Die Gartenlaube (1866)/Heft 42
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Im Cassenzimmer des Regierungsgebäudes schlug die Uhr Sechs und zeigte damit das Ende der Bureaustunden für den heutigen Tag an. Die Beamten schickten sich an das Bureau zu verlassen. Die beiden Cassenschreiber erhoben sich zuerst, spritzten die Federn aus, streiften die Schreibärmel ab, nahmen ihre Hüte, wünschten dem Herrn Landrentmeister gehorsamst eine wohlschlafende Nacht und gingen. Auch der erste Cassendiener verließ das Bureau. Der zweite mußte bleiben, bis der Landrentmeister selbst ging, um hinter diesem abzuschließen und ihm die Schlüssel zu übergeben. Aber der Landrentmeister sagte zu ihm:
„Schmidt, Er kann gehen. Ich habe noch eine Arbeit vor, die mich eine Viertelstunde aufhält. Ich werde selbst abschließen.“
Auch Schmidt ging.
Der Landrentmeister arbeitete ruhig weiter; er konnte es, wie aufgeregt er sein mochte. Er arbeitete länger, als eine Viertelstunde. Dann kam der Polizeirath Schwarz, wie er versprochen hatte.
„Löscht Euer Licht da aus, Aders.“
„Warum?“ fragte er.
„Diebe stehlen nur im Dunkeln.“
„Wollen wir stehlen, Freund Schwarz?“
„Einen Dieb fangen, Freund Aders. Kommt mit in das Cassengewölbe.“
Der Landrentmeister löschte das Licht aus und dann gingen Beide in das Gewölbe, dessen Thür Aders auf den Wunsch des Polizeiraths anlehnte.
„Jetzt öffnet den Schrank, der in der vorigen Nacht bestohlen war,“ sprach Schwarz.
Der Landrentmeister schloß den Schrank auf.
„Lehnt die Thür wieder an.“
Der Andere that auch das.
„Und nun setzen wir uns. Ihr habt doch ein paar Stühle hier? Man sieht in der Finsterniß nicht die Hand vor den Augen.“
Der Landrentmeister brachte die beiden Stühle herbei. Sie ließen sich darauf nieder, nahe an dem aufgeschlossenen Schrank.
„Und nun, Freund Schwarz, was ist Euer Plan?“ fragte der Landrentmeister.
„Hier zu warten.“
„Wie lange?“
„Wenn es sein muß, bis Euere Bureaustunden wieder anfangen.“
„Und auf wen sollen wir denn vielleicht die ganze Nacht warten?“
„Auf den Cassendieb.“
„Und wer ist es? An wen denkt Ihr?“
„Vorläufig an alle Welt.“
„Habt Ihr seit heute Nachmittag nichts erfahren?“
„Gar nichts.“
Der Landrentmeister machte eine kleine Pause mit seinen Fragen. Dann fuhr er doch wieder fort:
„Wie denkt Ihr es Euch, daß der Dieb hier hereinkommen werde?“
„Doch wohl durch irgend eine Oeffnung.“
„Und wo könnte diese sein?“
„Wahrscheinlich in diesem Schranke.“
„Und wo da?“
„In der Mauer.“
„In der starken, festen Mauer?“
„Wir sind hier gleichsam unter der Erde, Freund Aders.“
„Wenigstens unter dem Boden der Erde.“
„Ihr nehmt die Sache wie ein Schulmeister. Indeß, unter der Erde giebt es Vielerlei, unter Anderem auch unterirdische Gänge. Ihr habt doch davon gehört? Wenn nun ein solcher unterirdischer Gang gerade in dieses Gewölbe und in diesen Schrank führte?“
„Wißt Ihr etwas davon, Schwarz?“
„Ich vermuthe. Ich habe freilich auch dunkle Erinnerungen von dunklen Sagen.“
„Und woher sollte der Gang kommen? Wo sollte er beginnen?“
„Still! Hörtet Ihr da kein Geräusch?“
„Ich hörte nichts. Aber Ihr?“
„Es war mir, als krabble da etwas, an der andern Seite der Mauer. Aber meine Phantasie war wohl zu lebhaft.“
Der Landrentmeister kam auf seine frühere Frage zurück.
„Wo sollte der unterirdische Gang ausmünden?“
„Nach meiner Berechnung in der Propstei.“
Der Landrentmeister flog von seinem Stuhle auf.
„Gerechter Gott, da wohnt ja der Herr Regierungspräsident!“
„Ja, die Propstei ist seine Amtswohnung.“
„Und an ihn dachtet Ihr?“
„Hattet Ihr an einen Andern gedacht?“
„Nein! Aber mein eigener Vorgesetzter! Ein so hoher Beamter!“
[650] „Er wäre nicht der erste hohe Beamte, der stiehlt!“
„Und seinen eigenen Herrn, seinen Landesherrn zu bestehlen!“
„Auch das war schon da. In der Welt giebt es nichts Neues.“
„Und während die Leiche seiner Tochter über der Erde stand!“
„Desto weniger sollte man an ihn denken.“
„Aber was brachte Euch auf den Gedanken an ihn?“
„Allerlei. Zuerst mag er leben wollen. Der Mensch muß zu allererst selbst leben. Dann will er auch wohl eine Aussteuer für seine Enkelin haben. Auch dagegen kann man nichts sagen. Im Gegentheil, wenn der Vater nichts für sein Kind thut, so muß sogar nach den Gesetzen der Großvater eintreten. Und im Grunde nimmt er ja hier nur das Geld des Vaters.“
„Schwarz, Ihr führt lästerliche Reden.“
„Die Polizei darf sich das schon herausnehmen. Aber still! Da höre ich wahrhaftig etwas.“
„Bei Gott!“ rief der Landrentmeister.
„Jetzt aufgepaßt, Freund Aders.“
Sie horchten mit angehaltenem Athem. Hinter der Mauer des Schranks, an dem sie sich befanden, wurde ein Geräusch laut. Woher es rührte, konnten sie nicht unterscheiden; sie vernahmen nur unbestimmte Töne, die theils in gleicher Höhe mit ihnen, theils niedriger, noch tiefer unter der Erde, zu sein schienen.
„Sollte es wirklich der Präsident sein?“ sagte, beinahe jammernd, der Landrentmeister.
„Schweigt, daß man uns nicht hört.“
„Was habt Ihr vor, Schwarz?“
„Schweigt!“
Das Geräusch jenseits der Mauer wurde stärker, deutlicher.
„Es wird an der Mauer, an den Steinen gearbeitet,“ sagte der Landrentmeister.
Der sonst so ruhige, gemessene Mann war in einer Aufregung, die er gar nicht bemeistern konnte.
„Ja,“ sagte ruhig der Polizeibeamte.
„Es ist mehr als Einer da! Sie sprechen mit einander.
„Der Herr und sein Diener,“ sagte der Polizeirath.
„Was werden wir machen, Schwarz?“
„Vor der Hand warten und – schweigen.“
Warten mußten sie; aber schweigen konnten sie bald Beide nicht mehr. Sie waren von ihren Sitzen aufgesprungen und standen unmittelbar an dem Schranke. Sie standen ohne Bewegung, ohne Laut, nur dem Klopfen ihrer Herzen konnten sie nicht gebieten, auch der Polizeibeamte nicht; sie hörten es. Dazwischen vernahmen sie immer deutlicher ein schweres, mühsames Arbeiten an der Mauer.
„Teufel, was machen sie da?“ sagte der Polizeirath. Er konnte es nicht begreifen.
„Oeffnen wir die Thür des Schrankes,“ sprach der Landrentmeister.
„Seid Ihr toll?“ erwiderte der Polizeirath. „Wenn sie Licht hätten und den Schrank offen sähen, so wäre Alles vorbei. Sie müssen erst im Schranke sein, wenn auch nur eine Hand.“
Der Landrentmeister schwieg. Auch hinter der Mauer wurde es still. Die Arbeit hatte auf einmal aufgehört; es wurde auch nicht mehr gesprochen.
„Was ist denn das?“ sagte der Polizeirath.
Es wollte ihm fast unheimlich werden. Da hörten sie wieder sprechen, und die Stimmen waren so nahe, so unmittelbar bei ihnen, als wenn sie schon im Schranke seien. Jedes Wort war zu verstehen.
‚Lassen Sie mich hinein, Herr.‘
‚Du fürchtest einen Hinterhalt?‘
Der Landrentmeister zitterte am ganzen Körper.
„Allmächtiger Gott, er ist es.“
„Und sein Diener. Ich sagte es Euch ja.“
„Was machen wir, Schwarz?“
„Ja, jetzt kommt es darauf an. Verhaltet Euch ganz ruhig. Ich muß sehen, ob sie Licht haben. Sie haben keins. Es ist Alles dunkel geblieben. Durch irgend eine Ritze müßte man irgend einen Lichtstrahl sehen können. Jetzt gilt es. Knarrt die Thür des Schrankes, wenn man sie öffnet?“
„Nein.“
„So öffnet sie. Ihr kennt sie. Aber Ihr zittert ja wie Espenlaub. Laßt mich!“
Der Polizeirath öffnete die Thür, es geschah ohne alles Geräusch. Aber in demselben Moment erstarrte er fast, mit ihm der Landrentmeister. Ihre Augen hatten sich seit einer Stunde an die Dunkelheit gewöhnt; sie konnten darin die Gegenstände wahrnehmen, wenn auch nur unbestimmt. Aus der dunklen Mauer kam langsam etwas Helles, Weißes hervor, bewegte sich einen Augenblick hin und her und verschwand plötzlich wieder. Aber der, helle, weiße Gegenstand hatte einen andern Gegenstand mit sich genommen.
„Eine Goldrolle!“ flüsterte der Landrentmeister dem Polizeirath zu.
„Und es war seine Hand,“ sagte dieser.
„Und er ist uns entgangen.“
„Wird er mit der einen Rolle zufrieden sein? Der Appetit –“
Die weiße Hand erschien zum zweiten Male. Sie war sicherer und schneller, als das erste Mal. Sie brauchte nicht hin und her zu suchen, sondern fuhr wie der Blitz nach einer zweiten Goldrolle und wollte damit zurück. Die nervige Faust des Polizeiraths ergriff, umspannte sie. Beide rangen miteinander, Beide lautlos in tiefer Finsterniß.
„Konrad!“ rief der, mit dem der Polizeirath rang, nach Hülfe.
Der Landrentmeister erkannte die Stimme seines Vorgesetzten.
„Aders, jetzt auch Ihr heran!“ rief der Polizeirath.
Da fühlte er die Hand, die er hielt, erlahmen. Der Schreck, von seinem Untergebenen als Dieb ergriffen zu werden, mußte den Präsidenten gelähmt haben. Aber in dem nämlichen Augenblicke fühlte der Polizeirath etwas Anderes. Ein scharfer Schnitt fuhr durch die Oberfläche seiner eigenen Hand. Die Finger hingen ihm schlaff und blutig herab. Er mußte seinen Gefangenen loslassen.
„Verdammt!“ fluchte er.
Der Cassenbeamte aber athmete laut auf, als wenn ihm ein schwerer Stein vom Herzen gefallen sei.
„Verdammt!“ sagte der Polizeirath noch einmal. „Er ist entkommen. Ihm nachsetzen? Wohin in dieser Finsterniß? Ohne Waffen? Es wäre Unsinn. Aber entgehen kann er mir nicht, ich habe ihn erkannt, ich habe seine Spur. Das Corpus delicti ist hier. Lasse ich mir zunächst meine Hand verbinden; der Schnitt ist zum Glück kein tiefer. Dann weiter!“
Der Präsident saß an seinem Arbeitstische. Vor ihm lagen Briefe und andere Papiere. Er war mit ihnen beschäftigt und las sie; manche sah er nur flüchtig an, er kannte ihren Inhalt schon. Einzelne legte er bei Seite, andere warf er in das helle Feuer des Kamins neben ihm. Er war in seiner vollen Ruhe. Niemand hätte dem strengen, finsteren Gesichte eine Aufregung ansehen können. Er hatte auch Zeit zu dem Durchsehen und Ordnen und Verbrennen der Papiere, denn er hatte sich in dem Zimmer eingeschlossen. Als nach einer Weile an der Thür geklopft wurde, stand er auf, ging zu ihr und fragte, wer da sei.
„Konrad!“ antwortete die Stimme seines Kammerdieners.
Der Präsident schloß die Thür auf und der alte Diener trat ein. Ihm sah man Gemüthsbewegung, Angst an.
„Bist Du fertig?“ fragte ihn der Präsident.
„Ja, Herr.“
„Mit Allem? Das Geld –?“
„Ist an dem bewußten Orte.“
„Und Agathe?“
„Folgt mir auf dem Fuße.“
„Du hörtest draußen noch nichts?“
„Nicht das Geringste. Wir sind noch ganz sicher.“
„Meinst Du? Ah, da kommt Agathe. Geh’, wir folgen Dir in wenigen Minuten.“
Der Diener ging. Agathe trat in das Zimmer in Reisemantel und Reisehut.
„Wir wollen schon heute Nacht fahren, Agathe,“ sagte der Präsident zu ihr.
„Konrad brachte mir Deinen Entschluß, lieber Großvater.“
„Und ich freue mich, daß Du damit einverstanden warst. Der Schlaf wäre doch hier nicht zu uns gekommen… Setze Dich auf das Sopha, mein Kind,“ fuhr er dann fort. „Ich habe noch ein paar Augenblicke an meinen Papieren zu ordnen.“
[651] Er begab sich wieder an seinen Tisch und fuhr fort mit dem Ordnen und Vernichten seiner Briefschaften, vollkommen so ruhig und bedächtig, wie vorhin. Ein großes, versiegeltes Schreiben legte er allein. Agathe hatte sich nicht auf das Sopha gesetzt, sie trat in ein Fenster, drückte das blasse Gesicht an die Scheiben und blickte mit den verweinten Augen in die Nacht hinaus. Das Fenster ging nach dem Walde hin, nach der Gruft, in der ihre Mutter ruhte, auch nach einer andern Stelle. Sie sah still hin; Thränen glitten über ihre Wangen. Der Präsident war fertig und trat zu ihr.
„Du schaust nach Deiner armen Mutter aus?“ sagte er.
„Sie ist da so allein, Großvater.“
„Sie ist bei ihren Ahnen, Agathe.“
„Die Todte bei den Todten!“
„Der Tod versammelt uns Alle wieder. Er trennt, um wieder zu vereinigen.“
Agathe antwortete nicht. Ihr Blick war nach einer andern Seite des Waldes gerichtet. Heiße Thränen stürzten plötzlich aus ihren Augen; sie mußte laut aufschluchzen.
„Komm, mein Kind,“ sagte der Präsident.
Er wußte wohl nicht ganz, was diese neuen Thränen bedeuteten. Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich aus dem Zimmer.
„Deine Reisekleidung, Großvater?“ frug sie dann, in all’ ihrem Weh und Schmerz fähig, auf den Greis zu achten.
„Konrad wird sie in den Wagen gelegt haben.“
Er sprach es freilich in so sonderbarem Tone, und darauf achtete sie nicht. Er führte sie zu dem Reisewagen, der draußen an dem Portale hielt. An dem Schlage des Wagens stand der Diener Konrad, der Kutscher saß auf dem Bocke. Weiter war Niemand da. Der Präsident hatte es so befohlen. Er hob das Kind in den Wagen.
„Fahre langsam voran,“ sagte er zu dem Kutscher, „bis an das Hofthor.“
„Wo bleibst Du, Großvater?“ fragte Agathe.
„Ich hatte etwas vergessen. Ich muß mit Konrad auf einen Augenblick in das Haus zurück. An dem Thore werden wir wieder bei Dir sein.“
Das Mädchen beruhigte sich. Der Wagen fuhr langsam voran. Herr und Diener waren stehen geblieben.
„Konrad, Du fährst mit dem Kinde allein. Du weißt Alles.“
„Und Sie, Herr?“
„Ich bleibe hier.“
„Was haben Sie vor?“
„Frage nicht.“
„Herr, ich beschwöre Sie.“
„Geh!“
„Herr, Herr, ich verlasse Sie nicht. Ich kann es nicht.“
„Willst Du das Kind allein lassen?“
„Ich hole sie zurück.“
„Um sie zu tödten?“
„Großer Gott, was soll ich?“ rief der alte, treue Diener in seiner Verzweiflung.
„Deinem Herrn gehorchen,“ sagte ruhig der Präsident.
Der Diener hatte keine Gegenworte mehr, aber ein inneres Entsetzen schüttelte seinen Körper.
„Was sage ich dem Kinde?“ fragte er nur noch.
„Was Du willst.“
Herr und Diener trennten sich. Konrad eilte dem Wagen nach. Der Präsident blieb an dem Portal stehen. Als er nach einigen Minuten den Wagen fortrollen hörte, immer weiter, bis er durch die stille Nacht nichts mehr vernahm, wollte er in das Haus zurückkehren. Da wurde auf einer andern Seite etwas laut. Von der Stadt her kam ein Wagen mit Reitern näher.
