Die Gartenlaube (1869)/Heft 11

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[161]

No. 11.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

„Um Gott, Kind, ich glaube gar, Du hast Anlage zur Sentimentalität – nur das nicht!“ rief der Minister abwehrend – seine Stimme hatte in den weiteren zwölf Jahren seiner diplomatischen Laufbahn bedeutend an schneidender Schärfe gewonnen. „Ich habe Dir lediglich aus dem Grunde die hirnverdrehenden Märchenbücher konsequent weggenommen, und nun muß ich doch erleben – daß Dir die sogenannte Waldpoesie im Kopfe spukt. … Weißt Du nicht, daß sich ein junges Mädchen Deines Standes in den Augen vernünftiger Leute grenzenlos lächerlich macht, wenn es à la Gänsemädchen einsam draußen umherschweift, das Ruder in die Hand nimmt –“

„Um ein paar Taglöhnerkinder über den See zu fahren,“ wagte die tieferbitterte Gouvernante einzuwerfen. „Liebe Gräfin, ich fasse es nicht, wie Sie sich so vergessen konnten!“

Bis dahin hatten Gisela’s Augen widerspruchslos, aber mit dem nachdenklich forschenden Ausdruck, der ihnen so eigen war, an dem Gesicht des Stiefvaters gehangen. Die auffallende Gereiztheit Dessen, der, ein einziges Mal ausgenommen, stets die grenzenloseste Nachsicht gegen sie geübt, befremdete sie offenbar mehr, als sie sich die Rüge zu Herzen zu nehmen schien. Bei Frau von Herbeck’s spitzer Bemerkung jedoch flog ein herber Zug um ihren Mund.

„Frau von Herbeck,“ sagte sie, „ich erinnere Sie an das, was Sie immer ,die Richtschnur Ihres ganzen Lebens’ nennen – an die Bibel. … Waren es nur adelige Kinder, die Christus zu sich kommen ließ?“

Der Kopf des Ministers fuhr herum – er starrte seiner Stieftochter einen Moment sprachlos in’s Gesicht. … Dieses junge Wesen, das man „in Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand“ in Unwissenheit und geistiger Unthätigkeit hatte aufwachsen lassen, das gleichsam mit der Lebenslust nur aristokratische Anschauungen und Vorurtheile eingeathmet hatte, der streng behütete gräfliche Sproß entwickelte auf einmal von innen heraus eine Logik, die in sehr fataler Weise an die berüchtigte Denkfreiheit erinnerte.

„Was sprichst Du da für ungereimtes Zeug, Gisela!“ fuhr er heraus. „Für Dich ist und bleibt es ein Unglück, daß die Großmama so früh sterben mußte. … Es ist ein Element in Dir, das abwärts neigt, und das würde sie, dies Bild aristokratischer Hoheit und Frauenwürde –“ die Baronin räusperte sich und stieß mit der lackirten Spitze ihres Stiefelchens einen Stein hinab in das Wasser – „ja, sie würde diese Neigung bis auf das kleinste Wurzelfäserchen vertilgt haben,“ fuhr der Minister unbeirrt fort. „In ihrem Namen verbiete ich Dir hiermit ernstlich alle derartigen Unschicklichkeiten, wie sie bereits vorgekommen sind.“

Noch umschloß die unschuldige Mädchenseele mit Inbrunst das Bild der Großmutter – an dies Andenken hatte ihr grübelnder und zersetzender Verstand nie gerührt. Sie war sehr stolz auf ihre hohe Abkunft, weil es die Großmama auch gewesen; sie beharrte in mancher feudalen Härte ihren Untergebenen gegenüber, fest überzeugt, daß es so und nicht anders sein müsse, denn „die Frau Reichsgräfin Völkern“ hatte es genau so gehalten und konsequent von ihrer Enkelin verlangt.

„Nun meinetwegen,“ sagte sie auch jetzt, zwischen Nachgiebigkeit und unmuthigem Widerstand schwankend; „wenn es sich denn durchaus nicht für mich schickt, so geschieht es eben nicht wieder. … Uebrigens waren es durchaus keine Taglöhnerkinder – das kleine Mädchen gehört in die Pfarre –“

Ein Schrei unterbrach sie. Einer der Knaben hatte inzwischen den Kahn weitergerudert und an einer ungünstigen Stelle angelegt. Beim Herausspringen war das kleine Mädchen in den See gestürzt – eben verschwand das blonde Köpfchen unter dem Wasser, als ein riesiger Neufoundländer dicht hinter den am Ufer Stehenden aus dem Dickicht brach und sich in den See warf. Er packte das Kind und legte es, an das Ufer springend, zu den Füßen eines Herrn nieder, der aus dem Gebüsch getreten war.

Das kleine Blondköpfchen war jedenfalls ein munteres, beherztes Ding, das keinen Augenblick die Geistesgegenwart verloren hatte – es richtete sich sofort auf und strich mit flinken Händchen das Wasser aus den Augen.

„Ach, du lieber Gott, meine neue, blaue Orleansschürze!“ rief sie erschrocken und rang die triefende Schürze aus. - „Na, die Mama wird schön zanken!“

Gisela, die herbeigeflogen war, zog mit bebenden Händen ein Tuch aus der Tasche, um es dem Kind über die nassen Schultern zu werfen.

„Das wird wenig nützen,“ sagte der Herr. „Aber ich möchte Sie bitten, künftig zu bedenken, daß solch’ ein kleines Menschenleben auch beschützt sein will, wenn wir es eigenmächtig in die Hand nehmen. … Mag es für die Gräfin Sturm auch nur die Geltung eines Spielzeugs haben – es hat doch Eltern, die es beweinen würden.“

Er nahm das durchnäßte Kind auf den Arm, lüftete den [162] Hut und ging, während der Hund freudeheulend an ihm in die Höhe sprang.

Den gefalteten, schlaff niedergesunkenen Händen der jungen Gräfin war das Tuch entfallen – mit tieferschreckten Augen und blassen Lippen hatte sie die harte, strafende Rede hingenommen, und nun starrte sie wortlos dem Fremden nach, bis er im Dickicht verschwunden war.


11.

Weder der Minister, noch eine seiner Begleiterinnen hatten sich der Unglücksstelle genähert – die Damen waren sogar, ängstlich die Oberkleider aufnehmend, um einige Schritte in den Wald zurückgewichen, da der triefende Hund mit seinen Freudensprüngen auch sie umkreiste; Unfall und Rettung waren ja auch das Werk nur weniger Augenblicke gewesen.

„Kennen Sie den Herrn?“ wandte sich die Baronin lebhaft an die Gouvernante und ließ die Lorgnette sinken, nachdem sie jede Bewegung des Fremden aufmerksam und angelegentlich verfolgt hatte.

„Ja, wer ist er?“ fragte auch der Minister.

„Haben ihn Excellenz genau angesehen?“ frug Frau von Herbeck zurück. „Nun, das ist er – der brasilianische Nabob, der eigentliche Besitzer, des Hüttenwerks, der Grobian, der das weiße Schloß ignorirt wie einen Maulwurfshügel. … Ich begreife nicht, wie es die Gräfin über sich gewinnen konnte, in seine Nähe zu gehen, und will gleich meinen kleinen Finger verwetten, daß er ihr irgend eine Unart gesagt hat – seine Haltung war zu unverbindlich!“

Die Baronin schritt auf Gisela zu, die mit gesenkten Wimpern langsam zurückkehrte. „Hat Dich der Mann beleidigt, mein Kind?“ frug sie sanft, aber mit einem seltsam forschenden Blick.

„Nein,“ antwortete Gisela rasch, und wenn auch ein tiefes, echt mädchenhaftes Erröthen über ihr Gesicht, bis an die Schläfe hinauflief, ihre Augen hatten doch jenen stolz abweisenden Ausdruck, der sich in gewissen Momenten wie ein Schild vor ihre Seele legte.

Unterdeß war der Minister mit Frau von Herbeck in den Wald eingetreten. Seine Excellenz hatte die Hände auf dem Rücken gekreuzt und bog den Kopf gegen die Brust – seine gewöhnliche Haltung, wenn er sich berichten ließ. Noch lag viel Eleganz und Elasticität in seiner Erscheinung, allein Haupt- und Barthaar war bereits stark ergraut, und jetzt, wo er, sich selbst vergessend, zuhörte, sanken die Wangenmuskeln schlaff herab und verliehen dem unleugbar geistreichen Gesicht etwas Grämliches – Seine Excellenz war alt geworden.

„Nicht so viel“ – rief Frau von Herbeck und schnippte mit Daumen und Zeigefinger in die Luft – „fragt der Mensch nach uns! … Da kam er auf einmal, vor etwa sechs Wochen, wie hereingeschneit! … Ich mache meinen Morgenspaziergang und komme am Waldhause vorüber – da sind die Fensterladen zurückgeschlagen und der Schornstein raucht, und ein Neuenfelder Mann, der mir begegnet, sagt, der, Herr aus Amerika sei da! … Excellenz, ich bin immer sehr unglücklich darüber gewesen, daß das Hüttenwerk in solche Hände kommen mußte – Sie glauben nicht, was für ein Geist in die Leute gefahren ist! Die neuen Häuser und das Bücherlesen haben ihnen dergestalt die Köpfe verdreht, daß sie buchstäblich nicht mehr wissen, was unten und oben ist. … Das sicherste Merkmal ist mir ihre Art und Weise zu grüßen – das neigt auf einmal den Kopf ganz anders und starrt einem so dreist in’s Gesicht, daß ich mich nicht mehr überwinden kann, zu danken. … Dies Alles, ich wiederhole es, hat mich stets verstimmt und verleidet mir den Arnsberger Aufenthalt gründlich – seit der Ankunft dieses Herrn Oliveira aber bin ich geradezu erbittert –“

„Er ist ein Portugiese?“ unterbrach sie die Baronin, die mit Gisela hinter den Beiden herschritt.

„Man sagt es – und seinem unglaublichen Hochmuth nach ist es mir auch sehr wahrscheinlich, daß er aus irgend einer in Brasilien eingewanderten portugiesischen Familie von Adel stammt.

… Auch sein Aeußeres spricht dafür – ich bin seine entschiedene Widersacherin, aber leugnen kann ich deshalb doch nicht, daß er ein sehr schöner Mann ist – Excellenz haben sich ja selbst überzeugen können.“

Excellenz antwortete nicht, und auch die beiden Damen schwiegen.

„Er hat die Haltung eines Granden,“ fuhr die Gouvernante eifrig fort, „und sitzt zu Pferde wie ein Gott! – O,“ unterbrach sie sich erschrocken, „wie kommt mir doch solch’ ein unschicklicher Vergleich auf die Zunge!“ Ihre Mundwinkel sanken plötzlich, als würden sie durch Bleigewichte herabgezogen, und die Lider legten sich reuevoll über die schwimmenden Augen – es war der vollendete Ausdruck der Buße und Zerknirschung.

„Wollen Sie nicht die Freundlichkeit haben, mir endlich zu sagen, durch welche Missethat dieser Herr Oliveira Sie erbittert hat?“ fragte der Minister ziemlich barsch und ungeduldig.

„Excellenz – er sucht etwas d’rin, unsere Gräfin zu beleidigen.“

„Dazu haben Sie ihn herausgefordert!“ rief das junge Mädchen und trat, erglühend und zürnend vor, während der Minister unangenehm erstaunt stehen blieb.

„O liebe Gräfin, wie ungerecht! … Fordere ich ihn denn etwa auch auf, Sie zu ignoriren, wenn Sie an ihm vorüberfahren? … Die Sache verhält sich folgendermaßen:“ – wandte sie sich an den Minister und seine Gemahlin – „Ich höre, daß er in Neuenfeld ein Asyl für arme, verwaiste Kinder aus den umliegenden Ortschaften gründen will – Excellenz, in unserer Zeit gilt es, die Augen offen zu haben und handelnd einzugreifen, wo es irgend möglich – ich überwinde also meinen Groll und Ekel gegen das gesetz- und zuchtlose Treiben der ganzen jetzigen Neuenfelder Wirtschaft, schließe acht Louisd’or im Namen der Gräfin und fünf Thaler von Seiten meiner Wenigkeit in ein Couvert und schicke es als Beisteuer zu dem beabsichtigten Asyl an den Portugiesen. … Natürlicherweise setzte ich in einigen begleitenden Zeilen voraus, daß die Anstalt auf streng kirchlichem Boden stehen werde, und erbot mich, für eine Vorsteherin sorgen zu wollen. … Was geschieht? … Das Geld kommt zurück, mit dem Bemerken, daß der Fond vollständig sei und keines Zuschusses bedürfe, und eine Vorsteherin sei bereits gefunden in der vortrefflich erzogenen ältesten Tochter des Neuenfelder Pfarrers – es ist zu ärgerlich!“

„Sie haben es aber auch sehr schlau angefangen, beste Frau von Herbeck!“ sagte der Minister in wahrhaft vernichtendem Hohn. „Und wenn Sie in der Weise weiter operiren, werden Ihnen ja recht viele Vögel in das Garn fliegen. … Sie hätten die Hand davon lassen sollen!“ fügte er in ausbrechendem Aerger hinzu. „Merken Sie sich für künftig: Ich will nicht, daß die Feindseligkeit und der Widerspruch da drüben auf eine so plumpe, Weise herausgefordert und genährt werden – ein Goldfisch will subtil angefaßt sein, wenn Sie es noch nicht wissen, meine sehr verehrte Frau von Herbeck!“

„Und wie kommen Sie denn auf die Idee,“ rief die Baronin, und ihr funkelnder Blick fuhr hochmüthig messend über die verblüffte Gouvernante hin – „wie kommen Sie auf die Idee, Ihren Instructionen schnurstracks entgegen, die Gräfin mit einem Mal gewissermaßen in die Oeffentlichkeit zu bringen und ihr eine Rolle aufzudrängen, die weder ihr, noch uns erwünscht sein kann? … Unser armes, krankes Kindchen,“ setzte sie weich hinzu, „das wir bisher vor jedem Zuglüftchen aus der schlimmen Welt da draußen sorgfältig bewahrt haben! … Siehst Du, Gisela,“ unterbrach sie sich plötzlich und fixirte das Gesicht der Stieftochter mit einem tiefbewegten Blick, – „daß Du noch lange nicht so weit hergestellt bist, wie Du denkst? … Da ist er ja, der erschreckend jähe Farbenwechsel, der Deinen Anfällen stets vorauszugehen pflegt!“

Das junge-Mädchen erwiderte kein Wort. Man sah, daß sie einen Moment mit einem heftigen Unwillen kämpfte; aber dann wandte sie sich achselzuckend ab und schritt weiter – mit dieser einen Bewegung sagte sie: „Ich bin viel zu stolz, um das, was ich einmal fest versichert, nochmals zu betheuern – glaube, was Du willst!“

Eine Zeitlang wandelten Alle schweigend weiter. Frau von Herbeck war sehr betreten; sie hielt sich consequent einige Schritte hinter dem Minister und vermied es augenscheinlich, in sein Gesicht zu sehen, das allerdings nicht die rosigste Laune verrieth. Am Thor des Schloßgartens blieb er stehen, während die Baronin und Gisela in die Allee eintraten; er sah über die Schulter noch einmal nach Neuenfeld zurück, dessen rothe Dächer im Sonnenschein [163] funkelten – nur eine First ragte dunkelbläulich schimmernd über sie hinweg – es war das vollständig renovirte, neu mit Schiefer gedeckte Pfarrhaus.

Der Minister zeigte mit dem Finger nach der dunklen Linie – ein kaltes Lächeln theilte seine bleichen Lippen und ließ die scharfgespitzten Zähne sehen.

„Mit dem dort wären wir fertig!“ sagte er.

„Excellenz – der Pfarrer?“ – rief Frau von Herbeck freudig erschrocken.

„Ist pensionirt. … Hm, wir geben dem Mann einfach Gelegenheit, zu erproben, wo er sein Brod leichter findet: in Gottes Wort, oder in Gottes Werken. … Der Mensch ist in der That ungeschickt genug gewesen, seine astronomische Gelehrsamkeit gerade jetzt in einem Buch der Welt zu präsentiren.“

„Gott sei Dank!“ rief Frau von Herbeck tief befriedigt. „Excellenz mögen nun darüber denken wie Sie wollen, aber den hat der Herr selbst verblendet und seiner gerechten Strafe entgegengeführt! … Excellenz sollten diesen Mann nur ein einziges Mal auf der Kanzel hören! Das wimmelt von Freigeistereien, von Blumen und Sternen, Frühlingshimmel und Sonnenschein – man glaubt jeden Augenblick, er will Verse machen. … Er war mein entschiedenster Widersacher, er hat mir meine erhabene Mission furchtbar erschwert – ich triumphire!“

Mittlerweile schritten die zwei Damen langsam durch die Allee.

Während Gisela’s Augen so tief nachdenklich am Boden hingen, als wolle sie die kleinen, weißgebleichten Kiesel zu ihren Füßen zählen, glitt der Blick ihrer Stiefmutter unermüdlich, mit einer Art von finsterer Forschung über sie hin. … Sie mußte jetzt aufsehen zu der Gestalt, die sie, verkümmert und jeglichen Jugendreizes entbehrend, bis noch vor einer halben Stunde in der Erinnerung festgehalten, der sie noch vor wenigen Wochen von Paris aus eine höchst elegante Haustoilette geschickt hatte mit dem stillmitleidsvollen Gedanken, wie entsetzlich wohl die kleine gelbe Vogelscheuche darin aussehen würde! … Waren Frau von Herbeck und der Arzt blind, daß sie nie auch nur, mit einer Silbe über diese merkwürdige Entpuppung berichtet hatten? … Die elegante, graciöse Frau von dreißig Jahren, hinter deren Stirn diese Betrachtungen fast fieberhaft kreisten, war noch blendend schön – allein die Jutta von Zweiflingen mit dem Duft und Schmelz der ersten Jugend war sie doch nicht mehr. Bei Abendbeleuchtung mochte dieser Kopf immerhin noch für achtzehnjährig gelten, jetzt aber, unter dem klaren Tageslicht, trat ein Verlust unerbittlich hervor – weiß war der Teint noch, allein nicht mehr frisch, er sah aus wie ein leicht zerknittertes, weißes Blumenblatt. … Vielleicht dachte die schöne Frau, indem ihr Blick so starr finster auf dem marmorglatten jungen Gesicht neben ihr haftete, an die rastlos nagende Sorge, die ihr dies beginnende leise Verwelken verursachte. …

Am Ende der Allee kam ein ziemlich bejahrter Lakai – er schien sehr erhitzt aus seiner geballten Hand, die er mit ängstlicher Vorsicht beobachtete, guckte ein munteres Vogelköpfchen. Er bog den alten Rücken fast bis zur Erde vor den Damen.

