sich, als gegen den Geschäftsherrn rechtfertigen konnte.
Als er aus dem Zimmer trat, sah er Henderson neben der Treppe stehen und ihn mit groß aufgerissenen Augen anstarren. „Sie haben Alles gehört,“ sagte dieser mit gedämpfter Stimme, langsam auf ihn zutretend, „aber ich denke, es schadet nichts. Das sind die Geschäfte, die dieser Mr. Graham macht, mit denen er den Principal trotz dessen Vorsicht und Klugheit bethört hat, und die obendrein noch Miß Jessy in sein Netz gebracht haben. Ich habe doch gewußt, was zuletzt kommen würde, wenn ich auch nicht habe reden dürfen, und ich sehe den Herrn Comptroller noch im Staatsgefängniß. Nur Geduld, Sir, es wird noch Alles gut, Mr. Winter läßt sich nicht fangen, und Miß Jessy wird auch noch ihr Recht bekommen; schweigen Sie und warten Sie ab!“
Hugo fühlte das Blut in sein Gesicht steigen, ohne doch den Sinn der Rede völlig enträthseln zu können. „Ich weiß nicht recht, was Sie meinen, Sir,“ sagte er zögernd, „in die Geschäftsangelegenheiten habe ich noch zu wenig Einblick, und was außerdem Mr. Graham betrifft –“
„All right, Sir,“ unterbrach ihn der Alte, während in seinem Gesichte plötzlich ein voller Humor aufzuckte, „so weiß ich wenigstens, was ich meine. Sie heißen doch Hugo Zedwitz?“ Er blickte den Deutschen an, als wolle er sich an dem ungewissen Ausdruck von dessen Gesicht weiden, nickte dann und wandte sich nach seinem Zimmer.
Hugo meinte kaum mehr zweifeln zu dürfen, daß irgend ein Umstand den Alten eine frühere Beziehung zwischen ihm und Jessy vermuthen lasse, und je mehr er nach einer Aufklärung deshalb suchte, je bestimmter kam er auf die einzige Möglichkeit zurück, daß die junge Frau selbst zu einer derartigen Vermuthung Anlaß gegeben haben müsse; hatte sich doch der Alte gestern sogar ihres Vertrauens gerühmt. Sie konnte nach den eben gehörten Aeußerungen Graham’s in keiner glücklichen Verbindung leben, und ein eigenthümliches Gefühl durchschauerte ihn, wenn er sich die Möglichkeit einer nähern Berührung mit ihr in den jetzigen Verhältnissen dachte.
Er hatte sein Mittagsbrod eingenommen und ritt, nur mit Mühe sich der Gedanken erwehrend, welche die verschiedenen Ereignisse des Morgens immer auf’s Neue in ihm hervorriefen, nach Winter’s Farm; und kaum mochten die ersten Hufschläge seines Pferdes in dem Hause zu hören gewesen sein, als auch Carry schon in der Thür erschien und ihn mit einem leuchtenden Blicke begrüßte. Es war eine Veränderung in ihrem Aeußeren vorgegangen; ihr Haar saß fest und glatt, ihr Kleid zeichnete knapp die feinen Umrisse ihres Oberkörpers ab, und Hugo meinte erst heute rechte Augen für diese Erscheinung in frischester, jungfräulicher Blüthe zu erhalten. Sie bot ihm, als der herbeieilende Schwarze das Pferd in Empfang genommen, mit unverhüllter Freude die Hand, während dennoch, als er ihr mit unwillkürlichem Gefallen in die Augen blickte, ein helles Roth in ihre Wangen stieg, ohne indessen das Lächeln aus ihrem Gesichte zu entfernen. „Sie werden sich vorläufig wohl mit mir allein begnügen müssen,“ sagte sie, ihm leicht nach dem Zimmer vorangehend, „John ist wieder unwohl und will die Mutter nicht von sich lassen; ich habe mir indessen recht fleißig ein Stück durchgesehen, das ich Ihnen vorspielen werde, dann haben Sie mich tüchtig schlecht zu machen, wie ich’s verdiene, und ich werde für die Zukunft doch wieder wissen, wovor ich mich zu fürchten habe!“ Sie hatte mit einem neckischen Aufblicke selbst einen Stuhl für ihn herbeigerückt, ehe er es verhindern konnte, und öffnete das Piano.
„So haben Sie also Ihre frühern Lehrer gefürchtet, Miß?“ fragte er, angeregt von dieser ungefälschten Natürlichkeit, welche dem ganzen Wesen des Mädchens einen ungewöhnlichen Reiz verlieh.
„O, meine frühern Lehrer, das war etwas Anderes!“ lachte sie, „ich glaube eher, daß sie mich gefürchtet haben! – Aber warten Sie,“ unterbrach sie sich, plötzlich aufhorchend, „ich hatte außer meinem Stück noch etwas Anderes für Sie, und ich glaube, da ist es schon. Sitzen Sie ganz still, wir haben gar nichts gehört!“
Sie hielt den Kopf mit der gespannten Miene eines Kindes hoch, das die Entwickelung einer bereiteten Ueberraschung abwartet, und Hugo sah lächelnd in dieses klare, rosige Gesicht, das noch von keinem Gedanken, der eine Hülle nöthig gehabt, berührt worden zu sein schien, mehr mit der Betrachtung desselben als der Erwartung des Kommenden beschäftigt.
Ein Wagen hielt vor dem Hause, und in der nächsten Minute öffnete sich die Thür des Zimmers. Hugo hatte sich umgeblickt und schnellte von seinem Sitze empor – alles Blut war aus seinem Gesichte gewichen. Carry indessen sprang auf die schlanke Mädchengestalt, welche soeben in’s Zimmer getreten war, aber wie erschreckt ihren Schritt angehalten hatte, zu, faßte ihre Hand und rief, mit komischer Gravität ihre beiden Gäste einander vorstellend: „Mr. Zedwitz aus Berlin, jetzt im Geschäfte von Mr. Winter – meine Schwester Jessy, jetzt Mrs. Graham!“ Sie lachte fröhlich auf. „Hatte ich Dir nicht eine Ueberraschung zugesagt, Jessy?“
Das bleiche Gesicht der jungen Frau hatte einen Moment einen Ausdruck von Starrheit angenommen; Carry war aber kaum mit ihrer Rede zu Ende, als sich über die Züge der Ersteren ein kaltes, ruhiges Lächeln breitete und sie, die Hand leicht vorstreckend, auf den Deutschen zutrat. „Es ist wirklich eine Ueberraschung, die mir durch Ihre Anwesenheit bereitet wird, Sir,“ sagte sie langsam; „ich war ohne eine Ahnung von Ihrem Hiersein, hätte aber noch viel weniger eine so nahe Beziehung zwischen Ihnen und Mr. Winter vermuthet!“
Hugo’s Blick hatte, noch ehe sie sprach, ihre ganze Erscheinung erfaßt; das war noch immer dieselbe stolze Haltung des Nackens, dasselbe wunderbare Auge, das fast noch an Tiefe gewonnen zu [467] haben schien; aber in ihren Zügen war das rosige Colorit und der rasche Wechsel des Ausdrucks geschwunden; ihre Bewegungen hatten die frische Keckheit verloren; ihre feine Hand lag während des kurzen Moments, in welchem sie sich ihm geboten, bewegungslos in der seinen, und der junge Mann fühlte ein eigenthümliches Weh durch sein Inneres zucken – kaum wußte er, ob über seine eigene unglückliche Liebe, die mit dem Anblicke der Eingetretenen in ihrer ganzen Stärke und Hoffnungslosigkeit in ihm erwacht, oder über Jessy’s veränderte Erscheinung, die ihn an die schutzlose Blume, welche ein frühzeitiger Frost getroffen, mahnen wollte.
„Aber behalten Sie Platz, Sir!“ fuhr sie fort, sich langsam auf den Divan an ihrer Seite niederlassend, und Hugo, seinen frühern Sitz einnehmend, suchte vergebens in ihrem Auge nach einem Ausdrucke, der eine Andeutung ihrer frühern Begegnungen gegeben hätte. „Sie gedenken jetzt hier und in Mr. Winter’s Geschäft zu bleiben?“ setzte sie im ruhigen Conversationstone hinzu.
„Wie der Mensch eben gedenken kann, Ma’am!“ erwiderte er, den Blick nicht von ihrem Gesichte lassend; „ich gedachte preußischer Beamter zu bleiben, und mußte nach Amerika gehen; ich gedachte hier verschiedene Dinge zu thun, die dann jeden Boden verloren, und bin jetzt in Mr. Winter’s Geschäft, woran ich niemals gedacht. Sollten Sie nicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben, Ma’am?“
Es klang fast wie eine herbe Beziehung in seinen letzten Worten, und sie senkte den Blick, um ihn indessen gleich darauf ruhig wieder nach ihrer Schwester zu heben. „Schaffst Du mir wohl ein Glas frisches Wasser, Carry?“ fragte sie, und als die Angeredete bereitwillig das Zimmer verlassen, hob sie rasch den Kopf. Ihr Gesicht war noch bleicher und ihr Auge noch dunkler und größer geworden. „Sie sind jedenfalls von der Veränderung meiner Lage unterrichtet, und diese hat Sie überrascht,“ sagte sie, während es in den tiefen halblauten Tönen ihrer Stimme wie eine leise Erregung zitterte; „Sie scheinen nicht vergessen zu haben, wie ich mich auf unserer europäischen Reise über meinen zweiten damaligen Begleiter einst gegen Sie geäußert. Indessen wandeln Zeit und Umstände wohl oft mehr als eine Ansicht, und so ist auch meine Stellung völlig natürlich, wenn auch unerwartet, eine andere geworden, ohne daß ich dabei selbst etwas zu bereuen hätte.“
„Aber warum sagen Sie mir das?“ unterbrach er sie, vergebens bemüht, eine plötzliche innere Aufwallung von Schmerz ganz zu unterdrücken, „welches Recht habe ich denn auf das kleinste erklärende Wort?“
„Ein Recht sicherlich nicht, Sir,“ erwiderte sie, den Kopf hebend, während ein leises Roth in ihre Wangen stieg, „aber einesteils meine ich Ihnen einen Freundesdank schuldig zu sein, und anderntheils werden uns die Verhältnisse hier und da zusammenführen, so daß ich ein Wort über das, was Sie verwundert haben mag, für nöthig hielt. – Bei dieser Gelegenheit will ich Ihnen nun auch gestehen,“ fuhr sie mit plötzlich verändertem Tone fort, „daß ich einigermaßen überrascht bin, Sie auf dem Wege zum amerikanischen Geldmanne zu sehen, ich hätte nach meiner kurzen Beobachtung kaum dafür ein Talent in Ihnen vermuthet!“
„Warum nicht, Ma’am?“ erwiderte er, von einer halben Bitterkeit überkommen; „es kann Manches aus dem Menschen werden, wenn er seinen Boden verloren und nach dem nächsten fremden Halte greifen muß. Sie sehen ja, daß sich für einen Geldmann selbst bei Ihnen das Unerwartete natürlich geordnet hat, ohne daß Sie etwas zu bereuen hätten!“
Ein hohes Roth war in das bleiche Gesicht der jungen Frau geschossen, aber er sah es nicht. Er hatte sich, als könne er seinen Empfindungen nicht mehr gebieten, mit seinen letzten Worte rasch erhoben und war nach dem Fenster getreten; kaum drei Secunden indessen hatte er dort verweilt, als er sich langsam, sichtlich seine Erregung niederkämpfend, wieder zurückwandte.
„Verzeihung, Mrs. Graham!“ sagte er gedrückt, „aber Sie hätten die Todten nicht wecken sollen, die ich kaum erst begraben. Selbst diese Worte mögen ungehörig sein, ich verspreche Ihnen aber, daß keine meiner Mienen wieder von einer Thorheit reden soll, die im Augenblick stärker war, als ich selbst. Sie haben übrigens Recht, ich fühle bereits, daß ich kein Talent zum amerikanischen Geldmanne habe; und wenn ich jetzt noch einige Tage in meiner gegenwärtigen Stellung verweile, so geschieht es nur, weil Menschen, die auf den Strand geworfen worden sind, wie ich, nicht jeden Augenblick die Wahl einer andern Lage haben.“ In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, um Carry, welche selbst das geforderte Wasser herbeigeholt zu haben schien, einzulassen, und Hugo trat ihr wie in einem kurzgefaßten Entschlusse entgegen. „Ich habe soeben zu Mrs. Graham von einer Versäumniß gesprochen, die mich ganz unglücklich macht, da sie mich wieder in die Stadt zurückruft –“
„Sie wollen wieder fort?“ unterbrach ihn das Mädchen in sichtlich unangenehmer Ueberraschung und richtete den Blick wie um Erklärung nach der älteren Schwester. Diese aber hatte sich soeben erhoben und ein Notenbuch auf dem Piano geöffnet. „Vater versprach doch, daß Sie heute geschäftsfrei sein sollten!“
„Es ist auch nur eine Privatsache, Miß, aber von so viel Wichtigkeit und nicht allein für mich, daß Sie mich sicher entschuldigen werden,“ erwiderte er und wandte sich dann, als wolle er jeder weitern Zögerung vorbeugen, nach der jungen Frau. „Mrs. Graham, ich bitte nochmals um Verzeihung!“
Sie hob den Kopf und streckte ihm leicht die Hand entgegen; aber diese Hand bebte, als er sie berührte, und mitten aus dem Ernst ihres Auges blickte ihm ein so weicher Ausdruck entgegen, daß er wohl kaum seine mühsam errungene Selbstcontrole voll bewahrt haben würde, wenn nicht Carry, welche sich ihres Wasserglases auf dem Tische entledigt, mit einem schmollenden: „Aber das ist garstig, Mr. Zedwitz, uns den ganzen Nachmittag, den ich mir so lustig gedacht, zu verderben!“ herzugetreten wäre.
Er hatte das Zimmer verlassen, sein Pferd losgebunden und war bereits eine Weile davon gesprengt, als habe er wirklich eine gefährliche Versäumniß wieder gut zu machen, ehe er zu einem klaren Gedanken über die eben stattgefundene Begegnung gelangte. Jessy’s Abschiedsblick war es, der zuerst vor ihn trat und ihn mit einer Empfindung erfüllte, von der er kaum hätte sagen können, ob darin das Glück oder der Schmerz überwiege, und langsam rief er sich dann jeden Theil ihres vorangegangenen Gesprächs zurück. Sie hatte sich ihm gegenüber in völlige Gleichgültigkeit hüllen, den Ton einer leichten Bekanntschaft einführen wollen, sie hatte sich so gar zu dem Standpunkte des gewöhnlichsten Charakters erniedrigt, um die Inconsequenz in ihrer Heirath zu erklären und ihn selbst wohl dadurch zu erkälten. Aber die Lüge hatte ja vor seinem durchbrechenden Gefühle nicht bestehen können; es war nur ein einziger Blick voll Wahrheit, nur ein einziger zitternder Händedruck gewesen, den er von ihr erhalten, aber darin hatte Alles gelegen, ein volles Verstehen und Bekennen – wie sollte sich nun neue Wiederbegegnung, die sich bei dem stattfindenden Familienverhältniß nicht vermeiden ließ, gestalten? Auf welche Art ihre Heirath, die selbst dem alten Henderson nicht klar war, zu Stande gekommen, konnte ihm jetzt gleichgültig sein - sie bestand, und wollte er sich nicht einer stets fortlaufenden nutzlosen Marter preisgeben, so konnte er nur seine jetzige Stellung verlassen, die ohnedies ihm so viel Zweifel bot, daß er in jeder andern, die ihm eine anständige Existenz gewährte, sich glücklicher gefühlt haben würde. Wo sich ihm eine solche bieten sollte, wußte er jetzt freilich nicht, noch hatte er ja aber nicht einmal einen Versuch gemacht, sein Glück auf andern Wegen zu erproben.
Er hatte den Punkt erreicht, wo ihn die Dampffähre nach der Stadt zu bringen hatte, aber er konnte dort Winter begegnen und eine neue Erfindung über seine frühzeitige Rückkehr zu erzählen haben, und so ritt er langsam und planlos, nur um die Zeit zu tödten, die sich ihm zunächst bietende Straße in das Land hinein, und erst als er wohl eine Stunde lang bald sich mit seinen eigenen Gedanken und Empfindungen herumgeschlagen, bald die Bilder aus seiner letzten Vergangenheit an sich hatte vorüberziehen lassen, kam ihm mit der Sehnsucht, sich gegen irgend eine befreundete Seele aussprechen zu können, der Gedanke an den Tischler, von dessen Unterkommen er noch nicht einmal genauere Kenntniß hatte. Er wandte sein Pferd und ritt im Trabe zurück; jetzt hatte er bei seiner Ankunft keine Begegnung mehr zu fürchten, und noch vor Einbruch der Dämmerung stand er vor dem deutschen „Hotel“, um des Tischlers Aufenthalt zu erfragen.
„Werden ihn schwerlich heute treffen können,“ beschied ihn der Wirth in der sonderbar leeren Gaststube; „er wohnt hier, aber Alles, was von den Deutschen zur Untersuchungspartei gehört, hat heute früher Feierabend gemacht und ist hinauf auf den Berg zu einer Massenversammlung.“
„Und Mangold gehört auch bereits dazu?“ fragte der Eingetretene nach einer kurzen Pause der Verwunderung, ohne sich eines leichten Spottes enthalten zu können.