„Ah,“ sagte der Präsident und er blieb stehen, wo er stand.
Der Wagen fuhr, die Reiter sprengten in den Hof. An dem Portal schwangen sich einige aus den Sätteln. Unter ihnen war mit seiner verbundenen Hand der Polizeirath Schwarz. Er wollte seinen Begleitern Befehle ertheilen. Der Präsident trat aus dem Dunkel des Thores auf ihn zu.
„Sie suchen mich, Herr Polizeirath?“
„Ah, mein Herr Präsident –!“
„Ich bin Ihr Gefangener.“
Der Polizeirath hatte sich von seiner Ueberraschung erholt.
„Herr Präsident, ich werde Sie bitten müssen, diesen Wagen zu besteigen.“
„Hm, Herr Polizeirath, dürfte ich Sie vorher bitten, mich auf einen Augenblick in meine Wohnung zu begleiten? Nur um mich umzukleiden. Ihre Gensd’armen nehmen Sie mit.“
„Wie Sie befehlen, Herr Präsident.“
Der Präsident und der Polizeirath, gefolgt von zwei Gensd’armen, gingen in das Haus.
Am dritten Abende nach den bisher erzählten Begebenheiten bewegte sich wieder ein Leichenzug aus der Propstei nach dem Walde hin und nach dem Grabgewölbe, das der Landesherr der Familie der Freiherren von Ballard als Erbbegräbniß überlassen hatte. Diesmal war es ein glänzender Leichenzug; sechs schwarz gekleidete Männer trugen den Sarg und hinter diesem ging ein Herr, der auf sammetnem Kissen eine Menge Orden trug, die in seinem Leben den Verstorbenen geschmückt hatten.
Dann kam das große Leichengefolge; zuerst der Wagen des Fürsten, des Herrn des Landes; zu Fuße folgte eine unabsehbare Reihe von Herren, wieder zuerst ein Adjutant des Fürsten, als dessen Stellvertreter. Neben ihm ging der zweite Präsident der Regierung, deren erster Präsident der Verstorbene gewesen war; auch das ganze Collegium und sämmtliche Beamte der Regierung waren da und sämmtliche andere Behörden der großen Provinzstadt waren vertreten und die Bürgerschaft in allen ihren Schichten. Waren doch der Wagen und der Adjutant des Fürsten an der Spitze des Zuges! Da drängte sich Alles zu der Theilnahme.
Aber Eines fehlte dem ernsten Trauerzuge, jene stille, ernste Trauer, mit welcher vor drei Tagen die arme Frau auf demselben Wege zu der Gruft ihrer Ahnen geleitet worden war.
Und Agathe fehlte. Damen waren ja gar nicht in dem Zuge.
Der Adjutant und der Vicepräsident und die Räthe der Regierung gingen in feierlicher Stille; ihre amtliche Stellung forderte das. Die Subalternbeamten durften dagegen leise miteinander sprechen; hinten im Zuge hielt man sich ungenirter.
„Ein eigenthümlicher Todesfall, dieser!“
„Ich denke, ein geheimnißvoller!“
„Und jeder geheimnißvolle Todesfall ist schon eben darum ein eigenthümlicher, und wenn Leute, die über diesen Auskunft geben können, reden wollten –“ Der Sprechende brach ab.
„Der Polizeirath Schwarz zum Beispiel,“ sagte der Andere.
„Auch der Landrentmeister Aders,“ warf der Erste geheimnißvoll hin.
„Sie meinen wirklich?“
„Daß in der Casse Geld gefehlt hat, ist nicht zu bestreiten.“
„Und der Präsident hätte es bekommen?“
„Daß die Welt es sagt, wissen Sie so gut, wie ich.“
„Die Welt sagt viel.“
„Gewiß. Aber warum dieser plötzliche Selbstmord?“
„Ist nicht auch er nur ein Gerede der Welt, oder vielmehr der Stadt? Die besser Unterrichteten sprechen von einem plötzlichen Schlaganfall.“
„So sprechen die besser Unterrichteten in jedem solchen Falle. Allein, um nur Eins anzuführen, warum hätten, noch bevor man von Tod oder Krankheit eine Ahnung hatte, Polizei und Gensd’armen die Propstei besetzt? Erst während sie da waren, starb der Präsident plötzlich; man sagt, nachdem er sich auf kurze Zeit von den Beamten entfernt hatte und in sein Arbeitszimmer gegangen war.“
„Es ist allerdings auffallend.“
„Sodann vernehmen Sie Folgendes: Unmittelbar darauf, an dem späten Abende, fuhr der Polizeipräsident mit dem Polizeirath und dem Landrentmeister nach dem fürstlichen Schlosse, dort hinten im Walde, eine Meile von hier, in dem sich der Fürst gerade zur Jagd aufhielt. Sie erhielten noch in der Nacht Audienz; der Fürst sprach lange mit ihnen. Dann mußte der Polizeirath noch in der nämlichen Nacht weiter. Die Enkelin des Präsidenten hatte gerade vor der Ankunft der Polizei und Gensd’armen, also auch kurz vor dem Tode ihres Großvaters, die Propstei verlassen; nur der alte Kammerdiener des Präsidenten hatte sie begleitet. Ihnen mußte der Polizeirath nachsetzen; er hatte den Weg erfahren, den sie genommen hatten. Er hatte sie freilich diesseits der Grenze [652] nicht mehr eingeholt; die Grenze ist nur sechs Meilen von hier. In ihrem Wagen soll sich das sämmtliche Geld befunden haben, das in der Casse fehlte, man spricht von nahe an hunderttausend Thalern. Es war mit den Beiden über die Grenze gekommen; sie waren dort damit in Sicherheit; wir haben ja nicht einmal einen Cartelvertrag mit dem Nachbarlande. Dennoch sind die Beiden wieder hier, seit gestern schon, und sie sind nicht verhaftet, sie gehen frei umher.“
„Und das Geld?“ fragte der Begleiter des Erzählenden.
„Nun, wo das Fräulein ist, da wird auch das Geld nicht fern sein. Sie wissen, von welchem nahen Verhältnisse zwischen dem Fürsten und dem Fräulein man spricht.“
„Aber warum hätte dann der Präsident sich das Leben genommen?“
„Fragen Sie lieber, warum er heimlich das Geld aus der Casse genommen hätte.“
„Freilich! Und Ihre Antwort darauf ist?“
„Ich weiß es nicht, und – wir sind an der Gruft, und das Grab deckt Vieles zu.“
Der Zug war an dem Grabgewölbe angelangt; Der Geistliche stand in der Thür, die Leiche zu empfangen, die in das Gewölbe getragen und dann niedergesetzt wurde. Der Sarg der Tochter des Präsidenten hatte die letzte Reihe der Särge geschlossen. Der Sarg des alten Präsidenten eröffnete eine neue Reihe, um für alle Zeiten der erste und der letzte zu bleiben. Mit ihm war sein Geschlecht ausgestorben.
Als das Leichenbegängniß vorüber, als Alles fort war, was den Zug gebildet hatte, als um den Hügel und im Walde wieder die tiefe Stille herrschte und das Dunkel des Abends hereingebrochen war, als ein Diener der Propstei das Grabgewölbe verschließen wollte, da traten aus dem Dunkel des Abends noch langsam und leise zwei Personen heraus, ein junges Mädchen und ein alter Mann. Sie stiegen schweigend den Hügel hinauf. Der Diener trat vor ihnen zurück und ließ die Thür des Gewölbes offen. Sie schritten in die Todtengruft. Agathe warf sich an dem Grabe ihres Großvaters auf die Kniee und lag lange in ihrem stillen, innigen und schmerzlichen Gebete; der alte Diener Konrad stand stumm neben ihr. Als das Kind sich wieder erhob, reichte sie dem Greise die Hand.
„Wie hat er mich geliebt Konrad! Er, der stolzeste Mann der Welt, gab für mich seine Ehre hin. Zu stolz, für mich zu bitten, zu fordern, wurde er zum Diebe für mich, und dann –“
Sie konnte vor Schmerz und Thränen nicht weiter sprechen. Der alte Diener aber sagte zu ihr:
„Und bist Du nicht seine würdige Enkelin? Liebtest Du ihn nicht, wie er Dich? Warst Du nicht stolz, wie er? Nein, stolzer, als er es war? Ihn hatte zugleich eine furchtbare Verblendung ergriffen; Du handeltest mit dem klarsten und edelsten Bewußtsein.“
Und er hatte Recht, der alte Mann. Agathe hatte mit dem klarsten und edelsten Bewußtsein gehandelt, und so handelte sie ferner. Sie hatte an jenem Abend mit dem alten Diener das erste Städtchen jenseits der Grenze erreicht und hatte dort angehalten. Der Großvater wollte sich hier mit ihr vereinigen, hatte der Diener ihr gesagt, und sie wollte ihn erwarten. Statt des Erwarteten war nach einigen Stunden der Polizeirath Schwarz gekommen. Er hatte in dem fremden Lande keine Gewalt über sie. Sie wären hier nicht einmal auf seine Requisition angehalten worden. Er verfolgte sie auch nicht eigentlich; er wollte sich nur die mögliche Gewißheit über das Geschehene und vielleicht irgend eine Sicherung für die Wiedererlangung der entwendeten Cassengelder verschaffen. Er wußte zu Agathe zu gelangen. Der Diener Konrad hatte ihn nicht zurückhalten können.
„Mein gnädiges Fräulein, ich muß mich mit einer Trauerbotschaft bei Ihnen einführen.“
Er theilte ihr mit, daß ihr Großvater nicht mehr am Leben sei; ein plötzlicher Schlagfluß habe ihn gleich nach ihrer Abreise getödtet. Agathe drohte umzusinken. Der Polizeirath kannte das menschliche Herz.
„Mein gnädiges Fräulein, ich habe Sie auf noch Schwereres vorzubereiten. Aus der Regierungscasse ist eine bedeutende Summe Geldes auf unerklärliche Weise entkommen. Es kann nur in die Hände Ihres Großvaters gelangt sein, und ich habe Grund zu vermuthen, daß es sich in dem Wagen befindet, der Sie hierhergebracht hat.“
Da erhob das Mädchen, das Kind, sich in der vollen Reinheit ihres Herzens, in ihrem edelsten Stolze.
„Mein Herr, untersuchen Sie den Wagen. Konrad!“ rief sie.
Der Diener kam und sie gingen gemeinschaftlich zu dem Wagen.
„Konrad, ist in diesem Wagen Geld verborgen?“
Ein halber Blick auf das edle Mädchen zeigte dem braven Manne, was er zu thun habe. Er öffnete einen verborgenen Kasten des Wagens. Der Kasten war mit Goldrollen angefüllt. Agathe war kreideweiß geworden. Sie mußte sich krampfhaft an dem Arme des Dieners festhalten.
„Er that es für Dich, Agathe,“ flüsterte der alte Mann ihr zu. „Er wollte Dich glücklich machen.“
Sie wußte Alles. Sie hatte ihre Fassung wieder.
„Mein Herr, ich bin Ihre Gefangene!“ sagte sie zu dem Polizeirath.
„Nicht meine Gefangene, mein gnädiges Fräulein. Aber es wird Ihnen ein Bedürfniß sein, in der Nähe des theuren Todten zu weilen.“
Es war so. Agathe kehrte zu der Propstei zurück. Mit ihr der alte Diener. Er wußte, was ihm bevorstand; denn er war der Theilnehmer an dem schweren Verbrechen des Präsidenten. Er konnte das Mädchen nicht verlassen. Der Polizeirath hatte das Geld an sich genommen; es fehlte nichts daran. Er übergab es dem Polizeipräsidenten, und dieser fuhr zu dem fürstlichen Jagdschlosse in der Nähe der Stadt, dem Fürsten den Bericht von den neuen Ereignissen abzustatten. Der Fürst befahl, von der Sache durchaus kein weiteres Gerede zu machen.
Am andern Morgen erschien bei Agathen ein alter Kammerherr, ein Vertrauter des Fürsten. Er kam im Auftrage desselben, ihr das Geld zurückzubringen; der Fürst hatte so viel hinzugesetzt, daß es die volle Summe von hunderttausend Thalern war. Agathens schönes Gesicht wurde bei dem Anerbieten von glühender Röthe übergossen, dann wieder kreideweiß.
„Nein, mein Herr!“ rief sie. „Sagen Sie Seiner Hoheit meinen Dank. Ich kann von dem Gelde nichts annehmen, keinen Pfennig.“
Der Kammerherr stand wie erstarrt.
„Aber Sie sind arm, mein gnädiges Fräulein!“
„Ich kann arbeiten.“
Der Kammerherr mußte mit dem Gelde zurückkehren. Einen Augenblick hatte sie geschwankt. Es war plötzlich ein Gedanke in ihr aufgetaucht. Aber sie wies ihn zurück, wie er gekommen war.
„Ich wollte etwas für Dich behalten,“ sagte sie zu dem alten Konrad. „Aber ich werde auch für Dich arbeiten.“
Der Greis drückte ihr dankbar die Hand.
„Ich hätte es noch weniger nehmen können, als Du.“
So waren das Mädchen und der alte Mann, als der Pomp der von dem Fürsten befohlenen Leichenfeier vorbei war, zu der Todtengruft gegangen, um dem geliebten Verstorbenen ihren stillen Schmerz zu weihen. Und von der Gruft kehrten sie nicht in die Propstei zurück. Sie gingen in den dunkeln Wald hinein, eine halbe Stunde lang. Dann hatten sie ein kleines, aber freundliches Haus erreicht. Ein Fenster unten an der Erde war hell darin.
„Bleib’ Du ein paar Schritte zurück,“ bat das Mädchen ihren Begleiter.
Sie trat allein an das helle Fenster und blickte hindurch in ein freundliches und reinliches Stübchen. Eine alte Frau saß darin, und ein junger Jägersmann mit frisch blühendem, kräftigem und doch so mildem Gesichte. Mutter und Sohn sprachen mit einander, und das Mädchen konnte ihre Worte hören.
„Mutter,“ sagte der junge Mann, „Du hast gehört, was Agathe gethan hat. Wird sie Dir auch ohne Geld eine liebe Tochter sein?“
„Hätte sie das Geld nicht vielleicht hochmüthig gemacht, mein Sohn?“ fragte die Mutter dagegen.
„Sie nicht! Sie nimmer!“
„Aber ich würde es immer gefürchtet haben. Und so recht aus dem Herzen lieben könnte ich sie nur, wenn sie wie Unsereins zu uns käme und bei uns bliebe.“
[653]
[654] „So komme ich zu Euch und so werde ich bei Euch bleiben!“ rief das Mädchen durch das Fenster, und der junge Förster sprang hinaus und schloß sie in seine Arme und führte sie im Triumphe in sein Haus und zu seiner Mutter.
Manches Jahr war Agathe in dem kleinen Försterhause seine treue Försterin. Dann freilich – der Fürst war gestorben und sein Sohn – von Kron- und Erbprinzen hofft man immer Besseres und man spricht daher immer das Beste von ihnen, bis sie Regenten geworden sind – der Sohn des Fürsten machte eine Ausnahme, er wurde, was er und was man sich von ihm versprochen hatte, und der junge Fürst kam auch eines Tages in die kleine Försterei, um die junge Försterin zu sehen und dem Förster anzutragen, daß er sein Oberförster werde und in das Jagdschloß ziehen möge. Und das junge Paar zog in das schöne Jagdschloß, und nur die Erinnerung an das unglückliche Leben ihrer Mutter und das traurige Ende ihres Großvaters legte dann und wann einen trüben Schleier um Agathens Glück.
Auch mitten im letzten Kriege hat es, oft in der Nachbarschaft der Kampfstätten selbst, von allem Waffenlärm unberührte friedliche Oasen gegeben, in denen äußerlich das Leben seinen altgewohnten Gang ging, als fluthe ein Ocean zwischen ihrer idyllischen Ruhe und dem Weltbrand draußen. Nach einer solchen friedlichen Oase, in der ich mich auf ein paar Tage von der fieberhaften Aufregung erholen wollte, wie sie damals, ehe vor Königgrätz die Entscheidung gefallen war, die widersprechendsten Berichte von dem großen Kriegsschauplätze in Böhmen über die Gemüther brachten, bitte ich den Leser mich zu begleiten. Es ist überdies ein so charakteristisches Stück deutscher Erde, wohin ich ihn führe, daß ihn sicher der Gang nicht reuen wird. –
Der Juni neigte sich dem Ende zu. Durch das hochgewachsene Korn, das zu beiden Seiten der Straße seine schweren Halme im Winde beugte, schritt ich der alten Reichsstadt Nördlingen zu, deren hoher altersgrauer Thurm mir schon von ferne freundlich entgegenleuchtete. Dann tauchten Gärten auf, Mauern, Zwinger, stattliche Gebäude und Alleen, die sich im klaren sommerlichen Dufte zu einem prächtigen Bilde vereinten. Aber ich ging nicht allein durch die gesegnete Landschaft, überall wogte es von fröhlichen Menschen, die zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen mit mir demselben Ziele zustrebten: der Nördlinger Messe, welche vierzehn Tage lang andauert und ein Fest ist für das ganze Ries.