„Gnädige Gräfin haben heute Morgen einen guten Buchfinken gewünscht,“ sagte er zu Gisela; „der Greinsfelder Leineweber hat die besten Schläger auf dem ganzen Walde – und da bin ich gleich heute Nachmittag ’nübergelaufen. … Billig werden gnädige Gräfin das Thierchen freilich nicht haben – ’s ist dem Leineweber sein schönster Sänger. … Um ein Haar wär’ mir das kleine Ding unterwegs entwischt – ein Stäbchen am Bauer war zerbrochen.“

Er sagte das mit einem erleichternden Aufathmen – man sah, der Mann hatte Angst und Mühe gehabt bei dem Transport des kostbaren Vogels.

Die junge Gräfin strich zärtlich und behutsam mit der feinen Fingerspitze über das Köpfchen, das sich ängstlich duckte.

„Es ist gut, Braun,“ sagte sie. „Thun Sie das Thierchen in die Volière – Frau von Herbeck wird sorgen, daß der Mann seine Bezahlung erhält.“

In diesem Augenblick hätte der strengste Ceremonienmeister auch nicht den leisesten Tadel an ihrer Haltung finden können – das war die gebietende Herrin, die Hochgeborene, die nur Winke und Worte von der lakonischsten Kürze für ihre Untergebenen haben durfte – es war die Gräfin Völdern vom Kopf bis zur Zehe. … Die junge Dame hatte kein Wort des Dankes für den greisen Mann – er war in der glühenden Nachmittagssonne stundenweit gelaufen, um ihren lebhaft ausgesprochenen Wunsch zu erfüllen, der Schweiß perlte von seiner Stirn, und die alten Füße waren sicher todtmüde aber, das war ja der Lakai Braun, dem die Gliedmaßen dazu gegeben waren, sie zu bedienen – so lange sie denken konnte, setzten sich diese Arme und Füße für sie in Bewegung, diese Augen durften nicht lachen, nicht weinen in ihrer Gegenwart; der Mund nicht eher sprechen, als bis sie befahl – sie kannte keine Hebung, keine Senkung seiner Stimme, Alles ging unter in dem vorgeschriebenen devoten, halben Flüsterton. … Hatte dieser Mann innere Freuden und Leiden? Dachte und fühlte er? Das hatte die kleine Gräfin, die über die Möglichkeit eines Seelenlebens in ihrem Puß stundenlang gegrübelt, nie in das Bereich ihrer Betrachtungen gezogen – diese in ein und dieselbe Form gekneteten Menschen regten sie dazu nicht an.

Der Lakai verbeugte sich so tief, als sei ihm mittels der Versicherung, daß der Vogel bezahlt werden solle, eine unverdiente Gnade widerfahren, und entfernte sich auf leisen Sohlen.

Im Vestibüle trafen die beiden Damen mit dem Minister und der Gouvernante wieder zusammen. Seine Excellenz zog sich für einen Moment zurück, um seinen Anzug mit einem bequemeren zu vertauschen, und die junge Gräfin ging, ihrer Kammerfrau einen Auftrag zu geben, während die Baronin und Frau von Herbeck die Treppe hinaufstiegen.

„Haben Sie den Kaffee bestellt, Frau von Herbeck?“ fragte die Baronin.

„Er steht bereit, Excellenz,“ antwortete die Gouvernante und deutete einladend in einen Gang, der sich seitwärts vom Hauptcorridor abzweigte.

Die Baronin stutzte und zögerte, die niedrige Stufe zu betreten, die hinauf führte. In demselben Augenblick wurde die am gegenüberliegenden Ende des Ganges sichtbare Thür geöffnet – ein Bedienter trat heraus, und als er die Damen erblickte, schlug er beide Thürflügel zurück.

In einem weiten Saal, nahe an ein hohes Bogenfenster gerückt, stand der Kaffeetisch. Rubinrothe und feurigblaue Lichter guckten über das blinkende Silbergeräth und streckten sich riesig und gestaltlos auf das dunkle Getäfel des Fußbodens hin – der Fensterbogen umschloß eine uralte, prachtvolle Glasmosaik, und hinter den funkelnden Gewändern der durchsichtigen Heiligen erblühte das ehrliche Stückchen Thüringer Gegend draußen zu einem feenhaft bunten Wunderreich des Orients.

Ohne ein Wort zu sagen, aber mit dem Ausdruck eines mißfälligen Befremdens, durchschritt die Baronin rasch den Corridor und betrat den Saal. Es war derselbe an die Schlosskirche stoßende Raum, der für das Kind Gisela einst ein Gegenstand sehnsüchtiger Wünsche gewesen – und von den Wänden herab schauten die überlebensgroßen, tiefsinnig verkörperten Gestalten aus der biblischen Geschichte, um deren willen ehemals die Weltdame, Frau von Herbeck, consequent und mit Abscheu den Saal gemieden hatte, weil „sie stets schreckhaft davon träumte“.

Der Bediente war mit eingetreten; er rückte die altväterischen, gestickten, hochbeinigen Lehnstühle um den Tisch, zog vor eines der Eckfenster den Laden, weil die Sonne zudringlich und sengend in den kühlen, mit einer Art von Kirchenluft erfüllten Raum fiel, und wischte von einer Tischplatte den feinen Staubanhauch, der sich ohne Zweifel in einigen Minuten wieder erneuerte – diese uralten Wände, dieses fast schwarz gewordene Holzgetäfel des Fußbodens predigten wie die Wandgemälde dringend und rastlos das Ende alles Zeitlichen: „Staub, Staub!“

Die Baronin stand neben einem Lehnstuhl, auf dessen hohen Rücken sie ihren Arm stützte – sie hatte weder Hut noch Mantille abgenommen und wartete scheinbar ruhig, bis der Lakai fertig war, dann winkte sie ihm, sich zu entfernen.

„Meine beste Frau von Herbeck,“ unterbrach sie das peinliche Schweigen eiskalt und ohne ihre Stellung im mindesten zu verändern, „wollen Sie mir nicht erklären, wie Sie auf den Einfall kommen, mich hierher gleichsam zu dirigiren?“

„O mein Gott, wie mögen Excellenz eine harmlose Anordnung in der Weise deuten!“ rief die Gouvernante. „Die Gräfin ist sehr gern in diesem Saal – wir speisen hier, und ernst und beschaulich, wie mein ganzes jetziges Leben und auch das unserer [164] Gräfin ist, weiß ich für uns Beide nichts Lieberes als diesen Aufenthalt … verzeihen Excellenz, wenn meine Vorliebe mich zu weit führte!“

Mit wenigen Schritten stand sie vor einer Flügelthür der nördlichen Saalwand und schlug sie zurück – die Schloßkirche that sich in ihrer ganzen Tiefe auf. Trotz des Sonnenglanzes und der Juligluth draußen webte ein graues, kaltes Halbdunkel unter der mächtigen Kuppel; die schwer vergoldete, fast überreiche Ornamentirung schimmerte bleich herüber, und unten, neben dem Altar, hob sich das blendend weiße Marmor-Monument des Prinzen Heinrich gespenstig aus dem Dunkel.… Ein wahrer Grabesodem wehte hinein in den Saal – die Baronin zog die Mantille fester um die Schultern und hielt das Taschentuch an die Lippen.

„Sagen Excellenz selbst, ob das nicht ganz wundervoll ist!“ fuhr Frau von Herbeck fort. „Ich meide geflissentlich die Neuenfelder Kirche, so lange der Antichrist da drüben von der Kanzel herab gegen unsere Bestrebungen intriguirt. … Es bleibt mir mithin nur die eine Erquickung, mir wöchentlich einige Mal den Greinsfelder Schulmeister herüber kommen zu lassen – er ist streng bibelgläubig und spielt mir Choräle auf der Orgel.“

Ein flüchtiges, aber sehr boshaftes Lächeln zuckte um die schönen Lippen der Baronin – vielleicht gedachte sie jenes Momentes, wo diese kleine, fette Frau da im Eckstübchen der Neuenfelder Pfarre majestätisch auf- und abgerauscht war, maßlos empört, daß man ihr zugemuthet hatte, einen Choral anhören zu müssen.

Der Gouvernante entging dies fatale Lächeln nicht – ein stechender Blick sprühte aus den schwimmenden Augen.

„Ich bin übrigens nicht so egoistisch,“ fügte sie nicht ohne eine Beimischung von Schärfe hinzu, „bei Benutzung dieser Räume lediglich an das Bedürfniß und das Heil meiner Seele zu denken – das gesammte Schloßpersonal und die Gutsangehörigen sind gezwungen, hier mit mir zu verkehren. … Excellenz, ich arbeite nicht allein im Weinberge des Herrn, sondern auch –“

„O bitte“ – unterbrach sie die Baronin, indem sie ihr abwehrend die Hand entgegenstreckte – „glauben Sie, ich wisse nicht, was uns gegenwärtig noth thut? … Ich begreife genau so gut, wie Sie, meine verehrte Frau von Herbeck, wo der Zügel straff anzuziehen ist, und so weit meine Machtvollkommenheit irgend reicht, sehe ich unerbittlich streng darauf, daß man nicht anders denkt und – glaubt, als ich es wünsche. … Deshalb aber werden Sie mir doch nicht im Ernst zumuthen wollen, das, was ich mit Recht von meinen Untergebenen verlange, in eigener Person zu vertreten? … Wenn es Ihnen Vergnügen macht, sich zu kasteien, ei, so thun Sie es doch – aber für sich ganz allein, wenn ich bitten darf! … Daß Sie mich hierhergeführt haben, sieht ein ganz klein wenig aus wie – die bekannte Herrschsucht der Gläubigen, und deshalb, meine liebe Frau von Herbeck, werde ich den Kaffee nicht hier trinken in diesen Räumen, wo uns der Staub in die Sahne fällt und alle die gequälten und heiligen Augen an den Wänden den Appetit verderben.“

Wie das beißend klang von den feinen Lippen, wie diese wundervollen schwarzen Augen funkelten in dem Gemisch von beleidigtem Stolz und eisigem Hohn! … Selbst in der graciösen Bewegung, mit welcher sie abstäubend über den Arm fuhr, der die Stuhllehne berührt hätte, lag eine ironische Demonstration. Sie nahm ihr Kleid auf und verließ den Saal.

„Der Kaffee wird im weißen Zimmer, unten bei Seiner Excellenz getrunken!“ befahl sie im Vorübergehen dem Bedienten, der im Corridor wartete.

Frau von Herbeck folgte ihr schweigend und widerspruchslos, aber ihre Wangen glühten, und die Blicke, welche sie auf die vor ihr hinschwebende schöne Frauengestalt warf, sprühten nun auch in unverhehlter Bosheit. Möglicherweise gedachte auch sie der Vergangenheit und vielleicht gerade des blauen Sammetmantels, den sie einst barmherziger Weise um jene schwellenden Glieder geworfen, damit die jetzige Herrin des weißen Schlosses wenigstens „einigermaßen anständig“ ihren Einzug halten konnte.

(Fortsetzung folgt.)




Bilder aus dem Schwarzwalde.

IV.0 Im Thale von Gutach.

Zu Laufenburg am Rhein ist dem Schriftführer, der bis dahin die Reisechronica aufgezeichnet,[1] die Feder jählings entfallen. Den Maler aber trieb es noch weiter umher an den Gestaden des Rheinstroms und in den Schwarzwaldthälern. Dort sammelte er Studien für seine Bilder zu den „deutschen Volks- und Lieblingsliedern“ und zeichnete noch mehrere harmlose Bildlein. Ihrer drei davon sollen nun in Holz geschnitten diese Blätter zieren. Auf daß sich aber, wie es deren Herkommen erheischt, auch ein Wort zum Bilde füge, ergreift jetzt der Maler jene entfallene Feder und schreibt noch Einiges zusammen, so gut es die Erinnerung ihm bietet. Lobenswerther scheint es ihm, diesen wenn auch ungewohnten Pfad zu betreten, als seine Zeichnungen ohne alle Auslegung zu lassen.

Also von Laufenburg nach Säckingen, dem alten, lebendigen Rheinstädtlein, das den Frommen von Alters her durch St. Fridolinus, den Kindern der Welt erst neuerdings durch den „Trompeter von Säckingen“ lieb und theuer geworden ist. St. Fridolin soll vor zwölfhundert Jahren aus Hibernien gekommen sein und da eine namhafte Werkstätte für Christenthum und Heidenbekehrung aufgeschlagen haben. Im Frauenstifte, das seinen Ursprung bis an den keltischen Heidenapostel hinaufführt, zeigt man den Schrein mit seinen Gebeinen und ein Kreuz, welches Agnes, die Kaiserin, hieher verehrt haben soll, als Albrecht, der Kaiser, ihr Gemahl, von Johann von Schwaben erschlagen worden war. Auch einige uralte Stickereien sind zu sehen, welche St. Fridolin aus Irland mitgebracht haben soll.

Das war nun Alles sehr anregend und belehrend, indessen zeigte sich unsere Empfänglichkeit damit noch nicht vollkommen befriedigt. Wir dachten auch an leibliche Erquickung und fanden dieselbe im goldenen Knopfe, einem Gasthofe, welcher in der deutschen Dichtkunst eine nicht unansehnliche Stelle einnimmt. Es soll nämlich dessen Wirth schon vor zwei Jahrhunderten in wohlverdienter Achtung gestanden sein, so berichtet in seiner lieblichen Erzählung wenigstens der Dichter des Trompeters, und wir haben allen Grund, ihm auch in dieser Sache eine scharfe historische Kritik zuzutrauen.

Von Säckingen geht’s den Gestaden des Rheins entlang bis Basel in einer besonders schönen Gegend. Dicht an der Bahn die Weinberge, unten in der Niederung der langsam fluthende Rheinstrom, zur Rechten die Berge des Schwarzwaldes, zur Linken die Höhen der Schweiz und über diesen in weiter Ferne die Alpen.

Also kamen wir, freudig angeregt von Allem, was wir sahen, im Abendschein zu Basel an. Von dieser Stadt, wie sie majestätisch am Rheine liegt, der hier den großen Bogen macht, um die Richtung nach der Nordsee zu gewinnen, während er geradeaus gehend mitten nach Frankreich hineinkäme, von dem stolzen Dome auf seiner gebietenden Terrasse und von anderen Merkwürdigkeiten mehr wollen wir hier lieber schweigen. Nicht als ob wir nicht einiges Gute darüber zu sagen wüßten, sondern in dem stillen Glauben, daß es Andere wohl schon besser gesagt.

Hier ging übrigens die Gesellschaft, die bisher treu und redlich zusammengehalten hatte, in zwei Theile auseinander. Der eine der Gefährten schlug sich Zürich zu, um heimzukehren, der andere dagegen, welcher ich selbst war, bedenkend, daß ihm von allen irdischen Gütern keines reichlicher zu Theil geworden, als freie Zeit, erhob sich wieder und machte sich auf, um noch einige schöne Herbsttage im Lande umherzuschlendern. Und als er einmal das vielbesungene Wiesethal entlang schlenderte – gar nicht weit von dem alten Basel – da stand er plötzlich vor einer wunderschönen Villa, in welche er eingeladen war. Sie heißt der [165] Wenkenhof, gehört dem Herrn Burckhard-Stefani und ist gar vielen Wanderern unvergeßlich, weil sie da mit herzlicher Freundlichkeit aufgenommen und mit großen Ehren bewirthet worden sind. Nicht leicht, daß mir selbst in Italien eine Villa besser gefallen hätte, als diese, denn prachtvolle Baumgänge, stolze Gartenterrassen mit den reichsten Blumenbeeten und funkelnde Springbrunnen verbreiten fürstlichen Glanz, während entzückende Aussichten gegen den Thalweg des Rheins, gegen die Vogesen und die dunkeln Höhen des Schwarzwaldes uns überall begleiten, wenn wir in diesem Paradiese auf und ab wandeln. Den glücklichen Pilgern, die auf der beneidenswerthen Stelle zusammen kommen, bieten sich aber auch die schönsten Ausflüge über Berg und Thal, denn es ist die Landschaft gar reich an Schlössern und Burgen, an schattigen Wäldern und ragenden Felsen, von deren Höhe steil hinunter in’s herrliche Rheinthal und weit hinüber zu sehen ist auf die schneeige Kette der Alpen.

Kindtaufe im Gutachthale.
Nach der Natur aufgenommen von Theodor Pixis.

Von hier aus ging ich auf etliche Tage in das Elsaß, wo mir allerlei eigenthümliche Mädchentrachten angezeigt und von den Einsichtigen zur künstlerischen Abwandlung empfohlen waren. Die Trachten sind allerdings sehr schön, aber die Leute sind sehr ungeschmack. Seit diese Alemannen Franzosen geworden, haben sie den besseren Theil ihres Selbsts vielleicht unwiederbringlich eingebüßt. Statt freundlich, gesprächig, liebenswürdig wie die Schwarzwälder, sind sie langweilig, eingebildet und ungeschlacht. Die Franzosen sind keine Fußwanderer – es giebt keine Pariser oder Straßburger Touristen, die in den Wäldern der Vogesen, auf ihren Höhen, in ihren verfallenen Schlössern ihre Kurzweil suchen. Ohne Reiseverkehr giebt’s aber auch keine guten Wirthshäuser und die Verpflegung im Elsaß ist daher sehr dürftig. Nicht einmal meinem Herzen war sie genügend, obgleich sich dieses im Anblick eines hübsch behuteten und bebänderten Mädchenkopfes über schlechtes Fleisch und altbackenes Brod schon oft hinweggesetzt hat. Im letzten elsässischen Hôtel, dessen Namen ich vergessen habe, ward mir eine Stube angewiesen, welche nichts enthielt, als einen dreibeinigen Stuhl und ein Bett, fast so hoch angelegt, wie die Gärten der Semiramis, nur fehlte die Leiter, um diese Höhe zu erklimmen. Gewisse, nicht ganz zu beseitigende Geschäfte, wie Waschen etc., welche man nach altem Herkommen auf dem Tische abzumachen pflegt, mußten hier auf den Boden verlegt werden, weil ein Tisch nicht aufzutreiben war.