[468] „Warum nicht?“ war die ernste Antwort, „es kann in Amerika Niemand zu geschwind auf den rechten Weg kommen, und was er noch nicht weiß, das hat er jetzt die beste Gelegenheit zu lernen. – Wenn Sie aber in Ihrer jetzigen Lage einen guten Rath annehmen wollen, so kommen Sie in der nächsten Zeit nicht zu oft hierher, so gern ich Sie sonst auch bei mir sehen möchte.“
„Und weshalb nicht, Herr Marquart, wenn mir die Frage erlaubt ist?“ erwiderte Hugo, befremdet aufsehend.
„Dürfen kein schiefes Gesicht dazu machen, ich sag’ es nur Ihretwegen,“ erwiderte Marquart, ihm mit derber Gutmüthigkeit die Hand reichend. „Erstens weil es Ihr jetziger Principal sehr unliebsam bemerken würde, Sie in einer Gesellschaft, wie die unserige, zu sehen – er drückt mir beim Begegnen jedesmal so freundlich die Hand, als wolle er ein störrisches Maulthier mit Streicheln kirre machen; er kennt mich, der Mr. Winter! Zweitens aber, weil Sie hier leicht als Aufpasser oder dergleichen gelten könnten; seit gestern Abend, wo Sie den Verhandlungen zuhörten, kennen Sie unsere Leute und wissen, wo Sie im Geschäft sind!“
Hugo fuhr sich mit der Hand. über die Stirn. Er war also bereits um seiner Stellung willen eine Art gezeichnete Person unter den Deutschen geworden. „Jetzt giebt es, ja wohl hier nichts aufzupassen,“ sagte er nach einer kurzen Pause mit hörbarer Bitterkeit; „meines Principals wegen aber werde ich meiner Freiheit in keiner Weise Zwang anlegen, und so haben Sie wohl nichts dawider, ein Glas Bier mit mir zu trinken – ich möchte Wohl ein paar Fragen von Ihnen beantwortet haben!“
„Sie nehmen ein gut gemeintes Wort übel, aber – nur zu! vielleicht bitten Sie es mir noch einmal ab!“ erwiderte der Wirth, kräftig seine Mütze rückend und dann nach dem Bierfasse eilend.
„Sagen Sie mir, Herr Marquart, offen und verständlich,“ begann der junge Mann, als der Alte die Bleigläser herbeigebracht und sich dem Sprecher gegenüber bequem auf einem Stuhle niedergelassen hatte, „was hat Winter’s Geschäft mit allen den Dingen zu thun, welche ich gestern Abend hier gehört? oder was ist es wenigstens, das dem Manne Schuld gegeben wird?“
Der Alte fuhr sich mit einem wunderlichen Gesichtsausdrucke unter das Schild seiner Mütze, „Offen und klar? ja wenn wir so weit wären, lieber Herr, so brauchten wir nicht erst ein Untersuchungscommittee,“ sagte er, „ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß eine Zeitlang Aufenthalt in Amerika dazu gehört, um sich aus einzelnen Dingen den rechten Vers zu machen.“
„Das heißt also, es existirt ein Verdacht,“ fuhr der frühere Referendar ruhig fort, als sitze er als Inquirent hinter dem Gerichtstische. „Sie werden mir nun wenigstens sagen können, welcher Art die Beschuldigungen gegen die Stadtverwaltung sind, mit denen Winter auch nur in Verbindung stehen könnte, denn er selbst hat doch kein städtisches Amt.“
Marquart sah, mit einem halb mißtrauischen Blicke in das Gesicht seines Gastes. „Könnte? Warum nicht? es kann Alles in Amerika,“ erwiderte er langsam, „was kann Ihnen aber am bloßen Können liegen?“
„Daß ich mir zuerst den richtigen Vers aus den Dingen machen kann, Herr Marquart,“ erwiderte Hugo ernst, „und daß ich zweitens nicht denken muß, die Deutschen hier gingen in irgend einem Fanatismus oder unbegründetem Vorurtheile so weit, daß sie selbst einen Landsmann zum Spion stempeln, weil er sich bei Mr. Winter seinen ehrlichen Lebensunterhalt verdienen will!“
Der Wirth saß rasch auf seinem Stuhle gerade auf, schob die Mütze auf den Hinterkopf und sah den jungen Mann mit blitzenden Augen an. „By God, Sir! das sollen Sie wenigstens nicht mir gesagt haben!“ rief er, „Sie sind erst seit gestern hier, und ich habe alle Ursache, Sie für ehrlich zu halten, aber ein Nigger muß es verstehen, daß ich Niemanden glattweg einen Spitzbuben nennen mag, ehe ich die Beweise nicht in den Händen habe. Ich werde Ihnen trotzdem klaren Wein einschenken, und wenn Sie es mich selbst bereuen lassen sollten!“
„Sie werden nichts zu bereuen haben!“ erwiderte der Andere ruhig, aber mit gespanntem Blicke.
„Well, Sir,“ fuhr Marquart fort, „wir haben die klaren Beweise in der Hand, daß mehr Stadtschuldscheine ausgegeben worden sind, als die Stadt bewilligt hat; demohngeachtet weist das Buch des Comptrollers nur die bewilligte Anzahl aus, und dies erklärt sich dadurch, daß doppelte Schuldscheine von ein und derselben Nummer an verschiedene Inhaber verkauft worden sind. Das Geld für das zweite Schwindelpapier muß also in die Taschen des Mayors und Comptrollers gewandert sein, und wenn unsere Berechnung der jährlich gezahlten Zinsen, die erst jetzt durch den entstandenen Verdacht auffällig geworden, richtig war, so sind es mehr als eine halbe Million Dollars, um welche die Stadt nur auf diese Weise betrogen worden ist. Well, Sir! jetzt werden Sie fragen, was geht das Winter an? Nun. Mr. Graham als Comptroller hat sich gehütet, durch sein eigenes Geschäft die Obligationen der Stadt in den Geldmarkt zu bringen, ebenso wie er bei andern Manipulationen, die jetzt auch bald heiß auf ihn brennen werden, sich stets eines Dritten als Helfer bedient hat. Dieser Dritte aber ist, soweit sich hat nachkommen lassen, immer Winter gewesen, und wenn er in diesen Fällen auch nichts weiter gethan, als was ein schmutziger Geldmensch, ohne gerade straffällig zu werden, thun darf, so läßt sich doch ganz sicher vermuthen, daß er sich auch als Mittelsmann zum Verkaufe der doppelt ausgestellten Stadtschuldscheine hergegeben hat. Ich bin so lange hier, als der gute Mann selbst, habe seinen ersten Anfang gesehen und weiß, was es für Geschäfte waren, die ihm auf die Beine geholfen; nachher hat es wohl keinen heimlichen Handel zwischen Speculanten und Regierung, keinen stillen Schwindel im Eisenbahn- und Landgeschäfte gegeben, in denen er nicht seine Finger gehabt – ich habe ihm einmal gründlich in die Karten gesehen als ich Mitglied der Legislatur war, wo für einen Staatsbau, der schon übervoll bezahlt war, die kleine Mehrbewilligung von einer Million herausgepreßt werden sollte; seitdem bin ich nichts als sein „old dear friend“, dem er die Hände entzwei drücken möchte – wir kennen uns, und eben deshalb weiß ich auch, wer wieder die Finger in unsern Stadtfinanzen hat.“
Die Schwester der Wartburg.
Ob es noch ein deutsches Land giebt, welches sich zweier
Burgen von so hoher nationaler Weihe rühmen kann, wie sie das
kleine Gebiet der sächsischen Fürsten von Thüringen und Wanken
in der Wartburg und in der Veste Coburg besitzt?
Man nennt Thüringen sammt den ihm angeschlossenen Theilen von Nordfranken und Henneberg das Herz Deutschlands. Und in der That hat dieses Ländchen die Ehre dieses Namens nicht blos durch seine Lage verdient, sondern sie, wenigstens seit fast vierthalbhundert Jahren, redlich dadurch erworben, daß die großartigsten Regungen deutschen Nationallebens von dort ausgingen und dort ihre herrlichsten Triumphe feierten. Aber selbst neben den drei, hervorragendsten Pflegestätten deutscher Wissenschaft, Dichtung und Kunst, neben Weimar, Jena und Gotha, gebührt jenen beiden Burgen die Anerkennung einer besondern Bedeutung.
Beider strahlendste Ruhmessonne ist Luther, aber der Glanz, welchen sie auf Beide ergießt, ist ein verschiedener: er ist für die Wartburg das verklärende Abendroth, für die Coburg das erweckende Morgenroth. –
Die Wartburg tritt an der Hand der Sage gleich in die deutsche Geschichte ein; schon im ersten Morgenschimmer ihres Daseins schmückt sie der Kranz der Dichtkunst, ihre Landgrafen sind deutsche Heldengestalten, ihr Sängerkrieg, ihre heilige Elisabeth sind deutsche Zierden, sie selbst war ein Prachtwerk deutscher Kunst. Ihre hohe, festliche Zeit war jedoch vorüber, sie stand am Niedergang, als Junker Görge ihr einen Ehrenkranz der Reformation auf das alternde Haupt setzte. Als dieser ihr größter und letzter Held von ihr schied, entschlief sie. Sie ward vergessen. Niemand gedachte ihrer fast dreihundert Jahre lang. Erst die deutschen Studenten weckten sie wieder auf, und seit diesem ersten Wartburgfest [469] ist sie die erwählte Festburg aller die Freiheit preisendes Deutschen geworden.
Die Coburg tritt dagegen mit Luther erst in die deutsche Geschichte ein; ihre frühere Zeit gleicht einer langen Dämmerung, das Licht der Reformation wirft das erste weithin sichtbare Glühroth auf ihre Mauern. Und während die Wartburg schon schlief, stand sie mit ihrem Ehrenkranz der Reformation hohen Hauptes im dreißigjährigen Krieg. Dann legte auch sie sich nieder und verträumte fast zweihundert Jahre politischer Erbärmlichkeit der Deutschen. Sie erhob zuerst das Haupt wieder im Befreiungskriege, als ihr Herzog sie mit französischen eroberten Kanonen schmückte, erfreut sich aber ihres neuen deutschen Ansehens erst, seitdem das Volks-Jubiläum des westphälischen Friedens, das Auferstehungsjahr 1848, die Deutschen erweckte. Seitdem ist sie, die in neuer Pracht strahlende „fränkische Krone“, wie sie sich gern nennen hört, ein von Jahr zu Jahr mehr bevorzugter Liebling der Deutschen unter den Burgen der Berge geworden und ringt nun als Festburg aller nationalstolzen Geister in Deutschland mit der thüringischen Schwester um den Preis.
Steigen wir hinauf, weil sie doch so reizend vor uns liegt! Wir stehen am südlichen Abhang ihres Berges, der sich nur 524 Fuß über den Spiegel der Itz, Coburgs Hauptfluß, und etwa 1430 Fuß über den Meeresspiegel erhebt. Die Entfernung vom Residenzschloß Ehrenburg mit seiner reizenden Umgebung bis zum Thore der Veste beträgt nicht viel über ein gutes Viertelstündchen und läßt uns nicht aus dem heitern Grün geschmackvoller Parkanlagen herauskommen. Unterwegs erzähle ich Euch so Manches aus der Vergangenheit der alten Coburg, das sie für Euer Auge mit Leben erfüllt, ehe Euer Fuß sie betritt.
So wie sie hier vor uns steht, hat die Veste ihr Bild nicht schon Luther’s Augen gezeigt. Die Basteien, die wir von unserm Standpunkt aus sämmtlich sehen und durch welche die Burg erst zur Veste umgewandelt wurde, entstanden kurz vor dem dreißigjährigen Krieg, als hätte eine Ahnung des schrecklichen Sturms ihren Bau beschleunigt. Auch durch das Thor, durch das wir heute gehen, ist Luther nicht gegangen. Sein Weg führte ihn damals da, wo wir zur Linken die ausgebreitete Bastei (Bärenbastei) unter dem hohen (dem sogenannten blauen) Thurm hervorragen sehen, durch ein Thor, dessen Spuren die Restauration wohl, wie so Vieles an der äußern historischen Erscheinung der Veste, verwischt hat, in das Innere.
Wer hat aber den ersten Stein auf diese Höhe gewälzt? Darüber schweigt die Geschichte und überläßt der Sage und der Vermuthung die Antwort. Da wir aber aus der Geschichte und aus vielen noch bis heute erhaltenen Ortsnamen wissen, daß die Herrschaft der Slaven sich im Norden Deutschlands bis an die Elbe und in Mitteldeutschland bis zur Saale und bis an die Itz erstreckte, so liegt die Annahme am nächsten, daß die Coburg zu der Reihe von festen Bergschlössern gehörte, welche die deutschen Kaiser gegen diesen Feind des Reichs anlegten. Am liebsten läßt man dies durch Karl den Großen geschehen und blickt dann vom Berge stolz auf eine tausendjährige Geschichte zurück.
Urkunden haben als älteste Jahrzahl verbürgter Begebenheiten 1057 erhalten. In diesem Jahre vermachte Richza, die Tochter eines Pfalzgrafen des Kaisers Otto III., die Reichsdomänen Saalfeld und Coburg, die sie von ihrem Vater ererbt, dem Erzbischof Anno von Köln. Somit beginnt die helle Geschichte Coburgs gleich mit einem frommen Streich. Der spätere vielfache Besitzerwandel hängt meist mit dem Wechsel des Gaugrafenamtes zusammen und steht unserer Theilnahme zu fern. Zu einigem Ansehen gelangte die Burg wohl erst, als die Grafen von Henneberg ihre Herren wurden. Diese Dynasten standen gerade damals, unter Poppo VII. und seinem Sohn und Nachfolger Hermann, in der Blüthe ihrer Macht. Ihr Besitzthum umfaßte über 36 Quadratmeilen mit mehr als 100,000 Einwohnern. Die späteren Herzogthümer Coburg, Hildburghausen und Meiningen (Unterland) bildeten, als der jüngst erworbene Theil ihres Gebiets, ihre sogenannte „neue Herrschaft“. Poppo war mit einer Schaar von Reisigen, den Söhnen dieser Thäler, [470] dem Hohenstaufen Friedrich II. zum Kreuzzug nach Palästina gefolgt und stand hoch in Ehren bei Kaiser und Papst; und dem Einfluß Hermann’s, dessen Gemahlin Margarethe von Holland war, verdankte hauptsächlich deren Bruder, Wilhelm von Holland, die deutsche Königswürde, ja, nach dessen Tode ward ihm selbst die Kaiserkrone angetragen, und er war der Mann dazu, sie auszuschlagen. Seine Hofhaltung war eine der glänzendsten jener Zeit, und sie war veredelt durch die Pflege der Dichtkunst, der er selbst huldigte. Daß von diesem Glanze auch die Coburg mitgenoß, ist kein Zweifel. Die luftstrahlende Residenz dieses Dynasten war aber die Burg Strauf, deren Trümmer auf ihrer grünen Höhe bei dem Städtchen Rodach ehedem Tausende von Reisenden, die auf der Landstraße von Coburg nach Hildburghausen fuhren, wohl sehen mußten, doch vielleicht kaum der Beachtung würdigten.
Im Jahre 1353 kam Coburg durch die Vermählung einer hennebergischen Erbin, Katharina, mit Friedrich dem Strengen von Meißen, an das Haus Wettin, dem es noch heute angehört. – Diese Vererbung machte das Land und die Veste zum Schauplatz vieler verheerenden Fehden, bald zwischen den sächsischen Fürsten und der fränkischen Ritterschaft, bald zwischen den Fürsten unter sich; am wildesten tobte hier der bekannte „Bruderkrieg“ zwischen den Söhnen Friedrichs des Streitbaren, Wilhelm und Friedrich, in welchem die Veste Coburg eine besondere Rolle spielte. Wilhelm hatte die „fränkischen Lande“ (Coburg, Königsberg, Hildburghausen, Heldburg, Neustadt und Sonneberg) um 42,000 Gulden an seine Räthe, Apel und Busso von Vitzthum (die ihm dafür ein böhmisches Hülfsheer gegen seinen Bruder herbeigezogen) verpfändet, und diese behaupteten sich als Herren des Landes auch nach der Versöhnung der Fürsten und bis sie durch ein vereinigtes Heer derselben, im Jahre 1451, durch Aushungern zur Uebergabe der Veste gezwungen wurden.
Wilhelm starb kinderlos, und so fiel das fränkische Land an seines Bruders Söhne, Ernst und Albrecht, später, nachdem dieselben ihre Länder getheilt, an des Ersteren Söhne, Kurfürst Friedrich den Weisen und Johann den Beständigen, denen die Veste den Ehrenkranz der Reformation verdankt; beide gehören zu den edlen Gestalten der Vorzeit, die der Geist sich gern in ihren Räumen wandelnd denkt. Gleich in der ersten Zeit der Reformation hatte die Burg einen harten Stand gegen einen Auswuchs derselben, wie man den „Bauernkrieg“ bezeichnet. Ein Haufen von 14,000 Bauern lagerte vor der Veste, in welche der gesammte Adel des Landes, soweit er der Wuth des aufgestandenen Volks entgangen war, sich geflüchtet hatte. Erst im Mai 1525 befreite Herzog Johann mit einem Heere die arg Bedrängten.