Welch’ buntes, mannigfaltiges Getreibe entwickelt sich da vor unsern Augen, gleichsam überwacht von dem alten Thurme der gothischen St. Georgskirche, der auf die vielen Menschen herabschaut, die sich von nah und fern hier vereinigt haben! Da liegen Tuchstoffe, Spielwaaren von Nürnberg, vielerlei Hausgeräth, Töpfergeschirr und all’ die Siebensachen, deren eine sorgsame Hausfrau bedarf. Mehr als die aufgestapelten Waaren und ihre meist israelitischen Verkäufer interessiren uns jedoch die Käufer. Städtische und ländliche Moden wogen da durcheinander; aber unser Auge bleibt immer und immer wieder auf den ländlichen Schönheiten hangen, die in ihrer kleidsamen Tracht mit ihren oft zierlichen und feinen Gestalten den städtischen Damen den Rang streitig machen.
Es war der zweite Meßsonntag, der sogenannte Bauerntag, an welchem von nah und fern alle ledigen Dorfleute nach Nördlingen geströmt waren. Drum sah man sie auch in ihren besten Kleidern und zwischen den schmucken Mädeln die strammen Burschen umherschäkernd. In der dunkelblauen Tuchjacke mit silbernen Knöpfen, schwarzen, knapp anliegenden Hosen vom schönsten Hirschleder und hohen über die Kniee gezogenen Stiefeln, die Kappe von Fischotter auf’s rechte Ohr gesetzt und den silberbeschlagenen Ulmer Pfeifenkopf im Munde, stolzirten die jungen Männer muthig einher und freuten sich des Tanzes, der da kommen sollte, denn außer der Kirchweih bietet nur noch die Nördlinger Messe der Dorfjugend eine Tanzgelegenheit.
Aber hier, wo die Stadtluft auf dem Landmanne liegt, können wir seine Bekanntschaft nicht machen, wir müssen mit ihm wieder hinaus vor die Thore der Stadt in sein Ries, diese besondere kleine Welt mit ihren Eigenthümlichkeiten und Gegensätzen. Denn dieser Gau, der sich wenige Stunden nördlich von der Donau längs der bairisch-würtembergischen Grenze hin erstreckt, wird von zerstreut durcheinander lebenden Protestanten und Katholiken bewohnt, die im nordöstlichen Theile (bei Oettingen) zum fränkischen, im südwestlichen jedoch zum schwäbischen Stamme zählen und theils Baiern’s, theils Würtemberg’s Staatsangehörige sind.
Am besten überschaut man den ganzen Gau von dem grauen Felsen des Fleckens Wallerstein, der einst das alte Schloß und jetzt die fürstliche Brauerei trägt, in welcher wir uns einen guten Trunk aus dem gepichten Bauche der hölzernen „Bitsch“ wohlschmecken lassen. Zu unseren Füßen liegt der Marktflecken mit dem fürstlichen Palais und dem Parke. Im Norden schaut Schloß Baldern in’s Ries herein; im Westen schweift der Blick bis zum Nipf, der sich bei Bopfingen, dem Abdera der Rieser, erhebt. Eine Stunde entfernt, nach Süden zu, sehen wir die mauerumkränzte Stadt Nördlingen; weiterhin die Ruine Hochaus, die ehemalige Benedictiner-Abtei Deggingen, sowie eine Menge stattlicher Dörfer, Kirchthürme und Klöster. Und zwischen diese Sitze der Menschen drängen sich gesegnete Felder, üppige Wiesen und grüne Wälder, in ihrer Gesammtheit eine fröhliche Landschaft bildend, deren bester Schmuck die arbeitsamen, gewerbthätigen und gemüthlichen Menschen sind. Haben die Rieser Bauern auch durch den Alles nivellirenden Strom der neuen Zeit vieles Alterthümliche in Sitten und Gebräuchen eingebüßt, so ist doch noch gar manches Eigenartige bei ihnen übrig.
Der Rieser ist ein echter freier Bauer, kein Pächter eines großen Herrn; er sorgt für seinen eigenen Hof und bestellt mit den Knechten und Mägden (den „Ehehalten“) den ererbten Grund und Boden. Er ist Pflüger, Schnitter und „Mahder“ (Mäher) im Sommer, drischt im Herbste sein Getreide aus, während die Frauen und Mädchen daheim spinnen, und fährt im Winter in die Waldungen, um Holz zu holen, oder er bringt das Korn zum Verkaufe in die Stadt, wo er feilscht und marktet. Unter der „Stadt“ vorzugsweise ist im Ries aber immer Nördlingen zu verstehen.
Eine Abwechselung ist es ihm dann, wenn eine Hochzeit im Dorfe stattfindet, die nach alter Sitte mit Essen und Trinken, Spiel und Tanz im Wirthshause gefeiert wird. Nach überliefertem Brauche gehört der Tanzboden von Mittag bis Abend den Hochzeitgästen. Hat aber nach der Abendmahlzeit und nach Abgabe der Hochzeitsgeschenke der Schulmeister eine Dankrede in Versen gehalten und mit seinen Zöglingen ein geistliches Lied gesungen, dann kündigt ein weltlich Lied, das ein kecker Bursche sich anzustimmen erlaubt, die Herrschaft der jungen Leute des Dorfes an. Das Brautpaar läßt sich von den Musikanten noch heimblasen und erst in der Stube des Brautpaares wird der Kehraus getanzt. So mischten sich Weltliches und Geistliches in der Ordnung des Festes, doch ist in den letzten Jahrzehnten Manches anders geworden, der die hochwürdige Geistlichkeit das Absingen der Choräle und die wohlweise Polizei das Heimblasen anstößig fand.
Der Inbegriff aller Fröhlichkeit und aller Genüsse des Dorfes, das Hauptfest im ganzen Jahre, ist aber die Kirchweih. Zur Zeit des alten deutschen Reiches erhielt die Rieser Kirchweih außer der kirchlichen noch eine gerichtliche Sanction. Der Amtsknecht der betreffenden Behörde verkündete feierlich das „Friedbot“ und tanzte beim „Platzaufführen“ die ersten Reihen allein. Die Stelle des Büttels übernimmt jetzt – oder wenigstens war dies noch vor etlichen Jahren der Fall – ein Bursche aus dem Dorfe, der sich durch einen geputzten dreieckigen Hut auszeichnet und das Fest auf dem Platze unter der Linde durch dreimaliges Alleintanzen einleitet. Früher tanzte man im Ries Walzer, [655] Dreher und Schweinauer, daran reihten sich allerlei Specialtänze, wie der Hans Adam, Hansel im Saustall und Gretel auf dem Mist. Zu diesen sinnigen Erfindungen hat dann die Neuzeit noch Française, Varsovienne, Mazurka und andere Tänze gebracht. Sobald sich die Musikanten unter der Linde aufgestellt haben, zieht der Platzmeister seinen Säbel und tanzt unter Absingung eines alten Liedes dreimal allein um die Linde. Dann erst beginnt der Tanz der Paare und wir haben Gelegenheit, die Rieser Mädchen in ihrer Schönheit und Gewandtheit zu beobachten. Noch erscheinen sie in ihrer kleidsamen Nationaltracht, aber bereits greift das französische Costum um sich und wirkt verändernd aus die Kleidung der Landleute ein, die vor noch nicht gar langer Zeit spöttisch auf die „langrocketen“ Städter herabschauten.
In der neuern Zeit hat das Ries in Melchior Meyr seinen eigenen Dichter gefunden; besser als er hat uns Niemand die Menschen darin geschildert; er hängt mit begreiflicher Liebe an diesem fruchtbaren Gau, denn er ist dort geboren und hat in ihm seine schönste Jugendzeit verlebt. Als Gymnasiast und Student lebte er das fröhliche Rieser Leben mit und nahm, wie er selbst sagt, mit nie versiechender Freude dessen Eigenthümlichkeiten in sich auf. Schon im Jahre 1835 beschrieb er uns in dem ländlichen Gedichte „Wilhelm und Rosine“ seine Heimath; dann erschien 1852 seine erste Erzählung aus dem Ries „Ludwig und Annemarie“, welche so viel Anklang fand, daß der Verfasser eine Anzahl anderer Dorfgeschichten aus dem Rieser Leben folgen ließ. Sie alle geben ein dichterisch-treues Abbild des Rieses und seiner Menschen, eines Völkchens von eigenthümlicher Art und Sitte, das, durch seinen Beschreiber aus der Dunkelheit herausgerissen, überall im deutschen Vaterlande durch ihn sich Freunde erworben hat. Unsere Abbildung, welche uns Bauer und Bäuerin des Riesgaues in ihrer kleidsamen Tracht mit photographischer Treue darstellt, veranschaulicht eine Scene aus einer dieser vortrefflichen Meyr’schen Erzählungen, aus seiner „Lehrersbraut“, in welcher der Verfasser ein liebendes Paar geschildert hat, das nach mancherlei Schicksalen doch endlich sich glücklich zusammenfindet. Die schöne Christine hatte die an ihrem Vetter Hans begangene Untreue dadurch abgebüßt, daß sie als Magd bei einem groben und rohen Bauer in Dienste trat. Dort flammte heimlich, aber mächtig, die alte Leidenschaft zu dem verstoßenen treuen Hans wieder in ihr auf, der unterdessen Christinens Mutter redlich die Wirthschaft führte. Als er erfuhr, wie das Mädchen ihm wieder zugethan sei, beschloß er, ohne der Alten etwas davon zu sagen, Christine als seine „Hochzeiterin“ heimzuholen und ihr Alles zu verzeihen. Eines Sonntags spannt er sein Wägelchen an und bringt unerwartet die Geliebte unter das mütterliche Dach zurück. Im Hofe angekommen steigt der Bursche ab, die Mutter eilt aus dem Hause ihn zu begrüßen. Sie hat auf dem „Gefährt“ bei einem flüchtigen Blick durch’s Fenster neben Hans ein Mädchen gesehen und angenommen, es sei die erwählte Braut, die er gleich zum Besuch mitbringe. Mit schwerem, zagendem Herzen schaut sie auf den Wagen – und erkennt ihre eigene Tochter!
Die Illustration ist übrigens nur ein Blatt aus einem ganzen Cyklus von fünfzehn Compositionen, mit welchen Carl von Enhuber Meyr’s Erzählungen aus dem Ries theils schon illustrirt hat, theils noch zu illustriren gedenkt. Dreizehn dieser Bilder waren bereits im letzten Frühjahre im Kunstverein zu München ausgestellt und hatten sich eines außerordentlichen Erfolgs zu erfreuen. Sie sind zum Zweck photographischer Vervielfältigung grau in Grau gemalt, und der Künstler hofft, die ganze Reihe in nicht zu langer Zeit vorlegen zu können. Bis jetzt sind nur die zu der „Lehrersbraut“ gehörenden drei Zeichnungen veröffentlicht.
Madame!
Als Sie mich vor Kurzem fragten, weshalb ich die Kirche, diesen Zufluchtsort der wahren Frömmigkeit, so wenig besuche, antwortete ich Ihnen einfach: Gottes schöne Natur sei meine Kirche und der Gesang der Vögel meine Kirchenmusik. Ihre rosigen Lippen verzogen sich, Sie warfen einen frommen Blick gen Himmel und einen zweiten mitleidigen auf mich, als bedauerten Sie in mir eine Seele, die rettungslos verloren ihrem Untergange zustürme. Und als ich auf Ihre zweite Frage, wie lange ich nicht zur Beichte gegangen, ebenso offen entgegnete: Seit meiner Aufnahme in den Christenbund, und wie ich nicht gehen würde, so lange die menschliche Vernunft mir noch sage, daß kein Mensch, und trete er im geweihten Kleide des Priesters auf, das Recht habe, die Sünden zu vergeben, da wichen Sie abwehrend von mir zurück und nannten mich einen Ungläubigen, einen – Gotteslästerer!
Madame, Sie sind schön, sehr schön, Sie haben fromme, große Madonnenaugen und zu Zeiten auch lichte Augenblicke, wo Sie gut sein können. Ich habe Sie bewundert, als Sie vor wenigen Wochen auf dem Balle des Bankier F. mit fromm-demüthiger Miene, – Sie, die schöne überall gefeierte Frau – um ein Almosen für einen neu zu begründenden Jünglingsverein bettelten, und lernte Sie achten, als ich Sie in Ihrer Häuslichkeit als Mutter sah. Sie haben ein Herz, ohne es zu wissen. Aber, Madame, Sie haben um Ihr Herz eine Rinde gelegt, eine Rinde, so fest und sicher, daß kein Athemzug Menschlichkeit, kein Körnlein Gemüth hinein kann, selbst wenn das Herz oft darnach lechzte. Und diese Rinde heißt der – kirchliche Glaube.
Sie werden mitleidig lächeln und wieder abwehrend Schweigen winken. Und doch ist’s wahr, was ich sage, und ist Alles so einfach gekommen. Ich könnte Ihnen erzählen, wie sich diese Rinde gebildet, wie Sie anfangs im Ringen der Seele nach dem Höhern nur geistigen Halt und Erbauung gesucht und wie Sie, damals mit dem freien Sinn für alles Gute und Schöne, in die Hände eines Mannes fielen, dessen höchste Lust es war, diesen so warmen Drang, diese noch unbestimmte jugendlich-weiche Sehnsucht nach Klarheit und religiöser Gemüthsbefriedigung mit diabolischem Geschick so zu lenken, daß Sie allmählich im engen Fahrwasser kirchlichen Formelwesens sich befanden und die Fesseln einer strengen und finstern Dogmatik als das einzig erstrebenswerthe Gut eines menschlichen Daseins betrachteten. Statt Klarheit und Wissen, die Sie suchten, statt der gewiß echt religiösen Seelenweihe, nach der Sie verlangten, ward Ihnen der Glaube, anstatt eines freien geistigen Haltes jene wundergläubige, nebelhafte Kirchlichkeit, die Sie nun den alleinseligmachenden wahren Glauben nennen. Nicht jener Glaube ist Ihr Eigenthum, den jeder Mensch in sich trägt, jener Glaube an das Ewig-Wahre, Ewig-Göttliche, nein, nur der starre todte Glaube an einzelne Aufstellungen und Behauptungen, an Mythen und Legenden einer verschollenen Märchenzeit, welche die Herzen der Menschen weder gut noch fromm machen. Und dieser Glaube ist jetzt Ihre Tugend, Ihre Frömmigkeit.
Sie sind nicht fromm, Madame, sondern nur eine Fromme! Das heißt mit andern Worten: Ihr Beten, Singen und Himmelanrufen kommt nicht aus dem innersten Triebe Ihres Gemüths, nicht aus den geheimsten Tiefen Ihres Herzens, nein, Ihre Frömmigkeit geht nur aus der knechtischen Furcht vor den Ihrer Phantasie vorgespiegelten Strafen des Jenseits, oder aus egoistischen Hoffnungen auf Belohnung hervor. Nicht weil das Gute gut ist, würden Sie gut handeln, nein lediglich deshalb, weil das Gute Ihnen eine Stufe in den Himmel baut. Ihre Frömmigkeit ist keine That der Freiheit, kein Ergebniß des eigenen Willens, sondern nur die sclavische That eines künstlich in Ihnen erzeugten und gewaltsam von Ihnen festgehaltenen Knechtssinns, der willenlose unfreie Gehorsam, den Sie nicht der Religion, sondern der verderblichen, alle Selbstthätigkeit, alles eigene Urtheil, allen frischen Aufschwung des Geistes herabdrückenden Richtung einer herrschsüchtigen Priester-Partei entgegenbringen.
Es mag hart erscheinen, was ich sage, aber es ist so. Und bliebe es nur bei der Umdüsterung des Blickes, bei der Niedertretung des Verstandes allein! Aber wie giftiger Mehlthau hat sich der umstrickende Bann auch auf die herrlichsten Regungen, die duftigsten Blüthen Ihres Gemüths gelegt, daß Sie dieser Frömmelei Alles unterordnen, was Sie im Leben so lieb und so herzig machen könnte! Niemals werde ich jene Stunde vergessen, in der Sie am Sarge Ihres kleinen Neffen standen und der Vater – nach Ihrer Meinung auch ein Ungläubiger – schmerzgebeugt am [656] Kopfende des stillen Häuschens kniete und die kalte Hand seines einzigen Kindes mit Küssen bedeckte. Wie war es möglich? Sie hatten keinen Trost für den armen Mann, kein Wort der Theilnahme, und als er in seinem Schmerz nach Ihrer – nach der Schwester Hand faßte, als ob er dort eine Stütze seines zerstörten Glückes finden könne, da wandten Sie sich mit kalter Strenge ab und sagten nur: „Sieh’, Carl, das ist die Strafe für Deine Ungläubigkeit.“ –
O Madame, der Himmel segnete Sie, indem er Sie tagtäglich noch das süße Wort Mutter hören läßt; behüte Sie der Himmel nun auch vor jenem letzten dumpfen Hammerschlage, der das Kind für immer von der Mutter trennt, damit Sie sich niemals jener unseligen Stunde erinnern, in der Sie in Ihrer Starrgläubigkeit für den Schmerz eines Vaters keinen Trost hatten, kein linderndes Wort – nichts als die Hinweisung auf die Rache eines zürnenden Gottes!
