Die Gartenlaube (1879)/Heft 27
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No. 27. | 1879. |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.
Die Magd öffnete mit scheuer Hand das Gartenthor des vornehmen Hauses und eilte spornstreichs nach dem Klostergut zurück, während José auf das Säulenhaus zulief.... Es war sehr still im Vorgarten – man hörte die eilenden Schritte des Kindes auf dem knirschenden Sande.
Auf diese Laute hin kam plötzlich die dicke, schwarze Deborah um die südliche Ecke des Hauses – sie stieß einen Schrei aus und stürzte unter grotesken Sprüngen und Armbewegungen auf den Knaben zu.
„O mein Jesus – bist Du es denn wirklich, Kind?“ stammelte sie, und aus den dickverschwollenen Augen schossen erleichternde Thränen. „Liebchen, Liebchen, was machst Du für Sachen! Kommst da von der fremden Straße her, von der fremden Straße, wo Niemand unseren süßen Jungen kennt – o Jesus! Bist ja noch nie fortgewesen, böses, liebes Kind, noch nie! Konntest überfahren werden, und Jack und Deborah sind nun schuld, haben nicht aufgepaßt, o!... Seit Stunden rennt Alles nach Dir, und jetzt suchen sie unser Goldkind im Teich, im schwarzen, schlammigen Wasser bei den Fischen – hu! Arme, arme, gute Tante – sie stirbt vor Angst.“
Das Alles stieß sie keuchend, in einem seltsamen Gemisch von Deutsch und Englisch hervor, während sie mit dem Knaben durch Allee und Garten nach dem Teich rannte.
Dort unter den Linden waren alle Leute des Schillingshofes, auch der Herr des Hauses und Jack, in Thätigkeit. Wie ein Schwan hob sich die weiße Gestalt der schönen „Spanierin“ aus dem Durcheinander der Hantierenden – sie lehnte regungslos an einem der Lindenstämme und hielt José’s Hütchen, das man am Teich gefunden hatte, mit beiden Händen fest gegen die Brust gedrückt. Diese Frau, die, den Sarraß am Gürtel und den Revolver in der Hand, in die Nähe des Feindes vorgedrungen, die den Transport eines schwerverwundeten Mannes durch weite, verwüstete Landstrecken energisch durchgeführt, sie gehörte nicht zu denen, die ihrer Angst durch Wehklagen Luft machen.
„Er ist da!“ rief Deborah hinüber.
Wie eine hineinfallende Bombe jagte dieser Aufschrei die Versammelten aus einander. Beim Anblick des Kindes, das heil und unversehrt an Deborah’s Hand quer über den nächsten Rasenplatz stolperte, klärten sich die Gesichter auf – man sah sich lächelnd an und begriff mit einem Mal nicht mehr, wie man sich habe einbilden können, es müsse durchaus ertrunken sein.
Donna Mercedes gab bei diesem jähen Wechsel von Todesangst und Freude nicht einen Laut von sich, und als sie das Haupt nach den Kommenden zurückwandte, da lag noch der Ausdruck des stieren Entsetzens, mit welchem sie in die Wassertiefe geblickt hatte, wie versteinert auf dem farblosen Gesicht. Man sah, sie war im Hause durch alle staubigen Winkel und draußen zwischen unwegsamem Gebüsch und dornigen Hecken suchend geirrt. Der weiße Muslin schleifte zerfetzt und beschmutzt auf dem Boden nach, und das Dickicht hatte an dem Haarnetz gezerrt – ein Theil des wundervollen dicken „Zigeunerhaares“, wie Lucile es bis auf den heutigen Tag nannte, wogte im tiefbläulichen Glanze, noch halb von den Seidenschlingen gefangen, über die rechte Schulter. Mit wankenden Knieen ging sie dem Kind entgegen – Baron Schilling bot ihr die stützende Hand, aber sie wies sie zurück; ihr Blick hing brennend an dem Knaben, der im zerrissenen Höschen, und noch glühend vor Erhitzung, in ihre Arme lief.
„Du bist ungehorsam gewesen, José, Du bist fortgelaufen,“ sagte sie mit bebender Stimme, in ernst strafendem Tone.
Der Knabe versicherte weinend, daß er es nie, nie wieder thun wolle, und dann beichtete er, nach Kinderart in sprunghafter, abgebrochener Redeweise, sein Abenteuer auf dem Klostergute, während sich die Leute des Hauses auf einen Wink ihres Herrn entfernten.
Und der Kleine erzählte von der schrecklichen Rumpelkammer und dem großen, boshaften Jungen, wie von der Frau, die ihm so streng und rauh verboten, zu sprechen, und „dem furchtbar bösen Mann“, der nach ihm hatte schlagen wollen.
Diese Mittheilungen waren von unbeschreiblicher Wirkung auf Mercedes. Ihr südliches Naturell, meist durch einen überlegenen Verstand kräftig niedergehalten, loderte empor; die Hände auf den Busen gepreßt, ging sie fliegenden Schrittes auf dem schmalen, zum Säulenhause laufenden Wege hin und her und schüttelte ungeduldig die Hand Deborah’s ab, die schüchtern den Versuch machte, ihr das gelöste Haar unter das Netz zu stecken – was kümmerte sie in diesem Augenblick ihr Aeußeres?
„Was nun?“ fragte sie mit schneidendem Lächeln, als José verstummte.
Baron Schilling hatte ihm eben, Schweigen gebietend, die Hand auf den kleinen Mund gelegt, der in fieberhafter Aufregung immer wieder auf das Erscheinen „der großen Maus“ und auf den Moment zurückkam, wo sich die entsetzliche Thür zwischen die [446] Welt draußen und den kleinen Eingesperrten geschoben hatte.... Auf Mercedes’ Frage richtete sich Baron Schilling empor und sah in das schöne Antlitz mit dem zornigen, und doch durch einen feuchten Hauch verschleierten Blick. „Standhaft bleiben!“ versetzte er ruhig.
„Aber ich kann und will nicht,“ rief sie heftig und zog den Knaben in leidenschaftlicher Innigkeit an sich. „Ich werfe die entsetzliche Pflicht, mit Rohheit und Gemeinheit kämpfen zu müssen, von mir; die Last, die Felix weit unterschätzt hat, ist zu schwer für mich.“
„Tragen wir sie nicht zusammen? Bin ich nicht auch da?“ fragte er mit mildem Vorwurf.
Die ernste Güte, die Sanftheit in diesen Lauten übten auf Mercedes eine fast bestrickende Macht, die aber sofort durch ein Gefühl verletzten Frauenstolzes unterdrückt wurde. „Tragen wir sie nicht zusammen?“ hatte er gesagt – damit war eine Gemeinschaft zwischen ihnen bezeichnet. Dieser Mann hatte aber eine Frau, die boshafter Weise sein Haus verlassen, um den Ankommenden, sofern sie tactvoll waren, jeden Verkehr, jede nähere Beziehung zu ihm unmöglich zu machen. Mercedes war ein Mädchen, obwohl sie den Frauentitel führte – sie hatte einen Geist, furchtlos, energisch und thatkräftig wie ein Mann, allein daneben behauptete sich das echte Weib in ihr, keusch empfindlich wie eine Mimose. Ein unerklärbares Gemisch von Scham und Abscheu überkam sie.
Sie antwortete nicht; nur ihre kaltfunkelnden Augen unter finster gefalteten Brauen streiften ihn ausdrucksvoll.
„Ich bin zwar nicht gerichtlich bestellter Vormund für die beiden Kinder,“ sagte er gelassen, „aber Felix’ Briefe und mein Versprechen geben mir eine feste Stellung, von der ich nicht um eine Linie weichen werde. Ich habe demnach nicht zu erörtern, ob mich die Rohheit und Gemeinheit der Leute, mit denen ich rechnen muß, zurückstößt und entmuthigt, ob überhaupt mein persönliches Gefühl dabei beleidigt wird“ – er sprach mit erhöhter Stimme – „das muß völlig aus dem Spiele bleiben. Felix ist verarmt gestorben –“
Sie zuckte zusammen, als schneide dieser unumwundene Ausspruch wie ein Schwert durch ihre Seele, und das feine Roth, das eben in ihren blassen Wangen aufgedämmert war, verdunkelte sich.
„Nun ja; er hat keinen Dollar klingenden Vermögens hinterlassen; was mein Vater für ihn zurückgelegt hatte, steckte in seiner Plantage. Jetzt wächst das Unkraut lustig aus den verwüsteten Ländereien,“ setzte sie bitter lächelnd hinzu, „sie haben allen Werth verloren, seit die Hände, die sie bebautem, falsche Ringe an den Fingern tragen und freien Herren gehören.... Felix ist ein Bettler geworden, wie der ganze Süden finanziell total ruinirt ist.... Bah, was rede ich davon! Für den deutschen Rechtsbegriff ist ja das nur die nothwendige Sühne des alten Unrechts.“
In ausbrechender Erbitterung wandte sie ihm den Rücken, und jetzt hob sie die Arme, um die Haarmassen, die ihr bei der jähen Bewegung über den Busen geglitten, selbst unter das Netz zu stecken. In dieser Stellung waren die Linien des schlanken Körpers entzückend für ein Malerauge.
„Sie stützen Ihre Machtvollkommenheit hauptsächlich auf diese Verarmung, wie ich annehme?“ sagte sie plötzlich aufblickend, nachdem sie die letzte widerspenstige Haarsträhne unter den Seidenschlingen geborgen hatte.
„Allerdings,“ versetzte er. „Meine Aufgabe ist es, den Kindern um jeden Preis zu ihrem Erbe zu verhelfen –“
„Das ledige Geld!“ warf sie ein. Sie zuckte mit den Schultern und in ihrem Ton lag dieselbe kalte Verachtung, mit der sie vor wenigen Stunden im Atelier gesagt hatte: „Ja, mit dem Gelde seiner Frau!“
Baron Schilling stand vor ihr nicht als der Künstler mit dem meist träumerisch gesenkten Kopf und dem tiefsinnenden, wie nach innen gekehrten Blick, er erschien genau als Einer von Denen, die droben im Mittelsaale die alten gewundenen Holzrahmen füllten, fest, kraftvoll, ein Mann, der sich in seinem braven Wollen nicht beirren läßt.
„Ja, das leidige Geld!“ wiederholte er fest betonend. „Ich leugne seine Macht nicht, so wenig wie es Felix gethan, der das Erbe für seine Kinder gerettet wünschte – und er hatte Recht, sie brauchen es. Ich weiß, daß ich mit diesem Ausspruche ein böses Vorurtheil nähre, aber ich muß es mir gefallen lassen!“
Sie sah auf den Kies zu ihren Füßen, dann flog ein geringschätzender Zug um ihre Lippen.
„So fürchten Sie, die Kinder müßten Hungers sterben ohne das Geld der alten Frau?“ fragte sie, seine letzte Bemerkung übergehend.
Er lächelte. „Die Kleinen haben eine sehr energische Tante, die wohl schlimmsten Falles zu harter Arbeit greifen würde, um ihre Lieblinge nicht Mangel leiden zu lassen. – Mehr weiß ich nicht, aber ich brauche und wünsche auch keinen tieferen Einblick in die Verhältnisse, weil ich trotz alledem bei meiner Ansicht beharren muß. Ich rechne mit den Mächten, die unseren Lebensweg kreuzen“ – er zögerte, und jetzt suchte sein Blick den Boden – „Sie sind sehr jung –“
„Aber fest genug, um einem Todten die Treue zu halten,“ unterbrach sie ihn verständnißvoll, während eine jähe Gluth ihr ganzes Gesicht bedeckte.
Ein augenblickliches Schweigen trat ein – man hörte José’s Stimme, der sich, unfern auf einer Gartenbank stehend, unter Deborah’s ordnenden Händen befand und dabei unausgesetzt von seinem Erlebniß auf dem Klostergute sprach.
„Nur Eines möchte ich wissen,“ begann Baron Schilling ablenkend. „Warum lassen Sie die kleine Frau in dem Wahn, daß sie reich, ‚immense reich’ sei? – Einmal muß sie ja doch die Wahrheit hören.“
„Ich halte das nicht für nöthig, so lange sie nicht ihr Geschick von dem meinigen trennt,“ versetzte Donna Mercedes gelassen. „Lucile würde sterben an dem Gedanken, daß sie nicht mehr über Reichthümer zu verfügen habe. Felix hat sie geliebt bis in den Tod. Die Angst um die Zukunft dieses kindischen, genußsüchtigen Wesens hat ihn noch mehr gequält, als die Sorge um José und Paula. Ich habe ihm heilig gelobt, über sie zu wachen, und so betrachte ich sie fast wie eine ältere Schwester ihrer Kinder, als welche sie sich ja auch am liebster gerirt.“ Ein leises, verächtliches Lächeln stahl sich flüchtig um ihren Mund. „Lucile ist brustschwach – die Aerzte behaupten, sie befände sich bereits in den ersten Stadien der Lungenschwindsucht,“ fuhr sie ernst fort. „Es ist mithin meine Aufgabe, ihr jede wirkliche Aufregung fern zu halten. Aus dem Grunde habe ich auch vorhin streng verboten, daß sie von José’s Verschwinden benachrichtigt werde, ehe wir eine Gewißheit hätten.“
Sie rief den Knaben herbei und ergriff seine Hand.