Fünf Jahre später, im Frühling 1530, zog ein einfacher Mann, mit Bibel und Aesop unterm Arme, in die Veste Coburg ein, und er war es, der den bisher wenig beachteten Fürstensitz zu einer Stätte von deutscher, ja von weltgeschichtlicher Bedeutung erhob. Denn wer die Erkämpfung des freien Gedankens, des ungefesselten Forschens – in der Schrift und in der Natur – die Erlösung des Geistes vom Druck der Pfaffenmacht – mit uns als die höchste Errungenschaft preist, zu der jeder Schritt vorwärts eine Wohlthat für die ganze Menschheit ist, der wird, hat er es noch nicht gethan, an dieser Stelle sich gern belehren lassen über das Weltwichtige, das Luther hier vollbracht. Es ist von neuern Forschern[1] dargelegt, wie nahe am Untergang in Augsburg das Reformationswerk stand, wie die Verzagtheit, der Wankelmuth um sich griff, und daß nur an Luther’s Felsenfestigkeit die Vertreter seines Worts am Reichstag sich wieder aufrichteten. Wie rastlos er auf der Veste gearbeitet, wie seine Briefe und Sendschreiben von seiner „Burg der Winde“, von „Grubok“, wie er es häufig schrieb, um seinen Aufenthalt den Feinden nicht zu verrathen, nach allen Richtungen liefen, das beweisen die „Coburgischen Schriften Lutheri“, die später gesammelt wurden. Zu seiner Erholung übersetzte er hier auch den Aesop und arbeitete fleißig an den Psalmen. Der Psalter aber und der Drang der Zeit, sie stimmten in seiner Heldenseele auf dieser Bergeshöhe jenes Kampf- und Siegeslied des Protestantenthums an, das Millionen Herzen zum Himmel erhoben, das Tausende in muthigen Tod geführt hat, den Hochgesang:
Solche Thaten des Geistes fordern unsere Ehrfurcht, nach Jahrhunderten noch für die Stätte, wo sie geschehen sind; – „sie ist geweiht für alle Zeiten.“
Am 6. Oktober 1530 verließ Luther, im Geleite des Kurfürsten Johann und seiner Genossen am Reformationswerke, Melanchthon’s, Jonas’, Spalatin’s, Agricola’s u. A., die ihn auf der Heimreise von Augsburg in Coburg abholten, die alte Veste. Sie blieb nun im ganzen Laufe des Jahrhunderts verwaist, ja sie wurde es recht eigentlich, als der erste Landesfürst, der auf ihr geboren worden war, Johann Ernst, im Jahre 1547 die Ehrenburg in der Stadt Coburg erbaute und seine Residenz dorthin verlegte.
Nach dem 16. ist das schicksalreichste Jahrhundert der Veste das 17., und zwar in seiner ersten Hälfte. Seit dem Jahre 1586 regierte in Coburg der Herzog Johann Casimir, der Sohn jenes unglücklichen Johann Friedrich des Mittlern, welcher, in die „Grumbach’schen Händel“ verwickelt, in die Reichsacht fiel, Land und Freiheit verlor und – eines der erhabensten Beispiele deutscher Frauentreue von seiner Gemahlin Elisabeth bis zum letzten Augenblick in harter Gefangenschaft gepflegt, nach achtundzwanzig Jahren des Elends (1595) im Schloß Steher in Oberösterreich starb. Johann Casimir wurde der Gemahl jener nicht weniger unglücklichen Herzogin Anna, welche zwanzig Jahre lang, zuletzt, von 1603 an, droben auf der Veste Coburg, gefangen saß und dort 1613 starb, (Ueber das Schicksal dieses fürstlichen Ehepaars haben wir unseren Lesern einen besondern Artikel versprochen, den wir nächstens bringen. Wir beschränken uns deshalb hier auf diese kurze Notiz). Unter Johann Casimir geschah die Verstärkung der Vertheidigungsfähigkeit der Veste durch den Bau der Basteien. Sie sind, von der westlichen, der Bärenbastei, an, die wir oben kennen gelernt haben, zu beiden Seiten des Thors mit dem Thorthurme: die neue und die Sternbastei, den höchsten Punkt nach Osten nimmt die hohe Bastei ein, unter ihr sehen wir die Schindelbastei und noch tiefer steht der Eselsthurm. Die Nordseite der Veste, an welcher der Fels zu Tage tritt, ist nur durch eine ziemlich gerade laufende, durch zwei halbrunde Thürme verstärkte Mauer befestigt, weil hier der Berg steil und hoch in’s weite Thal abfällt; die Hauptvertheidigung mußte gegen Osten und Südosten gerichtet sein, wo Nachbarberge hart an die Festung herantreten. Von den uns zugekehrten Gebäuden nennen wir zwischen dem blauen Thurm und dem Thorthurm das alte Schloß (bis in die neueste Zeit Zucht- und Irrenhaus gewesen) und zwischen dem Thorthurm und der hohen Bastei das neue Wirthshaus. Die übrigen Bauten, namentlich im Innern, betrachten wir später in der Nähe.
Nachdem wir die Vertheidigungsmittel der Veste wenigstens oberflächlich kennen gelernt, wenden wir uns ihren letzten und größten kriegerischen Ehren zu. Wir stehen im dreißigjährigen Kriege. Johann Casimir hatte seinem Lande so lange als möglich den Schutz der Neutralität zu erhalten gewußt; als er sich aber endlich genöthigt sah, im Jahre 1631 der evangelischen Union in Leipzig beizutreten, ließ die Kriegsfurie auch hier nicht lange auf sich warten. Wallenstein blieb, nachdem er vor Nürnberg gegen Gustav Adolph (im September 1632) sein halbes Heer verloren hatte, auf seinem Zuge nach Sachsen vor dieser ersten Veste eines abtrünnigen sächsischen Fürsten stehen, um seinen vollen Zorn auf ihn und sein Land zu entladen. Letzteres geschah im vollsten Maße. Die Feuersäulen brennender Dörfer und Städtchen bezeichneten seinen Weg. Er und der Kurfürst von Baiern lagerten mit ihrem zahlreichen Heer im Itzgrund und forderten Stadt und Veste zur Uebergabe auf. Der versuchte Widerstand der Stadt war bald gebrochen, und die Kriegsfürsten nahmen in ihr Quartier. In der Veste lag jedoch eine schwedische Besatzung unter einem Oberst Taupadel, und dies kleine Häuflein trotzte selbst einem Wallenstein. Als alle Schrecken, die er über das offene Land ergoß, alle nächtlichen Brandfackeln der Dörfer und Städte den Commandanten der Veste nicht zur Uebergabe bewogen, suchte er durch Ueberfall und Sturm des „Nestes“ Herr zu werden. Aber der Ueberfall wurde vereitelt, der Sturm abgeschlagen. Es ist kein Zweifel, daß die ohnedies schlecht verproviantirte Veste ihren Widerstand gegen eine solche Kriegsmacht nicht auf die Länge hätte fortsetzen können, und daß nur das Herannahen des Herzogs Bernhard von Weimar den Friedländer bewog, ihr unverrichteter Sache den Rücken zu kehren; aber gleichwohl rechtfertigt den Stolz des Ländchens auf diese Tage die unleugbare Thatsache, daß Wallenstein vor der Coburg lag und sie nicht erobern konnte.
Aus dieser Belagerung muß ich noch ein kleines Curiosum erzählen, aus dem leicht ein Ereigniß von unberechenbarer Wichtigkeit [471] hätte werden können. Unter den Coburger Constablern der Veste war ein besonders aufgeweckter Kopf, Namens Conrad Rüger. Dieser hat handschriftlich eine „kurze, jedoch gründliche und wahrhafte Relation von der Stadt Coburg und des ganzen Landes erbärmlichen Kriegspressuren von unterschiedlichen mächtigen Feinden de anno 1631–1661“ hinterlassen, in welcher sich folgende Stelle findet: „Den 30. September ritt der Herzog von Friedland, mit zwei Laquaien bei sich laufend, aus der Stadt, die Vestung zu recognosciren, auf welchen, als er von den Dragonern erkannt wurde, alsbald eine Feldschlange von mir gerichtet und Feuer gegeben wurde, und traf dasselbe Stück gerade vor ihm in die Erde, daß diese um ihn herum und auf den Leib sprang, worauf er seinem Pferd, welches davon stutzig worden und still gestanden, die Sporen gegeben und durchgegangen. Er hat aber, wie man nachher erfahren, heftige Drohworte ausgestoßen, nämlich selbige Bestie, die ihm dies gethan, gleich aufhängen zu lassen, wenn er solche in seine Hände bekäme. Das war aber das Beste, daß er sie nicht hatte.“
Nach dem Abzüge Wallenstein’s ward Herzog Bernhard, ihr Retter, der Veste Gast. Er ordnete die Ausbesserung der nicht geringen Schäden an, welche sie während dieser kurzen Belagerung erlitten, und ließ einen Hügel, der sich zwischen ihr und dem nächsten Berge, dem Bausenberge, erhebt und vom Volksmund der „Fürwitz“ genannt ist, bedeutend abtragen, weil von ihm aus die Friedländischen der Veste am gefährlichsten geworden waren. Solche Schäden und Gefahren ließen sich beseitigen; die tieferen , welche die furchtbare Zeit, die unermeßlich steigende Noth, die wie Gift um sich fressende Entsittlichung der Volksmassen mit sich brachte, wurden mehr und mehr unabwendbar. Selbst in diesen letzten Wall des verödeten Landes brachen Zwietracht und Wankelmuth ein, und als im Jahre 1635 ein weit schwächerer Feind, der kaiserl. General Lamboy, sich vor die Veste legte, leistete die Besatzung zwar vier Monate lang Widerstand, ließ sich aber schließlich durch den plumpsten Betrug, durch einen angeblich landesfürstlichen, aber gefälschten Befehl, zur Uebergabe der Veste berücken. Die „erbärmlichen Kriegspressuren“ dauerten in der That bis 1661; die Veste hatte jedoch ihre Beschützerrolle ausgespielt.
Damit sind wir am Ende der Geschichte unserer Coburg als Kriegsplatz. Von jetzt an stand sie als grauer Invalid auf dem Berg, und es rostete ihr das Schwert in der Scheide. Wohl ward sie äußerlich noch lange als Waffenplatz gehalten und gehütet; allmählich sank sie aber von Stufe zu Stufe abwärts, bis man sie endlich nur noch als Zucht- und Irrenhaus und als Rumpelkammer für altes Waffengeräth auf ihrer Höhe stehen ließ. Erst nachdem die langen Leiden der napoleonischen Kriege im Lande einigermaßen verwunden waren, erhoben sich die Blicke mit anderen Wünschen auch wieder zu ihr, es wurde wieder an ihre Erhaltung gedacht und endlich zu ihrer Wiederherstellung und Verschönerung geschritten.
Die Resultate dieser Bemühungen sehen wir schon am Aeußern der ehrwürdigen Lutherburg vor uns; in noch bedeutenderem Maße treten sie uns im Innern entgegen. Diese und die gehobene Stimmung der Zeit, wie nicht weniger das edle Beispiel von hohem nationalem Sinn, durch welchen die Fürsten dieses Hauses sich auszeichnen, bewirkten, daß die vom Schutt der Jahrhunderte gereinigten Räume der Veste Coburg gegenwärtig ein nimmer leerer Wallfahrtsort für alle Freunde der Natur und der Kunst und ein stets bereiter Festplatz für die verschiedenartigsten Vereine und Genossenschaften für alle großen und schönen Bestrebungen geworden sind. Seit der Gustav-Adolph-Verein im Jahre 1853 seine Helden hier gefeiert, ist der Veste fast kein Jahr ohne Fest vergangen; die deutschen Naturforscher und die deutschen Landwirthe, die deutschen Apotheker und die deutschen Lehrer, die deutschen Forstmänner und die deutschen Turner, die deutschen Sänger und der deutsche Nationalverein – Alle haben ihre Fahnen auf diesen Berg getragen und Alle haben ihn reicheren Herzens verlassen. – Das neueste aller Feste ist in diesem Sommer in der geschmückten Veste begangen worden, ein Fest, dessen Bedeutung es werth macht, daß wir ihm eine besondere Beschreibung widmen, ein echt coburgisches Fest, das der coburgischen Bauernsingvereine und der coburgischen Veteranen des Befreiungskriegs. Die Illustration zu dieser Festbeschreibung bietet uns dann Gelegenheit, unsere Freunde auch durch das Innere der Veste, durch ihre Räume voll werthvoller Schätze der Wissenschaft, der Kunst und der Geschichte zu führen und zum Schluß mit ihnen das Herz zu laben an der Rundschau in den Bilderkranz ihrer Thäler voll Anmuth und ihrer lockenden Fernen.
Wanderungen in und um Berlin.
In der Spandauer Straße steht auch das älteste noch vorhandene
Privathaus in Berlin, welches gegenwärtig die Nummer 49
führt. Es gehörte dem berühmten und reichen Geschlechte der
Blankenfelde, das außerdem noch die Güter Pankow und
Weißensee besaß. Wie eine im Hause befindliche Tafel besagt,
wurde das Haus im Jahre 1380 von einer Feuersbrunst verzehrt
und später in seiner jetzigen klosterähnlichen Gestalt wieder aufgebaut.
Besonders schön soll das Eckgemach gewesen sein, in Form
einer Kapelle mit herrlichen bunten Glasfenstern und mit einem
mächtigen Pfeiler in der Mitte, der die gewölbte al fresco gemalte
Decke trug. In diesen Räumen wurde der allgemein gefürchtete
Dietrich von Quitzow zur Zeit, wo er mit den Berlinern auf einem
freundschaftlichen Fuße stand, von dem damaligen Bürgermeister
Blankenfeld bewirthet und, wie der alte Chronist Engel naiv erzählt,
„zu herrlichen Panketen geladen, dabei köstliche Weine, allerlei
Saitenspiel, schöne Weibsbilder und was dergleichen mehr zur
Freude und Fröligkeit dienen möge, gewesen. Ihn auch Abends
mit Laternen, Fackeln, Gesängen und andern Freudenspiel nach
Hause beleitet.“ In den katholischen Zeiten war hier eine Zeit
lang ein Convent, der durch die Reformation beseitigt wurde. Der
Sage nach führte ein unterirdischer Gang von dem alten Gebäude
bis nach dem grauen Kloster in der Klosterstraße; jedoch hat man
trotz aller Nachforschungen keine Spuren einer derartigen Verbindung
aufgefunden. An der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts
kam das Haus in den Besitz des berühmten Kammergerichtsraths
Seidel, später war es Eigenthum des Geheimraths Stephani, der
es 1721 einem Kaufmann Röben überließ. Wie die meisten Häuser
der Spandauer Straße dient es gegenwärtig zum Geschäftslocal.
Das Haus Nr. 72 in der Spandauer Straße gehörte dem Etatminister Freiherrn von Bartholdi, der, wie der bekannte Baron von Pöllnitz in seinen Memoiren behauptet, durch ein glückliches Mißverständniß dem Hause Hohenzollern die preußische Königskrone erwarb. Seitdem August der Starke von Sachsen König von Polen geworden, hatte der Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg keinen andern Wunsch, als ebenfalls die königliche Würde zu erlangen. Vergeblich hatte sich sein Gesandter in Wien, Graf Christoph von Dohna, bemüht, die nöthige Einwilligung des Kaisers Leopold zu diesem Schritte zu gewinnen. Was jedoch der feinsten Diplomatie nicht gelang, sollte der wunderliche Zufall bewirken. Der Gesandte, an dem glücklichen Ausgange der bisher gepflogenen Unterhandlungen verzweifelnd, hatte um seine Abberufung gebeten und sie auch erhalten. In seiner Abwesenheit versah der preußische Resident in Wien, Geheimer Rath Bartholdi, die Geschäfte. Dieser erhielt vom Hofe in Berlin eine Depesche in Chiffreschrift, worin ihm aufgetragen wurde, noch einen Versuch zu machen und einen einflußreichen kaiserlichen Minister zu bestechen. Der Name des Betreffenden war jedoch unleserlich; Bartholdi glaubte, daß damit der Pater Wolff, ein Jesuit und Beichtvater des Kaisers, gemeint sei. Der Jesuit fühlte sich geschmeichelt, daß einer der mächtigsten protestantischen Fürsten sich an ihn wendete; er gebrauchte seinen bedeutenden Einfluß und zwar mit so gutem Erfolge, daß Leopold seinen bisherigen Widerstand schwinden ließ [472] und seine Zustimmung dazu gab, daß der Kurfürst von Brandenburg König in Preußen, wie die Formel lautete, wurde. Nach einem andern Bericht hatte Bartholdi die Depesche, welche ihm anrieth, den Pater Wolff zu vermeiden, gänzlich mißverstanden und verwenden dafür gelesen. Die Jesuiten erhielten 200,000 Thaler zur Belohnung für ihre Dienste; der ebenso staatskluge als tapfere Prinz Eugen erkannte allein die Bedeutung dieses Ereignisses, indem er den charakteristischen Ausspruch that: „Die Minister, die dem Kaiser gerathen haben, den König in Preußen anzuerkennen, verdienten gehangen zu werden.“ Bartholdi, der aus einer bürgerlichen Familie stammte, wurde mit Geld und Ehren überhäuft und zum Etatminister erhoben. Sein Haus aber gelangte später in den Besitz des bekannten Kapellmeisters Graun, der ein Liebling Friedrich des Großen war und durch eine glänzende Heirath sein Glück gemacht hatte. Hier componirte er eine Reihe trefflicher Werke, von denen sich die berühmte Cantate „der Tod Jesu“ noch heute einer großen Popularität erfreut und jährlich während der Osterwoche in der hiesigen Garnisonkirche ausgeführt wird.