Madame, ich muß es wiederholen, Sie sind nicht fromm, obwohl Sie täglich Ihre schönen Augen zum Himmel aufschlagen und niemals die Kirche versäumen. Der innerste und, wie ich glaube, noch unangefressene Kern Ihres Herzens weiß nicht, was Ihre Lippen sprechen, was Ihre Hände thun. Sie lispeln Worte, die in Ihrer Brust nicht geboren, in Ihrer Brust nicht wiederklingen. Der so bequeme und wohlfeile Glaube, mit diesen auswendig gelernten Phrasen den Himmel zu verdienen und mit leeren Worten dem Schöpfer des Weltalls zu gefallen, läßt Sie eine Rolle spielen, die in Stunden stiller Einkehr Ihnen selbst als unreligiös erscheinen muß. Sie vergessen, daß man eine Heilige auch ohne Gebet sein kann. Sie meinen, Religion bestehe nur in der Ausübung kirchlicher Formen, in dem starren Festhalten am Hergebrachten, in der Aufrechthaltung äußerlicher Satzungen. Ah, Madame, die Bibel ist ein schönes liebes Buch, und man muß es nur zu lesen verstehen, aber die Bibel selbst widerspricht jener Auffassung von Religion und die alten Propheten donnern mit feurigen Zungen gegen solches kirchliche Formelwesen!
Als ich Sie vor Kurzem – wir hatten über die Forderung der Durlacher Versammlung für freie rationelle theologische Forschung gesprochen – über Ihre Meinung darüber und über die freisinnige badische Geistlichkeit fragte, blitzten Ihre Augen zornig auf. „Hätte ich die Macht in Händen,“ sagten Sie, „und dürfte ich diese Macht ungestraft ausüben, ich ließe diese Versammlungen mit Bajonneten auseinandersprengen und wenn es blutige Köpfe setzte!“ – Madame, diese harten unweiblichen Worte, Sie entschuldigen meine Offenheit, dieser unchristliche und, was mehr ist, dieser gefühllose Ausruf kam aus demselben schönen Munde, der täglich eine Unzahl Gebete lispelt und über jede menschliche Lust als eine Sündhaftigkeit des Erdenwurms mitleidig die Lippen zuckt. Derselbe Mund, der kurz vorher von christlicher Demuth und Liebe gesprochen, der nur gewöhnt ist, in süßen sanften Worten von himmlischer Seligkeit und christlicher Duldung zu reden, derselbe Mund spricht unchristlich und ohne Bedenken das Todesurtheil über den Bruder aus, wenn sein Glaube nicht mit dem Ihrigen stimmt. Es ist sehr traurig, Madame, daß Ihr Glaube den Haß fordert und Ihre Selbsttäuschung Sie im christlichen Seligkeitsrausch zu Fanatismus und Rache führt.
Was eine wahrhafte Religion sein will, das kann den Fortschritt und die Freiheit des Denkens nicht von sich ausschließen. Denn es steht fest, daß nur diese Ziele die Menschheit adeln und, um mich eines kirchlichen Ausdrucks zu bedienen, zur Aehnlichwerdung mit der Gottheit führen. Ihre Religion, Madame, ist eine Religion des Stillstandes, der Unfreiheit und Entwickelungslosigkeit und folglich Aberglauben oder Unglauben. Sie verdammen den Verstand in Religionssachen, Sie wollen nur glauben und nicht denken, nur äußere Formen und nicht den sittlichen Gehalt, und doch müßten Sie aus der Bibel und der Geschichte wissen, daß die weltbezwingende Mission des Christenthums nur in der Verbreitung und Verkörperung jener sittlichen Ideale bestand, welche Jesus und seine Jünger gepredigt haben. Die Pflichten des Menschen gegen die Menschen, die Liebe und die Demuth, die Duldung und das Wohlthun sind die ergreifenden Heilsworte, welche die Apostel der Menschheit verkündigt haben. „Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnisse, so daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich ließe meinen Leib brennen und hätte der Liebe nicht, so wäre mir es nichts nütze! Die Liebe ist langmüthig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe stellt sich nicht ungebehrdig, läßt sich nicht erbittern und trachtet nicht zu schädigen; die Liebe erträgt Alles, duldet Alles, die Liebe wird nicht müde.“ – Das sagt der Apostel, Madame, und nun erlauben Sie mir die Frage, wie Sie Ihre Frömmigkeit mit dieser heiligen Religion vereinen wollen.
Es war ein eisigkalter December-Abend, als ich das letzte Mal bei Ihnen war. Draußen tobte der Nordwind und trieb die Schneeflocken gegen die dichtgeschlossenen Fenster, hinter denen wir in warmer Behaglichkeit saßen. Sie waren sehr schön an jenem Abend, sehr reizend! Ich erinnerte mich der Thränen, die in Ihren Augen standen, als Sie vor wenigen Tagen bei der Christbescheerung des reichen Finanzraths H. mit dem Teller in der Hand von Stuhl zu Stuhl gingen und mit rührender Stimme um ein Christgeschenk baten für das Hospital der barmherzigen Schwestern, deren Verdienste Sie nicht genug rühmen konnten. Sie waren so lieb in jener Stunde, so engelmild! Alle die geputzten Herren und Damen, die sonst kein Mitleid im kühlen Busen tragen, sie sahen Ihre Thränen und ihre Börsen flogen auf den Teller, der bald nicht mehr zureichte, die Gaben all’ zu fassen. Ich erinnerte mich dessen und, Madame – ich glaubte an die Wahrheit Ihres Gefühls!
Da trat eine Arbeiterin Ihres Hauses in’s Zimmer. Ein feines, blasses Gesichtchen, auf dessen Zügen die vielen Nachtarbeiten eine lange, trübe Geschichte eingegraben. Schüchtern legte sie die Arbeit vor und gleichzeitig die Rechnung. „Morgen ist Zinstag,“ sagte sie leise, „und Madame waren früher so gütig mir zu versprechen … meine vier Kinder sind jetzt ohne Holz und ohne Brod …“ – Die Frau bat so rührend! Schweigend gingen Sie zum Schreib-Secretair das Verlangte zu holen und schon glitten die blanken Silberstücke auf den Tisch, schon heiterte sich das blasse Gesicht der Frau sichtbar auf, als Sie plötzlich inne hielten. „Frau Müller,“ wandten Sie sich zu der Harrenden, „wie kommt es, daß Sie meine Empfehlung unbeachtet ließen und die Kirche des Pastors M. nicht besuchten? Ich fand Sie am letzten Sonntag nicht dort.“
Ueber das Gesicht der Frau glitt ein wehmüthiges Lächeln. „Madame,“ sagte sie schüchtern, „wir arbeiten des Nachts durch, um das Nöthige für Holz und Brod zu verdienen, und dürfen kaum an einige Minuten Rast, viel weniger an’s Kirchengehen denken. Manches Mal wohl möchten wir gern das Gotteshaus besuchen, aber die Noth läßt’s nicht zu. Und beim Pastor M., sagt mein Wilhelm“ – hier stockte die Stimme – „bei dem sei auch kein Trost zu holen für Unsereins, der gehöre zu den Frommen, und seine Predigten wüßten nichts von Liebe und nähmen das bischen Vertrauen noch, was man zu sich und den Nebenmenschen habe. Deshalb, Madame, nehmen Sie’s nicht übel, deshalb bin ich nicht gegangen!“
Ich sah Ihnen scharf ins Auge, keine Wimper zuckte. Aber die Lippen waren fest aufeinander gepreßt und nur in den Winkeln zitterte es wie fernes Wetterleuchten. Sie nahmen die Arbeit der Frau zur Hand. „Frau Müller,“ sagten Sie dann und musterten die Nähte, „es thut mir leid – ich sehe eben hier, daß diese Lieferung durchaus lüderlich und schlecht genäht ist – ich kann sie so nicht brauchen! Packen Sie wieder ein und incommodiren Sie mich nicht weiter; ich werde Sie rufen lassen, wenn ich Ihrer Arbeit bedarf!“
Madame! draußen schnitt ein eisigkalter Wind, vor Ihnen stand eine Frau, eine Mutter von vier Kindern und bat mit Thränen um die wenigen Groschen, die sie in schlaflosen Nächten, vielleicht frierend und hungernd, erarbeitet hatte. Umsonst pries die Arme ihre Arbeit an, umsonst bat sie nur dieses Mal zu verzeihen, wenn hie und da die Naht weniger rund und weniger accurat als sonst ausgefallen … die viele Nachtarbeit … die Schwäche der Augen … Liebenswürdig und geistreich, wie immer, begannen Sie ein Gespräch mit mir und sahen nicht, wie die blasse Frau noch blässer geworden und todtenbleich mit zitternden Händen die Arbeit zusammenraffte und stumm zur Thüre hinauswankte, jeder Hoffnung baar, ohne Geld, ohne Hülfe für ihre vier Würmer da oben im kleinen Dachstübchen. Und diese Frau – daß sich Gott erbarm’, ihr ganzes Verbrechen bestand darin, daß sie nicht glaubte, wie Sie!
Seit jenem Abend, Madame, habe ich Sie nicht wieder gesehen. Kurz nach der Scene empfahl ich mich und ging der [657] Armen nach. Ich traf sie noch unten an der Ecke der Straße, die Stirn an den kalten Stein gelehnt, ein trostloses Bild des Jammers. Ich redete sie an … Die Frau hat andern Tages ihren Miethzins bezahlen können und für ihre vier Kleinen sind mit Hülfe wackerer Freunde auch noch einige Groschen übrig geblieben für Brod und einige Scheitchen Holz zum Wärmen …
Ihnen, Madame, habe ich nur wenig noch zu sagen! Wenn es wahr wird, was uns das heilige Buch verkündet, wenn einst ein Richter sollte richten über uns und unsere Thaten und Recht und Gerechtigkeit sollte gesprochen werden über das, was wir vollbracht und unterlassen – der dort oben, der die Herzen und Nieren prüfet, wird dann nicht fragen: was und wie hast du geglaubt auf Erden? Er wird nicht fragen, ob wir nach dieser oder jener Lehre Gutes gethan, ob wir nach dieser oder jener Formel gehandelt, ob wir an diesem oder jenem Evangelium gehangen! Er wird einfach fragen: was und wieviel hast du gethan auf Erden und wird die Thaten zählen mit dem Auge der Liebe. Und wenn dereinst mit diesem Maße gemessen, wenn wirklich, wie uns verheißen ist, einst der Richter die Wagschale hält über das Thun und Lassen der Menschen und endlich die Maske der glatten Lüge und des eitlen Tugenddünkels fällt: dann, Madame, wird die Schale Ihres Glaubens hoch in die Luft flattern und der Spruch anders ausfallen, als Sie gehofft. Denn für Sie wiegt keine That selbstloser Liebe mit, keine Thräne des Dankes – Sie haben nichts als Ihren Glauben, jenes starre, todte Wort, dem der süße, mild-belebende Hauch des Friedens und der Liebe fehlt. Dann freilich dürfte es Ihnen wie Schuppen von den Augen fallen, daß auf Erden nur ein Gesetz existirt, vor dem sich alle Gedanken des weitumfassenden Geistes, alle Gefühle und Leidenschaften der Creatur demuthsvoll beugen, nur ein Gesetz, an das wir unbedingt glauben, an das wir all’ unser Thun und Lassen, unser Ringen und Streben, unsere Schmerzen und Freuden anlehnen sollen, ein Gesetz nur, Madame – das Evangelium der Liebe!
Leben Sie wohl und verzeihen Sie
E. K.
Ungefähr ein Jahr war seit Leopold’s Aufbruch nach Italien verflossen, als sich am 24. Februar 1695 in den damals noch sehr öden und traurigen Umgebungen Dessau’s ein kleiner Reisezug zeigte. Es war der junge Landesfürst, welcher nach vierzehnmonatlicher Abwesenheit in seine Heimath zurückkehrte. Nicht weit vom Thore ließ er halten, sprang hastig aus dem Wagen, eilte im Schneesturm durch die engen, einsamen, armselig dorfartigen Straßen und stand schon nach wenigen Augenblicken sprachlos und mit der Miene tiefster Erregung vor dem überraschten, züchtig erröthenden Bürgerkinde, das er in längerer Entfernung hatte vergessen sollen. Es muß dieses Wiedersehen ein prächtiger Anblick, eine unvergleichlich originelle und schöne Scene gewesen sein. Nur die Gegenwart der Eltern hinderte einen Ausbruch ungezügelter und rauher Zärtlichkeit. Erst als er die Geliebte begrüßt, ihr stumm und ohne ausdrückliche Betheuerung diesen Beweis unerschütterter Treue gegeben hatte, verfügte er sich zu seiner Mutter, die ihn unter Thränen heißester Zärtlichkeit in ihre Arme schloß.
Auch in dem Städtchen wurde bei der Nachricht von seiner Wiederkehr und bei seinem Anblicke eine lebhafte Freude laut. Denn so furchtbar er auch den Seinigen von früher Kindheit an gewesen, so wenig sein Zorn jemals eine Schranke, seine tobende Eigenwilligkeit eine Rücksicht gekannt, so oft er also nach allen Seiten hin beleidigt und gekränkt, erschreckt und geschädigt hatte, so lag doch wiederum in seiner derben Natürlichkeit, in der ganz seltsamen Eigenart, dem groben Humor und vor Allem in der immer dreist und fest zugreifenden Unerschrockenheit seines Wesens ein gewisses Etwas, das Bewunderung erregen und ihm das Zutrauen, ja eine aufrichtige Liebe des in Knechtssinn versunkenen, eingeschüchterten, ohnehin an Püffe und Stöße gewöhnten Musterunterthanen jener Zeit gewinnen mußte. Das wuchtige Commando, die oft spaßhaften Gewaltsamkeiten und übermüthigen Streiche des „jungen Herrn“ hatten den Leuten während seiner Abwesenheit gefehlt und sie jubelten daher und freuten sich, als sie ihn endlich wiedersahen. War er doch einer jener kraftvollen Stämme, an welche die Schutzbedürftigkeit eines ausgedörrten Bürgerthums ihr unselbstständiges, gehalt- und gedankenloses Dasein so gern zu lehnen pflegte.
Was auf der langen Reise aus ihm geworden war? Nun, die ihm näher kamen, überzeugten sich bald, daß die eigenthümlich schwere, metallartige Härte seiner Natur sich in der Ferne eher gefestigt, als gemildert hatte; er kam entwickelt, aber nicht verändert zurück, sein Wille war vielmehr noch unbiegsamer, seine Leidenschaften waren noch stärker geworden. In gründlicher Durchstürmung der Genüsse und Lustbarkeiten Italiens hatte die ganze Sinnlichkeit des vollsaftigen und schrankenlosen Jünglings sich ausgetobt. Seinen Geist jedoch auf Höheres und Ideales zu richten, ihm dort Geschmack an Alterthümern und Kunstwerken einzuflößen, hatte sich als fruchtlos erwiesen; was ihm Derartiges gezeigt wurde oder von selber sich ihm in den Weg stellte, würdigte er kaum eines Blickes. Dagegen war er auf den Reitbahnen, den Fechtböden und in den Ballhäusern Rom’s, Neapel’s und Turin’s ein steter Gast und setzte hier durch Kühnheit und Fertigkeit die größten Meister in Erstaunen. Auf der Heimreise verweilte er noch in Wien, wo er das Anerbieten des Kaisers, ihn auf den Antrag seiner Mutter zur sofortigen Uebernahme der Regierung für großjährig erklären zu wollen, mit der ganzen Keckheit des ihm eigenthümlichen Trotzes zurückwies: davon habe er nichts gewußt, er sei um seine Bewilligung nicht befragt worden und wolle deshalb mit dem Regierungsantritt nun warten, bis er wirklich einundzwanzig Jahre alt sei.