Ach, wie gerne hätte ich für mein häusliches Museum eine solche Tracht gesammelt, ein reichgesticktes Häubchen, ein weitausgeschnittenes Mieder, einen rothen Rock und andere derlei süße Erinnerungen! Was mir aber im Schwarzwald allenthalben ohne erhebliches Hinderniß gelungen war, nämlich getragene Charakterstücke gegen leidliches Entgelt eigenthümlich zu erwerben, das war hier unmöglich durchzuführen. Gleiche Sprödigkeit bei Alten wie bei Jungen. Alles Zureden und Bitten, die schönsten Angebote halfen nichts, bis endlich der „Lumpenjudd“ hinzukam und, wie es im Elsaß gebräuchlich, als Mäkler und Vertrauensmann die kleinen Handelschaften für mich abschloß. Darüber ward ich ganz glücklich, aber dem Glücklichen schlägt bekanntlich keine Stunde, und so versäumte ich um ein Weniges den Termin zum Mittagesen. Ach, wie wurde ich da in der Herberge empfangen! Wie gebrauchte der Wirth sein unfläthiges Maul! So ’was gehe da zu Lande nicht, sagte er, da sei man an Ordnung gewöhnt – es sei ihm lieber, wenn ich mich gleich aus dem Staube mache, statt mit so unerträglichen Sitten ihm weiter lästig zu fallen.

Er hatte aber noch nicht ausgeredet, als ich schon mein Bündel schnürte, um auf dem nächsten Wege nach dem Schwarzwalde zu eilen, in seine schattigen Thäler, zu seinen biederen Bewohnern, zu seinen lieblichen Bewohnerinnen. Ich war schon aufgeheitert, als ich wieder über den Rhein gefahren war und meinen Fuß wieder auf deutsches Land setzte, jagte dann aber in immer besserer Laune über Appenweier und Offenburg in die Berge hinein, so daß ich seelenvergnügt in dem kleinen, aber nahrhaften Städtchen Hausach ankam, welches weit hinten im Walde, am Ufer der schäumenden Kinzig liegt, und von alten Burgruinen malerisch überragt wird. Bis hieher reicht jetzt auch die Eisenbahn.

In dieser romantischen Gegend verging mancher Tag belehrend [166] und erheiternd. Mein ernstes Streben, die Leute von der schönsten Seite zu erfassen und sie in ihrer würdigsten Gestalt auf dem Papiere zu verklären, schien hier den Bewohnern eben so klar und einleuchtend, als es den Elsässern dunkel und unverständlich geblieben war. So weit ging aber hier der Eifer mir entgegenzukommen, daß mich zu Schapberch die Gemeinde nicht mehr fortlassen wollte, ehe ich sie in ihrem höchsten Staate gesehen. Gerührt von solcher Werthschätzung blieb ich auch bis über den nächsten Sonntag und hatte da die Hände voll Arbeit, um alle jene Verehrer und Verehrerinnen, welche einen Werth darauf legten, säuberlich in meinem Skizzenbuche unterzubringen. Dort sind sie noch verwahrt – vielleicht wird auch für sie der Tag der Urstände kommen!

Wenn der Wanderer von Hausach gegen Mittag zieht, so gelangt er in das Thal der Gutach, eine wegen ihrer Trachten und anderer Eigenthümlichkeiten berühmte Gegend. Zu meinem Glück mußte hier, als ich eben ankam, ein Kind geboren und getauft werden, was ich als eine freundliche Fügung des Himmels dankbar hinnahm. Der Zug entfaltete sich mit Würde und in alterthümlicher Pracht. ich betrachtete ihn als gute Beute und bringe ihn hier neidlos vor das liebe Publicum. In der Mitte schritt züchtiglich die junge Gevatterin, eine wohlgestaltete Jungfrau, welche den neuen Weltbürger zur Kirche trug. Dieser entzog sich allerdings meinen pyhsiognomischen Wahrnehmungen, weil er, in weichem Pfühle liegend, mit seinem, geblümtem Tüll überdeckt war. Auf dem Haupte der Jungfrau prangte das ehrwürdige, vorzeitliche Schäpele, ein Kopfputz, der aus Sammet, Seide, Glasperlen und Flittergold kunstreich zusammengesetzt ist. Ihn trugen bei solchen und anderen festlichen Gelegenheiten schon Chriemhilde, Isolde und alle Heldinnen der mittelhochdeutschen Dichtung. Die Halskrause und das goldene Mieder, mit rothen Nesteln geschnürt, sprechen für sich selbst, ebenso der kurze, schwarze Rock, die weißen Strümpfe und die zierlichen Schühlein. Neben der Gevatterin geht eine andere Verwandte, die wohl schon ihren Mann und eigenen Heerd gefunden hat. Darauf deuten die schwarzen Wollrosen hin, die sich oben auf dem Strohhut lagern, denn wäre sie noch unvermählt, so müßten die Rosen von rother Farbe sein, wie bei der schöngezopften Dirne, die links am Zaun steht und nachzurechnen scheint, wie lange es noch dauern möchte, bis auch sie einmal freudigen Anlaß zu einem Taufzuge geben würde.

Weibliche Leser genehmigen wohl die Bemerkung, daß die schwarze Jacke der Gutacherinnen einwärts roth gefüttert ist. Die prunklose Anständigkeit der männlichen Landleute wird man auch nicht übersehen. Sie tragen den sogenannten Rübeles-Kittel, einen gerippten Sammtrock, ebenfalls mit rothem Flanell gefüttert. Der eine der Wäldler, der vorne auf dem Baumstamme sitzt, scheint bedächtig zu erwägen, was aus dem Kind, das man vorüberträgt, wohl Alles werden könnte; der andere erinnert durch seine Ausstattung fast an den letzten der ehemaligen Könige von Frankreich. Auch die Bauart der hölzernen Häuser stellt sich dar und der glänzende Schuppenpanzer, der sie kleidet.

Diese angenehme Berggegend hat übrigens allerlei Vorzüge, welche gerühmt zu werden verdienen. in der schönen Tracht stecken liebenswürdige Menschen, der Boden ist fruchtbar, die Bäche bieten ausgezeichnete Forellen und aus der reichen Kirschenernte weiß man ein vortreffliches Wasser zu brennen. Auch ein Posthalter ist da zu finden, der dem müden Wanderer eine liebreiche, erquickende Herberge gewährt.

Und abermals eine gute Stande weiter drinnen in den Bergen liegt Hornberg, ein treffliches Städtlein. Ob hier oder anderswo das bekannte Hornberger Schießen stattgefunden, wollte ich nicht erforschen, da man mit solchen Fragen an Ort und Stelle wenig Ehre einzulegen pflegt. Nach einer ehrwürdigen Ueberlieferung soll nämlich beim Hornberger Schießen die Scheibe in’s Wasser gefallen sein und dieses dadurch ein unerwartet schnelles Ende erreicht haben. So ferne daher große Unternehmungen „von des Gedankens Blässe angekränkelt“ unscheinbar in den Sand verlaufen, pflegt man in Süddeutschland noch immer zu sagen. Das geht aus wie’s Hornberger Schießen – aber wo dieses Spruches Ursprung, das ist wohl nur Wenigen und mir z. B. gar nicht bekannt.

Uebrigens ist das Thal sehr eng und grün und malerisch; auch mit einem steilen Berg geziert, auf welchem das alte Schloß Hornberg kauert. Man fühlt hier übrigens schon sehr vernehmlich, daß man in die frische, spornende Luft des Schwarzwaldes gerathen ist. Es finden sich in dem kleinen, abgelegenen Städtchen schon einige bedeutende Wahrzeichen hohen Gewerbfleißes. So der Herren Gebrüder Horn große Steingutfabrik, welche gegen vierhundert Arbeiter beschäftigt. Auch Uhrenschilder und Musiksaiten werden gefertigt. In den angenehmen Gasthäusern macht sich hier zu Lande nicht ein unwissendes, verkommenes Philisterium breit, sondern man trifft allenthalben weit gereiste, gebildete Männer, mit welchen zu verkehren ein großes Vergnügen ist.

Immer weiter in das Gebirge eindringend, geräth der Wanderer wieder in eine enge, tiefe Schlucht, welche der schon beschriebenen Hölle sehr ähnlich ist, diese aber an romantischer Wildheit noch übertrifft. Die Straße ist theilweise aus dem Felsen gesprengt und läuft oft an wilden Abgründen hin. Unten wüthet der Bach, von oben winkt das Gestein bedenklich herunter. Nachdem sich die Schlucht geöffnet, bietet sich aber die Amtsstadt Triberg dar. Sie besteht aus zwei Häuserreihen, welche nach einem Brande, der vor vierzig Jahren gewüthet, schmuck und reinlich wieder aufgeführt wurden. Auch hier sind die Leute ungemein fleißig. Meine Beschäftigung fand ich zwar nicht vertreten, aber die Uhrenfabrikation wird von zahlreichen Firmen mit ungemeinem Nachdruck betrieben. in der Nähe spielt auch der Triberger Wasserfall, welcher der schönste im Schwarzwalde und schon vielfach besungen sein soll. Ich würde ihn gern beschreiben, wenn ich das Talent dazu hätte. Um Triberg herum ist überhaupt die Landschaft besonders schön, und da auch die Wirthshäuser besonders gut sind, so eignet sich das Städtchen vortrefflich zu einer Ruhestelle für den braven Wanderer, der sich einerseits selbst nicht vergessen, andererseits den Duft von Gottes schöner Welt im Schwarzwalde gemüthlich einschlürfen will.

Außer Trachten, Forellen, Kirschwasser, Uhren und liebenswürdigen Leuten hat der Schwarzwald auch noch vortreffliche Straßen. Hier sind dem Wanderer alle Berge geebnet und alle Thäler ausgefüllt. Durch die engste Schlucht, durch die wildeste Klamm führen die herrlichsten Fahrwege, bald aus dem Felsen gesprengt, bald aus dem Bache heraufgebaut, bald Beides. Hierin ist das Großherzogthum Baden meinem bairischen Vaterlande mit Siebenmeilenstiefeln vorausgerannt. In unserm Gebirge kann man z. B. nicht einmal von Tegernsee nach Schliersee fahren, obgleich kein Berg, keine Schlucht, kein Wildwasser dazwischen. Wir sorgen immer mehr für die unsichtbaren Pfade, die unserm geistigen Fortschritt dienen sollen, als für die sichtbaren, welche Handel und Verkehr beleben könnten. Man sollte glauben, wie weit wir auf jenen schon gekommen sind!

Eine solche prächtige Kunststraße führt auch von Triberg nach St. Georgen hinauf. Dieser Marktflecken liegt fast dreitausend Fuß hoch über dem Meere, in einer Gegend, die etwas winterlich ist, aber sich einer gesunden Luft erfreut. Ehemals stand da ein Benedictinerstift, aus dem sich noch ein kostbarer alter Holzaltar gerettet hat; jetzt floriren dagegen zahlreiche Fabriken. Der Gewerbfleiß verlegt sich auch hier namentlich auf die Uhren, und die meisten jener Zeitmesser, welche die Stunden durch einen hellen Kukuksruf ankündigen, werden in St. Georgen gefertigt. Auch hält man da lustige Jahrmärkte ab. Leider war der Flecken kurz vorher abgebrannt und die Ruinen standen noch grauslich umher. Doch intelligent und energisch, wie die Leute sind, werden sie sich wohl bald wieder erholen und es wird mich immer freuen, wenn’s ihnen recht gut geht.




Ein Schwingfest im Berner Oberland.

Von Max Wirth.

Mag der Ringkampf, den die Jünglinge Griechenlands bei den olympischen Spielen aufführten, in Anmuth und Grazie der Bewegungen nicht mehr erreicht worden sein, – was Ausdauer, List, Gewandtheit und reckenartige Kraft anbelangt, so stehen, meiner Ueberzeugung nach, die Schweizer Schwinger vom Entlibuch, Unterwalden, Berner Oberland und Emmenthal unerreicht [167] da, und hat wider ihre Hünen noch kein Athlet von Profession aus irgend einem Lande Europa’s obzusiegen vermocht, ja jeder französische Ringerkönig, der sie herauszufordern wagte, in’s Gras sinken müssen. Alles, was ich auf Turnplätzen und bei Schaustellungen von Athleten an Ringkämpfen gesehen habe, ist Kinderspiel gegen ein solches Schwingen. Vielfach ist in Deutschland die Meinung verbreitet, das Schwingen bestehe wesentlich darin, daß es darauf ankomme, den Gegner über den Kopf auf den Boden zu werfen. Dies ist indessen nur einer der zahlreichen Kunstgriffe, durch welche ein Sieg entschieden wird, – in Wirklichkeit ist das Schwingen ein gewaltiger Ringkampf, bei dem alle nur denkbaren ehrlichen Griffe und Bewegungen angewendet werden, um den Gegner zu besiegen, d. h. auf den Rücken zu werfen. Dabei wird eine eiserne Zähigkeit, eine Schnellkraft und eine Muskelgewalt entwickelt, daß man eher Männer aus Stahl denn aus Fleisch und Bein vor sich zu sehen wähnt und wohl begreifen kann, wie einst ihre Väter bei Sempach und Morgarten die Eisenpanzer der Ritter mit Keulen und Morgensternen in Stücke schlugen.

Wenn man in den Alpen oft sieht, wie Lasten von hundert, hundertfünfzig, ja zweihundert Pfund und darüber auf steile Berge von acht- bis neuntausend Fuß sechs bis sieben Stunden weit auf dem Rücken von einem einzelnen Mann heraufgetragen werden, und wenn man dann erfährt, daß es nur die Blüthe der Mannschaft, die Auserlesenen aus diesem Kraftgeschlecht sind, welche sich zu einem öffentlichen Schwingfeste zu melden wagen, so wird man unsere Behauptung nicht mehr für übertrieben ansehen.

Es ist drum auch kein Wunder, daß ein Schwingfest mit derselben Leidenschaft besucht wird wie ein Wettrennen in England, nur mit dem Unterschiede, daß es auf ersterem anständiger und nüchterner zuzugehen pflegt.

Als wir an einem in Sonnenglanz strahlenden Sonntage des August 1867 Morgens um acht Uhr von Bern mit einem Extrazuge abfuhren, hatte das Dampfroß schon Gäste aus Zürich, Biel, Basel und den Zwischenstationen gebracht, die sämmtlich in einem besonders bestellten Dampfboote, welches noch einen Schleppkahn anhing, über den Thuner See gesetzt wurden. Der Schauplatz konnte nicht besser gewählt sein: ein natürliches Amphitheater an der Burgruine Unspunnen, hinter dem Rugen bei Interlaken – ein mit grünem Rasen bedeckter Kessel, der von allen Seiten mit Wald und Hügeln begrenzt ist, über welche das schneebedeckte Haupt der Jungfrau im Silberglanze herabstrahlte. Um den weiten Kampfplatz waren im Kreise Sitzbänke amphitheatralisch übereinander errichtet und die Abhänge ringsum von gegen fünftausend Zuschauern besetzt, worunter die Berner Mädchen in ihrer zierlichen Tracht, den schwarzen Miedern, den blendend weißen Hemdärmeln und Busentüchern, an denen die reichen silbernen Ketten herabhängen, einen überaus freundlichen, herzigen Anblick gewähren. Gar drollig nahm sich da mancher spindelbeinige französische und italienische Tourist, von denen es in Interlaken damals wimmelte, unter den Bärengestalten des Emmenthals aus.

Während beim Schwingen zu Langnau im Emmenthal (1866)[2] nur Emmenthaler und Oberländer vertreten waren, hatten sich diesmal zu den Recken aus diesen beiden Landschaften die Söhne Unterwaldens (ob dem Wald) und des Simmenthals gesellt. Das gab dem Ringkampf mehr Aufregung und Mannigfaltigkeit; denn die Paare werden in der Regel von den Kampfrichtern so erlesen, daß Thal gegen Thal kämpft. Ohne zu fragen, erkennt man da gleich die Emmenthaler am gewaltigen Gliederbau, die Oberländer an der schlanken Figur und der Gewandtheit. Man hat es offenbar mit zwei verschiedenen germanischen Stämmen zu thun: die Emmenthaler sind zweifellos Alemannen, – die Oberländer neueren Forschungen gemäß wahrscheinlich Abkömmlinge der Burgunder, deren Burgen historisch bis nach Thun reichten.

Präsident des Kampfgerichts war ein bewährter Turner und Schwinger, der Director der Irrenanstalt Waldau bei Bern, Dr. Schärer. Ihm zur Seite stand u. A. Advocat Berger von Bern, dem ich einen Theil meines Materials verdanke. Die erste Arbeit des Kampfgerichts war kitzliger Natur. Es hatte sich eine so vermehrte Zahl von Schwingern gemeldet, daß über vierzig zurückgewiesen werden mußten, weil es sonst unmöglich gewesen wäre, das Fest am gleichen Tage zu beendigen. Da gab es manche Unzufriedenheit und manches Zorneswort von Seiten Solcher, die sich vergebens wochenlang vorbereitet, geübt, gefreut, heute vor allem Volk die Stärke ihres Armes zu zeigen. Es wurden zwei Kampfreihen aufgestellt; die Unterwaldner standen zu den Oberländern, die Simmenthaler zu den Emmenthalern. Sechsunddreißig Paare wurden eingeschrieben, die Hälfte mehr, als bei jedem früheren Feste.

Gegen elf Uhr setzte sich der Festzug von Unterseen aus in Bewegung. Voran vier Staatsbursche in gestreifter alter Schweizertracht, mit mächtig wallenden, freilich falschen, Bärten, mit Hellebarde und Morgenstern; dann ein gewaltiger Bär (Mutz), das Symbol und Wappenthier von Bern, an dem alle Berner in mit rührendem Humor gemischter Vorliebe hängen; hierauf acht blumenbekränzte Preisschafe, von achtjährigen Knaben in zierlicher Kühertracht geleitet; ferner Kampfgericht, Festcomité und Schwinger nebst den Tausenden von Zuschauern, welche sich anschlossen, – so stolzirte der Zug, die muntere Feldschützenmusik von Interlaken vorauf, unter der umsichtigen Leitung des Platzcommandanten von Greierz das herrliche, festgeschmückte Gelände entlang nach dem eine halbe Stunde entfernten Festplatz, vom Jubel des Volkes begrüßt. Da sah man noch alte Schwinger, die vor bald fünfzig Jahren ihre Triumphe gefeiert, inmitten des Zuges, wie Beerpeter und Sandmattenfritz; die alte Lust, die einst so mächtig gewogt, hatte sich noch einmal gerührt und sie hierher getrieben, um zu sehen, was die Jungen vermögen.