Von den Häusern, welche in der Spandauer Straße einen Theil des jetzigen General-Postamtes bilden und noch aus dem sechzehnten Jahrhunderte stammen, gehörte Nummer 21 dem berühmten Staatsminister von Meinders, Nummer 22 dem Feldzeugmeister Grafen von Sparr; hier fanden die früher längere Zeit sehr besuchten Flies’schen Concerte statt, der Sammelplatz der Berliner Musikfreunde im Anfange unseres Jahrhunderts. –
In derselben Straße Nummer 68 wohnte einige Zeit Lessing mit seinem Freunde Mylius im bescheidenen Dachstübchen, zuletzt aber Moses Mendelssohn, der das Haus kaufte und darin starb. An diese bescheidenen Räume knüpft sich eine der größten Epochen unserer deutschen Literatur; in Gemeinschaft mit seinen Berliner Freunden Nicolai und Mendelssohn ließ der damals jugendliche Lessing „Briefe die neueste Literatur betreffend“ erscheinen; hier wurde der „Phädon“ von Mendelssohn geschrieben, hier studirte Lessing das Original zu seinem Nathan; hier wurde jener schöne Freundschaftsbund zwischen dem Christen und Juden geschlossen, ein leuchtendes Vorbild humaner Duldung und höchster Toleranz, hier die Saat der schönen Menschlichkeit ausgestreut, die hundertfältige Früchte trug. Das kleine, unansehnliche Haus verwandelt sich vor unsern Augen in einen strahlenden Tempel, beschienen von der leuchtenden Sonne der wahren Aufklärung und echten Menschenliebe. Eine Gedenktafel mit goldenen Buchstaben bezeichnet die Stätte, wo Lessing und sein Freund Mendelssohn oft bis nach Mitternacht in philosophischen und literarischen Gesprächen verkehrten oder vertieft bei ihrer Schachpartie saßen. – Aber noch andere Geister umschweben diesen Ort und wecken die Erinnerung an jenes erste Aufblühen der Berliner Geselligkeit, an jene Tage, wo Bildung und Intelligenz die Schranken des Vorurtheils durchbrachen, wo die Töchter Mendelssohns mit ihren jüdischen Freundinnen von vornehmen christlichen Cavalieren aufgesucht wurden, wo Wilhelm von Humboldt zu den Füßen der schönen Henriette Herz schmachtete, wo der Geist zum Adelsbriefe wurde und sich mit Hülfe dieser frischen belebenden Elemente eine neue Gesellschaft bildete, deren Zierden eine Rahel, ein Schleiermacher, Schlegel und noch viele andere große und bedeutende Männer waren, zu welcher der geniale Prinz Louis Ferdinand, Gesandte, Minister und Diplomaten sich drängten, indem sie dazu beitrugen, die Standesunterschiede zu beseitigen und eine wahrhafte Republik der Geister zu bilden. –
Einige Schritte genügen, um uns aus dem Jahrhundert der Aufklärung und Toleranz wieder in die dunkle Zeit des Mittelalters zu versetzen. Am Ausgange der Spandauer Straße, da, wo sie in die neue Friedrichsstraße mündet, lag „das Hospital nebst der Kirche zum heiligen Geiste“ an derselben Stelle, wo sich Beide, wenn auch in veränderter Gestalt, noch gegenwärtig befinden. Eine unverbürgte Tradition nennt eine Jungfrau aus dem edlen Geschlechte der Salzwedel zu Stendal als die Stifterin des Krankenhauses. Der Name selbst rührt von dem frommen Orden des heiligen Geistes her, der sich im Mittelalter hauptsächlich mit der Pflege der armen „Aussätzigen“ beschäftigte. Die Krankheit, welche wahrscheinlich aus dem Orient durch die Kreuzzüge nach Europa kam, war damals allgemein verbreitet, und die davon Befallenen befanden sich in der bejammernswerthesten Lage. Sie wurden von aller Welt und selbst von ihren nächsten Angehörigen gemieden, so daß ihnen keine weitere Zuflucht blieb als das Spital, worin sie bis zu ihrem Tode eingeschlossen waren. Wer von ihnen sein Gefängniß verließ, wurde mit den härtesten Strafen belegt und sogar für „vogelfrei“ erklärt, so daß Jeder ihn auf der Stelle tödten durfte. Ein derartiges Haus der Aussätzigen, domus leprosorum, war das „Spethal“ oder Spittel zum heiligen Geist in der Spandauer Straße, welches zum ersten Male in dem Gildebriefe der Berliner Bäcker vom 18. Juni 1272 erwähnt wird, wornach das zu leicht befundene Backwerk zur Strafe confiscirt und den Kranken zur Nahrung überliefert werden sollte. Das heilige Geist-Hospital ist bis in die neueste Zeit seiner Bestimmung treu geblieben, nur seine äußere Physiognomie hat sich wesentlich und zu seinem Vortheile verändert. An der Stelle des alten Hauses der Aussätzigen mit den hohen, finstern Mauern und verschlossenen Thoren, hinter denen die Elenden bei lebendigem Leibe begraben waren, steht jetzt ein ansehnliches, freundliches Gebäude mit zierlichem Gitter und Vorgarten, in dem die schönsten Rosen blühen und Reconvalescenten im Schatten der Bäume ruhen. – Dicht daneben, wo heut das Haus Nr. 2 steht, befand sich früher eine Klause mit einem Heiligenbilde, vor dem eine ewige Lampe brannte; darin wohnte der fromme Klausner, welcher von den milden Gaben der Vorübergehenden lebte und nur selten seine düstere Zelle verließ.
In der Nähe lag die „Ruppiner Herberge“, jetzt das Gasthaus zur „Stadt Ruppin“, eine Herberge für Fremde und Reisende, wo sie zwar eine Wohnung fanden, aber die Lebensmittel selbst mitbringen mußten. Nur Kaufleute, die zur Messe oder zum Jahrmarkt zogen, kehrten daselbst ein; die vornehmeren Stände wohnten meist im Privatquartier bei guten Freunden. Das Reisen war in jener Zeit nicht nur unbequem, sondern höchst gefährlich. Auf der Landstraße lauerten Diebe, Schnapphähne, Gesindel aller Art, aber auch edle Ritter, die sich kein Gewissen daraus machten, einen reichen Kaufmann auszuplündern, oder einen Gegner zu überfallen und nur gegen ansehnliches Lösegeld frei zu lassen. Die Herbergen auf dem Lande waren Mordlöcher und die Wirthe häufig mit den Strauchdieben einverstanden, wofür die Namen der übel berüchtigten Wirthshäuser „Paß auf!“, „Sieh dich für!“, „Trau nicht!“, „Mordkretscham“ u. s. w. sprechen. Man übernachtete auch in Mühlen, die gewöhnlich nicht in besserem Rufe standen, oder unter dem freien Himmel, wo dann ein Zelt aufgeschlagen und von mitgebrachten Teppichen und Decken ein Lager bereitet wurde. Selten reiste man allein, sondern in größerer Gesellschaft und bewaffnet, um im Falle der Noth den Räubern Widerstand leisten zu können.
Sicherer und besser als die Krüge und Wirthschaften auf dem Lande waren die Herbergen in der Stadt, welche freilich sich mit unseren heutigen Hotels nicht vergleichen lassen und kaum unseren niedrigsten Anforderungen genügt haben würden. In früherer Zeit herrschte noch die Sitte, daß vor den Thoren der Stadt eine Tafel mit dem Verzeichniß sämmtlicher Wirthshäuser aushing, von denen eines der besten die „Ruppiner Herberge“ gewesen zu sein scheint.
Wo jetzt das Haus Nummer 67 in der Spandauer Straße liegt, stand früher das alte „Kramhaus“, eine auf Kosten der Stadt erbaute Halle, wo die Kaufleute und besonders die damals so bedeutenden Tuchhändler und Gewandschneider ihre Waaren auslegten und Sicherheit, Schutz und Bequemlichkeit fanden. Derartige Gebäude, welche schon in den ältesten Zeiten vorkommen, hatten gewöhnlich Schwibbogengänge, wie sie noch jetzt am „Mühlendamme“ sichtbar sind. In diesen Arcaden oder sogenannten „Lauben“ wurden die Waaren auf Bänken ausgestellt und zum Verkaufe ausgeboten. „Kaufleute“ hießen im Mittelalter nur die Großhändler, während alle Detaillisten „Krämer“ genannt wurden. Der Markt wurde mit einer Glocke eingeläutet und zugleich öffentlich ein großes Kreuz in der Mitte des dazu bestimmten Platzes aufgerichtet, zum Zeichen des gebotenen Friedens. Jeder Streit wurde deshalb als Friedensbruch angesehen und auch streng bestraft. Auch die Zelte der größeren Kaufleute waren mit kleinen Kreuzen geschmückt, um Alle an Ruhe und Ordnung zu mahnen. Für die Aufstellung der Zelte so wie für die stehenden Buden nahm der Magistrat einen bestimmten Zins, außerdem bezog derselbe ansehnliche Steuern und Zölle von den fremden Kaufleuten und Krämern. Besonders drückend für den Verkehr war das „Niederlagsrecht“ der Stadt, wonach alle durchgehenden Kaufmannsgüter lagern und für die Einwohner feil geboten werden mußten. Ein [473] solcher Aufenthalt mußte natürlich den Verkehr hemmen und verursachte außerdem große Kosten und Umstände. Trotzdem blühte Handel und Wandel in Berlin; es fehlte nicht an reichen Kaufleuten und Handelsherren und an einem verhältnißmäßig bedeutenden Wohlstande während des Mittelalters, Der Reichthum wurde von einem entsprechenden Luxus begleitet, wogegen von Seiten des Magistrats und der Kurfürsten durch strenge Gesetze vergebens angekämpft wurde. Schon in einer Polizeiordnung aus dem Jahre 1335 heißt es: „Keiner solle bei einer Hochzeit mehr als vierundzwanzig Schüsseln aufsetzen“. Auch die Kleider waren über alle Maßen prächtig, Sammt und Seide, edles Pelzwerk und goldner Schmuck ganz gewöhnlich. Die Verschwendung war so groß, daß von den Kanzeln dagegen geeifert wurde. Zu den großen Pluderhosen gehörten oft mehr als 30–60 Ellen kostbarer Stoffe; sie erregten allgemeines Aergerniß, und der Hofprediger Musculus schrieb dagegen seine berühmte Abhandlung über den „Hosenteufel“. Kurfürst Joachim gab seinen Widerwillen gegen diesen Kleiderluxus in drastischer Weise kund. Als nämlich drei Bürgersöhne in Berlin, um sich in ihren prächtigen Hosen zu zeigen, durch die Straßen zogen und, um die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen, vor sich her zu diesem Zwecke gedungene Musikanten fiedeln ließen, so gebot der strenge Herr, sie zu ergreifen und in das vergitterte Narrenhäuslein zu sperren, wo sie, während die Fiedler ununterbrochen spielen mußten, einen Tag und eine Nacht gefangen gehalten und dem Höhne des Pöbels preisgegeben wurden. Einem von Adel aber, der ebenfalls in seinen Pluderhosen stolzirte, ließ Joachim „vor dem Dohme durch die Wärter“ die langen Schnitte von den Hosen sammt dem Durchzuge oben an den Bändern durchschneiden, so daß die Hosen zur Erde fielen und sein jämmerliches Aussehen allgemeines Gelächter erregte.
Erinnerungen an Heinrich Heine aus dem Jahre 1851.
Von allen unseren deutschen Dichtern ist wohl keiner so verschieden beurtheilt worden, als der vor sieben Jahren in Paris verstorbene Heinrich Heine. Dies ist um so wunderbarer, als seine Freunde wie seine Feinde sich unter den verschiedensten Ständen und politisch und religiös geschiedenen Parteien befinden. Die radicale Burschenschaft und die aristokratische Diplomatie, der oberflächliche commis voyageur und der pedantische, für die Außenwelt abgestorbene Stubengelehrte, die feine Salondame und die leichtfertige Berliner Grisette, der Pietistische Landpfarrer des Wupperthales und der lichtfreundliche Pastor Sachsens, der für Mozart und Beethoven schwärmende classische Musikfreund, sowie der für Richard Wagner’s Zukunftsmusik sich Enthusiasmirende, der durch die raffinirtesten Sinnesgenüsse blasirt gewordene Jüngling der Neuzeit, sowie der jugendliche Greis aus den Befreiungskriegen, der für culinarische Genüsse und eine Havannacigarre begeisterte Hanseat, sowie der bei Knödeln, Dampfnudeln und Bier in körperliche Ekstase gerathende Altbaier, kurz jedes Alter, jeder Stand, jeder Rang war eine Zeitlang von den Heine’schen Gedichten und Schriften hingerissen und bezaubert. Kein Buch außer „Werther’s Leiden“ und den „Räubern“ hat unter den Deutschen je eine solche Wirkung, wie Heine’s „Reisebilder“ und sein „Buch der Lieder“ hervorgebracht. Ja, es gab eine Zeit, in der Heine, ehe die Verwicklungen mit Börne und Platen ihm viele Widersacher und Feinde erweckten, nur einen Stand in einer geschlossenen Phalanx gegen sich hatte, es war der vormärzliche Stand der Censoren, die, wenn auch bei unseren augenblicklich halbfertigen und provisorischen Institutionen ihre Rolle und ihr Amt von den Redacteuren und der Polizei übernommen ist, doch als Stand und Staatsbeamte zu bestehen aufgehört haben. Wenn es nun auch noch nicht an der Zeit sein dürfte, ein abschließendes Urtheil über Heine als Dichter und Mensch zu fällen, da wir als Zeitgenossen desselben durch den Charakter unserer Zeit selbst zu sehr in unseren Urtheilen geleitet werden und die richtige Auffassung eines jeden großen Mannes einer künftigen Generation überlassen bleiben muß, so werden doch gewiß, besonders da wir bis jetzt keine Biographie Heine’s besitzen, alle Mittheilungen über seine Persönlichkeit für die Freunde der Literatur von Interesse sein. Denn je mehr positive Details und Data über Heine vorliegen, desto leichter wird es einem späteren Geschlechte werden, mit Hülfe dieser Materialien zu einem richtigen Verständnisse des Dichters zu gelangen. Hat die Nachwelt doch stets den Vortheil, daß sie von einem überwundenen Standpunkte aus, von der objectiven Höhe der Vogelperspective, und nicht durch von den Vorurtheilen und Schlacken der Gegenwart getrübte Gläser, die Vergangenheit betrachtet und daher von vorn herein einen richtigeren Sinn und ein unbefangeneres Urtheil mitbringt. Die Worte aber, die Schiller von Wallenstein sagt: „von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“, können wir auch auf Heine anwenden. So viel jedoch steht fest, daß mit Heine eine neue Epoche unserer Literatur begonnen hat.
Heinrich Heine ist der erste deutsche Dichter, in dem sich das Bild seiner ganzen Zeit mit ihren Fehlern und Tugenden, in allen ihren Bestrebungen, Neigungen, Gedanken und Gefühlen in politischer, socialer und kulturhistorischer Beziehung abspiegelt. Ich halte diesen Umstand für so bedeutend, daß ich fest überzeugt bin, daß spätere Literarhistoriker von Heine an für die deutsche Literatur eine neue Periode datiren und daher unsere ganze jetzige Literaturperiode die Heine’sche nennen werden. Heine wird daher erst dann ganz begriffen werden, wenn es einem späteren Geschichtsschreiber gelungen ist, von dieser merkwürdigen Zeit ein treues und wahres Bild geliefert zu haben. Wenn man aber Heine ohne Rücksicht auf seine Zeit beurtheilen wollte, dann würde das Urtheil auf jeden Fall schief, hinkend und einseitig werden. Dem Biographen Heine’s muß daher erst der Schlosser und Macaulay der politischen Geschichte vorausgehen. So verschieden auch in diesem Augenblicke das Urtheil über Heine ausfallen mag, darin sind die Meisten einig, daß er als lyrischer Dichter selbst neben Goethe und Schiller steht und von keinem Dichter der Neuzeit übertreffen ist. Seine zahlreichen Feinde und Widersacher, an denen jedes Genie zu leiden hat, -– denn nur der Dumme ist eben durch den ihm angeborenen Panzer der Dummheit vor Feinden gesichert, – sind mit ihren persönlichen Invectiven und Injurien seit seinem Tode verstummt, und die kurz vor seinem Ende bei Hoffmann und Campe erschienenen neuen Gedichte – ich meine den Romancero – haben den Deutschen gezeigt, daß Heine’s geistige Spannkraft selbst auf seinem Sterbelager noch nicht erloschen war, und die binnen wenigen Tagen vergriffene Auflage von 4000 Exemplaren hat bewiesen, wie groß noch immer der Zauber war, den der deutschfranzösische Dichter, wie die Franzosen in ihrer Eitelkeit ihn zu nennen beliebten, auf die Freunde der Dichtkunst ausübte. Man erinnert sich vielleicht noch, mit welcher Theilnahme das deutsche Publicum zur Lebenszeit Heine’s die Berichte von Alfred Meißner und Adolf Stahr aufnahm. Wenn meine Schilderungen auch nicht die Bilderpracht eines Alfred Meißner zur Schau tragen, noch gewürzt sind durch die schwungvolle Phantasie eines Adolf Stahr, so werden sie doch das Verdienst haben, nach der Quelle zu schmecken. Ein halbjähriger Aufenthalt in Paris gab mir hinreichend Gelegenheit, Heine, den ich als Dichter seit meiner Jugend verehrte, auch als Mensch auf’s Höchste schätzen zu lernen.