„Vielleicht begleiten Sie mich zu Lucile,“ sagte sie zu Baron Schilling. „Es ist möglich, daß sie nunmehr von dem Vorfall erfahren hat; sie regt sich oft nachträglich noch unnöthig auf, und das wird Ihr Besuch verhindern.“
Sie gingen nach dem Säulenhause.
Donna Mercedes betrat sonst nie Lucile’s Gemächer – sie hatte keine Veranlassung dazu. Die Mahlzeiten nahm man im großen Salon ein; auch der Thee wurde Abends dort getrunken, trotz Lucile’s täglich sich erneuernden Protestes, und die Kinderstube war nur durch Mercedes’ Schlafzimmer von diesem Salon getrennt. – –
Draußen lag noch heller Sonnenglanz; von Westen her zu röthlicher Gluth entfacht, machte er die Welt in einem doppelt grellen Lichte schwimmen und fiel breit in die Fenster des Hauses.
Nur in Lucile’s Wohnzimmer war mittelst fest vorgelegter Läden und zugezogener Gardinen intensive, von Kerzen- und Lampenlicht durchstrahlte Nacht hergestellt. Am Plafond brannte der kleine Kronleuchter; zu beiden Seiten des deckenhohen Pfeilerspiegels flammten Kerzen auf den Bronze-Armen, und das Licht hoch auf Etagèren placirter Kugellampen floß weiß hernieder – man suchte unwillkürlich nach dem schwarzbehangenen Katafalk, auf den dieses Glanzmeer zu strömen habe, aber es war etwas ganz Anderes – es war Bühnenlicht.
Vor dem Spiegel gaukelte wie ein Schmetterling ein zartes kleines Menschenkind. Ueber fleischfarbenen Tricots bauschte sich ein ganz kurzes Röckchen von goldgelbem Atlas; ein silberbesetztes rothlila Sammetmieder umschloß eine zerbrechlich dünne Mädchentaille, [447] und bei jeder Bewegung der schlanken, weißgeschminkten Arme, bei jedem Pas flatterten und wehten glänzende Bandschleifen wie Flügel von den Schultern, wogte das dunkel niederrollende, mit weißen Rosen durchflochtene lange Gelock über den Nacken fast bis auf die Hüften hinab. Das war kein Tanz – weit eher ein Schwimmen und Schweben, als habe sich die Luft verdichtet und trage mühelos den kleinen, biegsamen Feenleib – Lucile war in der That eine Tänzerin ersten Ranges.
Sie hatte eine seltsame musikalische Tanzbegleitung. Die Kammerjungfer Minna stand, den Rücken der Thür zugekehrt, inmitten des Zimmers und summte eine Melodie, so scharf accentuirt im Rhythmus, so gewohnheitssicher, als sei sie seit Jahren das begleitende Orchester bei den Uebungen ihrer Herrin. Sie schlug dabei leise klatschend in die Hände, machte jede Wendung und Schwenkung mit wiegendem Oberkörper unwillkürlich mit, und war in ihre Aufgabe so vertieft, wie die Tänzerin selbst. – Sie hatten Beide keine Augen für die kleine Paula, die auf dem Teppich saß und in verschiedenen Cartons kramte. Die Kleine hatte sich einen weißen Kranz verkehrt aufgesetzt, Schuhe und Strümpfchen ausgezogen und wickelte eben einen gelben Seidenshawl um die kleine, nackte Büste, von der sie das lose, weiße Kleidchen nach den Hüften hinabgeschoben hatte.
„Lucile!“ rief Donna Mercedes, plötzlich mit dem Baron und José eintretend.
Die Tänzerin vor dem Spiegel fuhr erschrocken herum. „Minna, dummes Ding, Du hast vergessen, die Thür zu verriegeln,“ platzte sie erbost heraus; aber im nächsten Augenblick schon brach sie in ein gezwungenes, schallendes Gelächter aus.
Baron Schilling strich sich mit heiterem Lächeln den Bart – diese Sylphide sah nicht aus, als werde sie noch nachträglich über das Erlebniß ihres kleinen Sohnes in Ohnmacht fallen. Während er, José an der Hand, der Schwelle nahe stehen blieb, schritt Mercedes, ohne ein Wort zu sagen, durch das Zimmer; sie nahm der kleinen Paula, die sich unter Geschrei lebhaft widersetzte, den Kranz vom Köpfchen, zog ihr das Kleid über die Schultern, Schuhe und Strümpfe an die Füße, und redete ihr dabei mit sanfter Stimme begütigend zu.
„Du solltest das Kind nicht Zeuge Deiner Amüsements sein lassen!“ sagte sie zu Lucile, nachdem sie die Kleine beruhigt hatte.
„Ah bah, warum denn nicht?“ versetzte die junge Frau trotzig. „Wenn Du glaubst, ich gäbe es jemals zu, daß Paula auch so philisterhaft erzogen wird, wie Du mit José den Anfang bereits gemacht hast, dann irrst Du Dich gründlich. – Das arme Ding hat ohnehin eine jammervolle Kindheit. Was bin ich dagegen für ein glückliches Kind gewesen – o, wie glücklich! – Gehätschelt, bewundert, in Saus und Braus, in Glanz und Herrlichkeit bin ich groß geworden – o, mein schönes, geopfertes Paradies!“ – Sie streckte sehnsuchtsvoll die Arme gen Himmel, diese zarten Arme, die in der That überschlank geworden waren – die Aerzte hatten doch wohl Recht. Lucile’s Brust flog unter hastigen Athemzügen.
Sie griff nach den Blumen über ihrer Stirn, riß sie halb ergrimmt, halb im Uebermuth aus den Locken und schleuderte sie nach den Cartons.
„Meine Amüsements, sagst Du?“ fuhr sie impertinent lächelnd fort. „Mein Gott ja, armselig genug sind sie – aber was will man machen? – Jedes eben nach seinem Geschmack und Bedürfniß, Donna Mercedes! Du spielst Bach auf Deinem Flügel und stellst Dich ganz verzückt über den alten Zopf – und ich, nun, ich tanze, ich krieche dann und wann wehmuthsvoll in die alten, lieben Theatersachen – “
„Der Anzug ist neu – er ist noch nie in einem Koffer verpackt gewesen,“ unterbrach sie Mercedes kalt und unerbittlich.
Lucile drehte sich wie ein Kreisel in verlegener Lustigkeit auf der feinen Fußspitze, und Minna, die scheu in den Hintergrund des Zimmers getreten war, bückte sich, um die verstreuten Blumen zusammenzulesen.
„Nun, und wenn auch?“ fragte die kleine Frau – sie hielt plötzlich inne mit ihren Fußschwingungen und trat erbittert auf ihre Schwägerin zu. „Und wenn auch, Donna Valmaseda? Was geht es schließlich Dich an, wenn ich mir ein paar Ellen Sammet und Atlas kaufe? Geht es etwa aus Deinem Beutel – wie?... Ich bitte Sie, Baron Schilling, sehen Sie sich meine gestrenge Schwägerin an! Der Spitzenbesatz, den sie da zerrissen auf dem Teppich nachschleift, ist so kostbar, daß ihn eine deutsche Herzogin auf ihrer Staatsschleppe tragen könnte – diese Baumwollenprinzessinnen leisten das Menschenmögliche in der Verschwendung, sag’ ich Ihnen. Ich armer Tropf aber soll mir nicht einmal den Spaß machen, mich auch einmal in einem neuen Costüm bei meinen einsamen ‚Amüsements’ zu sehen? – Es ist unverantwortlich von dieser Vormundschaft, daß sie die Auszahlung meiner Nadelgelder in Mercedes’ Hände gelegt hat, aber ich bin auch immer so dumm und leichtgläubig; ich lasse mir Alles bieten. – Weiß ich denn, ob dieses behauptete Recht nicht ein angemaßtes ist? – Nun wird mir jede Stecknadel, jeder Seidenfaden nachgerechnet –“
„Du weißt sehr gut, daß ich Dir nie etwas nachrechne,“ fiel Mercedes ruhig ein – auf ihrer Stirn lag ein Schimmer wahrer Seelenhoheit. „Ich finde es nur sehr unrecht, daß Du trotz des Verbotes der Aerzte Dich so echauffirest. Felix hielt Dich stets zurück, wenn Du im Uebermuthe in irgend eine Tanzweise verfallen wolltest –“
„Ja – aus Eifersucht. Er konnte es nicht ertragen, der gute Felix, wenn auch andere Augen, als die seinen, mein Talent bewunderten; gewisse Leute machen es ebenso, sie verzehren sich vor Neid. – Und das haben die zwei weisen Salomo’s, unsere Aerzte, recht gut gemerkt; sie haben sich sofort auf die Seite der Großmacht im Hause gestellt – natürlich! – und sich alles Ernstes eingebildet, ich ließe mich in’s Bockshorn jagen, wenn sie mir mit geheimnißvollem Achselzucken verkündigten, meine Gesundheit sei angegriffen – die Schlauköpfe, die!“ Mit unbeschreiblicher Komik und Grazie machte sie die Geste der langen Nase und drehte sich abermals wie ein Wirbelwind auf der äußersten Fußspitze, und ihr Töchterchen haschte aufjauchzend nach dem gelben Atlasrock, der sich wie eine goldglänzende Sonnenscheibe über dem leichten Gewölk der Gazekleider mit der Tänzerin drehte.
In Mercedes’ Wangen stieg ein helles Roth. Sie ergriff schweigend Paula’s Hand, um das Kind aus dem Zimmer zu führen; allein Lucile vertrat ihr den Weg, „O nein – Paula bleibt bei mir, bei ihrer Mama, wohin sie gehört,“ sagte sie bestimmt. „José magst Du meinetwegen usurpiren. Ich habe ihn auch lieb, sehr lieb, aber ich habe keine Macht über ihn. Das Schicksal ist doch manchmal wie mit Blindheit geschlagen bei seinen Arrangements – solch einem jungen, unerfahrenen Ding wie mir die Erziehung eines wilden Jungen zuzuweisen – Unsinn! . . . Mein süßes Mädchen dagegen, meine kleine Paula, behalte ich für mich, so wie einst Mama und ich zusammengestanden – daß Du es weißt –“
„Felix hat die endgültige Verfügung über beide Kinder vorläufig in Frau von Valmaseda’s Hand gelegt,“ unterbrach Baron Schilling die eifrig Redende mit Nachdruck.
Lucile wandte ihm rasch das Gesicht zu und maß ihn mit spöttischem Blick. „Auch Du, Brutus?“ rief sie pathetisch. „Nun ja, ich konnte das wissen. – Drüben unterwarfen sich ja auch Alle ihren Orakelsprüchen, alle unsere Herren, ihr Vater, Felix, der arme Valmaseda.... Diese dämonischen Frauen mit den finsteren Mienen sind leidenschaftlich im Herrschen und Gebieten und zurückhaltend im Gewähren – das ist die ganze Kunst! – Sie war eine sehr kühle Braut, diese Donna de Valmaseda –“
„Schweige!“ unterbrach Mercedes mit flammenden Augen die boshafte Verrätherin.
„Mein Gott, ich bin ja schon still,“ wich die kleine Frau mit einer drolligen Furchtgeberde zurück. „Aber Baron Schilling ist mein Freund, mein guter, alter Freund noch aus der himmlischen Berliner Zeit – ich darf nicht leiden, daß er auch in’s Netz geht; ich leide es absolut nicht. Er hat ohnehin schwer zu tragen am Leben, der unglückliche Mann –“
„‚Unglücklich’?“ fuhr er mit tieferblaßtem Gesicht empor. „Wer sagt Ihnen denn, daß ich – –?“
„Mein Gott, ich denke – oder wäre sie hübscher geworden, Ihre Frau? Und liebenswürdig?“ rief sie, jetzt wirklich überrascht, mit großen Augen, aber sie senkte sie doch einen Augenblick erschrocken über den Ausdruck des Zornes, den ihre tactlose, vorwitzige Zunge geweckt hatte.
Sein Blick fuhr wie ein Blitz seitwärts über das Antlitz der Frau hin, die vor wenigen Stunden mit vernichtend drastischer [448] Betonung gesagt hatte: „der Mann hat sich verkauft.“... Er ertappte eine sichtliche Spannung, aber auch kaltlächelnden Hohn in den geistreichen Zügen.
„Ich bin Ihnen sehr verbunden, Frau Lucian – Sie sind die Barmherzigkeit selbst,“ sagte er, ihre indiscreten Fragen völlig übergehend, mit scharfem Spott. „Aber Sie dürfen sich beruhigen; ich kann Ihnen versichern, daß ich an meinem Loos nichts auszusetzen habe.“
Er legte die Hand auf den Thürgriff, und José, der sich während der ganzen Zeit fest an ihn geschmiegt, ja, sich hinter ihm förmlich versteckt hatte, trat dicht an die Thürspalte, um beim Oeffnen sofort hinauslaufen zu können – es war, als brenne dem Kinde die Schwelle unter den Sohlen.