Als der Zug in die wohlthuende Kühle des Rugenwäldchens einlenkte, wurde der Bär (Mutz) von Sturm und Drang des Festgeistes so mächtig erfaßt, daß er zur Seite springend eine junge Fichte ausriß und diese dröhnend hinstürzte. Männiglich war man erstaunt über dieses ungeheure Kraftstück. Böse Zungen waren zwar nachher ruchlos genug, zu behaupten, daß es nicht ohne Vorbereitung geschehen.

Auf dem Ringplatze angekommen, lagerten sich die zwei Parteien der Schwinger zu beiden Seiten des inneren Kreises, das Kampfgericht dazwischen, – so zwar, daß Raum genug in der Mitte für die Ringenden blieb.

Mehr und mehr werden rings die Abhänge des Wald-Trichters von zuströmenden Zuschauern aus allen Ständen und Ländern angefüllt. Die Musikchöre lassen ihre hellschmetternden Fanfaren ertönen; dazwischen jodelt der traute Alphornreigen. Ein Gesumme und Gemurmel der Freude schwebt über dem ganzen Festtreiben, hie und da von den Auf- und Zurufen der schweißtriefenden Kampfrichter unterbrochen.

Aller Augen und Herzen sind auf die Kämpfer gerichtet! Jetzt wird’s mäuschenstille; Jedermann hält den Athem an sich: – zwei gewaltige Ringer haben sich gefaßt, der eine schwebt in der Luft, der andere dreht ihn sausend im Kreise, um ihn auf den Rücken zu fällen; jetzt fährt er kopfüber zur Erde, aber im Fallen rafft er sich zusammen, berührt mit einem Fuß den Boden, schnellt sich wie eine Stahlfeder empor, mit gewaltiger Faust nun den andern in die Luft hebend und zu Boden fällend! Da bricht aus den gelagerten Haufen der Oberländer oder der Emmenthaler Schwinger wildes Beifallsjauchzen aus, welches auch das übrige Publicum ansteckt, daß es mit Hand und Mund die schönsten und aufregendsten Schwünge begleitet. Am geschäftigsten ist es aber stets in dem Schwingerkreise selbst. Jeder ist erwartungsvoll, wann er aufgerufen werde, und ermißt zum Voraus die Chancen des Kampfes mit dem ihm bestimmten Gegner. Da fährt Einer schon eine halbe Stunde vorher in die Schwinghosen[3] und rollt sie so weit als möglich herauf, um dem Gegner den Griff zu erschweren, während ein Anderer mit schlottrigen Buxen ganz gemüthlich und sorgenlos zum Kampfe herantritt. Da läßt sich noch Einer die nervigen Arme mit Wein oder Wasser begießen, ein Anderer nimmt einen Grashalm in den Mund, um sich in den Anstrengungen des Riesenkampfes die Zähne nicht zu sehr zu zerknirschen!

Wir können unseren Lesern nicht zumuthen, die Kunstgriffe der Schwinger bis in’s Einzelne zu verfolgen, einzelne Typen müssen wir aber doch hervorheben. Ganz originell, dem schweizerischen Schwingen eigenthümlich, sind zwei so zu sagen taktische Bewegungen: Die eine besteht darin, den Gegner in die Luft zu heben, ihn rasch zu drehen und ihn sodann auf den Rücken [168] zu werfen; die andere wird von Solchen angewendet, welche sich schwächer fühlen, und besteht darin, daß der Schwächere sich auf die Kniee niederläßt, sich so gegen seinen Gegner stemmt, ihm jeden Zoll streitig macht und am Boden klebend, gleichsam wie Antäus von Mutter Erde immer neue Kraft zu gewinnen sucht.

Mit wechselndem Glück setzt der Kampf sich fort, indem den jüngeren Schwingerpaaren stets die älteren folgen, die Unterwaldner und Oberländer durch List und Gewandtheit die Stärke der wuchtigen Emmenthaler zu paralysiren suchen; denn seit Jahren haben sie es sich zur Aufgabe gemacht, Alles zu studiren, wodurch sie aus ihrem in der Regel leichteren Körperbau den möglichst großen Vortheil gegenüber den kolossalen Emmenthalern ziehen können. Da wird schon beim „Einhängen der Griffe“[4], bei der zuerst einzunehmenden Stellung des Leibes und der Schenkel die größte Sorgfalt angewendet, bis plötzlich bei der geringsten Blöße des Gegners die Vertheidigung in den Angriff übergeht und durch einen rasch ausgeführten Kunstgriff ein beifallgekrönter Sieg erfolgt, ohne daß der Besiegte selbst noch recht weiß, wie Alles zu- und hergegangen ist. Das ist denn immer ein sehr fataler Moment für die betroffene Partei: der phlegmatische Emmenthaler fängt an unruhig zu werden; ein bereits grau gewordener Schwinger, der es sich nie nehmen läßt, noch als Rathgeber unter seinen Landsleuten zu erscheinen, bekommt gelindes Herzklopfen, steht aus seiner behaglichen Lagerung am Boden auf und mahnt kopfschüttelnd die „Buben“ ihre Aufgabe mit größerem Ernste anzupacken.

Da trat ein Ringerpaar auf, bei dessen Anblick es fast feierlich stille unter den Schwingern wurde, und unter den Zuschauern geht es von Mund zu Mund: jetzt fangen die „Rechten“ an. Es sind nicht mehr jugendlich rasche Bursche, die zuweilen durch ungestümes Dreinfahren oder trotziges Verlassen auf große Körperstärke sich allfällig in üble Positionen bringen lassen, sondern es sind Männer durch und durch, welche in den Circus treten, Kämpfer von erhärteter Kraft und erprobter Kunstfertigkeit, die ersten in ihren Thalgebieten weit und breit. Die Meisten derselben kennen sich untereinander, sei es durch einen Hosenlupf, den sie selbst ausgemacht, sei es vom Hörensagen. Man weiß, mit welchem Schwung der Eine im Entlibuch obgesiegt, auf welche Weise der Andere auf allen Schwingerplätzen des Emmenthales aufgeräumt hat und wie dem Dritten beim „Dorfet“ der Unterwaldner und Haslithaler Alle unterlegen sind. Drei Paare dieser Schwingerfürsten zieren diesmal den Kampfplatz. Zuerst tritt ein Rathsherr von Unterwalden in den Kreis. Bei dem schönen Ebenmaß seines schlanken Wuchses tritt besonders über den Schultern und an den netten Armen so viel Athletisches hervor, um den kräftigen Ringer in ihm errathen zu lassen; Haltung und Blick zeigen etwas Zuversichtliches, doch nichts Herausforderndes; mit einem Grashalm zwischen den Lippen spielend erwartet er den Gegner.

Dieser kommt langsam auf ihn zugeschritten; es ist ein wahres Ungethüm von einem Mann; stierartig, jeder Zoll ein Emmenthaler. Dieselben geben ihm den zweiten Rang unter den Ihrigen, glauben aber, daß weder im Entlibuch, noch diesseits und jenseits des Brünig seines Gleichen zu finden sei. Der Unterwaldner legt sich zum Angriff auf’s rechte Knie und sucht mit ausgestreckten Armen und tiefgesenkter Schulter den mächtig andringenden Gegenpart abzuhalten; dieser rückt mit kleinen Schritten immer näher, zieht immer fester an und drückt mit der ganzen Wucht seines gigantischen Leibes auf den entgegenstemmenden Gegner, – schon sieht Jedermann den Augenblick, da dieser emporgehoben wird, – da plötzlich, fast allen Zuschauern unbegreiflich, stürzt kopfüber in einem förmlichen Purzelbaum, als ob er es aus freien Stücken gemacht hätte, der Emmenthaler auf den Rücken. Es geschah dies mit dem sogenannten Stich, welchen die Unterwaldener mit besonderer Gewandtheit ausführen. Weitschallendes Jauchzen der hochaufspringenden Unterwaldener bei diesem glänzenden Siege, wobei auch ihre Alphornbläser eine Siegesweise anstimmen! Das nächste Mal[5] benutzt nun aber der Emmenthaler seine Stärke besser: kaum in den Griffen, zieht er wie mit einer eisernen Winde den Unterwaldener an sich, hebt ihn langsam, Körper ganz an Körper, vom Boden auf und legt ihn dann, ein pures Kraftstück, vor sich nieder. Das dritte Mal triumphirte nach hartnäckigem Kampfe wieder die Gewandtheit über die Kraft, indem der Emmenthaler einem unerwarteten Schlag in die Kniekehle unterlag.

„Es ist Zeit, daß ich es den Jüngeren überlasse,“ sagte der Besiegte, als Beide sich mit dem üblichen Handschlage, dem Zeichen, daß Treue und Freundschaft durch den vorübergehenden Kampf nicht gestört werden solle, zurückzogen.

„Und für mich ist’s auch das letzte Mal, daß man mich auf öffentlichem Platze schwingen sah,“ erwiderte treuherzig der Rathsherr. „Denn nie könnte ich rühmlicher meine Laufbahn als Schwinger schließen; zudem muß ich bekennen, daß es zwei Mal nur an einem Häärlein lag, daß nicht ich, sondern Du gewonnen hättest.“

Bereits schickten sich wieder zwei stattliche „Mannen“ zum Zweikampf an: es ist der erste Schangnauer Schwinger, was genug sagen will, um jede ferneren Lobsprüche überflüssig zu machen, und ihm gegenüber der auserlesenste Kämpe aus dem Oberhasli. Beide kennen sich genau, denn sie haben sich in früheren Jahren schon zwei oder drei Mal geprüft, und der Schangnauer hatte öfter geäußert: es sei Keinem weniger zu trauen, als diesem zähen und unerhört gewandten Gemsenjäger, der übrigens mit der letzteren Eigenschaft noch eine seltene Stärke verband. Da wurde man gewahr, was Schwingen sei. Mit einem wahren Katzensprung hatte der Gemsenjäger sofort die rechte Flanke des Schangnauers gewonnen; dieser aber drehte sich „wie ein Wetterleich“ und faßte wieder Stellung. Dann standen Beide einander gegenüber, Nacken fest an Nacken, wie zwei Stiere, die auf der Alp das erste Mal zusammentreffen und um die Ehre der Führerschaft der Heerde streiten. Nun zieht der Schangnauer ein; eisenhart springen die gewaltigen Muskeln seiner Arme hervor, aber der Oberhasler drückt so fest zu Boden, daß keine Kraft ihn demselben entheben kann.

Endlich sind nach unfruchtbarem Gange beide Kämpfer genöthigt, einander „fahren“ zu lassen. Geröthet im Gesicht, den Brustkorb von tiefen, schnellen Atemzügen auf und niederwallend und für den Augenblick zu jeder Anstrengung unvermögend, gönnen sich Beide für kurze Zeit Erholung. Und wieder arbeiten Beide sich auf die gleiche Weise ab, daß alle Adern anschwellen, der Athem zu versiechen droht und Beide wieder ermattet hinsinken. Da bricht es fast zu wild auf an dem ehrbegierigen Oberländer, der sich schon lange in keinen Widerstand mehr schicken konnte.

„Dies Mal muß es den einen oder anderen Weg gehen!“ sagte er mit bestimmtem Tone.

Und wirklich ist in plötzlich kühnem Angriff der Emmenthaler unterlaufen, wird aufgehoben und auf den Nacken geworfen, als ob er nie gestanden hätte. Er war gezwungen, vom ferneren Kampf abzustehen, da es ihm schier schien, als sei das Genick so etwas in’s Ungleis gekommen. –

Jetzt Morgenstern und Zweihänderschwert herbei! Da erschienen zwei Löwengestalten, welche zu solchen Instrumenten wie geschaffen sind. Der Eine ist das Haupt der Entlibucher, besonders bekannt durch den glänzenden Zweikampf, in welchem er vor Kurzem einen sogenannten französischen Ringerkönig, der prahlend die stärksten Schweizer herausgefordert, besiegt hatte; der Andere ist nach einstimmigem Urtheil die erste Schwingergröße des Emmentales. Zwei saure Gänge blieben unentschieden, da der Entlibucher, rein auf seine Vertheidigung bedacht, mit Armen, Schultern und Nacken den gefährlich eindringenden Nebenbuhler vom Leibe zu halten suchte. Im folgenden Schwung errang der kundige Emmenthaler einen Sieg, daß selbst der auf’s Knie gebückte und aufmerksam allen Bewegungen lauschende Obmann aufsprang, in die Worte ausbrach: „Schöner nützt nichts!“ und gleich darauf dem Entlibucher Balsam in die Wunde träufelte.

Keiner hatte den Kampf dieser beiden wehrhaften Männer genauer beobachtet, als der Gemsenjäger aus dem Oberhasli, Zurflüh, der zum Schluß noch mit dem siegreichen Emmenthaler, Hans Ulrich Beer von Trieb, in den Ausstich kam. Er hatte sich jede Stellung, jedes Anziehen, die Art des Aufladens und Ausleerens des Gewaltigen gemerkt, mit dem er nun an die Reihe kam. „Das ist jetzt nicht zum Spaßtreiben!“ hieß es, als diese zwei Meister in den Kreis traten, und dann wurde es ringsum [169] lautlos still. Hui! wie flogen sie nun zwei bis drei Mal im Kreis herum, nach einem Vortheil haschend und zugleich auf ihren Schutz bedacht. Da stellt der Emmenthaler plötzlich den Gegner und rückt ihm auf den Leib; dieser läßt sich vertheidigungsweise auf ein Knie nieder und weicht etwas zurück. Der Angreifer rückt wieder vor, man sieht, wie alle Muskeln an ihm arbeiten, und plötzlich thut er mit einem Schritt nach vorn einen gewaltigen Ruck, welcher den Oberländer der Erde entrückt; mit einem blitzschnell folgenden neuen Ruck hebt er ihn hoch auf und entscheidet mit einem kunstgerechten Wurf den Sieg für das Emmenthal. Der Gemsenjäger scheint durch diesen Fall den Muth noch gar nicht verloren zu haben; zuweilen schon hat er einen Schwung verloren und die zwei folgenden dafür glänzend gewonnen. Warum sollte es dies Mal nicht auch so gehen können?

Er machte nicht lange Rast, und nun sah man ein herrliches Kunst- und Schauschwingen, wobei mit fabelhafter Behendigkeit Schwung und Gegenschwung auf einander und durcheinander folgten, bis plötzlich der Emmenthaler in wagrechter Stellung in den Lüften zappelt und im Nu auf dem Rücken liegt. Unbändiges Jauchzen der Oberländer, verblüffte Gesichter der Emmenthaler! Das Publicum in höchster Spannung! Hans Ulrich Beer in verbissenem Groll alle Freunde von sich abweisend! Der Gemsenjäger seinen freudetrunkenen Cameraden, die sich mit der Weinflasche um ihn drängten, erzählend: wie er fortwährend aufgepaßt habe, bis der Emmenthaler mit seinen Schultern etwas schwerer auf ihn eingelegen sei, wie er dann den Augenblick benutzt, den Uebersprung gewagt, ihn im Kreuz und Genick erfaßt und ihm dann gezeigt, daß dies Mal ein Anderer zu befehlen habe. Alles sei ihm wie eine Eingebung gewesen.

Unterdessen war der Emmenthaler mitten im Kreise stehen geblieben, die Hände auf die Hüften gestützt, unverwandten Blickes nach der Richtung schauend, woher sein Gegner kommen mußte. Umsonst boten ihm seine Freunde Wein an, umsonst ließ ihn sein junges hübsches Fraueli rufen. Seine Antwort war: „Das trägt nichts ab! Laßt mich ruhig, es ist jetzt etwas Anderes zu thun!“

Da trat der ausgeruhte Haslithaler, seine Hemdärmel zurückstreifend und die Schwinghosen vorsichtig aufrollend, wieder aus der Gruppe der in stolzer Hoffnung erfüllten Oberländer. Der Emmenthaler ging ihm sogleich entgegen und der Obmann, der als Schwingerveteran den angehäuften Zündstoff im Herzen der Beiden wohl durchschaute, gesellte sich ihnen bei, ließ einige leise Worte von „freundlichem Schwingen“ fallen und blieb dabei, bis die Griffe geordnet waren. Da drang wie ein losgelassener Löwe der Trieber auf den zur Erde sich schmiegenden Gegner ein und „sprengte“ ihn mit unwiderstehlicher Kraft vom Boden auf. Dieser wand jedoch schlangenartig sogleich sein rechtes Bein um das linke des Angreifers, wurde aber durch einen heftigen Fußstoß ebenso schnell wieder „losgestüpft“ und bis zur Brusthöhe emporgehoben; da schoß der Gemsenjäger, seine schwierige Lage wunderbar gut benützend, von oben herab mit beiden Händen dem Widerpart auf die Schultern, um ihn dadurch rückwärts aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber der auf Alles gefaßte Emmenthaler beugte diesem sonst gefährlichen Kunstgriff durch sein nach hinten gestelltes rechtes Bein vor und blieb fest wie ein Eichstamm; noch versuchte der Emporgehobene durch Umschlingung des gegnerischen Nackens das Unheil, das ihn bedrohte, abzuwenden. Knirschend über den neuen Widerstand löste Beer mit größter Anstrengung mit der einen Hand den wie angewachsenen Arm, der ihn bald des Athems beraubt hätte, los, während er sich mit der andern der Schenkel des Oberländers, der ihm sonst immer noch hätte entwischen können, versicherte. Nun war der Augenblick gekommen. In gewaltigem Wurfbogen schleuderte der Emmenthaler den kühnen, wehrhaften Gemsjäger vom Wirbel bis zur Fußsohle auf den Rücken, daß der Brustkorb erzitterte und die Rippen in ihren Fugen krachten.

Während die Oberländer ihren langsam sich aufrichtenden Freund umringten, die Emmenthaler einen Freudenjauchzer in die Lüfte sandten, ging Beer hinüber zu seinem Gegner und begrüßte ihn mit einem weitausgeholten Handschlag. Da brach ein ungetheilter Beifallssturm der vielen Tausende von Anwesenden los und einstimmig erschollen die Lobpreisungen der beiden „Schwingerhelden“.

Ein interessantes Zwischenspiel vor dem Ausschwingen oder dem Entscheid unter den Siegern war in Interlaken das Steinstoßen, bei dem indessen ein kolossaler Stein von über zwei Centner nur zur Parade herbeigeschleppt zu sein schien, denn es wurde mit einem Steine von kaum hundert Pfund gestoßen.