Als ich im Frühjahr 1851 nach Paris kam, schwankte ich lange, ob ich es wagen sollte, Heinrich Heine zu besuchen. Mehrere Bekannte, die ich dort traf und denen ich meine Zweifel mittheilte, versicherten mir, daß es mir nichts helfen könne, wenn ich zu ihm ginge, indem ich sicherlich abgewiesen würde; denn Heine’s Zustand sei ein solcher, daß er nicht einmal die mit Empfehlungsschreiben von seinen Verwandten Versehenen zu sich ließe und selbst Leute von literarischem Rufe nicht mehr annehme. Einem Enkel der Goethe’schen Charlotte in Werther’s Leiden, der auf diese Verwandtschaft hin keinen Zweifel hegte, vorgelassen zu werden, war dasselbe widerfahren. Dies Alles waren Beweggründe genug, mich in meinem Schwanken zu bestärken. Der Gedanke jedoch, daß ich mir, wenn ich Paris wieder verlassen hätte und Heine vielleicht nicht mehr zu den Lebenden gehörte, stets Vorwürfe machen würde, [474] nicht wenigstens versucht zu haben, des Dichters persönliche Bekanntschaft zu machen, bestimmten mich endlich, zu ihm zu gehen.
Heine wohnte in einem von dem alten Paris, der Cité, sehr entlegenen Stadtviertel. Hat man sich durch den Strom der eleganten Equipagen und Reiter auf den von allen Völkern der Erde wimmelnden Boulevards glücklich durchgearbeitet, so gelangt man am äußersten Ende der noch sehr belebten Chaussée d’Antin, auf der das Gelärm der Boulevards noch immer in den Ohren nachklingt und die Augen noch geblendet sind von der Pracht und Großartigkeit der mannigfaltigen Gegenstände, durch eine kleine Seitenstraße in einen Stadttheil, in dem man nur noch durch die Höhe und Eleganz der Häuser erinnert wird, daß man in Paris ist. Hier schweigt das ewige Gerassel der Wagen, – höchstens sieht man einen Omnibus in gleichmäßigem Trabe dahinfahren – hier werden die Ohren nicht mehr verletzt durch die unerträglichen und unarticulirten Töne des nomadisirenden Kaufmannsstandes, hier hört man nur in der Ferne die monotone Musik der von Tagesanbruch arbeitenden Drehorgeln, auf denen Invaliden durch deutsche Melodien das musikalisch so hoch gebildete Ohr der Pariser in Entzückung versetzen; hier glaubt man wirklich, wenn man sich statt der Häuser in modernem Baustyle Giebelhäuser denkt, man befände sich in dem stiller gewordenen Augsburg oder Lübeck. Wäre dieser Stadttheil erbaut worden zu der Zeit, als letztere Städte in commercieller Beziehung die Metropolen Deutschlands waren, dann würden sicherlich auch einige der Straßen dieses Stadttheils ihren Namen führen. So aber findet man hier wohl eine Rue de Constantinople, Milan, Naples, Berlin, Munich, Stockholm, Florence etc., aber man vermißt die Namen obiger Städte. In diesem Viertel, dessen Straßen nur die berühmtesten europäischen Städte zu Pathen haben, wohnte auch Heinrich Heine und zwar in der Rue d’Amsterdam No. 50. Die Dichter liebten von jeher die Einsamkeit. Wohin hätte also Heine sich besser zurückziehen können, als nach diesem Stadttheil, der, ohne den Schmutz und die unheimliche Diebesstille anderer Vorstädte zu besitzen, den Comfort und die Eleganz des übrigen Paris aufweist? Zwei Stiegen im Hinterhause des Gebäudes führten zu der Wohnung des Dichters. Eine junge Dame, deren Gesichte eine tiefe Trauer aufgeprägt war, öffnete mir die Thür. Ihr trug ich meine Bitte vor. Welche kaum gehoffte Freude für mich, als sie, nach wenigen Augenblicken zurückkehrend, mir Einlaß in das Zimmer des Dichters gewährte! Wegen der herabgelassenen Vorhänge herrschte in dem Gemache, das durch ein paar auf den innern Hofraum führende Fenster erhellt wird, ein abenddämmerliches Licht. In dem den Fenstern entgegengesetzten Theile des Zimmers steht des Dichters Bett, im Halbkreise von einem Ofenschirm umgeben, um so viel wie möglich allen Zug abzuhalten. Wie schlug mein Herz, als ich, um den Schirm mich wendend, nun endlich, in einer halb sitzenden, halb liegenden Stellung, den Dichter vor mir sah! Ich weiß nicht mehr, was ich gesprochen habe; ich stand einige Augenblicke stumm an seinem Lager. Alle Eindrücke, die ich jemals bei der Lectüre der Heine’schen Schriften empfangen hatte, schienen in meinem Geiste zu gleicher Zeit bei dem Anblicke des Dichters wieder aufzuleben. Von einer schrecklichen Krankheit bewältigt, lag er, ein Prometheus an den Felsen geschmiedet, schon seit drei Jahren an sein Bett gefesselt, mit den Qualen des Todes stets ringend, ohne die Freuden des Lebens, die von ihm so lieblich besungenen irdischen Götter, genießen zu können. War es wirklich derselbe Heine, in dessen Schriften die Gottheit und der Teufel wie Braut und Bräutigam die Ringe wechseln; der uns ein Paradies des menschlichen Herzens schildert und gleich darauf dasselbe in einen Sündenpfuhl verwandelt; dessen Gedichte bald Rosen und Veilchen sind, bald die verderblichsten Giftblumen; dessen Gefühle bald als ätherische Elfen durch Frühlingslüfte dahin schweben, um im nächsten Augenblicke als grinsende Kobolde unter der Aegide Mephisto’s in Holzschuhen aufzutreten; derselbe, der da gesungen: „Du bist wie eine Blume, so hold, so schön und rein,“ und gleich darauf singt: „Der König Wiswamitra, den treibt’s ohn’ Rast und Ruh’“; derselbe Dichter, in dessen Köcher die Pfeile der Satire von duftenden Blumen der Lyrik umwunden sind? Ja! dieses poetische psychologische Räthsel lag vor mir in einem Zustande, der auch das Herz seiner Feinde geschmolzen haben würde.
„Nehmen Sie es mir nicht übel,“ hob er an, „daß ich mich in diesem Augenblicke nicht lange mit Ihnen unterhalten kann, weil ich gerade jetzt von den heftigsten Krämpfen gepeinigt werde, so daß ich alle meine Geisteskraft zusammen nehmen muß, um nur sprechen zu können.“ Darauf zog er mit den Händen, die er meistens über die Stirn geschlagen zu halten pflegt, die gelähmten Augenlider empor und schaute mich an mit einem Blicke, aus dem tiefes Leiden, stoischer Muth und ein verglimmendes Feuer zugleich zu athmen schienen. Obgleich seine Augenlider gelähmt waren und seine Sehkraft bedeutend abgenommen hatte, so hatte doch der Vesuv seines Blickes noch nicht aufgehört, feurige Blitze zu sprühen. Heine’s Physiognomie ist ungemein interessant; die hohe, freie Stirn zeugt von der Tiefe seiner Gedanken, die scharfgeschnittene Nase und die schmalen, eng zusammen gepreßten Lippen erwecken unwillkürlich den Gedanken in uns, daß jedes seiner Worte eine Satire sein müßte, und man ist nicht wenig überrascht, aus diesem Munde eine Stimme vom weichsten Klänge und Worte von der Milde der Frühlingslüfte des Wonnemonats ertönen zu hören. Daneben giebt der starke Schnurr- und Kinnbart dem abgemagerten und eingefallenen Gesichte etwas eigenthümlich Dämonisches. Trotz der heftigsten Krämpfe, die vom Rückenmark aus seine untern Extremitäten befallen hatten, konnte ich doch in seinen Mienen keine Spur von Schmerz lesen. Einen Menschen leiden sehen, erregt Mitleid; einen Menschen mit Seelenruhe, mit Stoicismus die furchtbarsten Qualen ertragen sehen, steigert das Mitleid zur Bewunderung.
Das Jahr 1848, durch das für die Völker Europa’s die Morgenröthe der Freiheit aufging, brachte Heine die Leiden hoffnungslosen Siechthums, das ihn seitdem beständig an’s Krankenzimmer fesselte. Sein Uebel bestand in einer Erweichung des Rückenmarks. Die untere Körperhälfte war bei ihm vollkommen gelähmt, ebenso die Augenlider. Nur die obern Extremitäten konnte er noch frei bewegen. Die Krämpfe beschränkten sich jedoch nicht blos auf die gelähmten Theile, sondern befielen auch die Athmungs- und Schlingorgane. Manchmal hatten sie solche Stärke, daß der ganze Körper wie eine Spirale sich krümmte. Die einzige Linderung verschafften dem Dichter große Gaben Opiums; doch scheiterte auch dessen Wirkung häufig an der Intensivität der Anfälle. Sehr charakteristisch für Heine ist, daß er auch in der Medicin Freigeist war. Heine machte in diesem Punkte eine Ausnahme von allen sogenannten Freigeistern, die ich bisher Gelegenheit hatte, kennen zu lernen. Sind diese auch in ihren politischen Ansichten Communisten oder rothe Republikaner, in der Religion Atheisten oder Pantheismen: in jeder Beziehung, die ihr körperliches Wohl betrifft, sind sie gläubig, schwören auf die Worte ihrer Aerzte und erblicken in jeder ihnen verordneten Pille ein untrügliches Wundermittel gegen ihre körperlichen Gebrechen. Sie, die allen Glauben als ein Unding verwerfen, fangen an gläubig zu werden, sobald nur ein Glied ihres Körpers erkrankt. Fast ohne Ausnahme sind die Atheisten stets Pietisten in der Medicin! Anders Heine. Diejenigen, die seine Inconsequenz so häufig zur Zielscheibe ihrer Angriffe gewählt haben, werden in dieser Hinsicht seine Consequenz anerkennen müssen. „Ich glaube nicht,“ sagte er eines Tages zu mir, „daß noch Hoffnung für mich vorhanden ist, meine Gesundheit je wieder zu erlangen, überdies habe ich kein Vertrauen zu den französischen Aerzten als Heilkünstlern; sie mögen ausgezeichnete Chirurgen sein und auch auf die Diagnose der innern Krankheiten sich gut verstehen, sie verstehen aber nicht dieselben zu heilen. Ich nehme übrigens keine Medicin, weil ich an ihre Wirkung nicht glaube.
Das einzige Medicament, welches ich in meiner ganzen Krankheit genommen habe, war Jodkali, ohne daß ich dadurch eine Verbesserung meines Zustandes verspürt hätte. Man hat mich gebrannt, ich habe verschiedenartige Bäder gebraucht – doch Alles ohne Erfolg!“ Als ich ihm darauf erwiderte, daß, da er noch frei sei von torpidem Fieber, man nicht alle Hoffnung aufgeben dürfe, eine Abnahme seiner Leiden zu bewirken, und daß, wenn auch dem Schatze unserer Arzneimittel ein unnützer Ballast beigemischt sei, man doch ohne dieselben nicht fertig werden könne, zumal die Wirkung mancher vollständig erwiesen sei, antwortete er: „Es mag sein, daß viele Arzneien trefflich wirken, doch dazu gehört ein eigener Glaube; das aber glaube ich, daß mancher Arzt auf irgend einem beliebigen Dorfe Deutschlands mich richtiger behandeln würde, als die Aerzte von Paris.“ Mag Heine’s Urtheil auch zu streng erscheinen, so enthält es doch auf jeden Fall viel Wahres und giebt Stoff zum Nachdenken über die verschiedene Entwicklung der Medicin bei zwei Nationen, deren einzige Aehnlichkeit mit einander vielleicht darin besteht, daß sie, die eine in rein wissenschaftlicher, die andere in politischer Beziehung, wie ein Gährstoff auf alle übrigen Völker Europa's [475] gewirkt haben und noch wirken. So viel ist gewiß, so sehr die französischen Chirurgen im Allgemeinen die deutschen an Kühnheit, Eleganz und technischer Fertigkeit übertreffen, so tief stehen die französischen innern Aerzte unter den deutschen, und die eigentliche Therapie, d. h. das Heilen der Krankheit, befindet sich in Frankreich in einem noch viel größeren Verfalle, als bei uns in Deutschland.
Heine gehörte nicht zu den großen Männern, welche, wenn man ihre persönliche Bekanntschaft macht, nachher in uns den Wunsch erregen, dieselbe lieber nicht gemacht zu haben. Jeder Mensch bildet sich eine Vorstellung von einem Manne, für den er sich besonders interessirt, dessen Schriften ihn vor andern anziehen. Findet er nun bei späterem persönlichen Bekanntwerden, daß das von ihm entworfene Ideal dem wirklichen Gegenstände nicht entspricht, so fühlt er sich in seinen Erwartungen bitter getäuscht. Nun aber finden wir nur sehr selten, daß ein ausgezeichneter Schriftsteller im gewöhnlichen Leben dem Bilde gleicht, das wir nach seinen Schriften uns von ihm geschaffen haben. Und in der That befähigen nur ein wahrhaft unerschöpflicher Reichthum und eine seltene Elasticität und Frische des Geistes dazu, im alltäglichen Verkehr in Gedanken und Ausdruck nicht hinter dem zurückbleiben, was nur das Ergebniß einsamen, tiefen Nachdenkens und die in guten Stunden empfangene Eingebung der nicht allezeit bereiten Muse zu sein pflegt. Wohl Keinem ist es gegeben, immer Geistreiches, immer Bedeutendes zu sagen! Dennoch – gestehen wir es nur offen – nahen wir uns selten einem genialen Manne anders, als mit der geheimen Prätension, daß er sich als solcher sofort durch Wort und Blick vor uns legitimire. Daher ist denn auch der Eindruck, den die Persönlichkeit sowohl anderer großer Männer, als namentlich ausgezeichneter Schriftsteller erregt, sehr häufig ein fast nichtssagender, und es gehört immer zu den Ausnahmen, daß wir einen Dichter, und sei er noch so begabt, im gewöhnlichen Leben ebenso interessant als in seinen Schriften finden. Heine zählte zu diesen Ausnahmen. Er machte auch in seinen Unterhaltungen den Eindruck eines genialen Mannes. Nur insofern fand ich mich im Irrthum, als ich ihn mir als einen Solchen gedacht hatte, der nicht drei Worte sprechen könne, ohne beim vierten satirisch zu werden. Die mephistophelische und dämonische Seite seines Geistes, die in seinen Gedichten und prosaischen Schriften gleich Wetterleuchten überall hervorblitzt, vermißte man in seinem Gespräche beinahe gänzlich. Nur zuweilen warf er als Würze einen sarkastischen Witz ein. Sonst war er in seiner mündlichen Unterhaltung ebenso einfach wie in seinen schönen lyrischen Gedichten. Aber eben diese ungekünstelte Einfachheit übte einen ungemeinen Zauber aus. Die Worte flössen ihm harmonisch vom Munde, und er sprach über die verschiedenartigsten Gegenstände mit einer Gewandtheit und Leichtigkeit, daß es in der That Bewunderung erregte, wenn man bedachte, wie sehr er fortwährend leiden mußte. Weder sein Gedächtniß, noch die Schärfe seines Verstandes hatte bis dahin im Geringsten in Folge seiner schrecklichen Krankheit gelitten. Und niemals hörte ich ihn über seinen traurigen Zustand in solchen Klagen sich ergehen, wie sie bei Menschen gewöhnlichen Schlages üblich sind. Nur einmal, als wir gerade über die Zustände Deutschlands sprachen, hörte ich ihn ausrufen: „O, könnte ich doch noch einmal mein Vaterland wiedersehen, wäre es mir doch vergönnt, in Deutschland zu sterben!“
Eine tiefe und innige Vaterlandsliebe sprach sich in allen seinen Reden aus, und diejenigen irren sehr, welche glauben, Heine habe durch seinen langen Aufenthalt in Frankreich seine Sympathien für Deutschland verloren und neige sich zum Franzosenthume hin; wie auch diejenigen zu strenge urtheilen, welche es ihm zum Verbrechen machen, daß er in seinen Schriften auf Kosten der Deutschen mit den Franzosen liebäugle. Das Wahre daran ist, daß Heine die lächerliche Seite des deutschen Volkscharakters mit bitterer Satire geißelte, und welcher Deutsche wollte ihm das nicht Dank wissen? Daß er aber die Franzosen über die Deutschen erhebt, wo sie es nicht wirklich verdienten, dafür finden sich nirgends Belege. Anfangs, als der Dichter nach Frankreich kam, wurde er freilich, wie jeder am Kosmopolitismus leidende Deutsche, durch den äußern Glanz und Schimmer der französischen Zustände bestochen. Einem Manne von solch’ einem diagnostischen Scharfblicke wie Heine mußten jedoch die mannigfachen französischen Unzulänglichkeiten nur zu bald in die Augen fallen, und bei näherem Anblicke erscheint das meiste Schöne, was er den Franzosen sagt, als mit Zucker bestreute Galle, und die Franzosen haben weder Ursache, für die groben Schmeicheleien und schmeichelhaften Grobheiten, die er ihnen auftischt, ihm dankbar zu sein, noch die Deutschen, ihre Nachbarn dieserhalb zu beneiden. Wie richtig Heine aber die politischen Verhältnisse Frankreichs nach der Julirevolution beurtheilt hat, das geht aus vielen seiner Schriften zur Genüge hervor. Und wenn er u. A. sagt: „das ganze Geheimniß der revolutionären Parteien besteht darin, daß sie die Regierung nicht mehr angreifen wollen, sondern von Seiten derselben einen Angriff erwarten, um thatsächlichen Widerstand zu leisten; eine neue Insurrection kann daher in Paris nicht ausbrechen ohne den besondern Willen der Regierung, die erst durch irgend eine bedeutende Thorheit die Veranlassung geben muß. Gelingt die Insurrection, so wird Frankreich sogleich zu einer Republik erklärt, und die Revolution wälzt sich dann über ganz Europa, dessen alte Institutionen alsdann, wo nicht zertrümmert, doch wenigstens sehr erschüttert werden,“ – so hat er mit wahrhaft prophetischem Blicke die Genesis der Februarrevolution vorausgesehen. Ob auch die andere Prophezeiung des Dichters in Erfüllung gehen wird, daß das französische Volk, nachdem es den andern Völkern die Freiheit gebracht, durch den Zwiespalt der inneren Parteien zu Grunde gerichtet werden wird? Die jetzigen Zustände scheinen auch dieses Orakel bewahrheiten zu wollen.