„Wir waren gekommen, Ihnen diesen kleinen Ausreißer heil und unversehrt zuzuführen“ – sagte Baron Schilling, auf den Knaben deutend, immer noch mit harter Stimme.
„Ach ja“ – fiel Lucile ein – „er war ja wohl für einen Moment nicht zu finden? Man hat ihn auch bei mir gesucht – war es nicht der Bediente Robert, den Du an der Thür abfertigtest, Minna?“ Sie zog die Schultern empor. „Ich habe nicht weiter daran gedacht – solch ein großer Bursche kann ja doch wahrhaftig nicht verloren gehen wie eine Stecknadel.“ Sie trat näher und legte die Hand schmeichelnd auf den Kopf des Kindes. „Wo hast Du denn gesteckt, mein Junge?“
Der Knabe, der ihr immer noch den Rücken zukehrte, schüttelte in wilder Aufregung die Hand von sich.
„Nein, Mama, nein!“ schrie er auf, ohne ihr das Gesicht zuzuwenden – er drückte die Stirn so fest an die Thür, als wolle er sie in das Holz einbohren. „Ziehe Deinen langen Schlafrock an! Ich kann Dich nicht ansehen. – Du bist gar nicht meine Mama – nein!“
„Einfältiger Junge!“ zürnte sie und faßte ihn an der Schulter, um ihn gewaltsam umzudrehen, aber bei dem Kinde machte sich jetzt offenbar die erlittene heftige Nervenerschütterung geltend; sonst so sanft und fügsam, sträubte es sich und verfiel dabei in ein convulsivisches Weinen, in welches sein erschrockenes Schwesterchen aus Leibeskräften einstimmte.
„Gott im Himmel, das ist ja zum Verrücktwerden!“ rief Lucile, und beide Hände auf die Ohren pressend, floh sie in das Nebenzimmer, dessen Thür sie schmetternd hinter sich zuwarf, während Baron Schilling schweigend den Knaben auf seinen Armen hinaustrug und Donna Mercedes im Verein mit der Kammerjungfer die kleine Paula zu beruhigen suchte.
„Mir steht das Gethue bis an den Hals – ich mag gar nicht mehr hinsehen,“ sagte der Bediente Robert draußen indignirt und mit verachtungsvollem Blick, nachdem Baron Schilling mit dem Knaben an ihm vorüber in die Kinderstube gegangen war.
Er stand mit dem Gärtner an der offenen, nach dem großen Garten führenden Thür der Flurhalle, und Mamsell Birkner, die eben aus dem Souterrain kam, um Deborah das Gebäck für den Theetisch zu bringen trat auch hinzu.
„Da haben wir Alle Gott gedankt, daß die Gnädige den guten Einfall hatte, ihre Minka einstweilen auswärts in Pflege zu thun,“ sagte der Bediente weiter, „und jetzt gäb’ ich gleich zehn Thaler drum, wenn wir sie wieder da hätten, und es wäre Alles beim Alten. Man versetzte manchmal der schwarzen Canaille einen heimlichen Knuff und Fußtritt, und da hatte man Ruhe für eine ganze Zeit.... Aber jetzt? – Zum Todtärgern ist die Wirthschaft. – Wohin man tritt, liegt das Spielzeug im Wege – es thäte noth, man machte in einem fort den Buckel krumm, den Kram wegzuräumen, und vor der wilden Bestie, dem Hund, muß man ewig auf der Flucht sein; ich wüßte schon, was ich dem am liebsten in die volle Fleischschüssel thäte. Und die verzogenen Rangen alarmiren fortwährend unser ganzes Haus. Bald muß man mit Stangen rennen, um nach dem Jungen im Teiche zu fischen, bald dem heulenden Ding, dem kleinen Mädchen, beispringen, wenn es auf die Nase gefallen ist, und eben haben sie Beide geschrieen, daß mir noch die Haare zu Berge stehen. Und dafür kriegt man nicht einmal einen Blick, geschweige denn einen Dank von der hochnäsigen Madame, die nicht einmal ihr Essen bezahlen kann. Dem Herrn kostet das ein Heidengeld, und dabei thut er doch, als sei er in seinem ganzen Leben noch nicht so glücklich gewesen. Damit soll er aber der Gnädigen nur kommen – sie kann das Kindervolk nicht ausstehen; man sieht ihr die stille Wuth an, wenn ihr solch ein kleines Ding unversehens über den Weg läuft –“
„Ja, weil ihr der liebe Gott keine eigenen bescheert,“ fiel Mamsell Birkner ein und schob und ordnete an dem Gebäck auf dem Teller, den sie in der Hand hielt.
„Nun vielleicht betet sie deshalb in Rom,“ lachte der Bediente.
„In Rom ist sie ja gar nicht mehr,“ flüsterte der Gärtner; „sie ist zu Besuch in einem Kloster.“ Er verstummte plötzlich verlegen, und auf die erstaunten Fragen der Anderen hin sagte er ausweichend, er habe „ein Vögelchen davon singen hören“ – daß er bei Ausübung seiner Functionen im Wintergarten und im Atelier in einen offen daliegenden Brief der Gnädigen geschielt hatte, konnte er freilich nicht sagen. „Ich glaube, sie kommt bald wieder,“ meinte er mit verständnißvollem Augenzwinkern, „nachher sollt Ihr aber sehen, was passirt. Die amerikanische Gesellschaft fliegt aus der Thür, daß es eine Art hat – denkt an mich!“
„Das leidet der Herr nicht,“ sagte die Mamsell ganz erregt.
„Ich bitte Sie, Mamsell Birkner!“ versetzte der Bediente höhnisch. „Wem gehört denn der Schillingshof?“
„Uns!“ platzte sie erbittert heraus. „Uns gehört er, und nicht den Steinbrücks. Wie wir noch zusammen waren, der alte Freiherr und der Arnold – der gnädige Herr wollt’ ich sagen – und ich, da gab es keine Gnädige bei uns, und wir haben auch gelebt und sind in unserm Gott vergnügt gewesen. Ueber das Haus hier hatte der alte Herr allein zu befehlen; hier ist er geboren und gestorben. Und gut und kreuzfidel waren Alle, und die Kellerschlüssel sind auch nie auf die Reise mitgenommen worden, als wäre das Haus voll Spitzbuben –“ sie hielt plötzlich inne und trat respectvoll zur Seite.
Die schöne, stolze Frau kam mit der kleinen Paula von Lucile’s Gemächern her. Wie ein breiter, schwarzer Schatten lagen die Wimpern tief auf ihren Wangen; sie schritt vorbei, als seien die Leute an der Thür von Stein, wie die Statuen in den Nischen.
„Bettelprinzeß!“ murmelte der Bediente Robert grimmig zwischen den Zähnen, während sie in der Thür nächst der Laokoongruppe verschwand.
In der Mitte der Nordküste Afrikas etwa, da wo der Busen von Kabes tief nach Süden einbuchtet, scheidet nur ein Hügelland mit wenig bedeckenden Erhebungen das Mittelländische Meer von den unermeßlichen Sandgefilden, die einst ebenfalls mit der salzigen Fluth bedeckt gewesen sind. Dieses Hügelland ist kein felsiges, sondern besteht ebenfalls aus Sand mit leichter Beimischung von Thon oder Lehm, wäre also mühelos zu durchstechen. Gelänge das den französischen Ingenieuren, so würde im Süden der Colonie Algier eine neue Welt entstehen. Das Becken der Wüste liegt theilweise bis 70 Meter tiefer als der Spiegel des Mittelmeeres. Wollte man diesem nun einen Weg in die Sahara öffnen, so würde sich dort sofort ein Binnenmeer bilden. Die unermeßlich reichen Ernten der Oasen brauchten dann nicht ferner auf dem Rücken der Kameele den beschwerlichen weiten Weg über die Gebirge des Atlas nach den nördlichen Hafenstädten zu machen, um für den Weltmarkt verschifft zu werden. Dann
[449][450] würden Schiffe bequem dort angelangen, ihre Fracht abholen, den Arabern der Wüste deren Bedürfnisse zuführen können. Aber noch mehr! Jetzt regnet es fast niemals in der Sahara. Das Binnenmeer würde in diesen heißen Erdstrichen starke Ausdünstungen erzeugen und durch die Wolkenbildung die Regenmenge vermehren. Wasser aber allein ist es, was dem mit guter Fruchterde bedeckten Theile der Wüste fehlt, um sie urbar zu machen, sie mit Palmen, Oelbäumen, Obst und Getreide zu bepflanzen. Vor etwa zwei Jahrtausenden haben ausgedehnte Fruchtgärten den jetzt todtliegenden Boden geschmückt.
Das sind die Gesichtspunkte, von denen die französischen Pläne ausgehen. Die Entwürfe liegen fertig da; sie waren bereits auf der letzten Pariser Weltausstellung veröffentlicht. Mit ihrer Ausführung würde Frankreichs Herrschaft in Afrika nach Süden hin nicht mehr im Sande verlaufen, sondern sich dort befestigen und ausdehnen; sie würden für die wirtschaftliche Hebung des Landes gute Früchte tragen. Eins liegt nur im Wege – Tunis.
Was man als die tunesische Frage bezeichnet, der Streit und die Gegnerschaft zwischen Frankreich und der Regentschaft des Bey, ist eigentlich zurückzuführen auf den Umstand, daß der Weg, den die Wasserarbeiten nehmen müssen, um vom Mittelmeer in die Wüste zu gelangen, vollständig durch tunesisches Gebiet führt. Natürlich möchte man nicht gern viele Millionen Franken in fremden Grund und Boden stecken. Deshalb versucht man an kleinen Vorspielen die Widerstandsfähigkeit des Bey und seiner Regierung, prüft, ob es bald möglich und angänglich sein werde, die Hand über das Besitzthum des Pascha von Tunis auszustrecken, wie man dies vor 50 Jahren über das Land des Dey von Algier gethan hat. Die Klagen eines französischen Privatmannes mußten da zu willkommenem Anhalte dienen. Wie alle Welt in Tunis erzählt, hatte dieser, ein Graf von Sancy, von der tunesischen Regierung Concessionen für ausgedehnte Weideländereien erhalten. Er durfte diese zu eigenem Nutzen verwerthen und übernahm nur die Verpflichtung, fremde, bessere Rindviehracen einzuführen, einen guten Viehstand zu erhalten und zu züchten, um so als Entgelt für jene Bewilligung zur Hebung und Veredelung der tunesischen Viehzucht beizutragen. Herr von Sancy soll aber, nach den Mittheilungen meiner Gewährsmänner in Tunis, sich um die eingegangenen Verpflichtungen wenig gekümmert, soll gar kein Vieh gehalten, sondern die ihm zugewiesenen Ländereien sonst zu seinem Vortheile verwendet haben. Wenn die Regierung, der dies zu Ohren gekommen, den Stand der Dinge hat untersuchen wollen, mußten gefällige Nachbarn dem französischen Grafen ihr Vieh borgen, um seine Weiden damit aufputzen zu können. Das war an’s Tageslicht gekommen; die Regierung hatte darauf dem Herrn von Sancy die Landbewilligungen entzogen. Darob entbrannte der Streit, der schließlich eine über den ersten Anlaß weit hinausgehende Ausdehnung annahm und zu einem politischen, fast zu einem kriegerischen wurde. Frankreich nahm sich seines Bürgers und der Ansprüche desselben an und zwang die schwache, zu jedem Widerstande wie zur Behauptung ihres Rechts und ihrer Würde gänzlich unfähige Regierung des Bey zum Nachgeben: Herr von Sancy behielt seine Ländereien; der Bey zog mit Aufgabe seines Rechtsspruches und seiner landesherrlichen Würde noch einmal den Kopf aus der Schlinge. Alle Welt im Lande hält diese beigelegte Verwickelung nur für den Vorläufer anderer Streitfälle. Die Franzosen meinen freilich höchst naiv, daß Frankreich durch die diesmal bethätigte Friedensliebe genügend bekundet habe, es denke nicht an den Besitz von Tunis. Sonst hätte es den Streit vertiefen, sofort marschiren, das Land besetzen können. So leicht und so schnell mag das nicht gegangen sein. Man hat vorläufig geprüft und erfahren, daß Tunis mit seinen Hülfsmitteln keinen ernsthaften Widerstand zu leisten vermag. Erst muß nur der Plan, das Land zu durchstechen, in der Wüste ein Binnenmeer mit französischen Küsten zu bilden, festgestellt und genehmigt sein, dann wird das Uebrige sich bei nächstem Anlaß schon von selbst finden. Dies ist der Inhalt und Hintergedanke der tunesischen Frage, die im vergangenen Jahre bald nach dem Congresse Europa in Bewegung brachte, Vielleicht hat Frankreich auf diesem Congresse schon die Genehmigung erhalten, in Afrika Entschädigung zu nehmen für seine uneigennützige Haltung im Rathe der Großmächte.