Unter lautloser Stille verkündete der Präsident des Kampfgerichts die Namen der Sieger. In der ihm eigenthümlichen, die Herzen erschütternden Weise hob er die Bedeutung des so herrlich gelungenen Festes hervor. Vor alten Zeiten hätten hier die Ritter ihre Turniere gefeiert; das Volk habe dabei als leibeigen den strengen Frohndienst gehabt. Heute seien es die Sennen, die Hirten und Jäger, welche ohne allen Prunk dieses schönste aller Turniere abgehalten! Und alles Volk habe Antheil genommen und aus dem Innersten des Herzens sich dabei gefreut, im Bewußtsein, daß diese Kampfspiele und deren Pflege dem Vaterland zum Nutzen und Frommen gedeihen. Hier Angesichts der Jungfrau, auf diesem von allen Schönheiten der Natur umgebenen Wiesenhange, der so sehr demjenigen gleiche, auf welchem am Vierwaldstätter See der heilige Bundesschwur der Väter zum Himmel erklungen, möge jeder Festtheilnehmer in seinem Innern den Schwur erneuern, Herz und Hand dem Vaterland, zu dessen Ehre und Glück dieses Fest veranstaltet worden, zu weihen.

Während der Zug der Schwinger sich nach Interlaken zurückbegab, um bei einer reichbesetzten Tafel von den gehabten Anstrengungen sich zu erholen, ging der Jubel auf dem Festplatz erst recht los; ein Jubel, den wir am besten mit den Worten schildern, welche Frau von Staël vor nun gegen fünfzig Jahren darüber niedergeschrieben hat:

„Ausländer und Schweizer, Hohe und Geringe, Alter und Jugend wurden hingerissen. Tänze begannen nun überall; Fürsten und Grafen und die Häupter schweizerischer Regierungen tanzten mit Landmädchen, Gräfinnen mit Hirten, Greise mit Kindern. Man tanzte unter den Gezelten, im Schatten der Bäume, unter’m blauen Gewölbe des Himmels; kein Fleck war, wo nicht Freude und Fröhlichkeit, wo nicht das Bild der schönsten und glücklichsten Gleichheit sich zeigte; Alles war trunken vom Geiste des Tages!“




Literarische Briefe.

An eine deutsche Frau in Paris.
Von Karl Gutzkow.
II.

Wenn Sie, meine Theure, eine Rose betrachten, eine kaum erschlossene Gartencentifolie oder eine sich mit weißröthlichen Blättern wie von Sammet in die stachlichte grüne Hülle verschämt versteckende Moosrose, so nennen Sie den Anblick – schön! Aber Sie können auch in die Rue St. Honoré Nr. 372 zu den Herren Froment und Meurice gehen und sich unter den geheimnißvollen, kostbaren Etuis dieser berühmten Juweliere eines öffnen lassen, um eine goldene Rose mit diamantenen Thautropfen ebenfalls zu bewundern und schön zu nennen, vorausgesetzt, daß die Künstler in ihrer Nachahmung der Natur die Eigenthümlichkeiten einer Rose, Duft und Farbe ausgenommen, getroffen haben, die Natürlichkeit des Wuchses, eine gewisse Freiheit bei sonstiger symmetrischer Schichtung der Blätter und für den Frühlingsmorgenthau die wie zufällig, nicht aufdringlich und anspruchslos gewählten Stellen.

Das, was Sie schön nannten an der Naturrose, das ist das Naturschöne. Die Schönheit einer nachgeahmten Rose ist das Kunstschöne.

Entspringt nun das Behagen, das Ihnen die natürliche Rose und das andere, das Ihnen die nachgemachte erweckt, aus einem und demselben Quell der Befriedigung? Man möchte dies wohl bestreiten. Zwar verrinnt das Behagen, das beide Erzeugnisse,

[170] jenes der Natur, dies der Kunst, wecken, in die allgemeine und gleichartige Strömung des Wohlgefallens am Schönen überhaupt, aber die Bewunderung der nachahmenden Hand des Künstlers ist eine anders motivirte als die des waltenden Schönheitsgesetzes in der Natur. Die Thätigkeit des Verstandes ist bei Betrachtung beider Erscheinungen eine andere. Im Blumengarten (ich erinnere mich, die meisten Blumengärten in Paris liegen – in jener stillen Straße, die zum Père la Chaise führt!) ordnen Sie die einzeln betrachtete Rose einer durchaus anderen Ideenverbindung unter, als die kostbare, die Sie in der Rue St. Honoré bewunderten. Dort beruhte Ihre Anerkennung auf einem Gefühl, hier auf einem Urtheil.

Welches ist nun jene gleichartige Strömung, worin sich beide Eindrücke wiedervereinigen, der vom Natur- und der vom Kunstschönen empfangene – sagen wir von einem Abend auf dem Genfersee und von einem Gemälde, worin Calame’s Meisterhand diesen Zauberanblick festhielt? Oder von einer edlen That, die Sie zu Thränen rührte und erschütterte, und – von einem Drama Lessing ’s, worin der Verlauf derselben noch einmal wiederholt wurde? Worin liegt das Beleidigende des Häßlichen? Worin das Wohlthuende des Schönen – sagen wir des Scheins, denn – nach dem tiefen Gedankeninhalt unseres deutschen Sprachschatzes ist das Schöne das Scheinende oder das Schauende, letzteres in dem Sinne, wie wir noch heute sagen: Wie schaut die Sache aus?

Bis auf die neueste Zeit hin hat man gestritten über eine vollkommen ausreichende Erklärung für den Begriff des Schönen, einen Begriff, der alle Ausstrahlungen in die Welt hinaus, wo uns Schönes begegnen kann, vom gestirnten Himmel an bis zu einem Kranz glänzender Toiletten im ersten Rang eines Opernhauses zusammenfaßt. Ein Professor in Göttingen, Hermann Lotze, hat für das, was seit dem Erfinder des aus dem Griechischen gebildeten Wortes „Aesthetik“, seit Alexander Gottlieb Baumgarten, einem Halle’schen Professor aus der Allongenperrückenzeit, lediglich in Deutschland für die Lehre vom Schönen geleistet worden ist, eine besondere, vor Kurzem erschienene Geschichtserzählung herausgegeben. Ich erwähne diese gewissenhafte Arbeit besonders auch um deswillen, weil ich Ihnen bei dieser Gelegenheit für einen Aufenthalt, nicht etwa in Baden-Baden, dort ist man zu zerstreut, aber in Biarritz oder Scheveningen, am monotonen und doch so erhaben anregenden Meer, eine Lectüre anrathen möchte, die Ihnen die Fülle neuerer Forschungen auf dem Gebiet der Lehre vom Menschen, als dem Abbild des Universums, zusammenstellt und sie in ausgezeichneter Darstellung prüft, verwirft oder anempfiehlt, Lotze’s „Mikrokosmus“. Dies aus drei Bänden bestehende Werk (Leipzig, Hirzel) kann nicht auf einmal aufgenommen werden, etwa wie ein neuer Roman von Feydeau. Den von ihm gewährten Genuß und die Belehrung muß man sich eintheilen. Schon daraus, daß der Verfasser die Philosophie mit dem Studium der Naturwissenschaften und der Medicin verbunden hat, ersieht sich der besonnen gelegte Grund seiner Erörterungen, die allen Interessen gelten, die dem Menschen als Menschen von Werth sein müssen. Die Darstellung Lotze’s verliert sich zuweilen in Goethisirende Vornehmheit und eine die Glätte des Marmors mit dessen Kälte verbindende Weise, doch an manchen Stellen erhebt sie sich auch wieder zu einem mächtigeren Schwunge, besonders dort, wo die Beweisführung gegen [Georg Wilhelm Friedrich Hegel|Hegel]]’sche Lehrsätze eintrat, namentlich gegen den Bann, in welchen die vom Leben gewährte Fülle der Erfahrung, die Uebung der menschlichen Freiheit, die offene Strömung in den Entwickelungen der Geschichte durch Formeln eingezwängt werden soll, die diesem Gegner Hegel’s nur als todte Worte und leere Namen gelten können.

Es kämpfen nämlich in Allem, was ein Gegenstand unseres Nachdenkens (auch unserer Handlungen und Entschließungen) geworden ist, so auch auf dem Gebiet des Schönen, zwei Richtungen miteinander, die ideale und die reale. Jene sagt mit Schiller: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut!“ Diese – Sie haben ja von der Affentheorie gehört (allerdings wohl nur eine Uebertreibung einer anerkennenswerthen Richtung) –: Der Geist ist die Blüthe, die aus dem Stamm des Körpers entsteht, mit ihm verwelkt, mit ihm vergeht! Uebertragen auf die wissenschaftlichen Gebiete und in unserem Fall auf die Lehre vom Schönen, so würden sich zu unseren beiden Rosen diese einander feindlichen Schulen gar wunderlich verhalten. Wir wollen aber nur beim Neusten verweilen: J. H. von Kirchmann’sAesthetik auf realistischer Grundlage“ (Zwei Bände, Berlin, Springer 1868).

Den Autor dieses beachtenswerthen Werkes anlangend, so hat dessen Stellung einige Aehnlichkeit mit derjenigen, in welche bei Ihnen neulich der Baron Segnier geraten ist. Wenn Sie sich diesen Staatsanwalt abgesetzt, seiner Meinungen wegen beungnadet und heute eine Vorlesung in einem Handwerkerverein der Salle Valentino, morgen eine über Musik oder Landschaftsmalerei in der Salle Herz haltend denken, nebenbei in der Kammer sitzend, wo ihn jedoch ein schwaches Organ und vielleicht ein gewisser Mangel an Temperament verhindert, energisch in die Verhandlungen einzugreifen, so haben Sie ungefähr die Stellung unsres Herrn von Kirchmann. Zur Zeit der Märzrevolution war er ein jüngerer Richter, dem die Zukunft und das nächste vacante Portefeuille der Justiz zu gehören schien. Schon damals blickte aus seinen Plaidoyers als Staatsanwalt der Denker. Die Reaction versetzte ihn an ein Obergericht als Präsident, seine Abstimmungen mißfielen dem Manteuffel’schen System, er bekam durch eine halbe Entlassung die unfreiwillige Muße, seinen Neigungen für Kunst und Wissenschaft zu leben. In unserm Elb-Florenz beschäftigte ihn Aristoteles, Spinoza und die Gemäldegalerie. Heute wieder angestellt, morgen wieder auf’s Neue entlassen, hat er sich aus seinen Beschäftigungen mit dem, was über allen äußern Glanz und Flitter erhaben ist, eine Gleichgültigkeit für die Beurtheilung der Welt entnommen, die fast an Lässigkeit streift. Wenigstens entspricht die ergebene Haltung, die er behauptet, einer Eigenschaft seines Naturells, die sich in den Schriften, mit denen er seither Freund und Feind überrascht hat, charakteristisch wiederspiegelt. Sollen wir seinen scharfsinnigen, wahrheitsliebenden Geist, der in die Tiefe, in die Wesenheit der Dinge strebt, doch vielleicht ein wenig – nüchtern nennen? Er muß es vergeben, thäte man es; denn die Lehre vom Schönen verträgt keine Ueberschwänglichkeit, noch weniger aber ein Untermaß.

Kirchmann will gefunden haben, daß das Schöne „das idealisirte, sinnlich angenehme Bild eines seelenvollen Realen“ sei. Erschrecken Sie nur nicht sogleich über diese gelehrte Form eines einfachen Satzes! Das „Reale“ ist hier jeder beliebige Gegenstand, „das Bild eines Realen“ der in die Sinne fallende Eindruck desselben. Dieser Eindruck soll eine dreifache Eigenschaft besitzen. Er soll erstens angenehm wirken und zwar zweitens dadurch, daß der Gegenstand als idealisirt, d. h. als auf eine Stufe der Vollkommenheit erheben, und drittens wie mit einer Seele begabt, d. h. als lebendig, beinahe selbstthätig gedacht wird. Im Wesentlichen bietet diese Erklärung nichts Neues. Sie ist die alte, nach der Lehre vom Wesen und Sein der Dinge gegebene Hegel’sche Erklärung, übersetzt in die Lehre von der menschlichen Seele, die allein darüber die Entscheidung hätte, was schön sei; der Gelehrte würde sagen: übersetzt aus Metaphysik in Psychologie. Warum noch die Verstärkung des als vollkommen und angenehm empfangenen Eindrucks mit „seelenvoll“ stattfindet, ist aus Kirchmann’s Buch zu ersehen. Doch glaube ich, unser Verfasser hat sich eine rechte Last aufgebürdet. Denn was muß er Ihnen nun, um des Seelenvollen willen, von unsrer Centifolie sagen? Sie wäre schön, weil sie – eine Seele zu haben schiene, d. h. einen beinahe bis zum Selbstbewußtsein gesteigerten Organismus. Wem dieser Gedanke bei einem Rosenstock gekommen, der muß in der ganzen Natur Najaden, Dryaden, Oreaden und was nicht Alles wiederfinden, muß immer nach Vergleichungen des Todten mit dem Lebenden suchen und wird eine Rose gar nicht mehr abzupflücken wagen. „Seelenvoll“ – es klingt bei unserem sonst verstandeskühlen Verfasser überraschend zart. Doch zwingt ihn seine Lehre zu den wunderlichsten Erläuterungen und Vergleichungen, um nur in die Dinge die Vorstellung von einer durch unsere Betrachtung hervorgerufenen Beseelung derselben zu bringen. Fast möchte ich glauben, er hat einen anderen Gedanken geahnt, den er nur unrichtig ausdrückte. Nicht das Gefühl, die Rose sei beseelt, d. h. nähere sich der organischen Welt, dem Leben des Thiers, macht sie schön, sondern die Vorstellung, daß sie zu einer Gattung gehört und dennoch ein individuelles, für sich bestehendes, alleiniges Dasein hat. Dem Schönen muß die Eigenschaft innewohnen, daß man von ihm sagen kann: es ist einzig in seiner Art. Bei Rosen, deren es Hunderttausende von gleicher Schönheit giebt, ist die gemeinsame Schönheit die, daß sie als Rose einzig ist [171] unter den Blumen. Und dabei kann ihre Schönheit noch eine durchaus individuelle, an ein einzelnes Exemplar geknüpfte sein.

Mit dem besten Gewissen läßt sich eine längere Beschäftigung mit Kirchmann’s Werk bei alledem empfehlen. Grade eine gewisse dilettantische Färbung macht seine Arbeit angenehm. Man hat nicht die Orakelsprüche der gelehrten Schule, sondern die unbefangenen Geständnisse eines Mannes, der nichts zu sagen und niederzuschreiben vermag, was er nicht selbst geprüft und empfunden hat. Ohne Entlehnungen von seinen Vorgängern geht es freilich nicht ab bei einem solchen systematischen Aufbau. Die gewählten Beispiele sind jedoch alle aus dem eigenen Eindruck hervorgegangen und überraschen zuweilen durch ihren Freimuth. Ueber des Verfassers Ansicht von Goethe’s „Tasso“ z. B. würde die ehemalige Berliner Goethe-Gesellschaft keinen gelinden Schrecken empfunden haben. Dagegen ist auch manches seiner gewählten Beispiele zu sehr vom Zufall, von Berliner Begegnungen, guten Bekanntschaften hergenommen. Manches Beispiel ist dann auch wieder zu trivial. Ein Aesthetiker verweilt nicht immer bei Homer und Dante, aber er darf auch nicht hinuntersteigen zu Eckensteher Nante.

Ein neues Buch von Gervinus: „Shakespeare und Händel. Zur Aesthetik der Tonkunst“ (Leipzig, Engelmann, 1868) führt uns noch näher an die Gegensätze heran, die sich beim Streit über das Schöne befehden. Merkwürdig, diese neue Arbeit findet bis jetzt fast allgemeinen Widerspruch. Der berühmte Historiker hat in ein Wespennest gestochen, in die Selbstvergötterung der Musiker. Das ist die Folge geworden der „Lieder ohne Worte“ und der Herrschaft des Pianos im Salon, im Leben der Frauen, in der Erziehung der Kinder. Die Musiker haben ihre Kunst für eine völlig unvergleichliche erklärt. Notorisch ist sie allerdings insofern die allervollkommenste, als sie am sichersten über ihr Material gebietet. Die Instrumente müssen sclavisch ihre Schuldigkeit thun, was weder die Farbe, noch der Marmor, noch das Wort thun. Die unvollkommenste Kunst aber ist sie in Bezug auf ihren Inhalt. Dieser ist nicht Allen zu gleicher Zeit zugänglich und steht noch auf der Stufe jenes „Spieltriebes“, den Schiller, zu Herder’s Entsetzen, als den Anfang alles Künstlerthums bezeichnete. Jetzt wollen nun auch die Musiker den alten Vater Aristoteles Lügen strafen, der das ebenso bei den Idealisten wie bei den Realisten zu beherzigende Wort gesagt hat: alle Kunst beruhe auf Nachahmung. Sie behaupten nämlich, die Musik fände nichts in der Natur, was sie nachahme! Wahrscheinlich dachten sie dabei an Beethoven, der allerdings taub war.

Gervinus hat diesen Herren, die nie in einem Walde gewesen sein können, der vom Zwitschern der Vögel beinahe selbst Stimme gewann, nie auf einem Nachen, dessen Ruderschläge zum Gesang der Ruderer die untere Stimme bildeten, das Ohr geöffnet. Er hat vortrefflich die Anfänge der Musik erklärt und über die ersten historischen Entwicklungen derselben berichtet. Nur ist er in seiner verstimmten, düstern, man möchte fast sagen, vergrämelten Polemik zu weit gegangen. Er hebt die Vocalmusik über alle andere Musik hinaus und wirft der Musik der Instrumente Zweck- und Gedankenlosigkeit vor, selbst bei Beethoven! Alle seine noch so schön und gelehrt ausgeführten Erörterungen über den Ursprung der Musik aus dem Wort, aus dessen Dehnung und Betonung bei feierlichen Gelegenheiten, aus dessen Rhythmus und Accent in der Tragödie etc. scheinen ihn doch irregeführt zu haben. Der Uebergang von den Weherufen eines gequälten Ajax bis zu einer solchen Musik, die nach dem Glauben der Alten Berge versetzen, wilde Thiere zähmen konnte (wir haben leider nichts davon übrig behalten), ist ein so außerordentlich weiter, daß der geistvolle Autor besser gethan hätte, sich in seinen Analysen weniger in die Geschichte des Worts, als in die der Nachahmung der klingenden Natur zu verlieren, in die Einsamkeit der Hirtenknaben mit dem Haberrohr etc., kurz, beim Schiller’schen Spieltrieb zu verweilen. Leibnitzens Wort: aller Musik läge Zählen, die Rechenkunst zum Grunde, dieser tiefe Gedanke gründlicher ausgeforscht und die Ausdehnung geprüft, die im Gemüth des Menschen die Freude am Zählen, an proportionirten Verhältnissen und, so zu sagen, an klingender Mathematik haben kann, das würde den scharfsinnigen Denker von seinem mürrischen Schmollen auf eine Kunst geheilt haben, die allerdings herausfordernd genug jetzt geübt wird und eines aufräumenden Lessing dringend zu bedürfen scheint.