Ein Culturbild aus der indogermanischen Urzeit.
Wenn die Geologen Landschaftsbilder zeichnen aus der ungezählte Jahrtausende hinter uns liegenden Jugendzeit unseres Erdballes und die Astronomen noch viele Millionen von Jahren weiter zurückgreifen und die Entstehung unseres Sonnensystemes anschaulich zu machen versuchen, so mag es auch dem Sprachforscher vergönnt sein, mit den Mitteln, die ihm seine Wissenschaft an die Hand giebt, eine Skizze zu entwerfen von dem Culturzustande eines Volkes, das vor vielleicht fünf Jahrtausenden in Centralasien seinen Sitz hatte. Dies Volk hat aber für uns ein besonderes Interesse, da wir selbst seine Nachkommen sind und demnach in jenem Volke unsere eigenen Vorfahren kennen lernen. Wir werden sehen, daß wir uns dieser unserer Ahnen keineswegs zu schämen brauchen.
Welche Mittel stehen uns aber zu Gebote, um von Zuständen eine Anschauung zu erhalten, über die keine geschichtliche Aufzeichnung etwas berichtet und von denen nicht einmal aufgefundene Reste ein wenn auch fragmentarisches Zeugniß ablegen? Diese Mittel sind auch hier, wie in den Naturwissenschaften, die sichere, streng wissenschaftliche Beobachtung und der auf sie gebaute richtige Schluß. Es ist ein bekanntes unbestrittenes Ergebniß der Sprachwissenschaft, derjenigen Wissenschaft, welche, wie vielleicht keine andere, eine deutsche, in Deutschland entstandene und vorzugsweise von Deutschen ausgebildete ist, daß die sämmtlichen Völker indogermanischen Stammes von einem Urvolke abstammen, wie die Sprachen, die sie reden und redeten, sich sämmtlich als Nachkommen einer Ursprache ergeben, der indogermanischen Ursprache.
Aus ihren Töchtern, den ältesten in schwesterlichem Verwandtschaftsverhältnisse stehenden Sprachen der Inder, Perser, Griechen, Italer, Kelten, Slaven, Litauer, Deutschen, läßt sich nach den bekannten Gesetzen des Sprachlebens die gemeinsame Mutter, der alle jene Schwestern entstammen, erschließen. Wie sich von einem Strome, dessen unterer Lauf nur bekannt ist, mit Bestimmtheit behaupten läßt, daß er auch einen oberen Lauf und eine Quelle haben müsse, wie wir uns von einem Thiere, das wir nur in einem älteren Exemplare vor uns sehen, das Jugendalter und sogar den Zustand vor der Geburt vorstellen können, in ähnlicher Weise können wir das Leben der indogermanischen Sprachen, von dem uns nur die letzten Jahrtausende zugänglich sind, mit den Mitteln der Wissenschaft hinauf in die graue Vorzeit und bis zu seinen Anfängen [476] erschließen. Das Vorliegende ergiebt sich als ein Gewordenes und trägt von der Art und Weise, wie es geworden ist, deutlich zeugende Spuren an sich.
Die vielen Worte und Wortformen, welche allen oder mehreren indogermanischen Sprachen gemeinsam sind und die sich mit Sicherheit als nicht entlehnt ergeben, müssen von der gemeinsamen Mutter ererbt sein, sie müssen von der indogermanischen Ursprache herstammen. Unser deutsches ist, litauisch esti, slavisch jesti, lateinisch est, griechisch esti, altpersisch (der Keilschriften) astij, zend açti, altindisch (sanskrit) asti beweist z. B. unwiderleglich, daß auch die gemeinsame Ursprache ein asti (dies ist nach den Gesetzen des Sprachlebens die älteste Form) gehabt haben müsse, welches, nach den verschiedenen Bildungsgesetzen der Tochtersprachen, hier ganz oder fast unverändert bleiben, dort zu esti, est, ist werden mußte. Sammeln wir nun die derartigen Worte und führen wir sie auf ihre ursprüngliche Lautform zurück (allerdings keine leichte, aber doch eine lösbare Aufgabe), so geben sie uns in ihrer Gesammtheit ein ziemlich genaues Bild der indogermanischen Ursprache, wie sie beschaffen gewesen sein muß, ehe sie in die verschiedenen Sprachen auseinander ging, die zusammen den indogermanischen Sprachstamm bilden.
Nun haben aber die Worte auch eine Bedeutung. Sammeln wir die Bedeutungen der gemeinsamen, aus der Ursprache herstammenden Worte, so erhalten wir eine Uebersicht der Begriffe, Vorstellungen und Anschauungen, die dem indogermanischen Urvolke eigen waren, und folglich ein Bild seines Culturzustandes und seiner geistigen Beschaffenheit. Freilich mag das so erschlossene Bild in Vielem mangelhaft sein, weil manches Urwort im Laufe der Zeit ganz verloren gegangen oder nur in einer einzigen Sprache erhalten sein kann; gehen wir aber behutsam und vorsichtig zu Werke, so werden wir wenigstens dem Urvolke nichts zuschreiben, was es nicht wirklich besaß. Unser Culturbild wird also wohl unter der Wirklichkeit bleiben, es wird ihm mancher Zug fehlen, keinesfalls aber werden wir das Urvolk zu hoch stellen.
Wir können natürlich für das im Folgenden Dargelegte nicht die Zeugnisse beibringen, wie wir es oben beispielsweise mit dem Worte asti thaten, sondern müssen uns begnügen, an jenem einen Beispiele die Methode gezeigt zu haben, und stellen demnach nur die Ergebnisse zusammen.
Für den sittlichen und gesellschaftlichen Zustand des Urindogermanen spricht vor Allem höchst vortheilhaft der Umstand, daß seine Familie nach ihren Verwandtschaftsgraden wohlgeordnet war. Der Vater, patars (wir geben alle Worte in der Form des Nominativs) d. h. „Beschützer, Herr“ genannt, und die Mutter, mâtars „die Schaffende“, finden wir im Kreise ihrer Familie, der Söhne, sunus „der Geborene“, Töchter, dughtars (unsicherer Bedeutung; im Folgenden lassen wir bei unklarer Abstammung die Grundbedeutung einfach hinweg), Enkel, naptars, Schwiegersöhne, gantars „Zeuger“, und Schwiegertöchter, snusâ. Der Bruder hieß bhrâtars „Erhalter“, die Schwester svatars die Wittwe vidhavâ, der Schwiegervater svakuras, der Schwager daivars. Die genaue Bezeichnung, besonders der Affinität, macht es mehr als nur wahrscheinlich, daß der Urindogermane in Monogamie lebte; denn bei Vielweiberei verschwimmt die Familie mehr oder minder und hat keine so hohe Bedeutung, daß die Bezeichnung entfernter Verwandtschaftsgrade unter den ältesten Theilen des Wortschatzes vermuthet werden könnte. Auch sprechen die späteren Zustände der Indogermanen für die Ursprünglichkeit der Monogamie bei unserem Volke und somit für das hohe Alterthum eines echten und wahren Familienlebens, ohne welches sich auch die große geschichtliche Bedeutsamkeit unseres Stammes kaum erklären ließe.
Die Familien wohnten in festen Wohnsitzen, damas „Haus“, vaikas „Niederlassung, Wohnsitz“. Schwerlich hätten Nomadenhorden für Haus und Wohnsitz so frühe schon Worte gebildet. Der Hauptbesitz des Urindogermanen bestand in Vieh, pakus. Dieses Wort bedeutete auch so viel als „Besitz, Vermögen“. Merkwürdiger Weise sah es im Viehstande der indogermanischen Urzeit nicht anders aus, als heut zu Tage; denn das indogermanische Urvolk besaß bereits unsere sämmtlichen wichtigeren Hausthiere. Vor Allem das Rind, gaus Kuh, vaksans Ochse, das bei den ältesten indogermanischen Völkern eine überaus bedeutsame Stelle einnimmt und dessen Milch man bereits benutzte, da das Wort für melken, Wurzel marg, der Ursprache bereits zuzuschreiben ist; ferner das Pferd, akvas „Läufer“, das Schaf avis, dessen Wolle, varnâ „Bedeckende“, wahrscheinlich den Hauptstoff für die Bekleidung lieferte, das Schwein sus, die Ziege, deren Namensform sich jedoch nicht genau ermitteln läßt, und den Wächter der Heerden und des Hauses, den Hund kvans.
Obschon sich Bienenzucht nicht nachweisen läßt, so steht doch fest, daß der Honig, madhu, und ein daraus bereitetes berauschendes Getränk gleiches Namens, der Meth, genossen ward. Der Meth muß nothwendiger Weise gegohren haben, um berauschen zu können; der Gährungsproceß war in seinen Wirkungen demnach bereits bekannt, und die Anfänge der Brauerei und des Gebrauches alkoholhaltiger Getränke liegen demnach weit vor aller Geschichte (im engeren Sinne). Neben den nützlichen Thieren fehlten jedoch die kleinen Quälgeister des Hauses, Mäuse, Fliegen und Flöhe, nicht.
Wir wenden uns vom Hause zum Felde, agras „Acker“. Getreide, javas, war bekannt, die Art läßt sich schwerlich bestimmen, doch scheint der Name für Gerste bereits in der indogermanischen Ursprache vorhanden gewesen zu sein. Die Thätigkeit des Pflügens bezeichnete die Wurzel ar, die des Mahlens die Wurzel mar. Höchst wahrscheinlich ward also das Getreide zu Brod verbacken, da für das bloße Rösten das Mahlen der Körner unzweckmäßig ist. Oefen waren vorhanden, sie waren aus Stein gebaut und wurden mit demselben Worte akmans, das Stein bedeutet (oder doch mit einer unwesentlichen Veränderung desselben), benannt. Backen und Kochen, Wurzel kak (z. B. (kakati er bäckt, kocht), war ebenfalls bereits im Brauche. Das Feuer hieß agnis. Es konnte demnach eine urindogermanische Mahlzeit recht wohl aus gebratenem und gekochtem Fleische nebst Brod, Milch, Honig und einem Trunke Meth bestehen.
So auffallend bei einem binnenländischen Volke die Schifffahrt sein mag, so steht nichtsdestoweniger fest, daß unser Urvolk Ruderschiffe – naus Schiff, artram, oder etwa ratram, Ruder – kannte. Da ihm auch das Meer, mari, keine unbekannte Erscheinung war, so müssen wir wohl annehmen, daß die urindogermanische Bevölkerung westlich sich bis an die Ufer eines Meeres erstreckt hat, von dem der heutige Aralsee und das kaspische Meer die Reste sind.
Metall, ajas, war bereits vorhanden; es läßt sich jedoch nicht beweisen, daß dies Metall Eisen gewesen sei. Die Steinwaffen und Steingeräthe, die man in Europa findet, können also nicht von den Indogermanen (z. B. den Kelten, Deutschen) herrühren; denn lange bevor diese einwanderten, war ihnen bereits das Metall bekannt, und es ist nicht wohl denkbar, daß ein Volk im Laufe der Zeit sich des Metallgebrauches wieder entäußert habe. Jene Steingeräthe sind also einer älteren Völkerschicht zuzuschreiben, die vor der Einwanderung der Indogermanen unsere heutigen Sitze inne hatte.
Das Vorhandensein staatlicher Einrichtungen ist nicht erweislich. Die Religion unserer Urahnen war ein Naturcultus, vor Allem Cultus des Lichtes; dies ergiebt sich aus den Mythologien der verschiedenen indogermanischen Völker. Die Gottheit nannte man daivas „Leuchtender“; der höchste Gott war ohne Zweifel djaus, Genit. daivas „der Leuchtende, der Himmel“.
Man sieht, es war ein hochstehendes Volk, aus dem die in der bisherigen Geschichte der Menschheit bedeutendsten Nationen später hervorgingen. Wer diese hohe Culturstufe auffallend findet, der möge bedenken, daß nach den neueren Ergebnissen der Naturwissenschaft der Mensch bereits seit vielen Jahrtausenden die Erde bewohnt und also ein vor etwa fünf Jahrtausenden existirendes Volk vielleicht bereits mehr als doppelt so viele Jahrtausende durchlebt hatte. Auch die Sprachwissenschaft giebt die Vermuthung an die Hand, daß eine Sprache von so hoher Vollkommenheit, wie die indogermanische Ursprache, einen Zeitraum von mindestens zehn Jahrtausenden als für ihre allmähliche Entwickelung erforderlich voraussetzen läßt. Das Stück des Lebens der Menschheit, das in die eigentlich historische Zeit fällt, ist sicherlich kurz gegen die ungezählte Reihe von Jahrtausenden, während welcher der Mensch lebte und sich entwickelte, bevor die Schrift erfunden ward und bevor man auf den Gedanken kam, das Geschehene aufzuschreiben.
[477]Ehrengabe der Münchener Schützen zum Frankfurter Schützenfest.
Das allgemeine deutsche Schützenfest zu Frankfurt hat als ein glücklicher Zeitgedanke alle männlichen Herzen angeregt, welche für eine fröhliche nationale Verbrüderung, für einen gegenseitigen warmen Händedruck der einzelnen vaterländischen Stämme empfänglich sind. Es handelte sich um ein Fest, das insofern eine culturhistorische und im edlen Sinn politische Bedeutung hat, als es den Tyroler dem Sachsen, den Pommer dem Badenser Auge in Auge freundschaftlich gegenüber stellt, Alle in geselliger Gastlichkeit verbindet und ihnen zeigt, daß sie dieselben Allen heiligen Gefühle in derselben Muttersprache kund thun; daß es Eigenschaften der Tüchtigkeit giebt, in denen sie sich sämmtlich wohl verstehen, ohne daß es ein Dialekt oder ein Unterschied der Religion und der Staatsverfassung hindern kann; daß sie ferner Alle die einzelnen, aber nothwendig zusammengehörigen Glieder eines gemeinsamen Heimathbodens sind, auf dem keine feindliche Racenverschiedenheit, sondern nur eine zufällige Entfernung ihre Stämme trennt, und daß es endlich nicht die Zollvereinsgrenze ist, welche jenem vaterländischen Boden eine Schranke setzt!
Dieses erhebende Bewußtsein ist, wir hoffen es, zu Frankfurt von dem Altar nationaler Begeisterung als echter deutscher Aar, verjüngt wie ein Phönix, emporgestiegen. Jeder fühlt, daß ein solches Resultat nur durch eine persönliche feierliche Berührung von nah und fern zu irgend einem erfreulichen Zweck oder in irgend einer Corporation gewonnen werden kann; und wie es diesmal der Corporation der Schützen galt, so waren dieselben in vielen Städten Deutschlands bemüht, dem schönen Feste einen weittragenden Glanz und eine patriotische Wichtigkeit zu verleihen.
Bei dieser brüderlichen Auffassung hat es denn an einer zahlreichen Beschickung und an sinnigen Ehrengeschenken zum Gewinn der wackersten Schützen nicht gefehlt. In echt künstlerischer Weise, wie es dem Ruhme ihrer Heimathstadt entspricht, hat sich dabei die alte dreihundertjährige Schützengesellschaft zu München durch Ueberreichung der geschmackvollen auf unserm Bilde dargestellten Fahne hervorgethan. Es ist ein aus den Tagen des Mittelalters stammendes Herkommen, bei feierlichen Gelegenheiten solche Bannerfahnen zu schenken, die im Geiste des herrschenden Geschmackes charakteristisch geziert sind. Wir lesen deshalb auf der vorstehenden Fahne die Worte: „Wie unser Brauch, so die Gabe auch“. Und ferner: „Ehrengabe der Hauptschützengesellschaft München“, und auf der andern Seite: „Zum deutschen Schützenfest in Frankfurt 1862“. Der Herr Architekt August Töpfer zu München (welcher auch die Güte hatte, unsere Illustration selbst zu zeichnen) ist der Erfinder der Fahne, so wie er sich denn durch industrielle Entwürfe für die Oeffentlichkeit schon lange einen rühmlich bekannten Namen erwarb.