Die Welt dürfte sich übrigens darob nicht grämen. Denn zunächst würde ein theilweise verödetes, zu schwer zugängliches Land, die Wüste Sahara, dem Verkehre, der Cultur zugänglich gemacht und in eine Reihe paradiesischer Fruchtgärten umgewandelt werden. Dann aber muß man das heutige Tunis, seine Zustände, sein Leben, seine Willkürherrschaft ansehen, sie mit den geordneten Verhältnissen Algiers vergleichen, um ohne jedes Bedauern das Verschwinden dieses einstigen Raubstaates sich vorstellen zu können.
Nicht auf dem beschwerlichen, zeitraubenden Wege durch die Wüste, sondern auf dem zwar weiteren, aber ungleich bequemeren zu Wasser, suchten wir, eine kleine Gesellschaft guter Freunde und schnell befreundeter Reisegefährten, von Algier her Tunis auf.
Die Küstenlandschaft ist von großartiger, hochromantischer Schönheit. Stundenlang fährt der Dampfer einen tief in’s Land einschneidenden Golf hinauf. Zur Rechten springt in dieses dunkelblaue Meergewässer ein felsiges Vorgebirge weit hinaus, umgeben von einer kleinen Sandebene. Auf diesem Vorsprunge hat einst, rings von Wasser umspült, Karthago gelegen, die Nebenbuhlerin des alten Rom, die Beherrscherin des Meeres, der Sitz einer Macht, die in langen Kämpfen mit Rom um die Herrschaft der alten Welt gerungen hat, endlich von diesem bezwungen und völlig zerstört worden ist. Von dem alten Karthago sind nicht einmal mehr kenntliche Ruinen vorhanden. Sein Burgfelsen, vom Meere umbrandet, bildet aber einen malerischen Schmuck der Landschaft. Höhere, wildere Gebirge erheben sich zur anderen Seite des Golfes von Tunis. Ihre herrlich gezeichneten Umrisse, ihre Riffe und Schluchten, ihre Kämme und Schroffen spiegeln sich in dem ruhigen Wasser, das nur an dem Fuß des Gebirges sich zu leichten Schaumflocken kräuselt.
Wir legen an, mitten in diesem Golfe, und gelangen bald in die kleine Hafenstadt Goletta. Hier blickt der ganze Jammer eines verkommenen und verlumpten morgenländischen Despotenstaats uns sofort überall entgegen. Man muß sich vergegenwärtigen, was früher hier gewesen, um voll zu empfinden, was jetzt daraus geworden ist. Die Galeeren der Seeräuberfürsten waren die Schrecken der Meere. Die kühnen arabischen Seefahrer fürchteten sich nicht vor der bewaffneten Macht der großen europäischen Staaten. Mit wilder Lust und frevler Heldenkühnheit zogen sie auf Beute, ihrer barbarischen Raubgier widerstand nichts; mit Schätzen beladen, mit weggeschleppten Weibern, mit gefesselten Christensclaven ruderten sie heim, lebten in wüster Ueppigkeit und umgaben sich mit einer Pracht, wie sie uns arabische Märchen schildern. Feenhafte Paläste mit kühlen Vorhöfen, Springbrunnen, zauberischen Gärten, Sclavenmärkte, auf denen schöne Frauen für den Harem der Großen, Männer für Sclavendienste feilgeboten wurden, verschwenderische Pracht, zügellose Ueppigkeit meinen wir hier überall zu finden, und an der Spitze des Seeräuberstaates einen allmächtigen Herrscher, der Alle in ihren Lüsten und Leidenschaften überbietet.
Dagegen sticht die zwar malerische und eigenthümliche Wirklichkeit scharf ab. Statt der Galeeren, der Flotten, welche die bedeutendste Hafenbucht der alten Welt einst gefüllt haben, sehen wir einige moosige, verfaulte Wracks halb versunken, denn die besseren Schiffe hat der Bey, um seinen Aufwand zu bestreiten, um wenigstens eine Scheinpracht entfalten zu können, längst verkauft. Der Verschwender steht jetzt unter der Controle eines europäischen Finanzausschusses. Seine Heeresmacht ist zusammengeschmolzen auf eine Hand voll Soldaten, traurige alte Kerle, die am Hafen auf Wache stehen, auf den Gassen umherlungern. Die verschossenen Kleider hängen ihnen in Fetzen um die Glieder; ihre Füße haben nie einen Strumpf oder Schuh gekannt. Die Jammergestalten müssen zudem ihren Unterhalt selbst erwerben. Sie legen, auf Posten stehend, das Gewehr zur Seite, ziehen lange Strickstrümpfe hervor und stricken emsig, um wenigstens täglich einige Kupfermünzen zu verdienen. Andere ernähren sich damit, daß sie von Binsen die Körbe flechten, in denen Datteln und Feigen verschickt werden. Von militärischer Zucht ist da keine Rede. Sie belügen sich mit einander, reißen sich die Bissen vom Munde, die ihnen etwa zufallen, und halten beste Cameradschaft mit den in Ketten geschlossenen Gefangenen, die den werthvollsten Hofstaat des Bey ausmachen.
Auf diese Gefangenen hält der Bey große Stücke. Sie sind die beredtesten Zeugen seiner Herrschermacht. Wo er auch im Lande umherziehen, wo er immer seine Residenz aufschlagen möge, immer müssen diese armen in Eisen gelegten Sträflinge in seinem Gefolge sich befinden. Große Verbrecher sind sie selten, [451] fast nie. Der Bey gestattet sich den billigen Luxus, alle, die um kleinerer Vergehen willen geringe Strafen verbüßen, in Eisen schmieden zu lassen. Das klappert so hübsch, nimmt sich so großartig aus, macht jeden kurzen Ausflug zu einem Triumphzuge. Seit man ihm die Sclavenmärkte gesperrt, das Sclavenhalten gelegt hat, sucht er in seinen Gefangenen Entschädigung.
Er darf sich diese Entschädigung aber nur durch die eigenen Landeskinder bereiten. Die Rechtspflege ist in Tunis so verrufen, daß, wer nur irgend kann, bei den Consuln der auswärtigen Mächte rechtlichen Schutz sucht. Bei den fremden Zuzüglern wäre das selbstverständlich; indessen auch Leute, deren Voreltern schon im Tunesischen geboren sind, die hier mit eigener Familie leben, wollen nicht Untertanen von Mohammed es-Sadok sein. „Ich bin Grieche, ich Engländer, Franzose, Italiener, Amerikaner,“ antworten die Leute, wenn man mit ihnen im Kaffeehause plaudert. Keiner aber hat je sein Vaterland gesehen. Von Malta, Sicilien, Algier und den Balearen sind die Voreltern einst eingewandert; hier haben sie sich verheirathet, Geschäfte gegründet, ihre Landsmannschaft aber keineswegs geopfert für das zweifelhafte Glück tunesische Bürger zu werden. Denn das hat sein Bedenken.
Der Bey ist oberster Richter im Lande. Zweimal in jeder Woche hält er Gericht. Als einziges Gesetz gilt ihm der Koran, und sein persönliches Belieben als höchste und einzige Instanz. Im Palaste von Goletta, hier am Strande des Meeres, wo er den Sommer über lebt, sitzt er während dieser Zeit zu Gericht. Das ist possierlich anzusehen. Mit seinen Lieblingen, einer Schaar von vierzig bis fünfzig schönen Knaben und Jünglingen, aus denen er je nach Laune seine Minister, Generale, hohen Würdenträger ernennt, zieht er umher, die begünstigten begleiten ihn in den Gerichtssaal. Der Angeklagte darf sich nicht vertheidigen; der Bey läßt sich die Sache vortragen und fällt dann den Spruch. Viel Mühe mit langen Begründungen seines Urtheils giebt er sich nicht. Macht er einen Hieb mit der flachen Hand senkrecht durch die Luft, so heißt das kurzweg: Aufhängen! Ein horizontaler Schlag mit der Hand bedeutet: Kopfabschlagen! Auf Weiteres läßt er sich selten ein; höchstens noch wird sein Richterbewußtsein lebhafter erregt, wenn er einen reichen Uebelthäter zu großer Geldstrafe verurtheilen kann.
Gewöhnliche Strafen, Kette, Galeere müssen die Getreuen nach eigener Einsicht dictiren, und ein festes Strafmaß wird dabei selten verhängt. Die Verwandten des Verurtheilten mögen kommen und diesen losbitten. Bringen sie dazu einen strotzenden Geldbeutel mit, so hat das Gesuch jedenfalls schnelleren Erfolg.
Aber auch außerdem sollen die tunesischen Landeskinder mancherlei Widerlichkeiten ausgesetzt sein. Der Bey betrachtet sich als Herr und Eigenthümer von allem Grund und Boden im Lande. „Gefällt Dir dieser Garten?“ fragt er bei guter Laune wohl einen seiner Günstlinge; „gut, ich schenke ihn Dir.“ Wenn er so etwas einmal mit dem Besitze französischer Unterthanen hat thun wollen, so ist dann doch sofort von den Consulaten wirksam Einspruch erhoben worden. Mag also Herr von Sancy in dem Streite mit der Regierung des Bey damals im Unrecht gewesen sein, die Rechtszustände sind derartig im Lande, daß hier Schlauheit, Willkür, brutale Macht immer Recht behält. Der Bey hat es hinnehmen müssen, daß man auch einmal den Speer umkehrt und ihm damit zu Leibe geht. Alles in diesem Lande macht den Eindruck, als spüre Jedes, daß es mit dem Reste von Herrlichkeit zu Ende geht, daß Verwaltung, Rechtszustände und Besitz in der Auflösung begriffen sind.
Die Regierung thut nichts für den Verkehr. Auf einem französischen, italienischen oder englischen Dampfer kommen wir an; auf einer englischen Eisenbahn fahren wir vom Hafen zur Hauptstadt, die eine Stunde entfernt im Lande liegt, zwischen anmuthigen Hügeln. Von diesen Hügeln umkränzt, zwischen dem Hafen und der arabischen Hauptstadt, liegt der klare Spiegel eines Landsees, El Bahira genannt. Das Landschaftsbild, das wir während der Fahrt genießen, ist lieblich, eigenthümlich, voller orientalischer Typen. Von drüben her grüßen die Minarets der Residenzstadt, die aus einer Unmasse weißer, würfelförmiger Häuser besteht. Auf den Vorsprüngen der Hügel, die in den Bahirasee hinausblicken, liegen maurische Schlößchen, Landhäuser der Begüterten, von Gärten umschlossen, in denen die Banane reift, die schlanken Palmen dicht voll Dattelfrüchten hängen.
Der Landsee ist seicht und sumpfig. Früher verkehrte auf ihm ein kleiner englischer Dampfer. Der hat die Fahrten einstellen müssen, weil der Grund mehr und mehr verschlammt, weil ganz Tunis den Bahira als seine Cloake benutzt und allen Unrath dort hinein versenkt. Die Engländer hatten sich erboten, das Wasser zu canalisiren und sich durch den Schiffsverkehr, sowie durch die Kunstschätze des alten Karthago bezahlt zu machen, die sie in dem See zu finden hofften. Der Bey will das nicht erlauben.
Es geht die Sage, daß zwei ungeheure Säulen von massivem Golde einst in den See versenkt worden seien. Die möchte er den Engländern nicht gönnen, sie für sich selbst fischen, vielleicht um einige drückende Schulden zu bezahlen, vielleicht um das flotte Leben noch einige Zeit weiterführen zu können. Aber er selbst kommt nicht dazu, den Bahira zu reinigen; er kommt überhaupt zu nichts mehr. Jetzt bauen die Franzosen eine Bahn aus dem Innern von Algerien bis nach Tunis quer durch das Land. Wird nun noch das Canalwerk nach der Wüste hin ernstlich in Angriff genommen, so findet sich gewiß wieder eine zweite tunesische Frage.
Im Bahirasee stehen träumerisch Tausende von farbeprächtigen Flamingos mit zartem rosenrothem Gefieder aufgereiht, um nach Fischen zu schnappen; auf den schilfigen Uferwiesen weiden Rudel von Kameelen; aus dem Röhricht flattern Schnepfen auf, als unsere Maschine vorüberknattert. Die Jäger der Gesellschaft lachen vergnügt. Jeder hat sein Schießzeug mit und will in Tunis jagen. Denn auf allem Grund und Boden, selbst in dem eingefriedigten Privatbesitz, steht Jedermann die Jagd gänzlich frei. Die Genügsamen knallen zwischen die Wachtel- und Krammetsvögelschwärme; Bequeme miethen ein Boot und lauern den Schnepfen auf, möchten auch wohl gar einen der scheuen Flamingos erlegen. Ganze Jagdzüge von unternehmenden Engländern und Franzosen brechen auf nach dem Innern, suchen die Wildschweine auf, jagen den Schakal, die flinke Gazelle, das große Vogelwild.
Endlich langen wir in der Hauptstadt an.