Wenn Sie aber fragen: „Ei, wie kommt denn Saul unter die Propheten? Was will jener gelehrte Heidelberger Herr Professor unter den Notenpulten und Tactirstöcken?“ so erinnere ich Sie an Sitten, die allerdings in Paris belacht werden würden, die Sie aber, als eine gute Deutsche und zumal als Frankfurterin, die ihren Cäcilienverein hochachten zu lernen auferzogen ist, in Schutz zu nehmen haben. In der That, in Heidelberg hat der berühmte Pandektist Thibaut die Sitte hinterlassen, daß Frauen, die inzwischen zu Hause ihre Kinder durch die Herausgabe der Puppenstube zu beruhigen suchen, gelehrte Professoren, die soeben auf der Anatomie einen Cadaver tranchirten, einen musikalischen Thee abhalten und mit den Notenblättern vor dem laokoontisch geöffneten Munde höchst feierlich Chöre aus dem Judas Maccabäus etc. etc. einstudiren. Denken Sie sich ebenfalls den Verfasser der deutschen Literaturgeschichte, der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts und der Analyse Shakespeare’s in diesen Reihen und, ich weiß nicht ob beim Baß oder beim Tenor angestellt, aber schwelgend vor Wonne, wenn die Kinder Israels eben einen stürmischen Angriff auf die Feinde Gottes zu machen beschlossen haben und dann auf das Fortissimo eines wilden Begeisterungschors das Pianissimo stillen Glaubens und trostreicher Zuversicht auf Erfolg eintritt. Dazu dann ein Kreis von in Heidelberg ansässigen Engländerinnen mit andächtigen Reminiscenzen aus einem Händel’schen Oratorium im Krystallpalast, in welchem dreißig Bässe, fünfzig Posaunen und tausend Sänger mitwirkten und jedes Wort, das man verstehen konnte, wenn nicht aus der Bibel entlehnt, doch der Bibel nicht ganz unwürdig war – etc. etc. Kurz, diese classische Hausmusik bezauberte den mit seiner Zeit zerfallenen Mann, dem schon lange nichts mehr am richtigen Platz zu stehen scheint und dessen Kritik auch vollkommen herausgefordert wird durch so vielerlei, was sich in diesen Tagen unendlich sicher und üppig gebehrdet. Jener Hausmusik ist sein Buch gewidmet. Die das letztere angegriffen haben, finden Schönes in Gervinus’ Parallele zwischen Shakespeare und Händel. Hier trenne ich mich von ihnen. Mir erscheint diese Vergleichung unfruchtbar. Was soll es, die Alpen mit dem Weltmeer vergleichen? Auch in den Alpen, ja, giebt es Wasser und das Wasser, ja, es thürmt sich auch zuweilen im Meer zu Bergeshöhen. Aber sind beide denn überhaupt commensurabel? Was besagt die Vergleichung? Shakespeare ist in seinem Lebensgang, in seinen Leistungen ein so völlig Anderer als Händel, daß ihre Zustammenstellung und das Herausbringen einzelner Aehnlichkeiten (wo bleibt nur allein Shakespeare’s Humor?) weder für den Einen noch für den Andern, am wenigsten aber für die allgemeinen Gesetze der Kunst etwas besagt. In den alten Schulen der Rhetoren nannte man eine solche Arbeit eine „Chrie“.

Ich schließe und, wie ich bekenne, noch ohne besondre Resultate. Aber, wenn Sie jetzt in einem Pariser Cirkel vielleicht St. Beuve oder Jules Simon begegnen und diese antworten Ihnen auf die Frage: „Meine Herren, was ist schön?“ mit einer Erklärung, die den Franzosen geläufig ist: „Madame, schön ist, was gefällt!“ so wissen Sie doch, daß sich Ihre Landsleute diese Frage schwerer gemacht haben und auch in der That mehr darüber wissen als andere Nationen. Das, worauf es ankommt, ist die richtige Verbindung der idealen Erklärung, derzufolge beim Schönen das Urtheil, und der realen, bei welcher das Gefühl betont wird. Das Gefühl muß wissen, wo es seine Empfindung unterzubringen hat. Das Schöne haftet nur insofern an den Dingen, als es auch an unsrer Betrachtung haftet. Gewiß hat Hegel Recht, die Schönheit einer Rose spricht für sich selbst und eine Camellie ist sogar schön, ohne daß sie uns die angenehme Empfindung macht, ihren Duft einathmen zu können. Das Schöne ist auch nicht die Farbe allein, die dem Auge wohlthut. Der Begriff des Schönen muß hervorgehen aus dem Ineinsverbundensein eines Gegenstandes wie er ist mit unsrer Vorstellung darüber. Der Apoll von Belvedere ist an sich nicht schön; er ist nur – richtig. Die Rose ist nicht schön; sie ist nur einfach eine Blume, wie sie ist und – immer sein sollte. Hierin liegt der Zauber des Schönen. In dem Gefühl, daß diese Welt unvollkommen und lückenhaft ist. Darum rührt uns das Schöne – wir trauern über sein Alleinstehen. Darum erhebt es uns – wir hoffen auf eine Welt der Vollkommenheit und der lückenlosen Harmonie.




[172]

Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.

Von Guido Hammer.
Nr. 29.0 Winterjagd.


Schon wochenlang anhaltender gänzlich schneeloser harter Frost eines Christmonats der jüngstverflossenen Jahre hatte die Sauen auf den ausgedehnten Revieren der Grafschaft S. z. K., meines schlesischen Jagdeldorado’s, von allen Ecken nach den mitten in der weiten Nadelholzwaldung vereinzelt liegenden Eichenbeständen getrieben, hier noch von den Ueberresten der im vorangegangenen Herbste reich gesegnet gewesenen Eichelmast ihren Hunger nothdürftig zu stillen, denn die von eisiger Kälte überall undurchdringlich gewordene Erdkruste wollte dem elastischen Gebräche der Sauen durchaus nicht mehr weichen, ihnen ihre karge Winterkost an Larven, erstarrten Lurchen, Mäusen etc. zu gestatten. Darum waren aber auch die borstigen Allesfresser wie toll auf Fallwild[6]. Und wehe jeder lebendigen Creatur, deren sie habhaft werden konnten, wie besonders Wilds- und Rehkälbchen, ja auch das infolge der bittern Kälte krank und darum unbeholfen gewordene Reh-, Dam- und Hochwild aller Altersclassen war, kamen die Sauen darüber, unrettbar und elendiglich verloren, denn es wurde von den freßgierigen Bestien sofort bei noch lebendigem Leibe angepackt und aufgezehrt. Durch solche Kost aber lüstern gemacht, war die marodirende Rotte auch leicht durch jedwedes Aas auf die dazu bestimmten Anstandsplätze und Fanggärten anzukirren, um dabei entweder todtgeschossen oder in die meilenweit umzäunte Wildbahn der dortigen Forsten eingelassen zu werden. So traf eines Tages, als ich mich eben zur Jagd dort befand, die Meldung des Wildmeisters im Schlosse ein, daß allabendlich ein starker Keiler auf dem Luderplatze im „Zumreviere“ sich einstelle, um den dort hingeworfenen Fraß zu holen. Durch die Güte des Jagdherrn ward mir die Vergünstigung, diesem Schwarzrock auflauern zu dürfen, um ihn womöglich zu erlegen.

Zu diesem Zwecke ward schon vor Mittag angespannt und hinausgefahren in die weite Haide; doch nicht etwa direct nach der bestimmten Saukirre, sondern um vorher noch eine Pürsche auf Damwild vorzunehmen. Bald saßen wir deshalb, der waidgerechte Herr der mächtigen Forsten und ich, im leichten Wagen, vor der giftigen Kälte wohlgeschützt durch massige Wildschuren, deren äußere Pelzverbrämung bald, von warmem Odem angehaucht, so dicht bereift war, wie unsere Bärte. Kurzen Trabes ging es vorerst durch den bis dicht an’s Schloß heranreichenden Föhrenwald, dessen Kronen vom eisigen Luftstrom brausend durchstrichen wurden, während unten, unter dem schützenden Wipfeldache, tiefe, wahrhaft heimliche Ruhe herrschte. Weiter hinaus freilich, wo der Weg zuweilen über mächtige Gehaue oder weite öde Brandflächen und Moore sich hinzog, fegte der heulende Nord auch unser Gefährt rücksichtslos durch, so daß die Mähnen der dampfenden Pferde wild um deren Köpfe schlugen, wir Menschenkinder aber die warmen Pelzhüllen fester an uns anzogen. Manche Strecke des verschiedensten Terrains hatten wir so schon zurückgelegt, als sich im hohen Holze, seitwärts von unserem Wege, ein Trupp Damhirsche zeigte, unter denen mehrere Halbschaufler waren, welchen die heutige Pürschfahrt ganz besonders galt. Ein Wink des Gebieters ließ mich schnell, aber ohne Hast meiner Wildschur entledigen und dann zur Büchse greifen. Geräuschlos glitt ich zunächst vom langsam weiterfahrenden Wagen herunter und schritt, denselben zwischen mir und dem Wilde behaltend, bis auf Schußweite an dasselbe hieran, hier gedeckt stehen bleibend, während die Pferde unbehindert weiter gingen und von den Hirschen mit neugierigen Blicken verfolgt wurden. Schnell hatte ich den mir zunächst und frei stehenden Schaufler auf’s Korn genommen, dann ein leiser Fingerdruck am Stecher – und der platschende Kugelschlag auf dem Getroffenen folgte unmittelbar dem scharfen Knall der Büchse. Flüchtig ging das Thier mit dem übrigen Trupp fort, doch nur ungefähr vierzig Schritte weit, dann brach es plötzlich, mit dem Kopfe gegen eine Kiefer rennend, zusammen und war bereits verendet, als ich mit frisch geladener Büchse an dasselbe herankam. Inzwischen war auch des Grafen capitaler Leibschütz, Namens Fuchs, zur Hand, den Schaufler mit der nur ihm eigenen fabelhaften Virtuosität in kürzester Frist aufzubrechen, um ihn gleich, hinten auf dem Pürschwagen aufgeschnallt, mit fortnehmen zu können.

Ohne weiteren Aufenthalt ward daher die Jagd fortgesetzt. Hierbei wurden mir – ehe es zum beabsichtigten Anstand auf Sauen kam – noch zwei Schüsse auf Damhirsche gewährt, die ich auch alsbald erfolgreich anzubringen so glücklich war. Mit dem einen erlegte ich kurz nach erhaltener Erlaubniß ohne bemerkenswerthe Umstände einen allein gehenden schwarzen Schaufler, der sich dadurch auszeichnete, daß er nur eine Stange auf dem Kopfe trug. Den dritten Treffer hingegen konnte ich nur nach mannigfachen Hindernissen anbringen. Es stand nämlich ein ganzer Trupp Mutterwild, darunter ein einziger weißer Spießer, im Stangenholz dicht an der Pürschlinie. Doch ehe wir noch auf Schußweite herankamen, ward der ganze Trupp in der dem Damwild so eigenthümlichen Gangart flüchtig, was übrigens nicht zum Verwundern war, da wir entschieden schlechten Wind hatten. So zäpperte die bunte Karawane, einen mächtigen Bogen schlagend, weit unterhalb unseres Wagens, über den Weg hinüber, um auf der andern Seite, eine tüchtige Strecke seitab, im hohen, mit Unterwuchs gemischten Holz erst wieder Halt zu machen. Da sie indeß dadurch für mich in besseren, ja sogar vortrefflichen Wind gekommen waren, pürschte ich ihnen unverzüglich nach; schon weil es mich reizte, gerade dem so vereinzelten weißen Spießer ein rothes Tüpfelchen auf seine blendende Jacke zu malen. Darum näherte ich mich mit ganz besonderer Vorsicht dem Trupp und ließ mich einen Umweg nicht verdrießen, auf dem ich unter vollkommener Deckung heranzuschleichen wohl erhoffen durfte.

Ein jahrhundertalter Fichtenbestand war es, durch den ich meinen Pfad gewählt und der mich den Blicken des Wildes völlig entzog, ohne daß ich mein weithin leuchtendes Ziel dabei gänzlich aus dem Auge verlor. So kam ich unbemerkt, wenn auch langsam, vorwärts bis zu einer von mächtigen Stämmen und Anflug umschlossenen kleineren Lichtung, von der aus ich plötzlich, zuerst durch das Ohr darauf aufmerksam gemacht, Zeuge einer Scene wurde, die mir zuerst vor Aufregung geradezu den Athem stocken machte und mich eine Zeit lang mein Ziel gänzlich außer Acht setzen ließ. Zwei capitale Keiler waren es, an die ich, bevor dieselben sich mir durch ihre ungestüme Sprache verriethen, ahnungslos schon bis auf halbe Schußweite herangekommen war und deren Anblick nun mein ganzes Ich gefangen nahm. Eben im Streite sich befindend um ein verendetes und bereits angeschnittenes Damwildkälbchen, von dem die Eingeweide und Hautfetzen zerstreut am Boden lagen, tauchten die urwüchsigen Geschöpfe plötzlich wie hervorgezaubert vor mir auf. Grimmigen Blickes, die stark bewehrten Köpfe trotzig gegen einander haltend, standen sich die borstigen Recken schlagfertig gegenüber, die streitige Beute zwischen sich. Keiner der ebenbürtigen Kämpen wollte weichen, vielmehr fuhren sie jetzt knappenden Gewäffs wüthend auf einander ein und verfochten mannhaft, Schlag auf Schlag gegeneinander führend, ihre Rechte, daß dabei die dunkelen, zornentbrannten Streiter gegen die mächtigen Wurzelstöcke und gebrochenen Stämme, die ihren Wahlplatz umhegten, polternd anflogen. Endlich, wahrscheinlich durch ungünstiges Terrain strauchelnd gemacht, verlor einer der Erbosten seinen Vortheil und mit ihm den Muth zur weiteren Gegenwehr; denn schleunigst ergriff dieser nun die Flucht vor dem unaufhaltsam nachdringenden Sieger.

Geradezu wie eine Erlösung wirkte es aber auf mich, als die hartköpfigen Raufbolde mir aus dem Auge entschwanden, denn mit der Büchse in der Hand doch nur zum Zusehen verdammt zu sein, hat etwas wahrhaft Dämonisches. Wohl hätte ich ja mit Leichtigkeit von Anbeginn des Straußes die Ungestümen durch eine wohlangebrachte Kugel trennen können, und es gehörte gewiß Selbstbeherrschung dazu, solches dennoch – selbst mit der Ueberzeugung im Herzen, daß der Schuß vom freundlichen Jagdherrn bestimmt gut geheißen werden würde – zu unterlassen.

Allein gerade das mir stets bewiesene Vertrauen meines gütigen Gönners bestimmte mich zur Entsagung; war mir doch

[173] 

Keiler im Kampfe.
Nach der Natur gezeichnet von Guido Hammer.

[174] von jeher waidmännische Subordination das erste Gesetz auf der Jagd, und nie habe ich mir, so oft es anderwärts geschehen mag, erlaubt, ohne specielle Erlaubniß eigenmächtig auf unverhofft vorkommendes Wild zu schießen. Darum blieb ich denn auch hier nur Zuschauer, den ritterlich geführten Zweikampf der beiden wilden Burschen zu beobachten, und nur das prickelnde Vergnügen gönnte ich mir einmal dabei, die gespannte Büchse an den Kopf und damit den stärksten der Kampfgenossen so recht präcis auf’s Korn zu nehmen. Wohl flüsterte mir eine innere Stimme dabei zu: „der Mensch versuche die Götter nicht!“ Denn die leiseste unwillkürliche Berührung des Stechers würde alle meine Achtung vor dem Gesetz in ein sehr zweifelhaftes Licht gesetzt haben, und ich hätte dann die Wahrheit auf’s Heiligste betheuern können – der erlegte Keiler würde mich doch Lügen gestraft haben. Wie schon gesagt, gleichsam von einem schweren Bann befreit, wandten sich daher meine Augen nach geschehener Flucht der Sauen meinem eigentlichen Ziele wieder zu, und zur höchsten Freude erblickte ich wirklich den weißen Spießer noch draußen in den jungen Fichten stehen. Thatsächlich mit noch vor Aufregung zitterndem Schritt nahm ich jetzt meinen unterbrochenen Pürschgang wieder auf und kam auch bald auf Schußweite an den Ausersehenen hinan. Nun hob ich die Büchse zum wirklichen, todbringenden Schusse, der auch, als er den stillen Wald durchdröhnte, seine Schuldigkeit gethan.

Erst hoch emporschnellend floh der Getroffene seitab, während der ganze Trupp Mutterwild auf die andere Seite prellte und flüchtig wurde. Durch des Angeschossenen leuchtendes Kleid konnte ich ihm mit dem Auge weithin folgen und sehen, wie er sehr bald matter wurde und nun ganz langsam hinzog, bis er gar stehen blieb, dann aber zu wanken begann und endlich zusammenbrach. Mit gewohnter Vorsicht rückte ich, die Büchse bereits wieder zum Feuern bereit, dem Daliegenden zu Leibe, um ihm nöthigenfalls noch eine Kugel zuzusenden, doch kein Glied mehr rührend, war auch er bereits verendet, als ich schließlich ganz an ihn herantrat. Schnell eilte ich jetzt, die Beute gleich hinter mir herschleifend, nach der Linie, wo der Wagen, den ich diesmal ungebührlich lange hatte warten lassen, meiner harrte. Ehe ich jedoch noch das Holz verlassen, war auch der indianerschnelle Leibschütz schon da, den Spießer, da er reinlich geschossen war, nur lüftend und dann ihn schleunigst zum Wagen bringend. Ich aber erzählte meine Erlebnisse und, wie ich vermuthet, richtete darauf der Jagdherr die fast vorwurfsvolle Frage an mich, warum ich denn nicht eine der Sauen geschossen?