Hatte so die Mutter ihren Zweck nicht erreicht, die Last der Regierung von ihrem Herzen gewälzt zu sehen, so waren auch in anderer Hinsicht ihre Wünsche unerfüllt geblieben. Aller Glanz und alle Lust, alle ernsten und heiteren Eindrücke der Reise, sowie alle mißbilligende Vorstellungen der beunruhigten Verwandten hatten die Liebe zu „Mamsell Föhse“, wie man die schöne Louise nannte, nicht aus dem Herzen des wilden Sohnes verdrängen können. Man sah, daß die lange Trennung und der Widerstand und Widerspruch, dem sein eiserner Wille überall begegnete, die Gluth dieser Neigung nicht geschwächt, sondern nur immer mehr zu unvertilgbarer Flamme angeblasen hatten. Er wollte endlich den Gegenstand derselben sich gesichert sehen und zu seinem Verlangen und dem Zorn über die Hindernisse, welche sich demselben entgegenstellten, gesellte sich auch noch die beschwingende Macht des Argwohns und der Eifersucht.
Noch hatte bisher kein junger Mann es gewagt, sein Auge zu der holden Jungfrau zu erheben, um welche die auszeichnende Gunst des hochmächtigen Gebieters gleichsam einen geweihten und unnahbaren Kreis gezogen hatte. Scheu und ängstlich wichen ihr die Patriciersöhne des Oertchens aus; sie wußten, daß in solchen Fällen die fürstlichen Herren keinen Spaß verstanden und schon der bloße Verdacht einer Mitbewerbung Gefahr und Unheil zur Folge haben könne. Nur ein naher Verwandter der Apothekerfamilie, ein sehr gebildeter und liebenswürdiger junger Arzt, der während der Abwesenheit des Fürsten von weiten Studienreisen zurückgekehrt war, glaubte sich auch nach der Heimkehr des Letzteren an jene ängstlichen Rücksichten eines furchtsamen Spießbürgerthums nicht kehren zu dürfen; er besuchte nach wie vor das Haus des Oheims und Leopold sah ihn dort öfter, als ihm lieb war. Ob die ehrbaren Eltern diese Besuche des Neffen begünstigten und durch eine baldige Verheirathung der Tochter dem Stadtgerede und den ihrer Ansicht nach zu keinem reellen Ziele führenden Bewerbungen des Fürsten ein Ende machen wollten, ist niemals aufgeklärt worden. Genug, Leopold bemerkte mit grimmigem Mißfallen einen ganz unbefangenen, harmlosen, aber freundlich verwandtschaftlichen Verkehr zwischen seiner Anne-Liese und dem angenehmen Vetter. Ein kochender Groll gegen denjenigen, der den Muth besaß, ihm gegenüber die Rolle eines Nebenbuhlers zu [658] spielen, setzte sich in seinem Herzen fest, vielleicht genährt und geschürt auch durch aufhetzende Einflüsterungen der Höflinge, die hier endlich das geeignete Mittel gefunden zu haben glaubten, einen Bruch mit der verpönten Geliebten herbeizuführen.
So mochte er in vergeblichem Kampfe gegen wühlende Leidenschaft und heißauflodernden Zorn schon einige qualvolle Wochen verlebt haben, als er eines Tages an der Apotheke vorüberging und hier am offenen Fenster im Scheine der jungen Frühlingssonne wiederum den Verhaßten und neben ihm in heiter vertraulichem Geplauder die strahlende Gestalt Louisens sah. Dieser Anblick reichte hin, die letzte Spur menschlicher Erwägung und Rücksicht aus seinem Innern schwinden zu lassen. Von der blutlechzenden Wuth des Tigers ergriffen, stürzte er mit gezogenem Degen in das Zimmer und mochte wohl dem überraschten jungen Manne ein noch entsetzlicheres Antlitz zeigen, als es der Herr von Chalisac in Venedig gesehen. Denn der plötzlich Ueberfallene ergriff sofort die Flucht, rannte angstvoll von Zimmer zu Zimmer, bis er in einem entlegenen Gemache von dem hinter ihm herstürmenden Wütherich ereilt und ohne Erbarmen meuchlings niedergestoßen wurde.
Lautlos brach der hoffnungsvolle, kenntnißreiche Sohn einer angesehenen Familie unter diesem Gewaltstreich fürstlichen Rachedurstes zusammen, kaum ein Augenblick war von dem jähen Ueberfalle bis zur Vollführung des gräßlichen Mordes verflossen. Ein Gemurmel tiefen Entsetzens ging durch die Stadt, aber Niemand wagte es, den Zorn des Mörders zu reizen, gegen ihn aufzutreten oder überhaupt dieser natürlich straflos gebliebenen Schandthat zu gedenken, die sicher niemals wäre aufgezeichnet worden, wenn sie nicht durch mündliche Ueberlieferung im Gedächtniß der Bewohner sich erhalten hätte. Bezeichnend namentlich ist es, daß sich von dem Namen, den Angehörigen und nähern Verhältnissen des Ermordeten schon vor siebenzig Jahren bei den ältesten Bewohnern nicht die geringste Kunde erhalten hatte.
Ob Leopold selber jemals ein Gefühl der Beunruhigung oder Reue wegen dieses von liebedienerischen Schriftstellern als „Uebereilung“ und „Jugendstreich“ bezeichneten Verbrechens empfunden hat, läßt sich aus Allem, was über ihn bekannt geworden, nicht ersehen. Man weiß nur, daß er sich mehrere Tage nach Verübung desselben zur Eröffnung seiner kriegerischen Laufbahn nach den Niederlanden begab und noch in späteren Jahren über sein fast unmittelbar nach jenem Morde erfolgtes Eintreffen beim Heere also schrieb: „Es kann wohl kein Mensch begreifen, als der von Jugend auf so viel Lust zu dienen in sein wallendes Herze hat, wie ich beständig in das meinige befand, daß ich mir so vergnügt sahe, als ich es mir tausend und tausend Mal gewünscht hatte, das Glück zu erleben, was ich anjetzo völlig besaß.“
Nur seinen Zorn gegen die Hofschranzen, die ihm in Bezug auf die Unschuld der Geliebten unwahre und verdächtigende Mittheilungen gemacht, hatte er vor seinem Abgange von Dessau noch ausgelassen und hoch und theuer geschworen: „Anne-Liese wird meine Frau, und nunmehr ganz wie sie da ist, ohne adelige Zuthat!“
Wie der junge Selbstherrscher, der schon bis zu seinem achtzehnten Jahre so entschiedene Proben einer ganz bestimmten Sinnes- und Wesensrichtung kundgegeben hatte, nachher in schnellem Aufsteigen zu glänzendem Waffenruhm und beinahe unumschränkter Feldherrngewalt sich entwickeln mußte; wie aus ihm in einem fast ununterbrochenen Kriegs- und Lagerleben, in vierundzwanzig Feldschlachten und dreiundzwanzig Belagerungen, die er siegreich bestanden, allmählich jene grell individualisirte, durch grotesk ungeheuerliches Gepräge aus Hunderttausenden hervorstechende Originalgestalt, kurz jener gefürchtete und in der That auch fürchterliche Mensch geworden ist, den der gleichwohl an seine Eigenthümlichkeit sich knüpfende Volkshumor den „alten Dessauer“, den „Schnurrbart“ oder den „Schwerenöther“ nannte, wird nach den vorgeführten Scenen und Mittheilungen aus seiner ersten Jugendperiode kein psychologisches Räthsel sein. Seine Lebensgeschichte zu erzählen ist hier nicht unsere Absicht. Nur aus einigen Zügen derselben wollen wir ein Bild seiner Art, seines Charakters, seiner in mancher Hinsicht sehr denkwürdigen Persönlichkeit zu gewinnen, wollen wir uns namentlich den ungeheueren Abstand deutlich zu machen suchen, den die Gedankenarbeit eines einzigen Jahrhunderts zwischen dem Boden, auf dem wir gegenwärtig stehen, und den Culturverhältnissen eines Zeitalters gerissen hat, in welchem eine so monströse Erscheinung, wie diese, überhaupt noch möglich, ja sogar beliebt und volksthümlich war. Wir überspringen daher gleich diejenigen Jahrzehnte, welche allen bereits in dem Knaben und Jüngling so stark sich äußernden Neigungen und Anlagen den ungehindertsten Spielraum zu allseitiger Bethätigung geboten hatten, und finden den allgewaltigen Heerführer, den gefeierten Helden und Sieger von Hochstädt, Cassano, Eutin und Stralsund in jener langen Reihe von Friedensjahren wieder, unter der Regierung des friedliebenden Soldaten- und Paradekönigs seiner an kriegerische Bewegung gewöhnten, unaufhörlich nach Schlachtgetümmel dürstenden Natur so unwillkommene Schranken setzten.
Man weiß, daß er inzwischen längst auch die Regierung seines eigenen Landes angetreten, unmittelbar darauf der Geliebten seiner Jugend die allerdings frisch noch mit dem Blute ihres Verwandten befleckte Hand gereicht, sie durch Vermittlung des Kaisers zur ebenbürtigen Reichsfürstin erhoben und eine lange, glückliche, durch zahlreiche Nachkommenschaft gesegnete Ehe mit ihr geführt hat. Auch ist es bekannt, daß er sich hohe Verdienste um den preußischen Staat nicht blos auf den Schlachtfeldern erworben, sondern daß er überhaupt der erste Schöpfer und Ordner der preußischen Armee und der Begründer ihrer Kriegstüchtigkeit gewesen ist. Alle diese Erfolge hatte der junge Staat, dem er mit Leib und Seele ergeben war, nur seiner genauen Sachkenntniß, seiner niemals ermüdenden Willenskraft, der Energie seines rastlosen Feuereifers, sowie einer ganzen Reihe von bedeutsamen Erfindungen zu danken, durch welche sein militärischer Genius die Bewegung, Verpflegung, Bewaffnung und Ausrüstung der Truppen in durchgreifender Weise vervollkommnet hat. In der neuen europäischen Kriegsgeschichte glänzt unbestreitbar sein Name als ein Stern erster Größe.
Aber die Stürme und Mühseligkeiten, die Gefahren und Leidenschaften eines solchen Lebens waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Kaum jemals haben Beruf und Beschäftigung der Erscheinung eines Mannes so fest und unverkennbar ihren Stempel aufgedrückt. Die ihn in der Jugend gesehen, erkannten ihn schon nach zwanzig Jahren nicht wieder. Das blühende Roth der Wangen, der Schmelz, den jugendliche Frische über rauhe und harte Züge gebreitet hatte, war längst gewichen und hatte einer auffallenden Schwärze Platz gemacht, die von seinen Zeitgenossen theils dem Pulverdampfe, theils der rauhen Luft und der brennenden Sonnenhitze zugeschrieben wurde. Dabei war das Feuer seiner Augen nicht matter geworden, sondern stammte noch unheimlicher als früher aus diesem schwarzen und starkknochigen Gesichte hervor, dessen lebhafter Ausdruck, gleichfalls nach zeitgenössischen Mittheilungen, „zwar etwas Glückliches und Nachdenkliches, zugleich aber auch Furchtbares zeigte, dem man gern ausweichen mag“. Und in der That sah man oft Leute, selbst ganze Massen, denen er noch nicht begegnet war, vor seiner hohen, über die gewöhnliche Körperlänge hinausragenden Gestalt mit dem gewaltigen Kopfe zurückweichen, wie vor dem plötzlichen Erscheinen eines wilden Thieres. Niemand behielt leicht die Fassung, der unvermuthet von seinem Blicke getroffen wurde; man nahm den Eindruck des Schreckens mit von ihm weg, vorzüglich wenn er zu sprechen begann. Denn abgesehen von der kurzen und harten Art seiner gewöhnlich mit Flüchen untermischten Anrede hatte auch seine Stimme durch das fortwährende Befehlführen die herbe Derbheit seines ganzen Wesens angenommen, selbst wo er freundlich war und es gut meinte. „Wenn er aber in Zorn geräth,“ sagt Einer, der ihn gekannt hat, „sind seine Worte dem Donner gleich und Alles um ihn her hat zu erzittern.“ Als Erhöhung der Scheu, welche sein Anblick einflößte, wird von gleichzeitigen Berichten auch das lang und zwanglos an den Seiten herabhängende, hinten in einen Bandzopf eingebundene schwarze Haar, sowie der schwarze Zwickelbart bezeichnet, dem er einen seiner Beinamen verdankte.
Trotzdem zeigte sein Gesicht nicht immer den finsteren und tigerhaften Ausdruck. Wenn sich der Schalk in ihm regte, oder wenn ihm etwas gefiel und sein Behagen erweckte – und es waren dies in der Regel nicht die zarteren und feineren Seiten des menschlichen Lebens – konnte sich auch ein leiser Schimmer freundlicher Gemüthlichkeit über sein meistens rohes und schweigsames Wesen verbreiten. Solch’ ein Moment ist es, in dem wir ihn auf dem in unserer vorigen Nummer befindlichen Bilde finden. Um aber ganz die charakteristische Scene zu verstehen, welche auf diesem Bilde in einer so sprechenden Weise verewigt wurde, müssen wir uns erst noch einige Eigenthümlichkeiten des eisernen Alten vergegenwärtigt haben.
[659] Das Gebiet eines höheren Geisteslebens, die ganze Welt der Bildung, der Wissenschaften und Künste war dem Liebling und vertrauten Freunde Friedrich Wilhelm’s des Ersten, dem Genossen seines Tabakscollegiums in den späteren Jahren seines Lebens so fremd geblieben, als sie ihm in seiner Kindheit und Jugend gewesen. Daß er Wissenschaft und Kunst gehaßt hätte, meint einer seiner Biographen, wäre zu viel gesagt; es fehlte ihm jedes Organ dafür, er nahm gar nicht so viel Kunde von ihnen, als zu einem Hasse erforderlich gewesen wäre. Nur für die Musik, so weit sie bei Jagd und Krieg als ein wirksames Reiz- und Prachtmittel dient, zeigte er einige seltsam genug sich äußernde Empfänglichkeit. Als er am 16. August 1705 nach der furchtbaren Blutarbeit bei Cassano an der Spitze seiner preußischen Regimenter durch dieses italienische Städtchen zog, wurde ihm von den Bewohnern, die Zeugen seines Todesmuthes gewesen, ein feierlicher Empfang bereitet. Sie stellten sich in Reih’ und Glied auf und begrüßten den erst neunundzwanzigjährigen Feldherrn mit einem eigens zu diesem Zwecke componirten Festmarsche, der auf ihn und seine Schaaren eine wunderbare Wirkung übte. So mächtig hatte noch niemals ein Klang sein Inneres berührt, als die feste, kühne und anfeuernde Weise dieses Tonstückes, dasselbe wurde sofort sein Lieblingsmarsch und später ihm zu Ehren der „Dessauer Marsch“ genannt, unter welchem Namen es bekanntlich fast ein Jahrhundert hindurch den Siegesschritt der preußischen Heere begleitet und bis zum heutigen Tage in allen Theilen der Welt als eine der volksthümlichsten Melodien sich erhalten hat. Auf diese Melodie beschränkte sich Leopold’s Liebe zur Musik, es war die einzige, welche er festzuhalten vermochte und an der er sein ganzes Leben hindurch mit treuester Beharrlichkeit festhielt; ihr legte er jeden beliebigen Text unter und nur die Gewohnheit vermochte namentlich das Aufsehen abzustumpfen, das es im Anfange erregte, wenn von seinem Sitze in der Kirche aus die kriegerischen Töne des Dessauer Marsches sich in den Gesang der Gemeinde mischten, denn auch die geistlichen Lieder sang er nur nach der geliebten Leibmelodie.
Man sieht, daß des Dessauers musikalisches Verständniß dem Grade seiner anderweitigen Geistesbildung entsprechend war. Ganz ähnlich verhielt er sich zur Religion. Es ist bekannt, daß er das Reformationslied („Eine feste Burg ist unser Gott etc.“) gern hatte und es „unseres Herrgotts Dragonermarsch“ nannte. Ueber die einzelnen Glaubenssatzungen jedoch hatte er wohl niemals nachgedacht; er ließ dies dahingestellt und fand sich ohne genaue Rechnung lieber im Ganzen ab, da er über sein fortwährend gutes Einvernehmen mit dem höchsten Wesen nicht den geringsten Zweifel hegte. In Bezug auf das Volk und die Soldaten aber sollten neben dem Zuchtstocke, den Spießruthen und dem Galgen auch Religion und Kirche zur Aufrechthaltung und Befestigung der Disciplin und des unbedingten Gehorsams, zur Belebung der Tapferkeit und einer nüchternen Moralität im Heere das Ihrige beitragen. Darum eben nahm er es mit der Wahl seiner Feldprediger sehr genau, freilich, wie wir gesehen haben, in seiner Weise.
Der Rauhheit seiner Sitten, seinem Mangel an Bildung und edlerem Geschmacke entsprach im Uebrigen auch seine Lebensweise. Er liebte den Prunk nicht, war einfach in Wohnung, Speise und Trank und nur bei feierlichen Gelegenheiten sah man ihn anders als in der Kleidung des gemeinen Soldaten, ohne daß er deshalb jemals aufgehört hätte, sich als den unumschränkten Beherrscher und Gebieter seiner Untergebenen zu fühlen, zu denen natürlich auch die Bewohner seines Landes gehörten. Sein scharfzugespitzter Feudalismus sprach nicht französisch, sondern wußte die eigensüchtige Anmaßlichkeit seiner Ansprüche hinter den cynischen Formen der damaligen Volksthümlichkeit zu bergen. Dadurch ward seine Persönlichkeit dem gemeinen Manne verständlich. Heute würde von der Art seines Wohlwollens, von der oft burlesken Schonungslosigkeit seiner Herablassung und Theilnahme der ärmste Recrut, der erbärmlichste Tagelöhner sich abgestoßen fühlen.