Tunis hat sich in seinem Charakter völlig als orientalische, arabische, maurische Stadt erhalten, während in den benachbarten Städten von Algerien die Kabylen, Araber, Mauren in bestimmte Winkel zurückgedrängt worden sind und durch den immerwährenden Verkehr mit den Franken viel von ihrer Ursprünglichkeit verloren haben. Der Tag unserer Ankunft ist ein Freitag. Das ist der Sonntag der Muselmanen. Da lohnt es nicht, ist der Stadt umherzuschlendern, denn die Bazare sind leer, die Schreibstuben, die Schulen, die Werkstätten geschlossen; in die Moscheen und die Schlösser darf man nicht hinein. Die Männer schreiten zu den Thoren hinaus. In weite Gewänder von hellfarbigem Tuche gehüllt, mit schweren Goldstickereien bedeckt, wandeln sie majestätisch einher wie die Könige aus dem Morgenlande. Oft umhüllt ihnen ein goldgestickter Burnus von seidenem Florstoffe die hohe Gestalt; immer windet sich ein golddurchwirktes weißes Schleiertuch als Turban um das Haupt. Die Männer sind sehr schön, von freiem Anstande, schlankem Wuchse, olivenfarbener Haut, mit großen, weitgeschnittenen Augen, die bläuliches Perlmutterweiß füllt. Sie verstehen ihre Gewandungen zu tragen und zu werfen wie Griechen und Römer. Selbst der kleine Junge schlägt den Burnus in edlem Faltenwurf um die Schulter, daß es eine Freude ist, ihm zuzusehen. Viele Araber aus Algier erkennt man an der abweichenden Tracht. Es sind das meist wohlhabende Leute, die sich dem französischen Joche, den verachteten Christen nicht haben beugen wollen und hierher übergesiedelt sind, um unter mohammedanischer Herrschaft zu leben und zu sterben. Die Frauen wagen sich selten aus den verschlossenen Häusern hervor. Sie mummen ihr Gesicht in schwarze Tücher, die aussehen wie Masken, gleiten scheu an den Mauern hin und fürchten den Blick des Fremdlings.
Wir verlassen die große Promenade der Europäer, die von dem Marinethor der Stadt zu den Gestaden des Bahira führt und gegen Abend stark besucht wird. Wir folgen den Eingeborenen, die das Spazierengehen nicht kennen. Ihr Ziel ist einer der zahlreichen maurischen Friedhöfe, der Begräbnißstätten, die rings um die Stadt liegen. Uns Christen wird der Eintritt streng gewehrt. Mit lauten Flüchen, mit Steinwürfen und Schlägen verscheucht man den Ungläubigen von der heiligen Stätte. Aber wie Alles in Tunis, so sind auch die Kirchhöfe und ihre Mauern gänzlich verfallen. Man sieht durch einen Riß, über eine [452] in Ruinen zerborstene Wand in das Heiligthum hinein. Viele dieser Todtenstätten sind arg verwildert. Disteln, Nesselstauden, hohes Gras wuchern um die Steine, die den Leichnam decken. Ueberall ragt am Kopfende ein steinerner Turban, ein dicker Knopf auf langem Steinhalse über das Grab hinaus. Wie im Leben die Zahl der Schnüre von Kameelhaar, die der Araber um’s Haupt wickelt, seine Vornehmheit, seine Stellung anzeigen, so windet man auch um das Steinmal dieselbe Zahl von Schnüren. Einige der maurischen Kirchhöfe, besonders derjenige in der Nähe der Burg und des Beypalastes, sind besser gehalten. Dort leuchten die hellen Grabstätten aus tiefem, verwildertem Dickicht, aus Myrthe, Rosmarin, Tamarisken hervor. Die Stimmung ist eine ungemein ernste, melancholische auf diesen Friedhöfen. Hier hinaus schlüpfen die tunesischen Frauen an uns vorüber. Sind sie erst auf dem Friedhofe angelangt, wo sie sich unbelauscht wissen, so fällt das verhüllende äußere Gewand. In ihre flatternden weißseidenen Haiks gekleidet, schreiten sie von einem Grabe zum andern. Sie beten; sie kauern nieder, füllen die Luft mit Wehklagen und lautem Geheul. Die allgemeine Klage geht über in ein Gespräch mit dem Todten. Sie fragen ihn nach der Schuld, die sie begangen, ob sie ihre Pflicht vergessen hätten, weil der Geliebte sie so grausam verlassen. So stöhnen, über die Gräber gebeugt, Mütter, Weiber, Kinder. Schnell gleitet manchmal ein Leichenzug an den weißen Trauergestalten vorüber. Er hat Eile, denn so lange das Grab nicht geschlossen ist, sucht der Würgengel, nach dem Glauben des Propheten, neue Opfer. Der Abend beginnt sich über die Flur zu senken. Da erschallt das Abendgebet des Muezzin von dem Minaret der nächsten Moschee herüber – der Feiertag ist zu Ende; eilig huschen die wieder vermummten Gestalten im Halbdunkel ihren engen Gassen zu.
1.
Du fragst, warum ich nie mich pfleg’ zu regen,
Wenn hinter’m Becher die Parteien zanken? –
Wo an der Schwatzsucht hohle Köpfe kranken,
Will ich beschaulich still der Ruhe pflegen.
Ich lieb’ als blanke Lanze den Gedanken,
Doch soll in festen, ritterlichen Schranken
Sich allezeit der Gegner Kampf bewegen.
Dort, wo der niedre Troß der Streiter sich
Da sah ich nie der Weisheit Born entquillen.
Da gilt nicht Degenstoß noch Lanzenstich,
Da gilt die derbste Faust, die frechste Zunge,
Und mehr als Kraft der Gründe Kraft der Lunge.
2.
Daß Jeder zeiht den Gegner des Gemeinen.
Der Eine thut’s in Worten, dolchesfeinen,
Der Andre im bekannten Ton der Gasse.
Verächtlich ist mir jene Menschenclasse,
Demantenklar soll Männersinn erscheinen,
Doch nie die Hand von edler Waffe lasse!
Ist dies das Volk, aus dem ein Goethe stammte?
Oft fragt’ ich’s mich, wenn ich es mußte hören,
Soll alles denn zur gleichen Fahne schwören
Im Streit der Meinung? Laßt die Klingen blitzen,
Doch ohne Gift auf ihren scharfen Spitzen!
3.
Kein Wortturnier, kein spielend Silbenstechen,
Der tief erregt die Geister und Gemüther,
Doch soll auch hier nur Ernst und Würde sprechen.
Wir sehn die Noth die Kraft des Landes schwächen;
Der Stern des Glücks, es war ein rasch verglühter. –
Nun sinnt zu heilen Wunden und Gebrechen!
Doch Eins vor Allem: Nichts von Rückwärtsschreiten!
Kein Feilschen mit des Pfaffenthums Vasallen,
Bei dem das Volksrecht soll den Kaufpreis geben!
Und Wahlspruch sei und bleib’ in allem Streiten:
Im Geist der Freiheit nur ist Licht und Leben.
4.
Freiheit ist Lebensluft der Nationen.
Nie sollst Du ob der Einheit sie vergessen –
Es gilt noch mehr als alle Lorbeerkronen.
Ein freier Sinn steht aufrecht vor den Thronen,
Sucht schmeichelnd nie die Hand der Gunst zu pressen –
Die von dem Bettelbrod der Gnade essen,
Der Freiheit treu und treu dem Vaterland!
Von diesem Ziel kein Weichen und kein Wanken! –
Den Vätern werden's einst die Enkel danken.
In diesem Streben einig Hand in Hand
Und Deutschlands Zukunft wird erblühn in Segen.
Im Anschlusse an die vorjährige Versammlung der deutschen Naturforscher und Aerzte zu Kassel fand, wie schon zwei Jahre früher, eine Conferenz darüber statt, in welcher Weise nach dem Muster der Vereinigten Staaten und anderer Länder die vorgeschrittene Meteorologie der Neuzeit auch in Deutschland für Handel und Gewerbe, Landwirthschaft, Garten-, Forst- und Weinbau etc. nutzbar gemacht werden könnte. Die Idee, eine Organisation zu schaffen, durch welche beinahe Jedermann im deutschen Reiche erfahren könnte, welche Temperatur, Windrichtung, Niederschläge etc. er am nächsten Tage an seinem Aufenthaltsorte zu gewärtigen hat, steht in sonderbarem Widerspruch mit der Entsagung, welche den berühmten Naturforscher Arago noch 1846 sagen ließ: „Kein Naturforscher, der auf seinen Ruf halte, werde sich mit Wetterprophezeiungen versuchen“, und erinnert andererseits lebhaft an die staatliche Organisation der Wetterprophetie, wie sie bereits im alten Assyrien statthatte.
Aus den im letzten Jahrzehnt entzifferten Ziegelsteinblättern der königlichen Bibliothek von Ninive hat man zahlreiche Beweise entnommen, daß den Staatsastronomen Assyriens unter vielen andern Obliegenheiten auch die Pflicht auferlegt war, aus dem Studium der Gestirne das Wetter für die verschiedenen Provinzen des Landes abzuleiten und vorherzuverkünden.
„Wenn der Mond,“ heißt es auf einer solchen Tafel, „am 1. und 28. des Monats dasselbe Ansehen zeigt, so ist das ein
[453] schlechtes Zeichen für Syrien, und wenn dasselbe am 1. und 27. stattfindet, für das Land Elam. Wenn der Mars im Monat Ulul wohl sichtbar ist, wird die Ernte gut ausfallen und das Herz des Landes erfreut werden. Wenn der Mond in seinen Aspecten von Wolken bedeckt erscheint, so wird es Ueberschwemmungen geben etc.“ Wie der größte Theil des übrigen Aberglaubens der Chaldäer, der aus der Voraussetzung eines allgemeinen Zusammenhanges aller Naturerscheinungen unter einander hervorgegangen war, so ist ihre Astrometeorologie über Kleinasien und Rom in die alte Welt gedrungen und hat unsere Witterungskunde – es ist schrecklich, aber wahr – bis tief in’s neunzehnte Jahrhundert hinein beherrscht.
Ohne freilich diese Ursprungsstätte selbst zu berücksichtigen hat der Geschichtsschreiber der Chemie, Professor Hermann Kopp in Heidelberg, die ferneren Schicksale der Astrometeorologie in einem kürzlich erschienenen Buche geschildert[1], dem wir im Nachfolgenden manche Einzelheiten entnehmen werden und welches einem weiteren Leserkreise um so angelegentlicher zu empfehlen ist, als es auch die neueste Stufe der jungen Wissenschaft von der rationellen Vorausbestimmung des Wetters demselben ausführlicher zugänglich macht, als wir es hier versuchen können.
Wenn wir uns zunächst auf den historischen Standpunkt zurückbegeben, so sehen wir die Gelehrten des Alterthums völlig in den chaldäischen Ansichten befangen. Virgil in seinem Gedichte über den Landbau wiederholte in Bezug auf die Witterungsvorzeichen größtentheils dasselbe, was der macedonische Arzt Aratos einige hundert Jahre früher in einem astronomischen Gedichte darüber vorgetragen hatte. Der Vater der wissenschaftlichen Astronomie Ptolemäos, welcher in der Mitte des zweiten Jahrhunderts zu Alexandria lehrte, behandelte diesen Zweig der Astrologie in seinen Werken so ausführlich, daß wir uns nicht wundern können, auch noch Tycho de Brahe und Kepler[2] ihre Kalender mit den Einflüssen füllen zu sehen, die der kalte und feuchte Saturn, der warme und trockene Jupiter, der heiße Mars, die trockene Sonne und der kühle Mond, die heitere Venus und der neblige Mercur auf jede Woche und jeden Monat zusammen ausüben sollten: wie, weil man damals nur fünf Planeten kannte, immer einer von ihnen und außerdem Sonne und Mond jedes siebente Jahr, jeden siebenten Monat, Tag und Stunde besonders regiere, und zwar souverain, wenn nicht etwa Kometen dazwischen kämen und den Fall bedenklich complicirten.
Nur darum möchten wir mit einigen Worten hierauf näher eingehen, weil auf diesem Glauben an die Planetenherrschaften ein leider noch nicht verblichenes Erbstück unserer Kalender beruht, der bekannte Witterungsbericht „nach dem hundertjährigen Kalender“. Man nimmt gewöhnlich an, dieses alte Inventar berufe sich auf eine angebliche Erfahrung, nach der die Witterung alle hundert Jahre wieder dieselbe sein solle, allein in dem alten Entwurf des Abtes Mauritius Knauer zu Langheim bei Bamberg handelt es sich vielmehr um den obenerwähnten jährlichen Thronwechsel der sieben Planeten in der Beherrschung des Jahres, und aus diesem Grunde wurde der hundertjährige Kalender (im siebenzehnten Jahrhundert unter der Autorität eines Dr. Hellwig) immer für sieben Jahre neu bearbeitet und herausgegeben. Bei dem ungemeinen Vertrauen, welches die Landleute und manche andere Volksclassen, trotz der fortwährenden Enttäuschungen, immer noch auf den hundertjährigen Kalender setzen, ist es zu bedauern, daß dieser Mißbrauch selbst noch in solchen Kalendern fortdauert, die von gemeinnützigen Gesellschaften, Vereinen für Volksbildung etc. herausgegeben werden. Man möge doch bedenken, daß die richtigen und sicheren Angaben der Kalender über Finsternisse, Gestirnbewegungen etc. geeignet sind, bei dem gewöhnlichen Manne den Glauben zu erwecken, daß man eben auch das Wetter auf Jahr und Tag vorausberechnen könne, und nicht einmal die alltägliche Erfahrung, daß die Witterung an demselben Tage in den östlichen und westlichen Provinzen, im Norden und Süden eines und desselben Landes häufig gänzlich verschieden ist, vermag den Glauben an solche heimathslosen und darum in sich selbst unmöglichen Angaben zu erschüttern.