Die Reue kam zu spät, und um so mehr trieb ich nun, da auch die Zeit bereits ziemlich vorgeschritten war, zur Eile an, den Ort zu erreichen, wo ich ja noch hoffen durfte, auf dem Anstand ein Schwein zu schießen. In der Nähe desselben, an einer Wildfütterung angekommen, wo der betreffende Förster unsere Ankunft bereits erwartete, führte mich dieser zur nicht mehr fern liegenden Kirre, während der Graf in einem etwa hundert Schritt seitab liegenden Waldhäuschen meiner warten wollte, da die schnell eintretende Dunkelheit mich doch bald wieder zurückführen mußte und der beobachtete Keiler spätestens mit der einbrechenden Dämmerung eintreffen sollte.

Still, thunlichst lautlos, um etwa in der Nähe stehendes Wild, wohl gar den möglicherweise schon auf dem Wechsel begriffenen Keiler, nicht rege zu machen, schritt ich mit meinem Führer durch düsteres Tannenrevier, in dessen dichten Beständen die schrägeinfallenden Sonnenstrahlen nur hier und da einen der mächtigen Stämme stellenweise anglühten oder einen tiefhängenden Zweig streifend, purpurn vergoldeten und dann am Boden über das fahle Moos der alten Wurzelstöcke, die dürren Reiser und den dichten Anflug hinhuschten. Aber schnell genug schwanden diese in die Tiefe des Waldes eingedrungenen Lichtblicke, und nur noch die Wipfel der ehrwürdigen Baumriesen blieben noch einige Zeit von der dunstigen Gluth des scheidenden Taggestirns übergossen. Jetzt waren wir indessen auch am Ziele, einer mitten in altem Tannen- und Fichtenbestande liegenden kleinen Blöße, welche die Kirre enthielt. Das Fallwild, das man hier hingeworfen hatte, war schon vielfach von den Sauen angenommen, und die einzelnen umhergezerrten und bereits abgenagten Glieder bildeten ein wirres, wildes Durcheinander. Wohl gedeckt hinter einem Stamme, von wo aus ich nicht nur den ganzen Platz, sondern auch noch mehrere Hauptwechsel bequem beschießen konnte, faßte ich Stand und harrte mit Spannung des kommen sollenden schwarzen Patrons.

Die Sonne war inzwischen zur Neige gegangen und damit auch das letzte schimmernde Leuchten am hochragenden Waldesfirst verglommen, während der Aether am Horizont noch immer durch die Lücken des geschlossenen Forstes feuerfarben flammte und dadurch auch noch genügendes Licht zum Schießen verbreitete. Aber bald durchzog mehr und mehr blauer Dämmerduft den Wald und tiefe, tiefe Ruhe herrschte im ganzen Gebiet; nur in leisen Tönen klang das Abendläuten vom fernen Haidedorf herüber, denn selbst der so heimliche Dreischlag fleißiger Drescher näherliegender Wohnstätten, den man bisher vernommen, war verstummt. Immer dunkler ward es, Stämme und Unterholz, wie dazwischen liegende Lücken, Alles schwamm mehr und mehr zusammen, und nur mühsam konnte man noch das Zeug der Büchse gegen einige hellere Stellen des Waldes zusammenbringen, – dennoch wollte das ersehnte Wild nicht kommen. Endlich ward es völlig Nacht um mich her, und nothgedrungen mußte ich für diesen Abend, ja, da ich des andern Tags bestimmt abreiste, überhaupt für diesen Winter davon absehen, das erhoffte Schwein zu erbeuten. Wahrscheinlich hatte es auf dem Wechsel andere Nahrung gefunden und sich dabei verweilt.

Schweren Herzens trat ich denn ab und hatte also durchaus keine Ursache, dem gewiß wunderbaren Ideengang jenes Dichters zu folgen, der da sagt:

„Und rennt ein feistes wildes Schwein
In meinen Jägerspieß,
Gleich fällt mir dann mein Weibchen ein,
Mein zweites Paradies.“

Vielmehr nichts weniger als in paradiesischer Laune stolperte ich eiligst durch die Finsterniß über Wurzeln und hartgefrorene Erdschollen dem Forsthause zu, wo der Jagdherr bereits nicht ohne Besorgniß meiner harrte, da ich bis zum Aeußersten lange ausgeblieben war. Trotz der Finsterniß brachte uns der bewährte Pürschkutscher rasch genug in das heimische Asyl, in dessen behaglichen Räumen ich für diesmal nur noch eine Nacht zu weilen hatte. Und so schied ich denn am andern Morgen, zwar ohne die Gewehre eines Keilers als Trophäe mit nach Hause nehmen zu können, aber doch mit froher Rückerinnerung glücklich verlebter Tage von der mir lieben und theuren Stätte.




Blätter und Blüthen.


Das harte Brod des Locomotivführers. Eine Schreckensstunde auf der Bahn. Die Gartenlaube hat schon im Jahre des hoffentlich „letzten deutschen Kriegs“, als sie in dem Artikel „Der Dampf auf der Flucht“ die unter den größten Gefahren unternommene und gelungene Bergung sächsischer Locomotiven vor den eindringenden Preußen schilderte, mit Freude die Gelegenheit benutzt, über das schwere, aufreibende und so verantwortungsreiche Amt der Locomotivenführer sich auszusprechen. Der Locomotivführer ist in der That, wie jüngst eine gewichtige Stimme betonte, „einer jener wackeren Kämpfer im Dienste der Civilisation, die ihre Lorbeeren nicht auf dem blutigen Schlachtfelde erobern, aber dennoch Tag und Nacht ihr Leben einsetzen, um rastlos auf dem eisernen Friedensgürtel zu arbeiten, der Länder und Völker verbindet“. Die Wahrheit dieser Worte wird an Eindringlichkeit gewinnen, wenn wir ein Bild der Gefahren dieses Berufs von einem Berufsgenossen selbst uns vorführen lassen, wie dies in den nachstehenden Mittheilungen geschieht, die wir einem sächsischen Locomotivführer, Herrn. H. P., verdanken. Er erzählt:

Am 28. December 1866 hatte ich den von Hof nach Zwickau Nachmittags vier Uhr vierzig Minuten abgehenden Postzug als Locomotivführer zu fahren. Nachdem ich meine Maschine auf das Gewissenhafteste untersucht und alle Theile in gehöriger Ordnung gefunden, fuhr ich aus dem Maschinenhause, um mich an die Spitze des bald abgehenden Zuges zu setzen. Doch hatte ich denselben noch nicht erreicht, als ein Knall und eine augenblickliche Umhüllung von Wasser und Dampf mich belehrten, daß mir das Wasserstandsglas gesprungen sei, jene wichtige Vorrichtung an jeder Maschine, durch welche dem Locomotivführer der Stand des Wassers im Kessel angezeigt wird und ohne die es, hauptsächlich zur Nachtzeit, die größte Aufmerksamkeit erfordert, um den Stand des Wassers durch eine anderweite Vorrichtung zu erkennen, bei welcher nicht das Gesicht, sondern das Gefühl und Gehör maßgebend sein muß. Ein schlechter Anfang zu meiner Fahrt; doch galt hier kein langes Besinnen. Nachdem Maschine und Wagen durch die Ketten verbunden waren, suchte ich den entstandenen Schaden nach Möglichkeit zu heilen, und dies gelang mir nach einiger Anstrengung, [175] von welcher die mir vom Gesicht herabperlenden Schweißtropfen zeugten, auch vollständig.

Das Läuten und die drei dumpfen Schläge der Perronglocke in der Passagierhalle zeigten mir an, daß die Zeit der Abfahrt gekommen sei, und nachdem ich durch die Dampfpfeife das Achtungs- und Abfahrtssignal des Zugführers erwidert, begann ich in mäßigem Tempo meine Maschine in Bewegung zu setzen, und so fuhr ich mit allmählich steigender Geschwindigkeit durch die von Regen und Schneesturm durchbrauste Finsterniß einem ungeahnten schweren Schicksale entgegen. Trotz der ungünstigen Witterungsverhältnisse gelang es mir, die kommenden Stationen zur vorgeschriebenen Zeit zu erreichen, und nach anderthalbstündiger Fahrt fuhr ich in den Bahnhof Plauen, eine Station im sächsischen Voigtlande, wohlbehalten ein. Die dichtgedrängte Menschenmenge auf dem Perron überzeugte mich, daß mein Zug diesmal hier viele Passagiere werde aufnehmen müssen. Da ich nach Vorschrift auf dieser Station fünf Minuten Aufenthalt hatte, benutzte ich diese Zeit, um meinen Tender mit Wasser zu füllen, meine Maschine aber nochmals in ihren einzelnen Theilen zu untersuchen und dieselbe so vorzubereiten, um den Zug mit seiner zunehmenden Belastung in der vorgeschriebenen Schnelligkeit weiterfahren zu können. Nachdem dies Alles in der gewohnten Ordnung geschehen und die Maschine mit dem Zuge wieder in Verbindung gebracht war, trotzdem aber noch kein Signal zur Abfahrt erfolgte, erkundigte ich mich nach der Ursache des so langen Aufenthaltes und erfuhr, daß unter den auf dem Perron stehenden Leuten eine starke Anzahl sächsischer Kriegsreservisten sei, welche wegen Mangel an Personenwagen nicht sämmtlich untergebracht werden könnten, und daß, da sie die Fahrt in Gepäckwagen verweigerten, ich den mir nachkommenden Eilzug vorbei lassen müßte, um demselben an seiner Weiterfahrt nicht hinderlich zu sein. In dem nun angekommenen Eilzuge wurde ein Theil der Passagiere mit untergebracht, und nachdem derselbe den Bahnhof verlassen und die übrigen Passagiere in dem Postzuge Platz gefunden, erhielt ich endlich nach vierzig Minuten Aufenthalt das Signal zur Weiterfahrt. Abermals keuchte die schwer belastete Maschine durch die dichte Finsterniß den fernen Stationen entgegen. Auf der nächsten Station, Reichenbach, ebenfalls im sächsischen Voigtlande, wurde mein Zug getheilt, indem die nach Leipzig bestimmten Wagen hier abgingen und ich nur die Wagen, welche für die Linie nach Chemnitz bestimmt waren, an meiner Maschine zur Weiterbeförderung behielt.

Hier wollte ich, da die Zeit es mir erlaubte, einen mir übergebenen Auftrag an einen Collegen besorgen, wurde aber durch meinen Lehrling darauf aufmerksam gemacht, daß derselbe heute hier nicht anwesend sei und daß wir morgen ja wieder hierher kämen, wo ich denselben treffen würde. – Armer Lehrling, du solltest diese Station nie wiedersehen! –

Nach ungefähr zehn Minuten Aufenthalt erhielt ich das Signal zur Weiterfahrt, und mit frohem Herzen setzte ich meine Maschine in Bewegung, denn die nächste Station war Zwickau, das Ziel meiner Fahrt. Kaum hatte ich den Bahnhof verlassen, so fühlte ich schon, mit welcher Furchtbarkeit das Unwetter zugenommen hatte. Der Sturm trieb Regen und Schnee mit solcher Gewalt mir entgegen, daß es mir unmöglich war, die Augen offen zu erhalten. Deshalb ermahnte ich meinen Lehrling und den auf meiner Maschine mitfahrenden Zugwagenwärter, ja recht aufmerksam zu sein, weil die andere Seite der Maschine, auf welcher diese standen, der Luftströmung nicht so ausgesetzt war wie die meinige und von da aus eher ein freier Blick auf die Bahnstrecke gethan werden konnte; ich selbst begab mich von Zeit zu Zeit dorthin, um einen prüfenden Blick nach vorwärts zu werfen. Mit größter Vorsicht ließ ich meine Maschine in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit gehen, und trotzdem der Wind uns wüthend umheulte, kamen wir doch unserem Ziele rasch näher. Da, kurz vor Zwickau, ertönte der Ruf meines Wagenwärters: „Ach Gott, uns scheint ein Zug entgegen zu kommen!“ was ich von meiner Seite aus, in Folge einer Biegung der Bahn und der mir entgegenwehenden Schneemassen, nicht sehen konnte. Ein Sprung nach der anderen Seite überzeugte mich von der vollen Wahrheit: in ganz kurzer Entfernung sah ich den von Zwickau nach Hof gehenden Zug auf dem falschen Geleise mir entgegen kommen. Er war durch falsche Weichenstellung, die in dem entsetzlichen Wetter von Niemand bemerkt worden war, auf mein Geleise geleitet worden!

Aber trotz des furchtbaren Anblicks blieb die Besinnung mir treu und eine unerklärliche Kraft, verbunden mit Muth und Entschlossenheit, ließ mich noch alle mir zu Gebote stehenden Mittel ergreifen, um den Zug so schnell wie möglich zum Stehen zu bringen. Doch alle Bemühungen waren umsonst, die Entfernung bei doppelter Geschwindigkeit der beiden Züge zu gering, und wohl einsehend, daß hier menschliche Kraft nicht mehr hinreichend sei, eine furchtbare Katastrophe zu verhüten, empfahl ich mich mit dem Gedanken an meine Familie dem Schutze Gottes. Mit ungeheurer Gewalt geschah der Zusammenstoß, und fast unglaublich ist es, daß ein einziger Augenblick solche Verwüstungen bringen kann.

Die Maschinen hatten sich tief und fest in einander gebohrt, und fast an allen Theilen auf das Furchtbarste zerstört. Die vier ersten Wagen meines Zuges waren so zertrümmert, daß von ihren Holztheilen nur kleine Splitter zu sehen wären. Der fünfte Wagen, der der königlichen Post, war über meine Maschine hinweggeflogen und saß auf dem Kessel der anderen Maschine. Ein Personenwagen stand auf meiner Maschine und hatte einen wichtigen Theil des Kessels hinweggerissen, durch welche Oeffnung alle Dämpfe und das kochende Wasser desselben mit ungeheuerer Gewalt durch den zertrümmerten Fußboden in den Personenwagen einströmten und die Passagiere furchtbar verbrannten. Ringsum nur schreckliche Zerstörung, Gepäck, Holz und Eisentrümmer wüst durcheinander! Ich selbst lag schwer verwundet auf dem andern Schienengeleise der Bahn; ob ich dahin gesprungen bin oder geschleudert wurde, weiß ich nicht. Ueber mir war ein förmlicher Berg von Trümmern aufgehäuft, die mich nur deshalb nicht todtdrücken konnten, weil mein Tender durch den Zusammenstoß von der Maschine getrennt war und über mir stand. Neben mir ertönte das furchtbare Brausen der Maschinen, indem der darin befindliche Dampf durch die Oeffnungen der vom Kessel getrennten Theile mit aller Gewalt entströmte. Heftiger aber und markerschütternder war das Jammern und Hülferufen der armen verwundeten Passagiere in der dichten Finsterniß. Es war, als ob man sich in Mitte eines Schlachtfeldes mit all’ seinen Schrecken befände. Lange dauerte es nicht, so erschien die nöthige Hülfe vom Bahnhof Zwickau aus, wohin die Schreckensbotschaft gedrungen war, und es gelang nach kurzer Zeit dem herbeigeeilten höheren Maschinenbeamten, den Platz von Verwundeten zu räumen und sie in den Zimmern des Stationsgebäudes, später in dem Kreiskrankenstift zu Zwickau unterzubringen.

Der Trieb zur Selbsterhaltung gab endlich auch mir die Kraft nach Hülfe zu rufen, und bald erschien der Wagenwärter meines Zuges, der durch einen glücklichen Sprung sich gerettet hatte; seinen Anstrengungen gelang es, mich unter den Trümmern hervorzuarbeiten. Mit aufopfernder Kraft schaffte mich derselbe in’s nächste Bahnwärterhaus, und die Bewohner desselben wendeten Alles an, meine traurige Lage soviel wie möglich erträglich zu machen. Nach kurzer Zeit gesellte sich unter Jammern und Wimmern der Wagenwärter des andern Zuges zu mir, der, sehr schwer verwundet und ganz entstellt, doch noch das Leben davon gebracht hatte. So groß auch seine Schmerzen sein mußten, das Andenken an Weib und Kinder war noch größer, denn sein einziges Verlangen war, dieselben noch einmal zu sehen.

In derselben Nacht wurden wir zwei Leidensgefährten in die Stadt geschafft; ich in meine Behausung, der andere in das Krankenhaus. Auf diesem Wege war es mir vergönnt, noch einmal den Trümmerhaufen zu übersehen, der, von lodernden Feuern düster beleuchtet, einen schaurigen Anblick bot. Von den wehmüthigsten Gefühlen hingerissen, faltete ich unwillkürlich meine Hände und dankte Gott für die wunderbare Erhaltung meines Lebens. Meinem armen Lehrling war es nicht vergönnt, das junge Leben zu retten; er wurde als Leiche mit unter den Trümmern aufgefunden; seine schweren Verletzungen lassen auf einen schnellen Tod schließen.

Ein ähnliches Schicksal hatte der Lehrling der anderen Maschine, der an demselben Morgen seinen Wunden erlag, während der Führer ziemlich unbeschädigt davongekommen war. Zwei Postbegleiter meines Zuges waren sofort todt, während der Postsecretair ein paar Tage darnach an seinen schweren Brandwunden starb.

Im Ganzen hatten wir neun Todte zu beklagen, und von den sechsundzwanzig Verwundeten wird mancher von den Nachwehen dieses Unglücks sein ganzes Leben zu leiden haben; die große Mehrzahl derselben gehörte dem von mir geführten Zuge an. Der mir entgegenkommende Zug war weit besser davon gekommen; kein einziger Passagier desselben hatte eine bedeutende Verletzung erhalten.