Das Banner mißt von der Spitze der vergoldeten Bavaria, die in Zinn gegossen ist, bis zum Ende der Stange 12 Fuß, in der Breite der Fahne selbst 3 Fuß 9 Zoll, in deren Höhe 4 Fuß 1 Zoll. Die dunkel gezeichneten Felder bestehen aus dunkelgrünem Sammet, die hellen aus weißem Taffet, mit echten Goldborten und Litzen und der goldgestickten Schrift geschmückt. Helle Bänder in den bairischen Farben, weiß und blau, flattern an den Seiten herab, und unten links zeigt sich das bairische Wappen, rechts das Münchner Stadtwappen. Auf der Rückseite sind wieder die vier Eckfelder von dunkelgrünem Sammet, und von gleichem Stoffe ist dort das ganze Mittelstück. In diesem aber beruht auf der Vorderseite wohl der Hauptreiz des so harmonisch zusammenstimmenden Ganzen, denn der Beschauer erblickt darauf ein abnehmbares, sehr wohlgelungenes Oelgemälde, ein Genrebild des bekannten Historienmalers Freiherrn von Pechmann. Während das landschaftliche Motiv in freier Behandlung dem Starenberger See entnommen ist und im Hintergründe die duftige warme Abendsonnenbeleuchtung auf den blauen Berglehnen der Benedictenwand zeigt, ist im Vordergründe eine Kahnfahrt, eine Rückkehr von einem ländlichen Hochzeitschießen, abgebildet, wie es die fröhliche Volkssitte der bairischen Alpenbewohner mit sich bringt, welche der Beschauer hier in ihrem kleidsamen Nationalcostüm vor sich sieht. Wir überlassen es der regen Phantasie eines Jeden, sich nach seiner Art in die weitere Deutung des so kecken als idyllisch träumerischen Bildes zu versenken. Wer je die Luft der Alpen geathmet und den lauten langgezogenen Juchheruf über einem ihrer stillen Seespiegel vernommen hat, wird sich ganz in die charakteristische Scenerie hineinversetzen.
Das Bild sammt der Fahne, welche nach der Zeichnung des genannten Architekten von Herrn Gerdeisen (Firma Schreibmayer zu München) mit ungemeiner Präcision und kunsttechnischer Grazie angefertigt wurde, ist ein Preis auf die Scheibe „Deutschland“. Die schöne Ehrengabe wurde von circa fünfzig Münchner Schützen, die sich zu ihrem Einzug in Frankfurt noch ein besonderes bairisches Schützenbanner hatten machen lassen, an seinen Bestimmungsort geleitet, an der Spitze die Herren Schützenmeister Waldmann und Schmid. Die Kosten des Geschenkes beliefen sich, beiläufig bemerkt, etwa auf 350 Gulden.
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Velten Muhly’s Meisterschuß.
„So fest wie Ziegenhain!“ mit dieser Bezeichnung ehrte man im Hessenlande schon lange vor dem dreißigjährigen Kriege jedes Wort und jedes Werk, auf das man sich in der Noth verlassen konnte. Aber nicht allein auf die Mauern der Stadt, auf ihre Wälle und Gräben – deren Uneinnehmbarkeit auf einer Einrichtung fußte, mittelst der man das allseitig fast stundenweite Thal durch die Wasser des Schwalmflusses unüberschreitbar zu machen verstand – auch auf die Herzen der damaligen Bürger der Festung hat dieses Sprüchwort ein Recht auf Anwendung. Schon zur Zeit Philipp’s des Großmüthigen waren die Bürger Ziegenhains – und eben deshalb waren es Bürger – zugleich die Vertheidiger ihrer Festung; und wie sie es gewesen, das beweist ein kostbares heilig gehaltenes Geschenk[2] aus der Hand jenes ritterlichen Fürsten vom Jahre 1539. Einundsechzig Jahre später erfuhr diese Körperschaft der Ziegenhainer Bürgerschützen durch den Landgrafen Moritz und „aus sonderlicher Sorgfältigkeit für seine lieben Unterthanen“ eine ebenso heilsame, als angenehme Umgestaltung: die bessere militärische Einrichtung und die Verleihung wichtiger Gerechtsame. Hier ist nicht der Raum, aufzuzählen die einzelnen Gefechte, die sie siegreich gegen die schwärmenden Horden der Kaiserlichen gewagt, und die Namen der bei solcher Gelegenheit Gefallenen, deren die Chronik der Stadt eine ziemliche Anzahl nennt. Einen Namen nur möchte ich ihr entlehnen, denn er verdient es vor Allen, daß ihn ein Jeder kenne, der Begeisterung für die einfachen und doch so herrlichen Ideen seines Trägers, für die Vertheidigung des Bodens, der mütterlichen Erzeugerin, für die Wahrung der geistigen Freiheit im Busen trägt.
Um Ziegenhain herum lagerte am 13. November des Jahres 1640, also im wildesten Brande des dreißigjährigen Kriegs, der kaiserliche Feldmarschall-Lieutenant von Breda, Obercommandeur einer aus Oesterreichern und Baiern bestehenden Heeresmacht, deren eine Hälfte – 3000 Mann und 10 Kanonen – unter dem Generalfeldwachtmeister Mercy d’Argenteau noch im Anzuge war und tagtäglich mit Sehnsucht erwartet wurde. In Ziegenhain saß mit einem kleinen, aber tapferen Häuflein der früher schwedische, später Weimarische, jetzt aber französische Oberst Reinhold v. Rosen, lachte hinter dem schützenden Doppelwalle der Festung des hochtrabenden, zu seinen Ohren gekommenen Projectes des viel stärkeren Gegners und schlug ihm – nicht etwa blos ein Schnippchen – nein, schlug ihm hier eine Abtheilung, dort eine Abtheilung seiner Soldaten, um der Mordlust und Plünderungssucht Einhalt zu thun, womit die Kaiserlichen die Dörfer heimsuchten. Aber auch dabei ließ er’s nicht bewenden, sondern machte, seine ganze Stärke zusammenraffend, am Mittage des genannten Tages einen kühnen und glücklichen Ausfall und trieb den übermüthigen Oesterreicher bis vor das Städtchen Neukirchen zurück. Am anderen Tage standen sich die beiden feindlichen Heere eine Stunde Weges von einander ruhig gegenüber, sich vorbereitend zu einer entscheidenden Schlacht, zu welcher anderen Tages der tapfere Rosen die Offensive zu ergreifen beabsichtigte, weil er sehr wenig Neigung verspürte, sich auch noch das feindliche Hülfscorps unter Mercy d’Argenteau auf den Hals zu laden. Und dieser war am Abend des 14. nur noch vier Stunden von Riebelsdorf entfernt. Das wußte nicht allein Rosen, das wußten auch die Bürgerschützen von Ziegenhain – und ihrer Einer nahm sich’s zu Herzen.
Den breitkrämpigen Hut tief in die Stirn gedrückt, auf dem Rücken einen schwergefüllten Sack, wandelte, gekleidet in die Nationaltracht der Schwälmer, eine kräftige, untersetzte Gestalt am Nachmittage des 14. auf dem Wege von Ziegenhain nach Riebelsdorf dahin – ruhigen und gemessenen Schrittes, wie Einer, der vollkommen ruhig und sorglos. Und dennoch lief dieser Mann der größten Gefahr auf dem kürzesten Wege entgegen: das Wagestück eines Spions, den unverkleidet Jedermann kennt, ist gewiß nicht das leichteste! Schien sich auch dieses tiefe, redliche Auge, dieser offene, seiner Vollkraft sichere Auftritt der gefahrvollen Natur seines Unternehmens nicht bewußt zu sein, dessen Ausführung er in solcher Haltung sich näherte – in seinem Herzen stand es doch mit klaren, unzweideutigen Zügen geschrieben: „Dein Leben hängt an einem Haar, und dieses Haar ist die Täuschung oder Schweigsamkeit der Bauern!“ Aber es kannte keine Furcht, dieses Herz, und wenig Eigenliebe in seiner gesunden, edlen Einfalt; es kannte nur Eines: Liebe zum Vaterlande, Haß und Empörung gegen die Henker der Glaubensfreiheit. – So wandelte er seine Straße, so trat er ein in die Behausung des Bauern Bornemann in Riebelsdorf, allwo der große Feldmarschall v. Breda zur Umschau und Ruhe abgestiegen war. Körperlich erleichtert – denn mit Vergnügen hatte man ihm schon auf der Hausflur den schweren, mit Wurst und Schinken etc. angefüllten Sack von der Schulter genommen – fiel es ihm centnerschwer auf’s Herz, als er die Hand auf die Klinke der Stubenthüre legte und aus dem Zimmer so manche bekannte Stimme von der Gesellschaft der tributzahlenden Bauern an sein Ohr schlug. Dann trat er ein – – der Lauf der Dinge wende sich zu Deinen Gunsten, hochherziger Muhly! Da saß, oder besser, lag die kolossale Figur des Breda auf der Bank hinter dem plumpen eichenen Tisch und prahlte den Bauern von seinen Thaten vor, und die Bauern waren so taub und blind vor lauter Verwunderung über die amüsante und gemüthliche Unterhaltung, der es indeß nicht an Drohungen gegen ihre eigene Haut gebrach – daß sie nicht bemerkten, wie sich ihre Sippe plötzlich um einen Zuhörer vergrößerte. Und um was für einen Zuhörer! Velten Muhly, der Metzger, der Allen bekannte Wachtmeister der Bürgerschützen, horchte aufmerksam zu, kein Wörtchen entging seinen Ohren; aber erst, als der halbtrunkene Breda mit schwerfälliger Hand die Worte auf den Tisch geschrieben: „Heute in Bornemann’s Haus, morgen in Weichhaus!“ [3] als der Gedanke: „Man hat Dich erkannt,“ mehrmals schauernd durch das Hirn des Braven gezuckt – erst nachdem er Alles über Stand und Plan der Breda’schen Heeresmacht vernommen, was ihm wichtig erschien, erst nach der Ewigkeit zweier gefahrvoller Stunden verließ er die Stube, um sich so rasch als möglich nach Ziegenhain zu begeben. Auf der Hausflur, erzählt die Sage, habe ihn Moses, der Viehhändler, erkannt und angehalten, er aber habe sich seiner, kühn und listig wie er war, zu entledigen gewußt, wonach der Jude den Breda von der jeweiligen Anwesenheit des Schützen von Ziegenhain in Kenntniß gesetzt und dieser demselben in Begleitung des Israeliten eine Patrouille nachgesandt habe, deren erfolglose Rückkehr für den Rücken des Letzteren aber sehr blau abgelaufen sei. Wie dem nun war, Muhly kam wohlbehalten im Rosen’schen Lager an, wo er den Gouverneur von der Frucht seiner Spionage in Kenntniß setzte und ihm das kühne Project zu wissen gab, welches, schon früher gefaßt, aber während der Prahlerei des Breda auf dem Tische des Bornemann in seiner männlichen Seele zum unerschütterlichen Entschlusse gereift war. Und dieses Project? Nichts Geringeres, als den kaiserlichen Feldmarschall im morgigen Kampfe aufzusuchen und ihm mit einer Kugel den Garaus zu machen, es koste, was es wolle! Da staunte der Gouverneur mit seinen Herren Unterbeamten und meinte, das könne im Falle des Mißlingens die Stadt und das ganze Hessenland in die drohendste, gefährlichste Lage bringen. Aber diesen Fall kannte eben der Meisterschütze von Ziegenhain nicht, und stolzen Selbstbewußtseins den Zaghaften den Rücken kehrend, rief er aus: „Lieber Alles gewagt, als unsere Vorstadt abbrennen und unsere Weiber den Wüthrichen preisgeben lassen!“
Der Morgen des 15. November brach an, und Rosen, der schon am Nachmittag des vorigen Tages eine von Oberst Müller und Generaladjutant Charloune commandirte, aus 750 Reitern bestehende Verstärkung erhalten, rückte mit seinem, dem des Breda immer noch lange nicht gewachsenen Heere dem übermüthigen Feinde entgegen. Hinter Niederprenzebach – eine halbe Stunde von der Breda’schen Hauptarmee – stößt er auf die feindliche Vorhut. Sie angreifen und über die Steine (Nebenflüßchen der Schwalm) zurücktreiben, ist ihm das Werk eines Augenblicks. Auf dem linken Flügel die kleine beherzte Schaar der Bürgerschützen, rückt er unaufhaltsam dem Feinde entgegen, bis er, aus dem Walde vor Riebelsdorf hervortretend, die stattlichen Schaaren des Breda in trefflichster Schlachtordnung vor sich sieht.
„Gott mit uns!“ ruft Reinhold von Rosen, und seine Soldaten, [479] das Feldgeschrei wiederholend, stürzen sich auf die Reihen der Oesterreicher. – „Sancta Maria, kein Quartier!“ schallt’s ihnen von dort entgegen, und die Schlacht entbrennt in ungezügelter Wuth. Auf beiden Seiten führt wilde Todesverachtung die Eisenwaffe. Das tapfere Regiment Alt-Rosca, von rechts und links in fürchterlicher Bedrängniß, wird vom Oberst Müller auf’s wackerste erlöst und stürzt sich mit neuem Muth in die Schaaren des Feindes. Avanciren und Postofassen wechseln ab mit tapferm Rückzug – auf jeder Seite verliert und gewinnt man. Aber wie lange wird’s dauern, dann ist das muthige Häuflein des französischen Obersten aufgerieben, wenn auch jetzt noch der Sieg des Oesterreichers zweifelhaft ist! Und dennoch soll er verspielen. Muhly’s Falkenauge späht hinüber nach den wehenden Helmbüschen der Officiere. Längst hat er gefunden, was er sucht, aber noch ist er sammt seinen Brüdern in einen zu heftigen Kampf verwickelt; erst muß er sich Bahn schaffen, ehe seine Kugel zum Ziele gelangen kann. Die Kugeln sausen ihm um’s Haupt, mancher treue Camerad fällt neben ihm nieder, aber furchtlos und kühn geht es vorwärts, bis ihm der rechte Moment gekommen scheint. – Weit, sehr weit für die Tragweite seines Geschosses, auf einer kleinen Anhöhe, das Hauroth genannt, sieht er den großen Breda auf stattlichem Rosse, umgeben von seinen ritterlichen Adjutanten. Nun legt er sein Standrohr an und zielt. Fruchtloses Wagestück! Wird wohl die Kugel von Blei den Panzer von Stahl durchdringen, der von Kopf bis zu Fuß den feindlichen Feldherrn deckt? Es flimmert ihm vor den Augen, dem Schützen von Ziegenhain, seine Hand sinkt wie tief trauernd mit dem Standrohr herab. – Doch still! was ist das? Hebt nicht der stolze Breda die Rechte empor, den Kämpfern die Bahn zu weisen, zeigen die Schienen des Panzers dabei nicht eine Oeffnung, gerade so groß, daß eine Kugel hindurch kann? – Was bedarf das klare, sichere Auge, die feste, unerschütterliche Hand des Schützen Muhly mehr? „Jetzt ist es vorüber mit Dir!“ blitzt’s jubelnd in seiner Seele, das Standrohr hebt sich, das Auge schweift klar über die eiserne Linie, und – „Feuer!“ der stolze Breda sinkt klirrend vom Pferde. – „Nun vorwärts, Brüder!“ ruft Muhly den Schützen zu, „das Kleinod der Schlacht muß unser werden.“ Und vorwärts stürmen sie mit stolzer, siegesbewußter Begeisterung, fallen todesverachtend die ritterliche Bedeckung des Gefallenen an und treiben sie in Flucht und Verwirrung. Mit rascher Bewegung stürzt sich Muhly auf den Leichnam des Feldmarschalls, den so heldenmüthig errungenen Kampfpreis mit seinem Leben zu wahren. – „Der General ist todt!“ murmelt es dumpf durch die Reihen des Feindes; Rosen und Müller rücken vor mit erneuter Hoffnung auf endlichen Sieg; wacker arbeiten die Bürger in den gelichteten Schaaren der Kaiserlichen; die französischen und schwedischen Regimenter fahren mit siegestrunkenem Muthe in den sich immer mehr verwirrenden Haufen der Feinde – und der Tag von Riebelsdorf ist entschieden!