Vergeblich haben sich Heinrich Bebel und Franz Rabelais vor mehr als dreihundert Jahren bemüht, die Kalenderweisheit durch prophetische Almanache lächerlich zu machen, in denen sie mit Würde und Nachdruck verkündeten, daß im kommenden Jahre mehrere Leute an schwerem Geldmangel und andere an heftigen Krankheiten leiden würden, daß im Uebrigen die alte Sonne und der alte Mond scheinen, der Winter Katarrhe und der Sommer Schweiß verursachen würde etc. Trotzdem kaufen in Deutschland die Landleute noch heute „Die Prophezeiungen des Schäfer Thomas“ und in Frankreich den „Dreigedoppelten Almanach“ („Le triple Almanach“) von Mathieu de la Drôme’s seligen Erben, der, wie sein Titel sagt, für Jedermann schlechterdings unentbehrlich ist, da er von den Koryphäen der Wissenschaft redigirt und von den ersten Künstlern illustrirt wird. Er sagt das Wetter und die anderen Weltbegebenheiten voraus und zwar nach einer ganz genauen Berechnungsmethode, welche gerade so wie das Recept des dreigedoppelten kölnischen Wassers Familienbesitz ist. Da indessen auf die Mondphasen ein besonderer Nachdruck für den Wetterwechsel darin gelegt wird, so handelt es sich wahrscheinlich ebenso wie bei der Berechnung des concurrirenden „Meteorologischen Almanachs“ von dem berühmten Kampherpillen-Fabrikanten und rothen Republikaner Raspail (gestorben 1878) um die vielbeklagte Pfuscherei unseres lieben Trabanten, des Mondes, in unser Wetter.
Die allgemeine Ueberzeugung, daß sich schlechterdings mit dem Mondwechsel das Wetter ändern müsse, läßt sich vielleicht als der zäheste Ueberrest der altchaldäischen Astrometeorologie in unserem Sinnen und Denken betrachten. Bei schlechtem Wetter, welches eine Aenderung sehr wünschenswerth erscheinen läßt, blickt noch immer Männiglich und Weibiglich hoffnungsvollst auf den nächsten „Mondwechsel“, der dem endlosen Regen oder Frost schon seinen Abschied geben werde. Nun sind aber die Mondphasen, das Abnehmen und Zunehmen und namentlich der Eintritt des ersten und letzten Viertels so gleichgültige Beleuchtungserscheinungen, daß Niemand in der Natur, nicht einmal die Warzen- und Wurmdoctoren, die entscheidende Stunde merken würden, wenn sie nicht genau im Kalender stünde. Der bekannte französische Astronom Faye ist vor Kurzem in solche Verzweiflung über die Unausrottbarkeit des Mondaberglaubens gerathen, daß er die Schreiblehrer der Dorfschulen um ihre Unterstützung gebeten und sie ersucht hat, der noch unverdorbenen Jugend zur Uebung vorzugsweise solche Sätze zu dictiren, wies „Es ist nicht wahr, daß der Vollmond die Wolke auffrißt; – es ist erlogen, daß der Neumond das Wetter ändern soll“ etc. Uebrigens sind nicht alle Wetterkundigen so radicale Mondverächter wie Herr Faye, vielmehr ist der vielgenannte Professor Stieffel in Karlsruhe ebenso wie der schon erwähnte Republikaner Raspail durch den Mond zu hohem Prophetenruhme gelangt. Da nämlich die Mondphasen nach neunzehn Jahren wieder auf dieselben Tage fallen, so müßte, falls sie die eigentlichen Wettermacher wären, nach neunzehn Jahren das alte Wetter wiederkehren, und die genannten Mondpropheten ersetzten deshalb nach neunzehnjähriger Beobachtung und Aufzeichnung den siebenjährigen Knauer’schen Planetenkalender durch einen mindestens ebenso zuverlässigen neunzehnjährigen Mondkalender.
In aller Abenteuerlichkeit verjüngten sich die astrometeorologischen Speculationen der Chaldäer in einem Berliner Rechnungsrath a. D. (F. A. Schneider), der seit dem Jahre 1836 mehr als dreißig Jahre hindurch die Planeten von Neuem für unsere Witterung verantwortlich machen wollte. Auf Jahre hinaus, so weit nur die Planetenberechnungen der Sternwarten reichten, die ihm zur Grundlage seiner Witterungs- und Temperaturbestimmungen dienten, berechnete er auch das Wetter voraus, veröffentlichte seine Vorhersagungen in der „Vossischen Zeitung“ und machte, die Nieten mit der Unvollkommenheit alles menschlichen Wissens entschuldigend, nachträglich triumphirend auf die Treffer aufmerksam. Wenn man von dem Platze aus, auf welchem der Obelisk zur Erinnerung an den vorjährigen Einzug des wiedergenesenen Kaisers in Berlin errichtet werden soll, nur wenige Schritte in die Potsdamer Straße hineinthut, so erblickt man links in der Mitte eines hübschen Gartens die angenehme Villa des letzten Chaldäers, [454] welche in Goldschrift auf blauem Grunde die Inschrift trägt: „Astrometeorologisches Institut“ und darunter die Zeichen das heißt Uranus in Quadratur mit der Sonne. Es bezeichnet diese Hieroglyphe, wie es scheint, den Gründungstag des Institutes, von dessen nunmehr erloschener Wirksamkeit die Wissenschaft keine Notiz genommen hat.
Ueberblicken wir die Entwickelung der astrometeorologischen Wissenschaft von den assyrischen Zeiten bis zur Gegenwart, so sehen wir, daß die Idee derselben wohl eine sehr richtige war; man suchte eben die astronomischen Ursachen des Wetters zu ergründen und aus diesen im Voraus seinen Gang zu berechnen. Mit der genaueren Erkenntniß der Bewegungen im Planetensysteme hat man aber als die beiden Hauptfactoren, welche das Wetter bedingen, die Bewegung der Erde um die Sonne und um sich selbst erkannt, wobei die Neigung der Erdachse gegen die Erdbahn als die eigentliche Ursache der Ungleichheit des Wetters im Jahreslaufe betrachtet werden muß. Wenn die Achse nämlich senkrecht auf der Bahnebene stünde, so würden wir die Sonnenstrahlen, abgesehen von der größeren Entfernung im Sommer, unter stets gleichen Bedingungen empfangen, also weniger unter der Ausgleichung der Lufttemperaturen leiden und uns eines ewigen Frühlings erfreuen. In welcher Weise diese Ausgleichung durch die Passate in unseren Breiten vor sich geht, habe ich früher einmal den Lesern der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1874, S. 149) zu schildern gesucht und muß heute darauf verweisen.
Man könnte nun glauben, daß das von diesen Ausgleichungen abhängige Wetter alljährlich demnach denselben Verlauf nehmen müßte, da die eben genannten Hauptfactoren alljährlich in genau derselben Weise zusammenwirken. Bekanntlich ist ersteres nun keineswegs der Fall, und man hat sich deshalb gefragt: sind da dennoch ernstliche Verschiedenheiten in den Grundursachen vorhanden, die nicht mit dem Jahresumlauf zusammenfallen? Ist etwa die Sonne – so lautet die erste Frage – nicht immer gleich heiß? Wir haben über die Ursache der Sonnenwärme vorläufig nur, wenn auch zum Theil sehr gegründete, Vermuthungen, aber wir wissen allerdings, daß auf der Sonne periodisch sehr lebhafte Verbrennungsprocesse eintreten, die uns als ungeheure Eruptionen glühender Gasmassen (Protuberanzen oder Fackeln) und dadurch entstehende gewaltige Rauch- und Wolkenbildungen (Sonnenflecken) erscheinen; wir wissen ferner, daß diese Processe innerhalb etwas über elf Jahre ein Maximum und ein Minimum aufweisen.
Schon im vorigen Jahrhundert hat man nun zu bemerken geglaubt, daß das Sonnenflecken-Maximum mit Jahren größter Kühle, des Mißwachses, hoher Kornpreise, mit Hungersnoth etc. zusammenfalle, aber die genauen Untersuchungen des älteren Herschel erwiesen eher das Gegentheil, und in der That streiten sich soeben die englischen Meteorologen darüber, ob nicht umgekehrt die seit einigen Jahren andauernde Fleckenlosigkeit der Sonne vielmehr an der großen indochinesischen Hungersnoth schuld sei. Sofern man die bis jetzt noch unbekannte Thatsache der elfjährigen Sonnenfleckenperiode dem Jupiter in die Schuhe schieben möchte, dessen Umlaufszeit etwas über elf Jahre beträgt, so läuft Alles das wieder auf Astrometeorologie hinaus, allein wir haben nicht einmal zwingende Gründe, die Sonnenfleckenperiode selbst, geschweige gar den Jupiter für unsern letzten Winter verantwortlich zu machen, etwa wie man einen solchen früher den Einflüssen des alten, kalten Saturnus zuzuschreiben pflegte.
Auf eine fernere mögliche und voraussehbare Ursache der Störungen im regelmäßige Verlaufe unserer Witterungserscheinungen hat innerhalb des letzten Decenniums der österreichische Naturforscher Rudolph Falb vielfach hingewiesen, auf die Anziehungskraft nämlich, mit welcher die Masse von Sonne und Mond auf unsere Atmosphäre wirken müsse. Eben so wohl wie die Anziehungskraft dieser Weltkörper die Ebbe und Fluth unserer Meere erzeuge, so müsse sie ähnliche Erscheinungen in unserer Atmosphäre hervorrufen, besonders wenn Sonne und Mond vermöge ihrer gegenseitigen Stellung in derselben Richtung und in größter Erdnähe auf sie wirken. Zur Zeit des ersten und letzten Viertels wirken beide Weltkörper in senkrecht auf einander stehenden Richtungen und würden sich also mehr stören, als sie sich unterstützen könnten, zur Zeit des Vollmondes und Neumondes aber wirken sie in derselben Richtung und vereinigen also ihre Kräfte, ähnlich, wie es in der Gellert’schen Fabel heißt:
„Vereint wirkt jetzo dieses Paar,
Was einzeln Keinem möglich war,“
und könnten so unter Umständen eine atmosphärische Springfluth zu Stande bringen. Besonders kräftig würden sie zusammen wirken, wenn zur selben Zeit eine Sonnen- oder Mondfinsterniß stattfindet, und wenn der Mond (wie alle vier Wochen) gerade in seiner größten Erdnähe, oder (wie alle vierzehn Tage) in seinem Aequatorstande, und die Sonne in ihrer Erdnähe (1. Januar) oder in ihrem Aequatorstande (21. März und 23. September) stehen. Wenn einmal vier oder gar fünf dieser Factoren zusammenwirkten, was sich ja genau vorher berechnen läßt, so würde nicht nur eine Kaiserfluth in Aussicht stehen, sondern auch heftige Stürme und einseitige Druckverminderungen in der Atmosphäre, Entweichen gespannter Dämpfe aus dem Erdinnern, kurz Finsternisse, Orkane, Gewitter, Erdbeben und Ueberschwemmungen – alle Schrecknisse der Natur zusammen. Falb hat auf Grund dieser Voraussagungen vielfache Prophezeiungen sowohl von Erdbeben und Vulcanausbrüchen, wie von meteorologischen Processen gemacht, die auch zum Theil eingetroffen sein sollen, aber im Allgemeinen hat seine Theorie die Fachgelehrten nicht zu überzeugen vermocht, und wenn wirklich in ihr ein Factor für die Erklärung einzelner Störungen der Atmosphäre gefunden sein sollte, so bleibt die Unberechenbarkeit des gesammten übrigen Wirkungsverlaufes auf längere Zeit hinaus darum nicht weniger Thatsache.