Gewiß hat er treffliche und in Bezug auf seinen militärischen Beruf auch große Eigenschaften gehabt. Grundzug seines Wesens aber blieb eine schrankenlose, auf Durchsetzung des eigenen Vortheils berechnete, oft bis zur Unmenschlichkeit sich steigernde Gewaltsamkeit. Seinem Willen, seinem Interesse und vermeintlichen Rechte gegenüber erkannte er keinen anderen Willen, kein anderes Recht und Interesse an. Befriedigung seines Ehrgeizes, Vermehrung seines Reichthums und Besitzes waren die Zwecke, die er mit allem Scharfsinn eines guten Rechenmeisters und aller Genialität und zähen Ausdauer einer naturwüchsigen Kraft verfolgte. Schon von früher Jugend an hatte er es sich zu einer Hauptaufgabe seines Lebens gemacht, den Boden seines Landes aus den Händen der bisherigen Grundeigenthümer in seinen persönlichen Besitz zu bringen. Die Verwirklichung dieses Lieblingsgedanken war kein leichtes Werk, da zur Erreichung der Absicht eine große Anzahl Familien ruinirt und von ihrem altererbten Besitze vertrieben werden mußten. Vor solchen Schwierigkeiten schreckte aber Fürst Leopold nicht zurück. Mit einer Härte und Beharrlichkeit ohne Gleichen setzte er im Laufe der Jahre seine Pläne durch: Edelleute, Bauern und Müller, ja selbst die dürftigen Landprediger jener Zeit mußten ihm im Laufe der Jahre ihre schönen Güter wie ihre kleinen Feldstücke gegen armselige Entschädigungen abtreten, bis das Land Dessau eine in solcher Art im deutschen Reiche einzige Erscheinung war, ein Fürstenthum ohne Grundbesitzer, in dem aller Boden der Krone gehörte und die Einwohner nur noch aus Beamten, Pächtern und Gewerbsleuten ohne allen echten Wohlstand bestanden. Faustrechtliche List und Gewalt waren die Mittel, durch welche dieses allem natürlichen Rechtsgefühl Hohn sprechende Ziel erreicht wurde.
Daß Leopold für diese verarmte, von ihm ausgesogene Bevölkerung in mancher Beziehung sorgen, ihr in Fällen der Noth hülfreich sein, den ihm gehörenden Boden durch Bauten verschönern, gegen Verwüstung durch Wasser schützen, durch gute Wirthschaft verbessern mußte, verstand sich von selbst. Er hat dies mit Geschick, Einsicht und Eifer gethan, aber als eine Regententugend haben wir es ihm eben so wenig anzurechnen, wie die in der That sehr zärtliche Liebe zu seinem eigenen Fleisch und Blut. Vergebens suchen wir in den von ihm aufbewahrten Zügen nach einem Beispiel, daß er außer den Seinigen noch irgend einen anderen Menschen uneigennützig geliebt hätte. Schon Friedrich der Große hatte einen sehr scharfen und klaren Einblick in diese Seite seines Charakters gethan. Er schätzte in dem am Hofe und im Heere seines Vaters so allmächtigen Manne den heldenmüthigen Krieger, den Ordner des Heeres, den Begründer so vieler Kriegstüchtigkeit, aber den Menschen in ihm liebte er nicht, nicht seine rauhen Sitten, seinen herrischen Despotismus. Als er auf den Thron gelangte, führte er sofort eine sanftere Behandlung der Truppen ein und verbot das unmäßige Schimpfen und Schlagen. Nach dem Tode des Fürsten urtheilte er über ihn: „Der Fürst von Anhalt war ein Mann von ganzem und gewaltsamem Charakter; lebhaft und zugleich klug in seinen Unternehmungen, verband er mit der Tapferkeit eines Helden die schönsten Erfahrungen aus den Feldzügen des Prinzen Eugen. Seine Sitten waren wild, sein Ehrgeiz war schrankenlos; geschickt in der Belagerungskunst, ein glücklicher Krieger, aber ein schlechter Bürger, wäre er aller Thaten der Marius und Sylla fähig gewesen, wenn das Geschick ihm die Stellung dieser Römer gegeben hätte; Unter vielen großen Eigenschaften, die er besaß, war keine einzige, die man gut nennen könnte.“
„Was spricht lauter zum Volke, eine Person oder eine That?“ Die Antwort auf diese scheinbar wunderliche Frage giebt das Volk selbst vor jedem Bilderladen. Bilder, welche eine That darstellen, versammeln stets eine große Schaar Theilnehmender vor sich, und erst wenn aus einer solchen That eine Person ganz besonders hoch hervorragt, wird auch das Bildniß derselben die Verehrer anziehen. Vor jedem Bilderladen können wir lernen, was am lautesten zum Volke spricht, – und dennoch läßt man die Kunst so selten in dieser Sprache öffentlich reden!
Oder hat die Erfahrung noch nicht deutlich genug gelehrt, wie viele unserer ehernen Bildsäulen für die große Masse des Volks vergeblich auf ihren Postamenten stehen? Sie sind stumm für das Volk, das ihre Bedeutung nicht kennt. Laßt ihre Thaten, ihr Wirken in ebenso öffentlichen Bildern von ihnen zeugen, und [660] auch das Erz wird Leben gewinnen für viele tausend Augen, für die es bis heute todt war.
„Laß uns Thaten sehen!“ So ruft heute das Volk der bildenden Kunst zu. Die Thaten der Fürsten, deren Nachkommen auf Thronen sitzen, sind unvergessen: mit ihnen sind die Schlösser geschmückt, ganze Galerien ausgestattet und die dienstwilligen Pinsel und Griffel beeiferten sich, sie in zahllosen Gemälden und Kupferstichwerken
der Welt zur Schau zu stellen. Wo aber bleibt das geschichtliche Leben so vieler Städte, wo bleiben die Thaten des Volkes und seiner Männer, die im großen Lauf der Geschichte so leicht vergessen werden? Hier öffnet sich ein Feld der Thätigkeit für die Kunst, das fast noch unangebaut ist und für welches endlich die Fresco-Malerei mit der Architektur einen neuen Bund schließen muß.
Zweierlei Thaten sind es, die der städtischen oder örtlichen Verherrlichung harren: solche, die der deutschen Geschichte angehören und einem Orte geschichtliche Bedeutung verliehen haben, und solche, welche das Andenken von Angehörigen des Ortes und seine eigene ehrenvolle Vergangenheit zu feiern geeignet sind. Jene Thaten verzeichnet die Geschichte, diese die örtliche Chronik und oft nur die mündliche Erzählung. Wir wollen ein nicht zu fern liegendes Beispiel aufstellen. Nach den Befreiungskriegen hing man in den Kirchen Tafeln mit den Namen der im Kampfe für das Vaterland Gefallenen auf. Das war gewiß löblich. Aber sind nicht von einzelnen dieser Helden Thaten geschehen, die ihre Verherrlichung durch die Kunst nicht weniger verdienten, als die großen Schlachten, auf welchen nur Fürsten und Feldherren im Vordergrunde prangen? Wie viele der herrlichsten Volksthaten erzählt sich das Volk, wie wenige davon gehen in die Bücher der Geschichte über, wie bald sind sie vergessen, – und wie viel Gesinnung und Ehrgefühl veredelnde Kraft geht mit ihnen verloren! – Wiederum ist ein Krieg vorüber und viele Namen sind in die Tafeln einzugraben, die man in den Kirchen aufstellen wird. Werden die vielen schönen oder heroischen Thaten der Einzelnen wiederum nur in den kurzlebigen Tageblättern und im Munde der Zeitgenossen der Vergessenheit entgegengetragen werden? Giebt es keine Rathhaus-, keine Schul- oder Kirchenmauern und -Wände, an welchen die bildende Kunst sie jeder Zeit allem Volke vor Augen stellen könnte? Die öffentlichen Gebäude jeder Stadt, jedes Ortes sollten vor Allem dazu bestimmt sein, nicht schmucklos oder mit bedeutungslosem Zierrath nur ihren geschäftlichen Zwecken zu dienen, sondern durch die Kunst von des Vaterlandes und der [661] eigenen Geschichte und Ehre zum Volke zu reden. – Wir freuen uns, eine Stadt in Deutschland nennen zu können, welche den Bund der Frescomalerei und Architektur in dieser Weise schließen ließ und nun ein städtisches Hauptgebäude als ein Muster solchen geschichtlichen Ehrenschmucks in seiner Vollendung zeigt. Es ist dies die sogenannte
Stadtcanzlei in Constanz. Ein Erzeugniß des florentinischen Renaissancestyls aus der spätern Periode, ist sie in dieser Art vielleicht eine der besten und schönsten Bauten in Süddeutschland, die jetzt, nachdem die Stadt sie durchaus wieder herstellen und vor zwei Jahren nach Art des bekannten Fuggerhauses in Augsburg durch die Künstler Wagner und Fröschle bemalen ließ, ein besonderes Interesse in Anspruch nehmen darf. Diese Malereien sind theils allegorischer Art, Industrie, Kunst und Handel des alten Constanz in Figuren und Gruppen veranschaulichend, theils Portraits um die Stadt verdienter Männer und Frauen, darunter u. A. das Bildniß des unvergeßlichen Freiherrn Heinrich von Wessenberg, theils endlich geschichtliche Darstellungen, welche letzteren vor allen andern die Beachtung auf sich lenken und eine nähere Schilderung verdienen.
Es sind vier Frescobilder, die, auf einzelnen Mauerfeldern
über den Fensterbogen des Erdgeschosses angebracht, bedeutsame Momente nicht nur der Constanzer, sondern der deutschen Geschichte überhaupt und zugleich die Blüthezeit des deutschen Bürgerthums vergegenwärtigen.
Die erste dieser Fresken, links vom Beschauer, versetzt uns in die Tage des ersten Hohenstaufenkaisers, Friedrich’s des Rothbarts. Sie zeigt uns den sogenannten Lombardischen Friedensschluß, in welchem auf dem Reichstage zu Constanz Kaiser Friedrich der Erste 1183 seine jahrelangen Fehden mit den verbündeten lombardischen Städten beendigte. Fünf Römerzüge hatte er unternommen, den Freiheitssinn der lombardischen Städte zu brechen, die eine Gleichstellung der Bürger mit dem Adel, überhaupt eine strengere republikanische Verfassung zu behaupten suchten, – es war ihm nicht gelungen, und in dem erwähnten Friedensschlusse mußte er die Selbstständigkeit feierlich anerkennen, die jene anstrebten, mußte ihnen die Ordnung ihrer Angelegenheiten selbst überlassen, auf alle Hoheitsrechte verzichten, welche auf die Städte selbst übergingen, und ihnen Alles zurückgeben, was ihnen während der langen Kämpfe entrissen worden war. Der Lombardische oder Constanzer Friede machte also die lombardischen Städte auch rechtlich zu wirklichen Republiken, während die Gewalt des Kaisers, unter dessen nomineller Oberhoheit sie zwar blieben, factisch zum bloßen Schatten wurde. Es ist mithin ein Sieg des Bürgerthums, den dieses erste Gemälde verherrlicht; gewiß zum Schmuck eines städtischen Rathhauses läßt sich ein geeigneteres Motiv nicht wählen! Auf dem Bilde sehen wir den Kaiser und das Haupt der lombardischen Abgeordneten in der Mitte, den geschlossenen Friedensvertrag mit Handschlag besiegelnd. Rechts vom Beschauer stehen die Deutschen, links die Italiener mit scharf ausgedrücktem Gepräge. Im Vordergrund unterzeichnen die Vornehmsten beider Parteien die Friedensurkunde, während im Hintergrunde Kriegsvolk und neugierige Zuschauer sich drängen und schmucke Jungfrauen die Reiterfahne der deutschen Krieger bekränzen.
Das zweite Bild führt uns mitten in die Kämpfe zwischen [662] Welfen und Ghibellinen, zwischen Papst und Kaiser hinein. Der Welfe Otto der Vierte war vom Papste Innocenz dem Dritten in den Kirchenbann gethan und von einer Fürstenversammlung zu Nürnberg 1211 entsetzt, dafür der junge König von Neapel, Friedrich, zum König der Deutschen erwählt worden. Unter vielen Gefahren – denn die Mailänder, welche die von Friedrich dem Rothbart an ihnen verübten Grausamkeiten noch nicht vergessen hatten, wollten ihn fangen – kam er über die Alpen nach Chur. Hier fand er an dem Bischof und auf dessen Empfehlung an dem Fürstabt von St. Gallen warme Freunde und erschien so, von ihnen mit Geld und Mannschaft unterstützt, vor den Thoren der Stadt Constanz.
Während er aber hier der Gestattung des Einlasses entgegensah, stand Kaiser Otto mit einer ansehnlichen Macht in dem nur drei Stunden entfernten Ueberlingen. Ein Theil seiner Hausdienerschaft war sogar schon in Constanz angekommen. Der Augenblick war ein sehr wichtiger und verhängnißvoller, denn er entschied das Schicksal des Welfischen und des Hohenstaufischen Hauses. Der Beredsamkeit des Abts von St. Gallen gelang es, den Bischof und die Bürgerschaft von Constanz zur Aufnahme Friedrich’s des Zweiten zu bestimmen und ihm die Thore zu öffnen. Drei Stunden später fand Otto dieselben verschlossen: sein Schicksal wurde durch diese Spanne Zeit erfüllt.
Das letzte Bild rechts gehört der Ehre von Constanz allein an. Mit ungemeiner Treue hatte die Stadt zur Reformation gehalten und sich dem Schmalkaldischen Bunde gegen Kaiser Carl den Fünften angeschlossen. Der Krieg endete bekanntlich unglücklich und in Folge dessen ward die Stadt Constanz, trotz ihrer an den Kaiser nach Augsburg abgeordneten Gesandten, die Verzeihung erbitten sollten, in die Acht erklärt und der Achtbrief am Rathhaus zu Augsburg angeheftet. Die wilden kaiserlichen Horden überfielen die Stadt, mußten indeß, von den tapfern Bürgern zurückgeschlagen, unverrichteter Sache wieder abziehen. Darüber ergrimmte Carl der Fünfte, und während die Constanzer Gesandten noch in seiner Nähe weilten, Morgens am 6. August 1548, zog ein ansehnlicher Haufen spanischer Truppen, wie es heißt gegen dreitausend Mann, gegen das Oberthor der jenseits des Rheins gelegenen Vorstadt Petershausen. Die Uebermacht drängte die hier aufgestellten Bürger zurück, und diese kamen mit den Feinden fast gleichzeitig auf der Rheinbrücke an. In verrätherischem Einverständniß mit denselben war aber die Fallbrücke vernagelt worden und konnte deshalb nicht aufgezogen werden. Jetzt entspann sich ein furchtbarer Kampf. Wie Männer, welche für ihre Ueberzeugung zu sterben wissen, kämpften die Bürger muthig gegen die Ueberzahl der Feinde, und selbst die Verwundeten suchten noch einen oder mehrere derselben zu erwischen, um sich mit ihnen über die Fallbrücke hinabzustürzen und nicht ungerächt zu sterben.
Nach fünfstündigem, todesmuthigem Ringen wurden die Spanier zurückgedrängt und wütheten in der Erbitterung über den fehlgeschlagenen Angriff wie Cannibalen durch Feuer und Mordthaten an schuldlosen Frauen und Kindern in der erwähnten Vorstadt. Der Sieg war theuer erkauft und sollte leider keine Früchte tragen. Die Stadt, welche Alles für ihre Selbstständigkeit und ihren religiösen Glauben aufgeopfert hatte, ergab sich durch einen Mehrheitsbeschluß ihrer Bürger am 18. August 1548 dem Hause Oesterreich und verlor dadurch Beides. Die unparteiische Geschichte hat schon lang über sie und Carl den Fünften entschieden. Und dieses „Gericht“ fortzusetzen und im Volke das Gefühl des großen Unrechts der Gewalt gegen das Recht immer von Neuem zu beleben, dazu kann nichts geeigneter sein, als dieses Bild, das Jedem vor Augen treten muß, welcher an der Stadtcanzlei vorübergeht.