In rasender Eile verlassen die Oesterreicher das Schlachtfeld und fliehen nach Schrecksbach zu, um sich dort mit Mercy d’Argenteau zu vereinen. Aber die Grenf, „das heit’re Kind der Schwalm,“ grollt ihnen, ihre Wasser sind während der Nacht weit über die Ufer getreten; zu Hunderten ertrinken die Kaiserlichen, zu Hunderten werden sie gefangen durch die verfolgende Reiterei Reinhold’s von Rosen. Auf dem Schlachtfelde des Oesterreichers liegen 550 todte Soldaten, drei Rittmeister, zwei Obristlieutenants, zwei Majors, viele andere Officiere – und der Feldmarschall! – Jubelnd begrüßten die abgematteten Schaaren des französischen Obersten dieses Ereigniß; jubelnd hoben die Bürger von Ziegenhain ihren Heldenbruder auf ihre Schultern, ihn im Triumphe nach Hause zu tragen. Er aber sprang bescheidenen Muthes herab, half den erlegten Feind auf das Pferd emporheben, schnallte ihn der Länge nach fest, griff das Roß am Zügel und zog so im Triumphe, geleitet von den frohlockenden Vertheidigern der Festung, in ihre gestern noch so schwer bedrohte Vorstadt ein. – Hier vor dem Brauhaus der Stadt stand vor Zeiten eine 7 Fuß lange Steinbank, da legte man den furchtbaren Gegner nieder. Seine kolossale Figur, gestreckt noch in dem Momente des Todes, bedeckte der Länge nach den ganzen Stein. Sein großes Schlachtschwert – Verfasser hat es selbst in Händen gehabt – mißt 5 hessische Fuß; es wird verwahrt als ein Angedenken an Muhly auf dem Rathhaus der Vorstadt, an derselben Stelle, wo einst das Brauhaus gestanden. Breda hatte erlangt, was er wünschte:
„Heute in Bornemann’s Haus – morgen in Weichhaus!“
aber – todt, das war der Unterschied!
Im Jahre 1840 am 15. November hat man die beiden Orte, wo Muhly den Meisterschuß gethan und wo Breda gefallen, mit schönen Anlagen und steinernen Denkmälern geschmückt. Kommst Du, geneigter Leser, einstmals vielleicht in die Gegend von Ziegenhain, so frage Dir den Weg aus, der nach Neukirchen führt; dann wandere allein, denn Du brauchst keinen Führer, wandere immer der Straße nach, bis auf Deiner Uhr ein Stündchen vergangen ist – dann stehst Du vor dem Denkmal, das man Muhly geweiht hat, und hast Du gesunde Augen, so siehst Du wohl auch in der Ferne die Pyramide des Breda-Monuments aus dem Gebüsche hervorragen.
Wohlgemeinte Warnung für Auswanderer. Es ist eine wunderbare Thatsache, daß kein Mensch in der Welt weniger geneigt ist, einen guten Rath anzunehmen, als die gerade, die ihn am allernothwendigsten brauchen: die Auswanderer. Haben sie sich einmal erst auf ihren Plan zur Auswanderung verbissen, wozu sie theils die eigenen Verhältnisse, theils verlockend geschriebene Bücher trieben, so wissen sie auf einmal Alles, was das fremde Land betrifft, schon so genau, daß sich gefaßte Vorurtheile gar nicht mehr bei ihnen beseitigen lassen, und nur der noch Glauben bei ihnen findet, der ihnen das künftige Leben mit noch rosigeren Farben schildert, als sie es sich bis jetzt selber ausgemalt.
Man kann unserem deutschen Bauer gewiß nicht eine tüchtige Portion gesunden Menschenverstandes absprechen, vorzüglich soweit es sich um seine eigenen Interessen handelt und er in dem Geleis bleibt, das er von Jugend auf kennt, seinem eigenen Hofe und seinem Felde. So wie er aber aus diesen engen Schranken hinausgeschoben wird, sowie er sein eigenes Dorf nur auf wenige Meilen Entfernung verläßt und sich statt in seiner gewohnten Beschäftigung als Passagier außer jeder Verbindung mit seinem früheren Leben gebracht sieht, befindet und fühlt er sich genau so behaglich, wie ein Fisch auf dem Sande oder eine Katze im Wasser, und fällt dann nur zu leicht jenen Leuten in die Hände, die in solchem Geschäft schon außerordentlich viel Erfahrung haben und ihn, den sie für ihre Zwecke vollkommen brauchbar kennen, so lange quetschen und pressen, als noch ein Groschen aus ihm herauszubringen ist – den Auswanderungs-Agenten.
Ich beabsichtige hier nicht, dem Auswanderer einen bestimmten Rath zu geben, wohin er sich wenden soll, denn darüber kann man nichts Bestimmtes als wahr und unangreifbar aufstellen, da sich die Wahl eines solchen Ziels nur zu häufig nach dem eigenen Charakter des Auswandernden selber richtet. Nein, der Auswanderer mag gehen, wohin er eben Lust hat, aber nur um das Eine bitte ich ihn: seiner selbst wegen sich vor den Leuten besonders in Acht zu nehmen, die wirklich das einzige Interesse bei der Auswanderung selber haben, wenn sie auch immer und immer wieder versichern, daß es nicht der Fall wäre:
Die Leute sagen allerdings: „der eine oder die zwei Thaler oder die fünf Thaler auch, die ich per Kopf bekomme, machen mich nicht reich; weshalb sollte ich einen Menschen bereden?“
Das ist richtig, von dem Einzelnen haben sie nur geringen Nutzen, darum aber eben muß es die Menge bringen, und auf die Menge machen sie deshalb Jagd.
Sie verpflichten sich dem Rheder (Schiffseigenthümer) gegenüber, ein da oder dorthin bestimmtes Passagierschiff in einer bestimmten Zeit mit Passagieren zu füllen, und jeder Auswanderer, der ihnen in der Zeit in den Wurf kommt, wird nach diesem bestimmten Platz hindirigirt, wenn das irgend möglich ist. Ob es ihm dort nachher gut oder schlecht geht, kann natürlich dem Agenten vollkommen gleichgültig sein.
Die meisten der Herren gehen dabei – ich will es glauben – wenigstens ehrlich zu Werke, indem sie den Auswanderer nur erst zu dem Platz bereden, wohin sie ihn haben wollen, und ihn dann auch wirklich dahin befördern. Aber auch das Gegentheil fällt nur zu häufig vor. So habe ich in Brasilien eine Menge von Leuten gesprochen, die mündlich bestimmt ausgemacht hatten, nach Rio Grande geschafft zu werden, trotzdem aber nur nach Rio de Janeiro befördert waren und nun hülflos in dieser Stadt lagen, ohne Mittel, das Ziel zu erreichen, wo ihre Verwandten und Freunde lebten. Gerichtlich konnten sie ebenfalls nichts ausrichten, denn ihr Schiffscontract, den ich mir zeigen ließ, lautete allerdings auf Rio de Janeiro, und doch waren sie der festen Meinung gewesen, daß sie nach der viel weiter südlich gelegenen Provinz befördert werden müßten. Die Sache war so zugegangen:
Der Agent hatte ihnen gesagt, als ihnen das Wort Rio de Janeiro im Contract auffiel: „Das hat gar nichts zu bedeuten. Jedes Schiff, das [480] nach Brasilien geht, muß erst nach Rio, und von dort habt Ihr ja nachher nur eine ganz kleine Strecke nach Rio Grande hinunter, wohin Ihr augenblicklich mit Sack und Pack befördert werdet. Lieber Gott, die sind ja nur froh, wenn sie Euch dort haben, denn an ordentlichen deutschen Arbeitern fehlt es dort, und von allen Seiten werden sie auf Euch eindrücken und Euch hier und dorthin haben wollen. Nehmt nur nicht gleich das erste Beste an, sonst steht Ihr Euch selber im Licht.“
Die Ursache lag auf der Hand. Die Herren befrachteten gerade Passagierschiffe nach Rio, und alle die dummen Teufel zählten mit, die, für Rio Grande bestimmt, jetzt die Reise über Rio Janeiro machen mußten, dort ausgesetzt wurden und sich nun plötzlich in einem fremden Lande ohne Geld, ohne Freunde, ohne Jemand, der sie auch nur zur Arbeit haben wollte, dem völligen Elend preisgegeben sahen.
Wenn Ihr deshalb einen Contract von einem Auswanderungs-Agenten bekommt, Ihr Alle, die Ihr das Vaterland verlassen wollt, so seht genau nach, ob auch der richtige Hafen, in dem Ihr Euch ausschiffen wollt, darauf genannt ist, und laßt Euch mit keiner Entschuldigung oder Lüge des Agenten zufrieden stellen, vor der Hand einen anderen Hafen anzulaufen.
Man zeigt Euch vielleicht eine kleine Landkarte, auf der zwei solche Plätze scheinbar ganz nah bei einander liegen. In Wirklichkeit sind sie aber gewöhnlich noch sehr weit von einander entfernt, und wenn es auch nur eines einzigen Tages Fahrt wäre, so habt Ihr dadurch eine Masse von Kosten, und findet vielleicht nicht einmal auf Wochen eine Gelegenheit, die Euch dorthin bringen kann, wo Euer Ziel liegt.
Ein anderer wichtiger Punkt ist der: Habt Ihr einen Contract gemacht und vorgelegt bekommen, so geht, ehe Ihr, ihn selber unterschreibt, zu irgend Jemand hin, auf den Ihr glaubt, daß Ihr Euch verlassen könnt, sagt ihm vorher, was Ihr ausgemacht habt, und fragt Ihn dann, ob das auch Alles in dem Contract enthalten ist. Es giebt kleine Schleichwege, auf denen der arme Auswanderer gar nicht selten betrogen wird, und die er selber, mit allen überseeischen Verhältnissen vollkommen unbekannt, gar nicht entdecken kann, und wenn er den Contract zehnmal durchliest.
Außerdem unterzeichnet nie und unter keiner Bedingung einen Contract, der Euch, was Euch auch immer dafür versprochen werde, drüben im neuen Lande die Hände bindet und Euere freien Bewegungen hemmt. Der Deutsche hier im Vaterlande kann nie beurtheilen, wie ein solches Papier draußen zu seinem Nachtheil ausgelegt wird, wenn er eben gewissenlosen Menschen in die Hände fällt, und keine Regierung der Welt kann ihn gegen die Folgen eines Schrittes sichern, wenn er selber erst einmal seinen Namen unter ein solches Papier gesetzt hat.
Ich will dazu nur ein Beispiel aus den berüchtigten brasilianischen Parcerie-Verträgen anführen, in denen unter anderen Paragraphen steht:
„Der Arbeiter (der sich eben durch den Contract den Kaffeepflanzern verpflichtete) bekommt von dem Eigenthümer ein Stück Land zu seiner freien Bearbeitung angewiesen.“
Natürlich verstanden unsere Landsleute darunter eigenes Land, und die Auswanderungs-Agenten bestätigten ihnen das mit Vergnügen. Der Kaffeepflanzer aber verstand es anders. Er wies den armen Teufeln allerdings ein Stück Land zur Bebauung an, aber wilden, mächtigen Urwald, den sie sich erst mit schwerer Arbeit urbar machen mußten, und ließ sie ein oder zwei Jahre darauf pflanzen. Dann aber nahm er ihnen das Stück wieder weg, um ihnen ein anderes Stück Wald „anzuweisen“, und zwang sie dadurch, selbst in ihrer freien Zeit für ihn zu arbeiten und ihm sein sonst nutzloses Terrain werthvoll zu machen.
Das Gesetz konnte ihm dabei nichts anhaben, denn er war seinem Contract wörtlich nachgekommen.
Der Auswanderer soll auch unter keinen Umständen etwas unterschreiben, was er nicht selber ganz genau versteht, besonders in keiner fremden Sprache Vorgelegtes, denn steht erst einmal sein Name darunter, so hat er sich mit Allem, was das Schriftstück enthält, vollkommen einverstanden erklärt.
Gewissenlose Auswanderungs-Agenten gebrauchen noch ein Mittel, ihn zum Unterschreiben der Contracte zu bringen, die sie für gut finden ihm vorzulegen, indem sie ihn damit bis auf den letzten Augenblick hinausziehen. Wird er dann gedrängt an Bord zu fahren und hat vielleicht noch selber eine Menge Dinge zu besorgen, so legen sie ihm das Papier vor und sagen treuherzig: „O, setzt nur Eueren Namen darunter, das Andere besorge ich schon.“ Unter solchen Umständen soll sich der Auswanderer auf das Entschiedenste weigern zu unterschreiben, denn er weiß nie, welche Folgen es für ihn haben kann.
Hat er den Contract aber sorgfältig prüfen lassen und – mit Allem einverstanden – unterschrieben, wobei er sein Exemplar bekommt und wohl aufzubewahren hat, dann gebe er es auch nicht wieder aus den Händen, denn der Fall ist besonders bei den Antwerpener Agenten häufig vorgekommen, daß ein solcher Herr, um vielleicht einen Ihm unangenehmen Paragraph unschädlich zu machen, einen seiner Commis an Bord geschickt und den Auswanderern sämmtliche Contracte hat abnehmen lassen.
„Ihr müßt sie jetzt abgeben,“ sagte der Herr zu den verdutzten Leuten, „und wenn Ihr in Amerika an’s Land steigt, bekommt Ihr sie wieder.“
Das ist eine ganz einfache Schurkerei, denn der Auswanderer sieht in dem Fall seinen Schiffscontract nie wieder und ist zu seinem Schaden von dem Agenten angeführt worden. Hat er den Contract, so soll er ihn behalten, denn wenn der Agent nöthig hat, denselben irgendwo vorzulegen, so kann er sein eigenes Exemplar dazu nehmen. Der Auswanderer behält aber unter allen Umständen das seine.
Wandert der Deutsche dann aus, betritt er das fremde Land, so soll er vor allen Dingen seine überspannten Hoffnungen zurücklassen und sich fest darauf gefaßt machen, die ersten Jahre recht hart arbeiten zu müssen, ohne vielleicht soviel damit zu verdienen, wie er in Deutschland verdient hätte, denn jeder Mensch muß Lehrgeld zahlen, er mag beginnen, was er auch immer will, und die erste schwere Zeit in dem fremden Lande ist eben sein Lehrgeld.
Er soll sich aber um Gottes willen nur frei und unabhängig halten und, wenn er irgendwo in Arbeit tritt, nie bindende Contracte auf lange Jahre hinaus machen. Wenn er sich die erste Zeit auch kümmerlich durchhelfen muß, er lernt doch dabei Land, Leute und Arbeit kennen, und wird mit diesen Erfahrungen nachher leicht im Stande sein, sich seinen eigenen Heerd zu gründen.
Ein Pendant zu „Zwei gute Stiefmütter“ in der Gartenlaube Nr. 27. Es war in Hannover, zu Anfang der zwanziger Jahre, als ich eines Tages von einem Spaziergang in einer nahegelegenen Waldung mit meinem jüngern Bruder, freudestrahlend über den glücklichen Fang, den wir gemacht, nach Hause zurückkehrte. Wir hatten auf einer hohen Tanne ein Eichhörnchennest entdeckt und hielten dasselbe, als tüchtige Turner, bald mit sammt den vier Jungen in unsern Händen. Die Jungen aber hatten leider erst vor ein paar Tagen das Licht der Welt erblickt und waren daher noch ganz nackt und blind. Als wir die kleinen Thierchen in Gegenwart meiner Mutter – die uns nebenbei gehörig auszankte, weil wir den Alten die Jungen und das Nest geraubt – herausnahmen, waren die Kleinen beinahe schon ganz erstarrt, da sie seit fast zwei Stunden die schützende Wärme der Eltern entbehren mußten.
Wir hatten eine alte gute Katze, „Muschen“ genannt, die in der Nacht vorher vier Junge zur Welt gebracht. Drei hatte man ihr genommen, und so rieth meine Mutter, den Versuch zu machen, ob die alte Katze die jungen Eichhörnchen nicht erwärmen und säugen würde. Wir waren natürlich, schon der Seltenheit wegen, gleich bei der Hand, und siehe da, die alte Katze leckte, erwärmte und säugte die kleinen Thierchen, als wenn es ihre eigenen Kinder wären. Das noch übrige junge Kätzchen wurde ebenfalls bei Seite geschafft. Eins der jungen Eichhörnchen wurde schon in der ersten Nacht von der Stiefmutter erdrückt, drei jedoch geriethen prächtig, wurden groß und ganz zahm und sprangen und kletterten mit der alten Katze im ganzen Hause herum, auf dem Boden und den nahegelegenen Dächern. Als die kleinen muntern Thierchen über halb gewachsen waren, kümmerte sich die Stiefmutter nicht ferner um sie und überließ uns allein die Sorge der Unterhaltung ihrer Stiefkinder. Einige Jahre lang wurden zwei der hübschen Thierchen – eins hatten wir verschenkt – mit besonderer Vorliebe von uns gepflegt und gewartet und durften täglich ein paar Stunden frei umher springen und kehrten dann immer von selbst wieder in ihren großen Käfig zurück. Wenn die alte Katze ihren Stiefkindern auf dem Treppengeländer oder auf dem Boden in ihren Freistunden begegnete, so ignorirte sie dieselben gänzlich.
R. R. in R. Bitten um „unparteiische Urtheile“ über lyrische Gedichte kommen jede Woche 10–15. Sie sind es also nicht allein, den wir unsererseits bitten, freundlichst zu bedenken, wo die Redaction all die Zeit hernehmen soll, um all diesen Zumuthungen zu genügen. Wenn Gedichte unsern Beifall haben, so drucken wir sie ab; die übrigen müssen wir unberücksichtigt lassen und zeigen dies stets an dieser Stelle an.
- ↑ E. Pfeitschmidt, Luther in Coburg, Dresden 1853.
- ↑ Eine rein silberne, mit dem landgräflichen und dem Wappen der Stadt und Grafschaft Ziegenhain, einem Laubkranz und mancherlei vergoldeten Figuren gezierte Platte von 8 Zoll Länge, 5 Zoll Breite und einem Gesammtgewicht von 1 Pfund 3 Loth – bei feierlichen Auszügen die Brust des besten Schützen schmückend.
- ↑ Die weniger geschützte Vorstadt von Ziegenhain