Auch ist diese Launenhaftigkeit des Wetters unschwer zu verstehen. Wäre die Erde eine polirte oder unpolirte Kugel aus gleichmäßiger Felsenmasse, ohne Gebirge, Wälder, Wüsten und Meere von mannigfach wechselnden Umrissen, so würde das Wetter unzweifelhaft viel regelmäßiger in seiner Atmosphäre verlaufen, als es geschieht. Aber das ungleiche Vermögen der einzelnen Theile ihrer Oberfläche, sich in der Sonne zu erwärmen und diese Wärme der Luft mitzutheilen, Wasserdämpfe zu entwickeln oder zu verdichten, bringt, ebenso wie die Gebirge selbst, Ablenkungen der regelmäßigen Luftströmungen hervor, die, selbst von wechselnden Zuständen abhängig, den Proceß auf das Höchste compliciren. Dazu kommt, daß es oft nur eines kleinen Anstoßes bedarf, um ein häufig vorhandenes schwankendes Gleichgewicht in der Atmosphäre aufzuheben und Wirbelwinde zu erzeugen, die zerstörend über die Länder eilen und deren Brutstätte vielleicht eine von der Sonne stark erwärmte Felseninsel im Ocean oder eine brennende Stadt gewesen. Alle solche secundären Ursachen, die den regelmäßigen Gang der Witterung durchkreuzen, sind unberechenbar und werden es bleiben, und es bleibt dem Forscher auf diesem Gebiete nichts übrig, als der Politik berühmter Staatslenker der Gegenwart zu folgen und ihre Entscheidungen nur „von Fall zu Fall“ zu treffen. Statt einer Entzifferung des künftigen Wetters aus den Ursachen heraus und auf Jahre vorauf, werden sie sich begnügen müssen, dem Lauf desselben zu folgen und aus seiner im gegebenen Augenblicke vorherrschenden Richtung und Tendenz auf vierundzwanzig, höchstens achtundvierzig Stunden eine Prophezeiung zu wagen, höchlichst zufrieden, wenn der Erfolg ihren Voraussagungen entspricht und der über kurz oder lang sichere Umschlag nicht schon innerhalb dieser kurzen Zeitspanne eintrifft. Diese Bemühungen, aus dem erkennbaren Verlaufe, statt aus den theilweise unerkennbaren und unübersehbaren Ursachen, den Gang des Wetters vorauszusagen, bilden den wichtigsten Unterschied und Fortschritt der praktischen Meteorologie unsrer Zeit, zu der wir uns im folgenden Artikel wenden werden.
Für heute mag es dem Verfasser nur noch gestattet sein, seine Ueberzeugung auszusprechen, daß auch die Thiere, welche bei vielen Leuten als Wetterpropheten im höchsten Credit stehen, ihre Voraussagungen nur „von Fall zu Fall“ machen. Es ist ja sicher, daß viele Thiere den bevorstehenden Umschlag des Wetters vorausempfinden und durch ihr Gebahren ankündigen. Daran ist nichts Wunderbares, denn sie haben ihr besonderes Interesse an der Meteorologie, z. B. die Frösche am Regen, und die fliegenden Insecten an der Aufsuchung eines Schlupfwinkels vor dem Eintritt von Regen und Sturm. Auch viele Menschen, namentlich Krüppel und Bresthafte, haben gleichsam ein Barometer im Leibe, und kürzlich hörte ich von einem Manne, der Erdbeben und Stürme mit Kopfschmerz vorausempfinden will. Aber daß die Spinnen monatelang die Witterung vorausempfinden sollen, glaube ich trotz der schönen Geschichte von Quatremère-Disjouval, [455] der dem General Pichegru 1794 auf Grund seiner Spinnenstudien einen harten Winter vorausgesagt haben soll, nicht; jede Schwalbe aus der großen Schaar derer, die noch keinen Sommer machen, jeder verfrühte Storch, dem das Klappern vor Frost näher ist als das vor Vergnügen, beweisen uns ja, daß Irren nicht ausschließlich menschlich, sondern auch schwälbisch und störchisch ist – trösten wir uns also über den Mangel an Unfehlbarkeit mit diesen vielgenannten Wetterverständigen!
Als im Jahre 1870 Frankreich dem deutschen Volke unerwartet einen blutigen Kampf aufzwang, da wurden auch in Flandern die Stimmen sympathischer Dichter laut.
Von solchen Blüthen, welche dieser Zweig des germanischen Sprachstammes getrieben hat, hoffe ich dem deutschen Volk bald einen Strauß darbieten zu können. Bis jetzt ist, einige Proben abgerechnet, welche ich vor Jahresfrist in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ mittheilte, von dieser Poesie, die uns so nahe angeht, nichts in deutscher Uebersetzung veröffentlicht worden. Genauer auf den reichhaltigen Stoff hier einzugehen, erlaubt der Raum nicht. Dagegen soll im Folgenden die Lebensskizze eines leider früh heimgegangenen Mannes gezeichnet werden, der, auch auf anderen Gebieten bedeutend, als Dichter der größte Freund des deutschen Volkes unter den Belgiern genannt zu werden verdient.
Im Jahre 1871 erschien in London eine pseudonyme Dichtung in französischer Sprache unter dem Titel „L’Année sanglante par Paul Jane“, welche ganz geeignet war, in unserem Vaterlande gerechtes Aufsehen zu erregen. Selbst die besten unserer einheimischen Dichter hätten die zweifellose Gerechtigkeit unserer Sache nicht wärmer vertheidigen, die ungeahnte Größe unserer Waffenthaten nicht begeisterter verherrlichen können, als es in dieser französisch geschriebenen Dichtung geschah, und der irregeleiteten Nation jenseits des Rheins ist wohl nie in ihrer eigenen Sprache mit so schneidiger Rhetorik das Unrecht ihres frevelhaften Friedensbruches vorgehalten worden, wie in der „Année sanglante“. Wer mochte der Verfasser sein? Welcher Nation mochte der Dichter angehören, der Deutschlands Erfolge so begeistert feierte, während die gesammte ausländische Presse sich nur zögernd zu einer frostigen Anerkennung unleugbarer Thatsachen entschließen konnte?
Ich übersetzte einige Strophen der trefflichen Dichtung und sandte sie an den Verleger mit der Bitte, sie dem Verfasser zu übermitteln. Bald darauf erhielt ich einen liebenswürdigen Brief, in welchem sich Adolphe van Soust de Borckenfeldt, der Chef der Abtheilung für die schönen Künste im Ministerium des Innern zu Brüssel, als der Verfasser bekannte und mich aufmunterte, fortzufahren und durch eine poetische Uebersetzung sein Werk dem deutschen Volke, für welches dasselbe geschrieben sei, zugänglich zu machen. Bald konnte dasselbe unter dem Titel „Das blutige Jahr“, und zwar dem Kaiser Wilhelm gewidmet, hinauswandern.
Als ich später auf einer Studienreise durch Belgien die eigenthümlichen Parteiverhältnisse dieses Landes, die doppelte Uebermacht der französisch-wallonischen und der clericalen Fraction, gegen welche die deutsch-freundliche Partei Borckenfeldt’s, die Männer der „vlamischen Bewegung“, dennoch mit stetigem Erfolge ankämpfen, näher kennen lernte, da wurde mir erst klar, wie nur hier ein solches Werk hatte entstehen können. Und wenn ich den Dichter schon vorher durch den lebhaften Briefwechsel, der sich unter uns entspann, noch mehr aber durch den anregenden persönlichen Verkehr als Gast in seinem Hause, schätzen und verehren gelernt hatte, so konnte seine politische Richtung, die Festigkeit und Treue, mit der er trotz seiner französischen Erziehung seiner germanischen Abstammung sich bewußt blieb, nicht verfehlen, mir die höchste Achtung einzuflößen. Wie oft hat er es mir bitter geklagt, daß der höhere Unterricht in Belgien so durchaus französisch ist, daß gerade die besseren Stände durch die Schule von Jugend auf ihrer vlamischen Nationalität entfremdet werden!
Es war daher ein Glück, daß die vlamische Partei an Adolphe van Soust einen Mann besaß, der, seiner tiefsten Ueberzeugung nach vlamisch gesinnt, ein echtes Dichteringenium war und wahre germanische Gemüthstiefe besaß, der aber auch zugleich die französische Sprache beherrschte und in ihr zu schreiben wußte wie ein tüchtiger nationalfranzösischer Dichter. Den ihrer Nationalität entfremdeten Söhnen Flanderns, die, von dem bestechenden Schimmer französischer Eleganz geblendet, ihre Erstgeburt um ein Nichts hingegeben haben und denen mit dem treuherzigen niederdeutschen Worte nicht mehr beizukommen ist, mußte wohl ein Licht aufgehen, wenn sie die „Année sanglante“ und die „Renovation flamande“ Borckenfeldt’s lasen, Dichtungen, in denen sich eine glühende Vaterlandsliebe und eine wahrhaft poetische Begeisterung für das ehrwürdige germanische Volksthum ausspricht. Aber auch auf der andern Seite konnte man diese Dichtungen nicht einfach ignoriren, wie man sich stets bemüht hatte, es mit der vlamischen Literatur zu tun. Bei den ganz natürlichen Sympathien der Wallonen für Frankreich mußte eine Sprache, wie sie Borckenfeldt führt, einen tiefen Eindruck machen. Es gehörte echter Mannesmuth dazu, nach dem Kriegsrufe von 1870, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel über die zur Ernte reifen Gefilde hinfuhr, von Belgien aus dem deutschen Volke zuzurufen:
„Nun auf, du Volk aus Deutschlands Gauen,
Nun nimm die Sichel von der Wand!
Die Sonne konnt’ in deinen Auen
Die Saat noch reifen deiner Hand;
So mähe schnell die goldnen Aehren!
Nicht lange darf die Ernte währen,
Urplötzlich bricht ein Wetter ein –“
Und indem der Dichter den Chauvinismus der französischen Nation, die ihr „eisernes Gebiß durch einen leichten Sieg in das goldene Scepter der Hegemonie zu verwandeln hofft“, die nationale Begeisterung des deutschen Volkes gegenüberstellt, ruft er dem französischen Volke zu:
„Gleich wie die wilde Gluth der Esse
Flammt deine Kriegslust hoch empor;
Es schlägt der Klang der Marseillaise
Bis an der fernsten Städte Thor;
Ganz andre Heldenlieder schallen
Durch Deutschlands weite Buchenhallen,
Das Echo weckend ferner Zeit;
An seiner Flüsse Borden regen
Sich Märtyrer, erstehen Degen
Zu jeder Heldenthat bereit.“
Schön und wuchtig, wie nur irgend ein deutscher Dichter, spricht der Belgier, anknüpfend an die Barbarossa-Sage, die alte Verheißung von der Wiedererrichtung des Reiches mit den Worten aus:
„Vom deutschen Aar verscheucht, entweichen
Die Raben von des Berges Eichen,
Der Auferstehungstag bricht an.
Vereint wirst du empor dich raffen,
Unüberwindlich Volk in Waffen;
Zum Licht empor geht deine Bahn.“
Der unaufhaltsame Vorstoß der deutschen Heere wird in glänzenden, großartigen Bildern geschildert. Dem Wetterstrahl gleich, der den harten Felsen zu Staub zermalmt, der Windsbraut gleich, die unwiderstehlich in verhängnißvollem Sturz die tobende Lawine fortreißt – ein Strom, von hundert Bruderströmen genährt, dringt das Volksheer über die Fluren des unglückseligen Frankreich vor:
„Nichts hindert seinen Lauf, von dem der Boden bebt;
Die alte Kühnheit ist den Söhnen Teut’s erwacht;
Den Raum durchmessen sie mit schwindelnd schnellem Fuß;
Nicht Hügel, Wälder, Sümpfe, Höh’n, kein Bergespaß,
Nicht Schlucht noch Abgrund, nicht der reißend tiefe Strom,
Nichts hält sie auf....“
[456] Wie Aeschylus in den Persern, malt der Dichter die Größe der Siege, indem er aus französischer Phantasie heraus den überwältigenden Eindruck schildert, den die Sieger im unaufhaltsamen Vordringen auf die Bevölkerung des feindlichen Landes ausüben. Die ersten Schlachten sind geschlagen; die Armeen, welche so siegesgewiß auszogen, um den Rhein zu nehmen, ziehen sich in Trümmern zurück:
„– Das ist der großen unheilvollen Flucht Beginn,
Die durch des unglücksel’gen Frankreichs Fluren geht –
Der Sieger folgt. Im Wasgau, im Ardennerwald
Ist schon kein Paß mehr, wo nicht sein Geschütz erdröhnt;
Von allen Seiten kommt er, vorwärts schreitend stets,
Durcheilt die Städte mit gefälltem Bajonnet –
Von Ort zu Ort getragen, tönt ein Schrei der Angst,
Vergrößernd der Verwirrung, des Entsetzens Noth,
Und Weiber, Kinder, Greis’ in athemloser Flucht,
Sie rufen bebend: ,Der Ulan kommt, der Ulan.’
Dem Blitze gleich, der durch die Wolken schneidend fährt,
Stürmt er durch Wälder, Weiler, wüster Felder Plan,
An Wildheit dem Centauren gleich, dem schrecklichen
Des droh’nden Sturmes unglücksschwangrer Bote nur.
Doch das ist schon kein Sturm mehr, nein, zum rasenden
Orkane schwillt’s, wahnsinnig heulend, fessellos,
Zermalmend scheucht sein Grimm in ihrer Wälle Schutz
Die Menschen fort und ihrer Hände kleinlich Werk.