Das noch übrig bleibende dritte Bild hat gerade für diesen Augenblick eine hohe Bedeutung. Darum haben wir uns seine Betrachtung bis zum Schluß verspart und nur darum dürfen wir es wagen, die Schilderung der Thatsache in größerer Ausführlichkeit hier folgen zu lassen. Die vom Kaiser Sigismund ausgeschriebene Kirchenversammlung hatte im Jahre 1414 eine ungemeine große Anzahl von Fremden jeden Ranges, vom römischen König bis zum Ritter, vom Papst bis zum Mönch, nach Constanz geführt, die hier eine nie gesehene Pracht in das Auge blendenden Festzügen und kirchlichen Processionen entfalteten. Unter diesen Festlichkeiten nahmen die Belehnungen einen hervorragenden Platz ein. Keine aber wurde mit größerer Pracht vollzogen, als jene des Burggrafen Friedrich von Nürnberg, Grafen von Hohenzollern, mit der Mark Brandenburg.'
Friedrich, oberster Hauptmann und Verweser der Mark, hatte dem immer Geld brauchenden Kaiser Sigismund nach und nach gegen vierhunderttausend ungarische Goldgulden vorgestreckt, wofür ihn dieser mit der Kurwürde belehnte, da er die Schuld auf andere Weise nicht zu bezahlen vermochte, und am 19. April 1417 mit dieser Würde in der Bischofsstadt feierlich bekleidete. – Vor dem Hause zum hohen Hafen am obern Markt, wo der Lombardische Friedensvertrag geschlossen wurde, stand auf langer und breiter, mit goldenen Tüchern bedeckter Estrade der Sessel des Kaisers. Als der Burggraf mit den Seinigen und seinen zwei Bannern mit dem Wappen der Markgrafschaft Brandenburg und der Burggrafen von Nürnberg an der Emporbühne angekommen war, hielt er an. Jetzt trat der römische König aus einem Bogen des Hauses zum hohen Hafen und setzte sich in den Sessel. Ihm folgten zwei Cardinäle und drei Bischöfe nebst dem obersten Canzler. Die ersteren nahmen ihm zur Seite rechts und links Platz; der Canzler mit einem besiegelten Pergamentbrief, an welchem zwei Insiegel hingen, in der Hand stand hinter den Cardinälen.
Als der König mit der goldenen Krone auf dem Kopf im Sessel saß, schritt der Burggraf Friedrich inmitten seiner zwei Bannerträger auf die Bühne. Auf der obersten Sprosse knieten sie alle Drei vor dem König nieder. Da befahl Sigismund dem Canzler den Brief vorzulesen, welcher die Pflichten gegen das römische Reich enthielt. Nach Verlesung desselben fragte der König den Burggrafen, ob er schwören wolle. Als er es bejahte, nahm der König das Banner mit dem brandenburgischen Wappen aus der Hand des Ritters in die seinige und gab es dem Burggrafen in die Hand. Ebenso nahm er den Reichsapfel mit dem Kreuz und das Scepter aus des Pfalzgrafen Hand, der hinter den Cardinälen zur Linken sich aufgestellt hatte, und übergab sie Friedrich, so wie das Banner mit dem Nürnbergischen Wappen. Hierauf zog der Herzog Rudolph von Sachsen, welcher nach altem Brauche ein bloßes Schwert mit der Spitze gegen des Kaisers Haupt gesenkt hielt, das Schwert in die Höhe und der Kaiser stand auf. Da fingen alle Pfeifer und Posauner an zu pfeifen und zu posaunen, daß Niemand sein eigen Wort mehr hören konnte.
Wer die Folgen dieser Belehnung bis zum heutigen Tage vor Augen hat, wird das Bild nicht ohne Bewegung vor dem wunderbaren Lauf des Schicksals betrachten.
Unsere Freunde werden aber mit uns in dem Wunsche einstimmen, daß dem deutschen Volke recht viele solcher Bilder den Blick in seine Vergangenheit erschließen möchten! Nichts ist geeigneter, die Phantasie der Kindheit mit edlen Gestalten, das Herz der Jugend mit Begeisterung für vaterländische Ehre zu erfüllen und in den Männern den Rest des Philisterthums zu ersticken, das sich vor jedem großen Gedanken und Opfer zum Heil des Ganzen entsetzt. Und wenn erst die Thaten zum Herzen des Volks reden, dann werden auch die ehernen Bildsäulen in seinem Auge die Bedeutung gewinnen, die sie bisher nur für die glücklicheren Kreise der durch Bildung Bevorzugten hatten.
Ich stand am Grabe Heinrich Heines. In dem bescheidenen Kirchhofe Montmartre haben sie ihn gebettet, fern von den großen Geistern, deren Hülle der Père Lachaise birgt, fern von seinem Feinde – Ludwig Börne. Es ist ein einsames Grab, ein einfacher Stein! Nur seinen Namen trägt er, ach, und nicht einmal seinen ehrlichen deutschen Namen: Henri Heine heißt hier der verzogene Liebling der Grazien. Zwei Vergißmeinnichttöpfchen, frisch gepflegt, standen zu Füßen des Steines, einige regenverwaschene Immortellenringe lagen herum, und von dem Steine hing ein ärmlicher Kranz von Schmelzperlen herab, der längst allen Schmelz verloren hatte. Man sieht es diesem Grabe an, daß es nicht viel aufgesucht wird, liegt es doch nicht an der Heerstraße des flüchtigen Touristenvolkes, das lieber – kindischer Brauch! – in der Gruft der Rachel seine Visitenkarten niederlegt.
[663] Mir ward es warm um’s Herz, ich dachte an das enge Schmerzensstübchen in der Rue d’Amsterdam, an die Frau Wohl in Frankfurt am Main und an die viereckigen Schwaben, die eher mit dem edlen Chamisso brachen, als daß sie Heine’s Bildniß im Musenalmanache geduldet hätten. Nun sind sie Alle hinübergegangen, und – „Du lächelst, o mein ewiger Vater!“[WS 1]
Die ganze Wehmuth längst überwundenen Weltschmerzes, die liebe „alte Jugendduselei“ überkam mich unabweisbar mächtig, wie sie schon einige Wochen vorher mich ergriffen hatte, als ich einsam im Poetenwinkel der Westminsterabtei saß, in der Riesenstadt an der Themse. Da hob ich meinen Hut vom thauigen Grase auf und eilte hinweg aus der schweigsamen Todtenwelt. Aber ein Vergißmeinnicht, ich will es ehrlich gestehen, habe ich doch vorher in meine Brieftasche gelegt.
Ich schlenderte durch den Boulevard Rochechouart, wo der würdige Kleinbürger wohnt, der Ouvrier seinen herben Landwein trinkt und manche niedliche Arbeiterin in der kleidsamen, auf Brust und Rücken geknüpften Blouse aus dem Fenster lugt. Bei einem Antiquare machte ich Halt und durchmusterte seine dürftigen Vorräthe. Ein altes Büchlein mahnte mich wieder an Heine. – Es war eine Sammlung fremdländischer Gedichte, in’s Französische übertragen von Léon Halévy. Als Heine noch unter den Sterblichen wandelte und ihn eines Tages ein Bekannter fragte, wie es ihm gehe, antwortete er seufzend: „Ich bin im Augenblicke ganz dumm. Léon Halévy hat mich eben verlassen. Wir haben unsere Gedanken ausgetauscht.“ Der alte Witz drang wie ein Sonnenstrahl in meine Seele, und erheitert wanderte ich weiter. Am Boulevard de Magenta traf ich einen befreundeten Landsmann. Wir wechselten flüchtig Gruß und Wort, und als ich mich schon gegen den Straßburger Bahnhof zugewendet halte, eilte er mir nach, ergriff mich am Arme und sagte in fieberhafter Hast: „Sie müssen heute mit mir die Closerie des Lilas besuchen. Es ist ein Freundesdienst, den ich von Ihnen verlange. Um neun Uhr im Café de la Terrasse!“ Damit war er verschwunden, und verwundert schaute ich ihm nach. Was hatte der seltsame, ernste Mann? Seine Stimme zitterte, wie seine Hand. Was hatte er in den Lilas zu suchen, in jenen tollen Studentenbällen, die, in prunkvollen, offenen Sälen abgehalten, ein jede Nacht sich wiederholender Rausch, eine Vorschule für die Bälle der Oper sind?
Wie verabredet, trafen wir uns am Abend und fuhren nach der Closerie. Eine große Menschenmenge umlagerte den Eingang, und wir hatten Mühe, uns bis zu den Tanzsälen durchzukämpfen, wo ich mich an eine der schmucken Säulen lehnte und die tolle Quadrille mit anschaute. Mein Begleiter bat mich, auf ihn zu warten, und schlüpfte gewandt durch die Tanzenden hindurch in den zweiten Saal, von wo er bald bleich und aufgeregt wieder zurückkam. „Folgen Sie mir, mein Freund,“ rief er mir zu und zog mich, da der Tanz eben geendet hatte, bis zur Tiefe des letzten Saales. Er nöthigte mich auf einen Stuhl und setzte sich, den Kopf gebeugt, hinter mich, so daß man ihn vom Saale aus nicht erblicken konnte. „Betrachten Sie sich,“ flüsterte er mir dann zu, „jenes blasse Mädchen mit dem aufgeschürzten schwarzen Kleide, das dort, in der zweiten Reihe, die Cigarre im Munde, am Arme eines Studenten steht. Sie schäkert eben mit einem sonngebräunten Herrn, der, den Panamahut schief auf den Kopf gestülpt, ein Fremder aus den Colonien zu sein scheint. Betrachten Sie sich das Mädchen genau, beobachten Sie scharf, was sie thut, wie sie spricht, suchen Sie mit ihr bekannt zu werden, und sagen Sie mir dann ehrlich, was Sie von dem Mädchen halten. In der zweiten Grotte rechts im Garten erwarte ich Sie.“ Damit eilte er hinweg und ließ mich erstaunt und bestürzt zurück.
Hat er eine Liebelei mit einer Grisette, die ihn verrathen hat, und soll ich etwa das heilige Liebesband wieder festigen? Aber wozu dann dieser feierliche Ton, diese schmerzliche Bewegung? Ich mischte mich unter die Menge, und nicht lange darauf hatte ich das Vergnügen, das Mädchen in ein Gespräch mit mir zu ziehen und mit ihr Arm in Arm auf- und abzuwandeln. Sie sprach lebhaft, witzig, sie scherzte wie die Andern, etwas Eigenthümliches, Besonderliches fand ich in ihrem Benehmen nicht. Nur merkte ich, daß ihr Auge zuweilen unruhig hin und her flog. Als ich ihr aber sagte, daß ich ein Fremder sei, und sie auf ihre Frage nach meiner Heimath erfuhr, ich sei ein Deutscher, da machte sie sich, als erschrecke sie, von meinem Arme los, und die Augen, plötzlich seltsam umflort und wie gebrochen, glitten forschend über mich hin. „Ein Deutscher?“ flüsterte sie und ehe ich’s mich versah, war sie im wilden Menschengewoge verschwunden.
In der bezeichneten Laube fand ich meinen Landsmann, der mir die Hand entgegenstreckte. Er fragte mich nicht, ob ich das Mädchen gesprochen, er schaute mir nur still in das Gesicht und hub darauf an: „Ich bin Ihnen Rechenschaft schuldig. Hören Sie denn meine Beichte: Ich wohnte, wie Sie wissen, in der Rue St. Jacques, der höckerigen, schmalen Straße des Quartier Latin. Ich liebte es, unter diesem leichtlebigen Volke mich herumzutreiben, das mit Grazie zu genießen und zu sterben weiß und dessen Lebensbühne oft nur zwei Coulissen kennt, in die es ein- und ausgeht – Closerie und Morgue. Der unsterbliche Leichtsinn dieser Menschen schickte sich besser zu meiner verbitterten Stimmung, als die kühle Abgeschiedenheit des Faubourg St. Germain oder das tollhausähnliche Hasten nach Geld und Erwerb auf den Märkten jenseits der Seine. Mit meinen Nachbarn stand ich bald auf bestem Fuße; sie schonten meinen Ernst, den sie nicht begriffen, sie ehrten in mir den deutschen Flüchtling, und obwohl ich lange Zeit nur Einen Rock trug, denn es ging mir dazumal noch herzlich schlecht, so ward ich doch mit einer gewissen Auszeichnung behandelt, als wäre ich irgend ein incognito reisender hoher Herr. Dieser eine Rock hat viel verschuldet. Als ich ihn eines Tages den barmherzigen Händen meiner Concierge übergab, die ihn am offnen Fenster salonfähig zu machen suchte, und ich selbst, meiner eigenen Bedürftigkeit spottend, in Hemdärmeln aus meinem Fenster schaute, da stellte sich ein benachbarter Student, ein Jurist aus der Provinz, vor den engen Hausflur, in welchem die Portierloge steht, und sang mit unzweideutiger Anspielung die bekannten Verse Béranger’s:
Ein Tischlein und ein leerer Schrein,
Ein altes Bett auf nackter Diele,
Ein Krug, den nur füllt Gott allein,
Die Flöte, ein paar Kartenspiele,
Dazu der Liebsten Conterfei –
Was braucht er mehr, Fritz Sorgenfrei?
Es war gewiß ein unschuldiger Scherz, der mich selbst ergötzte, aber die zartfühlende Nachbarschaft war darüber höchlich empört; ohne mein Wissen bildete sich eine weibliche Ligue, die ihn zu züchtigen sich verschwur, und als am nächsten Sonntage die fröhliche Gesellschaft in dem reizenden Asnières sich herumtummelte und der übliche Tanz im Freien am Ufer der Seine begann, da weigerten sich sämmtliche Damen, mit dem Frevler zu tanzen, und das Haupt der Verschwörung, die kleine Madelon, hielt ihm eine derbe Strafpredigt. Sobald ich davon erfuhr, war mein Erstes, den Studenten aufzusuchen und ihn meiner versöhnlichen Absicht zu versichern, mein Zweites, nach der niedlichen Madelon mich umzuschauen. Ich hatte das frische Mädchen oft gesehen, wenn sie Abends, von ihrer Arbeit kommend – sie ist in einem Putzgeschäft in der Rue d’Hauteville thätig – müde vom langen Wege, über die Straße trippelte, freundliche Grüße freundlich erwidernd; ich wußte, daß sie mit ihrem Bruder, einem excentrischen Arbeiter, eine bescheidene Siedelei bewohne und sehr spröde und zurückhaltend sei. Alles das, voran meine Eitelkeit, zog mich zu ihr. Es ward mir leicht, dem artigen Kinde mich zu nähern, aber schwer, ihre Liebe zu gewinnen. Mein Talent, mit den Frauen nach Behagen umzuspringen, scheiterte an diesem seltsamen Geschöpfe. Sie war eine Pariserin vom reinsten Blute, und doch welche eigenartige Natur! Sie scherzte und tändelte, wie ihre Gespielinnen, sie schien kein größeres Vergnügen zu kennen, als an Feiertagen einen munteren Ausflug auf das Land zu machen, oder mit gerötheten Wangen, ganz Theilnahme und Hingebung, im Theater Porte St. Martin zu sitzen und die abenteuerlichen Spectakelstücke vom Anfang bis zu Ende anzuhören; sie war die Königin des liebenswürdigen Kreises, den ihre Jugendfreundinnen bildeten, und es war eine Freude, sie zu sehen, wenn sie, die dunklen Augenbrauen ernst zusammenziehend, als Richterin in einem Pfänderspiele Strafen dictirte, oder mit fliegenden Locken auf einem Rasen des Versailler Parks das Ballspiel leitete. Aber wer näher an sie herantreten und in die Tiefe ihres leichterregten Gemüthes blicken durfte, der mußte vor der schrankenlosen Sentimentalität zurückschrecken, die ihre festen Wurzeln darin geschlagen, der mußte erkennen, daß sie nach außen immer nur spielte, immer nur Maske war; und daß in Wahrheit ein namenloser Weltschmerz diese junge Seele durchaus erfüllte. Und was war dieser Schmerz? Unglaube, Verzweiflung, Fatalismus! Sie glaubte nicht an Liebe, denn sie sah nur Verführung, Sinnlichkeit, Eigennutz, sie kannte kein Glück, denn sie sagte sich, daß es nur mit dem besten Herzblut erkauft und, wenn errungen, doch wieder geopfert werden müsse; Glanz und Prunk des Pariser Lebens waren ihr ein Gräuel, weil sie selbst im Elende des Taglöhnerlebens erzogen war und den ohnmächtigen Kampf gegen allen Schmutz und Jammer der Armuth durchgelebt hatte. Sie hing mit Wärme an ihrem Vaterlande, mit Begeisterung an den Ideen der Freiheit, aber sie fand ihr Volk in Eitelkeit und Wohlleben erschlafft, in Gleichgültigkeit versumpft und unfähig zu opferfreudiger Hingebung, zu muthigem Einstehen für die gute Sache.