Sowie im gewöhnlichen menschlichen Leben oft von Augenblicken das Geschick Vieler abhängt, so war es auch hier. Wären mir nur fünf Minuten von meinem großen Aufenthalte in Plauen erspart worden, so hätte ich den Bahnhof Zwickau erreicht, ehe der verhängnißvolle Zug denselben verlassen, und das große Unglück wäre ungeschehen geblieben. –

Soweit unser trefflicher Gewährsmann. Uns aber, und gewiß Jeden unserer Leser, drängt es, nach einer solchen Schilderung von Gefahren und Leiden im Beruf, zu der Frage: werden diese Männer nach Verdienst belohnt? Die Antwort lautet: Nein! – Bei allen Bahnen, ohne Ausnahme, sehen wir sämmtliche höheren Verwaltungsämter auf das Glänzendste dotirt, die der schönsten Sicherheit in den bequemsten Bureaus genießenden Herren können sich ihrer Einnahmen wahrhaft erfreuen, während das der Hauptsache, dem Betrieb der Eisenbahnen selbst und unmittelbar dienende Personal, vom Weichensteller bis zum Locomotivführer, dem Proletarierstand einverleibt erscheint. Sind doch einzelne Eisenbahngesellschaften in der Sorge für den Schutz ihrer Cassen vor jeglichen Humanitätsausgaben so weit gegangen, daß sie nicht blos Bahnwärter und Weichensteller, nicht blos Schaffner und Heizer, sondern sogar die Locomotivführer nur unter der Bedingung anstellten, daß dieselben sich contractlich verpflichteten, auf die ihnen bei unverschuldeten Unglücksfällen gesetzlich zustehenden Entschädigungsansprüche zu verzichten! Und solche Versicherungsscheine auf den Bettelstab, wenn ihr Beruf sie zu Krüppeln gemacht, müssen noch heute die beklagenswerthen Männer unterschreiben, welche des Lebens Nothdurft zu dergleichen Gesellschaften hinzwingt!

Hier haben wir es nicht mehr mit der bloßen Vorsicht des Capitals zu thun, welche verhüten will, daß diese Arbeiter das Lebensgefährliche ihres Berufs nicht durch Leichtsinn und Uebermuth noch vermehren, – denn so lieb ist Jedem das Leben, daß er es nicht ohne Noth auf das Spiel setzt, und wegen etwaiger Versündigung Einzelner gegen diese Annahme hat man nicht Alle in so rücksichtsloser Weise zu strafen! –, sondern hier übt das Capital Tyrannei aus gegen Wehrlose, von keinem Gesetz Geschützte. Ebendarum war es die höchste Zeit, daß zugleich mit der Presse auch die deutschen Land- und Reichstage diese Unbill gegen die Männer des schwersten Berufs vor ihr Forum ziehen, um ihr ein Ende zu machen. Den Mann der Arbeit muß die Zuversicht erheben, daß auch er unter dem Schutze der Wahrheit und des Rechts steht!




Von einem Zuchthäusler. Einer unserer alten Mitarbeiter, Theodor Oelckers, ist im Monat Januar dieses Jahres nach längeren Leiden dahin gegangen. Er ist es als Mensch wie als Schriftsteller werth, daß wir ihm ein Wort der Erinnerung widmen. Am 21. Juni 1816 zu Leipzig geboren, trat er bereits 1839 als Schriftsteller auf; seine literarischen Erzeugnisse, welche leider lange nicht so bekannt sind, als sie es in der That verdienen, umfassen an Novellen, Romanen, Gedichten, humoristischen Geschichten, politischen Werken etc. über vierzig Bände. Daneben hat er siebenzig Bände gefeierter englischer und französischer Verfasser übertragen und ist theils als Leiter, theils als Mitarbeiter für eine große Zahl von Zeitschriften thätig gewesen. Bei der politischen Bewegung des Jahres 1848 nahm er an dem Vereinsleben in seiner Vaterstadt regen Antheil, „er hatte das Unglück, mit Millionen anderer Deutschen von der Wiederherstellung eines einigen deutschen Vaterlandes zu träumen und in den Jahren 1848 und 1849 seine Hoffnungen desfalls auf das deutsche Parlament zu setzen, auch die von diesem Parlamente geschaffene und von achtundzwanzig deutschen [176] Souveränen anerkannte Reichsverfassung als eine zu Recht bestehende Errungenschaft zu betrachten, für welche jeder gute Deutsche nöthigenfalls mit Gut und Blut einstehen müsse.“ So kam es, daß er wegen verschiedener ihm zur Last gelegter Handlungen bezüglich der Revolution zu Dresden als Hochverräther zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe in Eisen verurtheilt wurde. Was er in den Gefängnissen zu Leipzig, Hubertusburg und Waldheim durchlebt und beobachtet, das hat er in einem Buche niedergelegt (Aus dem Gefängnißleben, Leipzig 1860), welches durch den in mildester Form gebotenen reichen Stoff von dauerndem Werthe nicht nur für Beurtheilung der einschlagenden politischen Verhältnisse oder der Gefängnißverwaltung ist, sondern auch dem späteren unbefangenen Geschichtschreiber grelle Streiflichter in Bezug auf den Stand der Humanität in den jüngsten Reactionsjahren bieten wird; ja, wir glauben nicht zu viel zu sagen, wenn wir das in Rede stehende Buch einen ergreifenden Beitrag zur Geschichte der Cultur oder wenigstens der Civilisation nennen. Es genüge, daß wir eine einzige Thatsache daraus anführen: der Schriftsteller Oelckers bekam seinen Platz als Wollreiniger in der Kämmerei angewiesen zwischen einem Mordbrenner und einem Raubmörder! –

Das Auftreten Oelckers’ im öffentlichen wie im Privatleben trug stets und überall das Gepräge des männlich Bewußten, einfach Würdigen, Selbstlosen, Ehrenhaften. So hat er auch die Züchtlingsjacke getragen, so seine Beobachtungen mit überlegenem Bewußtsein aufgezeichnet. Körperlich fast erliegend blieb sein Sinn ungebeugt, und als man von oben her das Ansinnen an ihn stellte, um Begnadigung zu bitten, sagte er: „Für uns schickt sich nicht, wessen andere sich nicht scheuen. Die höchste Aristokratie versteht sich zu Zeiten zur niedrigsten Volksschmeichelei, und wieder zu anderen Zeiten scheut sie sich nicht, patriotische Gesinnungen als verbrecherische zu bezeichnen. So ist es leider immer gewesen. Für uns andere aber ist nur anständig, uns unter allen Umständen streng gleich zu bleiben, an die Sache, die wir vertreten, stets zuerst, und an unser persönliches Wohl und Wehe stets zuletzt zu denken.“

Am Abend vor Pfingsten des Jahres 1859 wurde er endlich, weil man den kranken Mann doch nicht im Zuchthause sterben lassen wollte – nach zehnjähriger Haft – der Freiheit wiedergegeben; aber auch diese hat ihm nur wenig Blumen geboten. Im Jahre 1861 begab er sich nach Porto Alegre in Brasilien, wo ihm ein Comité der dortigen Deutschen auf Gerstäcker’s Vorschlag die Leitung der „Deutschen Zeitung“ übertragen hatte. Auch hier setzte er den Kampf gegen die Finsterniß und Tyrannei, namentlich gegen die dortigen Jesuiten fort; er gelangte indeß bald zu der Ueberzeugung, daß der Erfolg bei den dortigen Verhältnissen nicht der aufgewendeten Kraft entspräche, und kehrte nach Europa zurück (1862).

Mannigfache Erlebnisse, deren Schilderung sich der Oeffentlichkeit entzieht, bestimmten seinen ohnehin dem lauten Treiben abholden Sinn, sich mehr und mehr in kleine Kreise von Freunden zurückzuziehen. In diesen wußte man aber die stille, harmlose Heiterkeit seines Wesens, der sich häufig ein Zug von Ironie und satirischem Humor beimischte, wohl zu schätzen und übersah willig die kleinen Eigenheiten beim Hinblick auf seinen biedern, treuen, verlässigen, echt deutschen Charakter. Wie er gelebt und gewirkt, ruhig, unerschrocken, unerschütterlich fest, so ist er auch gestorben. An einem der ersten Novembertage des vorigen Jahres trat er in das Redactionszimmer der Gartenlaube und sagte in derselben schlichten Weise, als handele es sich um einen Artikel für die Zeitschrift: „Ich will nun sterben gehen, die Zeit ist da!“ Und als ihm der Redacteur dieser Blätter erschrocken bemerkte, mit dem Sterben habe es noch Zeit, sagte er fast herb: „Ich bin kein Kind, lieber K., und auch kein altes Weib, das sich vor dem Tode fürchtet. Ich weiß, wie es mit mir steht, und wollte Sie nur bitten, mit dem Gelde, das ich Ihnen bringe, die Bedürfnisse für die letzten Monate meines Lebens zu decken. Ich werde das Geld nicht ganz aufbrauchen.“ Er hat’s wirklich nicht aufgebraucht, denn acht Wochen später lag er bereits auf der Todtenbahre. Zu einem Freunde, der ihn auf dem Krankenlager besuchte, sagte er lächelnd: „Ja, wenn man’s nur voraus wüßte, daß der Tod Einem plötzlich käme, so könnte man sich dessen doch wenigstens im voraus freuen!“ So schaute er ruhig auf sein Leben, gelassen dem Tode entgegen. Mit Recht konnte an seiner Gruft das Wort ausgesprochen werden: „Wenn er etwas beschloß, führte er es aus; wenn er etwas that, war es das Rechte und er that es recht. Das Eine sagt Alles: Jeder Zoll ein deutscher Mann!“ K. A.     




Die kleinen italienischen Straßenmusikanten in Paris. Man sieht in Paris eine Menge italienischer Kinder, Knaben und Mädchen, mit elenden Geigen und Harfen versehen, alle Straßen durchbetteln. Während der jüngsten Ausstellung sollen über sechstausend dieser Kinder ihr trauriges Gewerbe in Paris betrieben haben. Nun hat sich zwar seit jener Zeit die Zahl derselben sehr vermindert, indessen treiben sich ihrer doch noch so viele herum, daß man ihnen auf jedem Schritt und Tritt begegnet. Sie kommen aus Piemont, aus dem Kirchenstaat, aus den Abruzzen. Auf welche Weise haben sie den weiten Weg von ihrer Heimath nach Paris zurückgelegt? Wer hat ihnen den freilich sehr dürftigen musikalischen Unterricht ertheilt? Wie viel wirft lhnen ihr Gewerbe ab und wer theilt mit ihnen den Gewinn? Diese Fragen lassen sich sehr erschöpfend beantworten.

Ein Impresario, auf Französisch „Patron“ genannt, durchstreift von Zeit zu Zeit die italienische Halbinsel, und wo er auf eine arme Familie stößt, wirbt er die Kinder, deren die Eltern gern los sein möchten. Er unterhandelt mit diesen, und ist man Handels einig, so läßt der Patron den Kindern die nöthige musikalische Bildung geben, wenn sie nicht schon, wie es meistens der Fall ist, bereits auf der Geige und Harfe einige Melodien kratzen und kneifen können. Hat er einen Trupp von zehn bis zwölf Kindern beisammen, so macht man sich auf den Weg. Der Patron schreibt die Marschroute vor, zahlt die ersten Kosten und streicht täglich die Einnahme ein. Diese vertheilt er zu gleichen Theilen unter die jungen Künstler, nachdem er für sich zwei Theile eingesteckt. Damit aber die Kleinen nicht faulenzen, sind sie genöthigt, jeden Abend mindestens dreißig Sous heimzubringen. Sie wohnen, oder vielmehr sie schlafen im Quartier Moufetard und zahlen für ihre Schlafstätte drei Sous die Nacht. Das ist aber auch ungefähr die einzige Ausgabe, die sie zu bestreiten haben, denn Kost und Kleidung wissen sie sich zu erbetteln, und Wäsche brauchen sie leider nicht. Sobald der Morgen graut, verlassen sie ihr Lager und zerstreuen sich in alle Theile der Hauptstadt. Die Polizei hat zwar ein Auge auf sie, sie haben aber auch ein Auge auf die Polizei, und sobald sie einen Sergeant de Ville wittern, nehmen sie schnell Reißaus.

Ist die Zeit ihres Engagements zu Ende, so wird dasselbe entweder erneuert, oder sie kehren mit der gewonnenen Summe nach der Heimath zurück, wenn sie es nicht vorziehen, auf eigene Rechnung andere Städte heimzusuchen. Man ist oft und sehr heftig gegen die Werber aufgetreten, welche ein solch’ absonderliches Geschäft mit diesen Kindern treiben, allein diese Patrone sind doch noch weniger verdammungswerth als die Eltern, die ihre Kinder auf die eben erzählte Weise verschachern und dieselben in die Welt hinausschicken, um sie allen Lastern preiszugeben. Die Kleinen gewöhnen sich nicht nur bald an die Bettelei mit Musikbegleitung, sie wissen auch schnell durch Lug und Trug das Mitleid des Publicums zu erregen, und nur wenige von ihnen suchen im reiferen Alter den redlichen Gewinn. Gar manche werden auch durch den Tod hinweggerafft, den sie sich durch die schlechte Nahrung, mangelhafte Bekleidung, Unreinlichkeit und üble Gewohnheiten zuziehen. Es ist entsetzlich, zu denken, wie viel Arbeitskräfte, wie viel Talente, ja wie manches Genie in diesen Kindern erstickt wird! So lange indessen den Eltern das Recht zusteht, über ihre Kinder wie über eine Waare zu verfügen, wird die Presse vergebens gegen den furchtbaren Mißbrauch ankämpfen.




Die Lebensversicherung auf der ganzen Erde. Ludwig Walesrode hat im Jahrgang 1865 der Gartenlaube bei Gelegenheit seiner Schilderung von Arnoldi’s großem Bürgerwerke in Gotha über die Bedeutung des Instituts der Lebensversicherung so Belehrendes gesagt, daß unsere Leser sich gern eine etwas starke Zahlenreihe werden vorführen lassen, um dadurch einen Ueberblick über die Größe des bis zum Jahre 1868 erzielten Gesammtresultats der Lebensversicherung auf der ganzen Erde zu gewinnen. Theils nach amtlichen statistischen Erhebungen, theils nach sorgfältigen Schätzungen beträgt die Zahl der Capitalversicherungsanstalten sammt dem versicherten Capital in preußischen Thalern: in Großbritannien und Irland 170 mit 3000 Millionen, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika 55 mit 1800 Millionen, in Frankreich 16 mit 415 Millionen, in Deutschland (worunter hier das Territorium des ehemaligen deutschen Bundes zu verstehen ist) 34 mit 350 Millionen, im übrigen Europa 25 mit 200 Millionen, und in der gesammten übrigen Welt 30 mit 250 Millionen.

Zeigen uns schon diese Zahlen, wie weit wir Deutschen in der Benutzung dieser so äußerst heilsamen volkswirthschaftlichen Anstalten – und folglich auch im Verständniß derselben – hinter Engländern und Nordamerikanern zurückstehen, so wird uns selbst eine Gleichstellung mit den Franzosen verwiesen, sobald wir die kolossale Gesammtversicherung von mehr als 6000 Millionen Thalern auf die Bevölkerung der betheiligten Territorien uns repartirt denken. Darnach kommt von der Gesammtbevölkerung versichertes Capital auf den Kopf in Großbritannien und Irland bei 30 Millionen 100 Thaler, in den Vereinigten Staaten bei 32 Millionen 56,25, in Frankreich bei 38 Millionen 10,92, in Gesammt-Deutschland bei 50 Millionen nur 7 Thaler! Wenn auch das übrige Europa und die übrige Welt ein noch geringeres Verhältniß ergiebt, so ist das ein schlechter Trost für uns, die auf ihre Volksbildung so stolzen Deutschen, auf diesem praktischen Gebiet wieder einmal so gar unpraktisch dazustehen.

Die älteste Lebensversicherungsanstalt ist 1706 in der Amicable Society oder Perpetual Assurance auf Gegenseitigkeit gegründet. Die Engländer besaßen bereits fünfzehn Versicherungsanstalten, da 1829 La Compagnie d'assurances générales sur la vie in Paris auf Actien in’s Leben gerufen wurde; das erste derartige Institut auf deutschem Boden war „die allgemeine Versorgungsanstalt in Wien“, die im Verein mit der ersten österreichischen Sparcasse auf Gegenseitigkeit gegründet wurde. Gleichwohl war der Anfang schwach, und erst in Gotha wurde 1827 mit der „Lebensversicherungsbank für Deutschland“ ein Löwe geboren. Desto langsamer war die Nachfolge, denn solcher Löwen könnte das große deutsche Volk ein paar Dutzend brauchen. Am nächsten dem Gothaer Löwen scheint die Leipziger „Teutonia“ zu stehen, die sich, wie jener, soeben auch ihren eigenen Palast bauen will.

Die neueste Schrift über diesen hochwichtigen Gegenstand, ein „Theoretisch-praktisches Handbuch der Lebensversicherung“ von dem Professor W. Karup in Dresden, erscheint soeben bei Albert Fritsch in Leipzig und sollte von jeder Gemeinde angeschafft und zur möglichst allgemeinen Belehrung öffentlich aufgelegt und erklärt werden. H.     




Berichtigung. In dem in Nr. 7 unsers Blattes unter den „Blättern und Blüthen“ enthaltenen Artikel „Ein neuer Tenor im Werden“ bitten wir anstatt „Warda“ Wurda lesen zu wollen.
Die Redaction.     



Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Bilder aus dem Schwarzwald. IV. Im Thale von Gutach. Mit Abbildung. – Ein Schwingfest im Berner Oberland. Von Max Wirth. – Literarische Briefe. An eine deutsche Frau in Paris. Von Karl Gutzkow. II. – Wild-, Wald- und Waidmannsbilder. Von Guido Hammer. Nr. 29. Winterjagd. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Das harte Brod des Locomotivführers. – Von einem Zuchthäusler. – Die kleinen italienischen Straßenmusikanten in Paris. – Die Lebensversicherung auf der ganzen Erde. – Berichtigung.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. – und der kein Anderer gewesen, als der erst neuerdings wieder durch seine vortrefflichen „Culturbilder aus Baiern“ vielgenannte Ludwig Steub. D. Red.     
  2. Im Jahre 1868 ist kein Schwingen abgehalten worden.
  3. Dies sind kurze, nur bis zum Knie reichende leinene Hosen, welche über die anderen gezogen und am Oberschenkel hinaufgerollt werden.
  4. Beim Anfang jedes Schwunges müssen sich die Ringer gegenseitig an den aufgerollten Wülsten der Schwunghose greifen; das heißt im Griff sein.
  5. Zu jedem regelrechten Schwung gehören drei Gänge, bei welchen Derjenige Sieger wird, welcher den Gegner zwei Mal auf den Rücken geworfen hat.
  6. Fallwild ist durch Krankheit oder Alter eingegangenes Wild.