So war ihr die Welt eine einzige große Lüge, die Zukunft eine Nacht ohne Sterne, die Aufgabe des Lebens ein Oedipusräthsel, unlösbar und darum vernichtend. Wie kam diese einfache Arbeiterin zu so verkümmerter Weltanschauung? Ihr scharfer Verstand, ihr klarer Blick allein konnte sie nicht zu solchen Grübeleien führen: Alles, was sie war, wurde sie durch ihren Bruder und durch die Lectüre. Ihr Bruder gehörte zu jenen halbgebildeten Arbeitern, wie sie die Revolution von 1848 geboren, zu jenen starren Republikanerseelen, die theils jetzt noch einen unnützen Tirailleurkampf führen, theils unmuthig und verbittert in ihre Höhle sich zurückgezogen haben. Von Natur aus finster und menschenfeindlich, hatte ihn das Kaiserreich und das eigene Märtyrerthum, das ihn in jahrelanger Haft gehalten, noch mehr verdüstert, und allen Groll und Schmerz strömte er in die empfängliche Seele seiner Schwester aus.
Er gab ihr Bücher, die Evangelien seiner Gemeinde, jene ironisch ätzenden, mit Selbstverspottung kokettirenden Verse, wie sie seit Gerard de Nerval im Schwunge sind, jene phrasensprühenden Reformationsschriften des neuen Frankreichs, die den Mangel an Gedanken und Endzielen durch verschwommene Tiraden zu verdecken suchen. Was diese Werke aus dem Mädchen gemacht haben – möge der Himmel ihren Verfassern verzeihen! Bald hatte sie an ihnen sich satt gelesen und ohne Verständniß, ohne Leitung, griff sie nach Allem, was sie erhaschen konnte. Tagsüber bei der Arbeit füllte sie ihr Herz mit Träumen, Nachts beim schwachen Lampenscheine, über den Büchern brütend, füllte sie ihr Auge mit Thränen.
In ihrem Köpfchen mußte es sonach verschoben und verschroben genug aussehen, aber solcher Dämmer, solcher Wirrwarr wäre ihr heilsamer gewesen, als die unselige Klarheit, zu welcher er sich nach und nach in ihr löste. Mit unerbittlicher Hartnäckigkeit hatte sie sich nämlich zuletzt ihr eigenes System aufgebaut, mit dem sie freilich leider nicht allein steht: den hoffnungslosesten Nihilismus hatte sie als die einzige Lebenswahrheit erfaßt, und weil ihr warmes Herz sich doch mit allen Fasern einer jungfräulichen Gläubigkeit dagegen empören mußte, so führte der Sieg ihres Geistes nothwendig zu der Krankheit ihres Gemüthes, zur Sentimentalität, zum Weltschmerz.
So fand ich sie, so quälte ich mich Monate lang mit ihr ab und mußte zuletzt überwunden schweigen, wenn sie oftmals, mitten im heftigsten Wortkampfe, mit einem düstern melancholischen Verse des unglücklichen Dichters einfiel, der seinem Wahnsinn und seinem Elend am Laternenpfahl ein Ende machte.
Zwar war sie stets offen und zutraulich mit mir, aber eine innigere Annäherung vermied sie sichtlich und meine Liebe ward darum um desto [664] stürmischer und leidenschaftlicher. Ich sah, daß das auf die Länge nicht gut thun konnte, ich fragte mich, warum sie meine aufrichtige, herzliche Zuneigung nicht erwidern wollte, und fand, daß ich ihr wohl zu kritisch und ablehnend sei, daß ich mich ihren excentrischen Träumereien nicht genug anschmiegte. Da änderte ich mein Verfahren. Statt sie zu widerlegen, suchte ich ihre weltanklagenden Vernünfteleien zu rechtfertigen, statt ihre Thränen zu trocknen, lockte ich sie grausam hervor. Ich erzählte ihr von unserem deutschen Vaterlande und seinen getäuschten Hoffnungen und von dem harten Brode der Verbannung, ich brachte ihr Bücher und Zeitschriften, während ich sie vorher nicht genug davor zu warnen wußte, und siehe, bald glaubte ich sie mehr und mehr für mich gewonnen zu haben.
Da brachte ich ihr eines Abends die Lieder Heinrich Heine’s, von dessen qualvollem Lebensende ich ihr Manches mitgetheilt hatte, natürlich nicht den deutschen Heine, es war die Uebersetzung seines unglücklichen, wahnsinnigen Freundes Gerard de Nerval. Sie dankte mir auf die liebenswürdigste Weise, und als ich sie zum Nachtgruße auf die Stirn küßte, bat ich sie noch lachend, sich und dem todten Dichter ja eine ruhige Nacht zu gönnen. Aber als ich des andern Morgens, wie gewöhnlich, zu ihr kam, flog sie mir in holdseligster Aufregung entgegen, schlang die Arme um mich und tiefaufathmend lohnte sie mich mit dem ersten Kusse. Sie hatte die ganze Nacht hindurch Heine gelesen, und diese Nacht hatte mein Loos entschieden. Wunderliches Mädchen! Immer und immer wieder las sie, an meiner Seite sitzend, die Widmungsworte, die ich ihr in das Buch geschrieben, und sie war ganz Wonne und Zärtlichkeit. Von da begann ein prächtiges Liebeleben für uns, das mich zwei Jahre hindurch fesselte und beglückte. Je sicherer sie sich in meiner Liebe wußte, desto beruhigter ward ihr Gemüth, desto gesünder ihr Geist und die weltschmerzlichen Schwärmereien fielen sie in immer größeren Pausen an. Wenn ihre Vergnügungen früher schon unschuldigster Art gewesen, wie sie denn natürlich niemals die Closerie besucht hatte, so mied sie dieselben von nun an ganz und gar und wollte nur für mich und mit mir wirken und glücklich sein. Bücher und Verse lagen im Staube und nur der französische Heine gehörte zu den Laren ihres Heerdes, und das elegante Büchlein war bald ganz zerlesen. Am glücklichsten war sie, wenn sie Abends nach gethaner Arbeit mit mir den beleuchteten Quai entlang wandeln oder im schattigen Gärtchen hinter der Notre-Dame sitzen oder im Theatre français ein classisches Drama hören durfte. Ihr feines Verständniß und zumal ihre ungetrübte sittliche Anschauung, ihr feiner Tact, ihr gesundes Urtheil zeigten sich hier und bei hundert andern Gelegenheiten in bewundernswerther Weise. So besonders einmal, als ich sie beredet hatte, die vielgefeierte Mademoiselle Theresa, die Königin der Cafés chantants, mit anzuhören. Als das entzückte Volk über die kreischenden Jodler, das Fußstampfen der modernen Sappho jubelte, da faßte mich meine gute Madelon am Arme, zog mich aus der Menge und bat mich, sie niemals wieder an diesen Ort zu bringen. „Armes Paris,“ rief sie damals aus, „dich lockt nur noch das Ueberraschende, und das Ueberraschende dieser Scene ist die Frechheit, der wilde Laut, der ungebunden aus der gemeinen Seele bricht!“
Wie konnte sie in edlem Zorne aufwallen, wenn wieder eine ehrliche Zeitung geknebelt wurde, wieder ein Kämpe des Lichts in die Verbannung ging; wie leuchtete ihr Auge, als ich ihr an der Porte St. Denis die schlecht abgekratzten Worte zeigte, die nun wieder, für jedes Auge lesbar, aus dem grauen Steine hervorgetreten sind: „Liberté, Egalité, Fraternité!“
So war sie, meine gute Braut, mein einziges Kleinod, das ich für unverlierbar hielt! Ich war ganz glücklich und dachte schon daran, mein Liebchen zum Maire zu führen.
Lassen Sie mich zu Ende. kommen, Freund! Das sonnige Eiland unsers Glücks deckte nur eine Wolke, das war ihr Bruder. Seit mich die innigste Liebe mit Madelon verband, wandte er sich immer mehr von uns ab; immer düsterer und verschlossener ward der vereinsamte Mensch, und zuletzt zog er sogar von seiner Schwester hinweg in eine andere Wohnung. Madelon ahnte nichts Schlimmes, nur mich erfüllte die größte Besorgniß um ihn. Ach, sie war nur zu gerecht!
Vor einigen Wochen ward ich in seine Wohnung geholt, eine stille Menschenmenge umgab das Haus, und als ich in sein Zimmer trat, lag er, von weinenden Frauen umgeben, eine Leiche, auf dem ärmlichen Lager. An einem Laternenpfahle hatte man ihn gefunden, wie man einst Gerard de Nerval fand, seinen Lieblingspoeten.
Madelon lag zu seinen Füßen, die sie krampfhaft umfaßte. Mit herzerschütternder Stimme rief sie seinen Namen, ihn um Verzeihung bittend, und als ich hinzutrat, sie leise hinwegzuziehen suchte, da stieß sie mich zurück und, das Auge halb gebrochen auf mich gerichtet, rief sie: „Hinweg! Du hast ihm meine Liebe gestohlen. Meine Liebe war ihm Alles. Als er die verloren hatte, verlor er sich selbst!“ Ich schonte sie, ließ sie ihren Schmerz austoben. Ich wartete auf eine Lösung ihres Paroxysmus, aber ich wartete vergebens. Keine Thräne vergoß sie, nur seinen Namen rief sie immer und immer wieder und in wiederholten Selbstanklagen schüttete sie ihren Jammer aus. Als die Abenddämmerung das Zimmer verdunkelte, versuchte ich es nochmals, sie mit liebevollen Worten hinwegzuführen, aber wieder stieß sie mich zurück und es war ein tiefeinschneidendes Lachen, das nie in mir verhallen wird, als sie mich mit den Worten verhöhnte: „Wo ist nun das Glück, das Du mir und Dir versprochen? Da liegt es! Habe ich es Dir nicht gesagt, es giebt kein Glück für die Armen? Das Spital, der Laternenpfahl ist ihr Ende, ihr Glück ein lustiger Sprung auf dem Tanzboden!“ Dann lag sie wieder stumm bei dem Todten und so lag sie die ganze Nacht hindurch. Ich blieb; sie duldete mich.
Als man des andern Tags die Leiche hinwegbrachte, welcher Jammer! Die Nachbarn begleiteten den Todten nach dem Mont Parnasse, Madelon verwehrte mir, ihnen zu folgen.
So lag sie acht Tage in einem Geistesstarrkrampf nur zuweilen sang sie jenen Vers vor sich hin, ach! und es war kein Leichencarmen, irgend ein leichtfertiges Couplet war es, das sie, wer weiß wo, aufgelesen hatte. Nur die Worte flüsterte sie manchmal: „Tanzboden, Spital, Laternenpfahl!“
Endlich ward sie ruhig, aber ihre Ruhe bereitete mir noch größeren Kummer. In der entschiedensten Weise erklärte sie mir, daß ich sie verlassen müsse, daß der Schatten ihres Bruders zwischen uns stehe und daß unsere Vereinigung ein Frevel wäre. Umsonst bat und bestürmte ich sie, sie blieb dabei, daß wir uns trennen mußten, nur daß sie das bald mit kalter Strenge, bald mit der alten holden Sanftmuth betheuerte, es waren entsetzliche Tage!
Zuletzt verbot sie mir mit unbesiegbarer Festigkeit, sie ferner zu besuchen, ihr Zimmer war für mich verschlossen. Ob ich stundenlang vor dem Fenster in der Rue d’Hauteville, wo sie arbeitet, oder vor der Gartenmauer an ihrer Wohnung vorüber ging, sie merkte es wohl, aber es rührte sie nicht. Ich armer Thor, wie glücklich war ich schon, wenn ich sie nur sehen durfte!
In den letzten Tagen fiel es mir auf, daß sie in der Nacht noch spät allein ausging. So oft ich ihr folgte, immer hatte ich sie in einem der vielen Gäßchen unseres Quartiers verloren. Gestern Abend nur entzog sich ihre Spur mir nicht, aber, Allmächtiger, wohin führte sie mich! In die Closerie des Lilas! Als ich, vor Schrecken bebend, hinter ihr eintrat, merkte ich, daß sie alsbald von vielen Verehrern umringt war, ich merkte, daß sie sich nicht zum ersten Male auf diesem Boden bewegte. Sie war von den Ausgelassenen die Ausgelassenste, sie sang und lärmte und tanzte – jetzt faß’ ich’s nicht, daß ich das mit ansehen konnte! Im Schwarm verloren, erkundigte ich mich nach ihr und hörte, daß sie seit etwa acht Tagen sich hier eingefunden habe und daß sie sofort aufgefallen sei, weil sie, in tiefer Trauerkleidung, so tolllaunig sich gebehrdet hatte. Ich nahm allen Muth zusammen und näherte mich ihr. Als sie mich erblickte, schrak sie zusammen und erbleichte, aber gleich darauf trat sie, ein Liedchen trällernd, auf mich zu, und mit dem alten liebevollen Tone flüsterte sie mir dann in’s Ohr: ‚Begreifst Du nun, daß Du mich lassen mußt!‘ Die Unselige! Um mich von sich loszureißen, hat sie diesen Schritt gethan. Nicht wilde Lust, die wahnwitzigste Berechnung trieb sie hierher. Sie hat sich mir geopfert!
Wie sinnlos stürzte ich hinaus, sinnlos irrte ich die ganze Nacht durch die Straßen. Heute Mittag brachte mir ein Knabe ein Buch, es war Nerval’s Heine, meine Widmungsworte waren herausgeschnitten. So hab’ ich sie verloren, das arme räthselhafte Wesen! – Als ich Sie heute erblickte, da schoß mir der Gedanke durch den Kopf: wie, wenn Du sie doch noch nicht ganz aufgäbest, wenn Du sie doch erst durch einen Unbefangenen prüfen ließest! Darum lud ich Sie hierher. Verzeihen Sie einem Wahnsinnigen ein so wahnsinniges Spiel! Reden Sie nicht von ihr, erzählen Sie, wie Sie sie gefunden! Ich weiß, ich habe sie verloren.“
Erschüttert schlug der bedauernswerthe Mann die Hände vor das Gesicht, über das die hellen Thränen stürzten. Auch mir war das Weinen nahe. Was sollte ich ihm sagen? Ich drückte ihm die Hand und schaute still vor mich hin. Bald erhob er sich und sagte mit fester Stimme: „Gehen wir,“ und schweigend, wie wir hierher gekommen, maßen wir den Weg zurück. Als wir uns am Café Madrid trennten, rief er mir noch mit einem Tone, dessen Bitterkeit ich nie vergessen werde, die Worte nach: „Noch Eins, Freund, Ihren Heine werde ich nie wieder lesen.“
Mehrere Tage lang sah ich meinen Freund nicht, da führte mich ein längst gegebenes Versprechen in die Brasserie (Brauerei) Fanta. Es ist das ein freundliches Etablissement, nahe der neuen Oper, dessen deutscher Besitzer vortreffliches Wiener Bier verzapft. Aber nicht in den oberen, eleganten Räumen der Brasserie war mein Aufenthalt, in die Kellertiefe hinab wies mich der deutsche Garçon, wo sich unsere Landsleute eine gemüthliche Kneipe geschaffen haben. Da saßen sie, aus aller Herren Ländern zusammengeführt, die Hemdärmel aufgestülpt, die Arme aufgestemmt, das glimmende Pfeifchen im Munde, in alter burschikoser Weise, ein munteres, tüchtiges Völkchen, bei dem sich auch Jaell, der berühmte Pianist, in seiner einfachen Art gern einfand. Ein prächtiger Kaufmann aus Bahia, ein geborner Welfenunterthan, der einstmals zu Göttingen seine Klinge schlug, war dazumal der Senior der bunten Landsmannschaft. Ihm sei mein deutscher Gruß über das Weltmeer gesandt! Manches wackere Wort über die gute Heimath, über das Wenige, was sie errungen, über das Viele, was ihr noch fehlt, flog herüber und hinüber, Commerslieder erklangen in alter herziger Weise, und zum Schlusse wurde sogar in gediegener Ausführung ein „Salamander“ gerieben.
Mein Freund hatte sich gegen Mitternacht auch eingefunden. Er saß theilnahmlos und still unter den Fröhlichen, und als das Gespräch über die deutschen Dichter sich verbreitete und die unvermeidlichen Anekdoten über Heine wieder aufgefrischt wurden, zog eine tiefe Wolke über seine Stirn und unmuthig wandte er sich zu mir: „Immer wieder Heine! Ich gedachte, ruhigen Abschied von einigen Freunden nehmen zu können. Morgen gehe ich nach Deutschland zurück.“
Als nun gar ein junger Landsmann mit kräftiger Stimme das Heine-Mendelssohn’sche Lied „Du schönes Fischermädchen“ anhob, da drückte mir der Schweigsame die Hand und eilte ohne Abschied die Stufen hinan. Mir aber stand die ganze Nacht hindurch die Gestalt des räthselhaften Mädchens mit dem großen, gebrochenen Blicke vor der Seele, und dazwischen erklang es wieder so sieghaft schön und beruhigend:
Mein Herz gleicht ganz dem Meere,
Hat Sturm und Ebb’ und Fluth,
Und manche schöne Perle
In seiner Tiefe ruht.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ zitiert nach: Heinrich Heine, Buch der Lieder, 20. Februar 1839. Vorrede zur dritten Auflage.