Der Widerstand reizt seine Kraft, und wirbelnd steigt
Die Wettersäule, bricht und reißt, und Alles sinkt
Vom Doppelstoß der wandelnden Zerstörerin,
Die hinter sich nur Trümmer und Vernichtung läßt.“
Doch auch aus Frankreichs Lagern ziehen neue gewaltige Heeresmassen heran, um den Völkerstrom zu dämmen:
„Vergeblich Ringen! Ach, mit der Heroen Kraft,
Wie selbst die ferne Zeit Homer’s sie nicht gesehn,
Stehn sie im Kampf vom Frühroth bis der Abend sinkt.“
Dreimal sehen sie das Morgenroth über die blutigen Gefilde aufgehen, und immer noch tobt die Schlacht. Vergeblich ist der Heldenmuth der Söhne Frankreichs, nichts kann die Deutschen aufhalten – nirgends ein Widerstand, ein Entrinnen, und mit einer Anspielung auf die Katastrophe, die einst Rom traf, ruft der Dichter aus:
„Dein Schwert, o Brennus, ist in der Germanen Hand,
Und dieses Schwert, geworfen in die Wage, ließ
Auf Frankreichs Seite neigen das Verhängniß sich.“
Wenn Emanuel Geibel in jenen ruhmvollen Tagen seinen Hymnus erschallen ließt „Nun laßt die Glocken von Thurm zu Thurm“ etc., so stimmt der Dichter vom vlamischen Bruderstamme in das Tedeum Deutschlands ein, indem er singt:
„Nun soll von Thal und Höhen,
Wo nur ein Haus mag stehen,
In Süd und Nord
Von Deutschlands Kindern allen
Ein Dankeshymnus schallen
Zum Schlachtenhort.“
Die Idee eines gerecht waltenden Schicksals, das den Uebermuth zermalmt, ist in diesem schönen Gesange, wie in dem Chor der antiken Tragödie zum Ausdruck gebracht. Lange ruht der Blitz in der Hand des Allmächtigen, um endlich um so sicherer zu treffen. Vor seinem Hauche sind Fürsten und Völker verweht wie Blätter im herbstlichen Walde. Darum ruft der Dichter der gallischen Nation zu: [457]
„Nun Frankreich, Land der Leiden,
Dein Schwert häng’ an die Weiden,
Wie Juda einst!
Das Wetter legt sich, glaube!
Wenn du die Stirn im Staube,
Voll Reue weinst!“
Und als, von eitlen Schlagwörtern geblendet, sich das unglückliche Volk nach Sedan noch einmal aufrafft, als es voll trügerischer Hoffnung den ungleichen Krieg noch einmal aufnimmt, warnt der Dichter:
„Auf’s Knie, auf’s Knie, daß du die Wunde dir verbindest!
Von Stolz und eitlem Zorn laß ab,
Daß in der Wahrheit Licht du es gerechter findest,
Wenn Schläge dir das Schicksal gab!“
Der Dichter, welcher einen so innigen Antheil an Deutschlands Sache nahm, ist am 23. April 1877 aus dem Leben geschieden. Mitten in der Vollkraft seines wissenschaftlichen und poetischen Schaffens hat ihn ein unerwarteter, plötzlicher Tod aus einer an glänzenden Erfolgen reichen Amtsthätigkeit gerissen, die für Belgien an jedem Zweige der schönen Künste bleibende Spuren zurückgelassen hat. Die Prosaschriften van Soust’s sind meist kunstgeschichtlichen oder kunstkritischen Inhalts und lassen den Verfasser namentlich als einen gründlichen Kenner der Malerei erscheinen. Seine Bücher „Etudes sur l’ état présent de l’ art en Belgique“ (1858) und „L’ Ecole d’ Anvers“ (1859) sind freimüthige, auf gründlicher Fachkenntniß und tüchtiger philosophischer Durchbildung basirende Beurtheilungen der Zustände an den belgischen Kunstakademien sowie mancher verzogener Lieblinge der Nation, Schriften, welche einen lebhaften Zeitungskampf zwischen dem Verfasser und dem ihm vorgesetzten Minister hervorriefen. Aus diesem Streit, an welchem die namhaftesten belgischen und französischen Kunstkritiker sich betheiligten, ging Borckenfeldt unzweifelhaft als Sieger hervor, und das zum Heil für die belgische Kunst. Auf den größeren Ausstellungen zu London, Wien, Paris etc. vertrat er seine Regierung als Commissar; die Kataloge und Kritiken, welche er in Folge derselben schrieb, sind gleichsam die Wegweiser für die von der Malerei einzuschlagende Richtung gewesen.
Seine poetischen Werke gehören meist der Gattung des Episch-Lyrischen oder der Gedankenlyrik an. In dem Oratorium „Venise sauvée“ feiert er den durch den Sieg Preußens bei Sadowa ermöglichten Fortschritt zur Freiheit Italiens. Dieselbe Begeisterung für die Nationalitätsidee durchweht seine „Renovation flamande“, die durch die vlamische Bewegung angestrebte Wiedergeburt Flanderns. Der dem deutschen Dichter Klaus Groth gewidmete „Chant lyrique“ ist ein Preis der Macht des Gesanges im Stil der besten Erzeugnisse von Victor Hugo. Voll hohen Schwunges schildert er darin die Gedanken- und Gefühlsströmungen der wahren lyrischen Dichtung in der Weltliteratur. Nach dem Erscheinen der „Année sanglante“ hatte er an einer großartigen Ideendichtung gearbeitet, welche den Triumph Deutschlands über die vaterlandslosen dunklen Gewalten, die nationale Einigung Deutschlands und Italiens und deren rüstiges Voranschreiten im Kampfe für die Gewissensfreiheit in großen Zügen zur Darstellung bringen sollte.
Schon vor zwei Jahren hatte mir Borckenfeldt in traulichem Gespräch auf unseren Spaziergängen in und um Brüssel und auf unseren Ausflügen durch das grüne Flandern den großartig angelegten Plan dieser Dichtung mitgetheilt, welche eine natürliche Folge seiner „Année sanglante“ und seiner „Venise sauvée“ bilden und den Kreis gleichsam schließen sollte. Von Frau van Soust, seiner geistvollen und ihm congenialen Gemahlin, mit der Herausgabe dieses Werkes Borckenfeldt’s betraut, hoffe ich in der Kürze meinen Landsleuten das bedeutende Fragment zugänglich zu machen. Wenn man von der poetischen Hinterlassenschaft Borckenfeldt’s auf das nun unwiederbringlich Verlorene schließen darf, so ist es zu beklagen, daß es dem Dichter nicht vergönnt gewesen ist, diese reifste Frucht seines Denkens und Dichtens zu zeitigen. Welche Fülle von tiefsinnigen Ideen und poetischen Gedanken ist mit hinabgesenkt in die Gruft, welche die Koryphäen der Kunstwelt Belgiens, die Männer der vlamischen Bewegung, die Vertreter der Behörden in aufrichtiger Trauer umstanden! Die Einen haben einen unermüdlich fördernden Protector, Andere einen begeisterten charakterfesten Parteigenossen, Andere einen wohlwollenden Vorgesetzten und einen treuen Collegen in ihm verloren. Alle aber fühlten sich durch den Adel seiner Gesinnungen, durch die fesselnde Liebenswürdigkeit seines Wesens angezogen. Viele waren ihm zu Dank verpflichtet. Selbst seine politischen Gegner widmeten ihm in der belgische Presse Nachrufe, die von wahrer Achtung zeugten. Die besten und bedeutendsten Männer Belgiens verkehrten in seinem gastlichen Hause, dessen Wände den Blättern eines Albums gleichen, auf denen die ersten Meister der bildenden Kunst sich verewigt haben. Henric Conscience und Emanuel Hiel, wohl die bedeutendsten der jetzt lebenden Dichter der Vlamingen, verkehrten fast täglich in diesem Hause, und die Gesellschaftsabende, welche ich dort verlebt habe, waren wie attische Symposien voll edelster Anregung.
Als ich in den letzte Tage des Juli 1875 aus diesem schönen Kreise schied und den nun verewigten Freund auf dem Nordbahnhofe zu Brüssel zum letzten Mal umarmte, waren wir beide voll Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen, und ich glaubte nicht, daß ich so bald die traurige Pflicht zu erfüllen haben würde, dem besten Freunde des deutschen Volkes unter den Dichtern des Auslandes ein Wort des Nachrufes zu widmen.
Möge sein Andenken gesegnet sein!
Es war im wunderschönen Monat Mai. Wenigstens sagte es der Kalender. Der Berggeist Rübezahl war aber sicherlich anderer Meinung, denn er schickte von seinem Hochsitze, der Schneekoppe, einen winterkühlen Luftzug hernieder in’s liebliche Hirschberger Thal, der den vorwitzigen Wanderern rothe Ohren und blaue Nasen anhing. Und dennoch war es wonnig, hineinzuschreiten in den kühlen Maimorgen. Zur Rechten lag der mächtige Kamm des Riesengebirges, mit einer weißen Schneedecke behangen, die weit hinunterreichte, beinahe bis über die Vorberge herab; aber Frühlingsblumen sproßten am Winterschnee, und Pfingstglocken läuteten rings in den Dörfern. Munter schritt ich bergauf und bergab, meinem Ziele zu. Einen Geisteskämpen wollte ich besuchen am Pfingstfest, einen Streiter für das alte Recht, die ewige Wahrheit. Einen Greis wollte ich besuchen zur Frühlingszeit, einen Greis mit Jünglingsmuth. Gebleichtes Haar und Jugendkraft – Frühlingsblumen am Winterschnee.
Gegen Mittag langte ich in Quirl an. Es ist dies ein mäßig langes Gebirgsdorf, dessen Holzhäuschen zu beiden Seiten der Landstraße liegen. Ein munterer Gebirgsbach fließt hindurch. An Wochentagen klappern wohl die Mühlen, die das klare Wässerlein treibt. Heute ist Sonntagsstille allüberall. Kaum vermochte ich Jemand aufzutreiben, um die Wohnung des „alten Wander“ zu erfragen. Ein Mädchen war es, ein munteres Kind mit zwei langen blonden Zöpfen, in schmucker Gebirgskleidung, die mich hinführte. Sie kannte den Alten gar gut; denn war er auch, wo’s die Großen betrifft, nicht selten ein grimmiger, kurz angebundener Gesell: die Kleinen wußten ganz gut, daß bei ihnen dem Alten das Herz aufging. Es scheint das im Lehrerblut zu liegen. Wer einmal einen Blick hineingethan hat in den Himmel der Kinderseele, der kann nicht mehr davon lassen.
Ein hübsches Häuschen mit grünen Festerladen war des Alten Wohnung. Und da stand er auch schon im kleinen Vorgarten am Weinspalier, der gebückte Greis mit dem seltsam durchfurchten Gesicht, der Denkerstirn und den kampfmuthig blickenden Augen. Nicht das erste Mal war es, daß wir uns trafen. Freundlich reichte mir der Alte darum die Hand zum Willkommen, und bald saßen wir mit einander zwischen den Bücherreihen des engen Studirstübchens beim Glase Wein im traulichen Gespräch. Zum Fenster hinaus schweifte der Blick auf die ewigen Berge. Gerade vor uns erhob sich majestätisch der weißbedeckte Kegel der Schneekoppe. Seit Jahrtausenden steht er da wie heute und schaut schweigend hernieder auf das Menschengewirr zu seinen Füßen. Da wußte ich, wo der Alte seine Zähigkeit und Unbeugsamkeit, seinen Kampfesmuth und seine Lebensfreudigkeit hernahm.
„Der rothe Wander“, das war der Name, unter dem die [458] Reaction der vierziger und fünfziger Jahre unsern Kämpen kannte und verfolgte. Man weiß, daß der Rückschrittspartei jener Tage nichts so sehr ein Gräuel war, wie freisinnige Lehrer. Einer der freisinnigsten war unser Wander. Darum hat aber auch die Reaction ihn zu einem ihrer vornehmsten Opfer ausersehen. Sie hatte sich jedoch in ihrem Manne verrechnet. Fest und ungebeugt, wie seine Berge, blieb er unter all den Stürmen, die Haß und Groll auf ihn schickten. Im Kampfe wuchs ihm die Kraft. Bis zum letzten Augenblicke stand er in den Reihen der Geistesstreiter und sah seine Lebensaufgabe darin, dem Lichte Bahn zu brechen.
Vor fünfundfünfzig Jahren wurde der damals zwanzigjährige Wander, der soeben das Seminar verlassen hatte, Hülfslehrer in einem ziemlich großen Dorfe bei Bunzlau in Schlesien. Es war nicht gerade eine glänzende Stellung, in die er eintrat; denn sie bot ihm wöchentlich nur zwölfeinhalb Silbergroschen Gehalt. Außerdem war der junge Lehrer als „Lämmelbruder“, will sagen als Mucker, verrufen, noch ehe er ankam, weil er dem Bauer, der seine wenigen Habseligkeiten abgeholt hatte, beim Zutrinken von Schnaps nicht Bescheid that. Dazu kam noch, daß der junge Lehrer alsbald manchen alten Schlendrian wegfegen wollte, der sich unter den lässigen Händen seiner Vorgänger aufgehäuft hatte. Da war es denn kein Wunder, daß schon nach wenigen Monaten schwere Anklagen beim Pfarrer einliefen. Vor Allem beschwerte man sich darüber, daß der neue Lehrer keinen Stock in der Schule gebrauche, daß er die Gesangbuchlieder am Anfange des Unterrichts nicht ganz singen lasse, daß die Kinder Sprüchwörter schreiben müßten, und endlich, daß er der alten Hahnfibel den Garaus machen und ein neues, nach methodischen Grundsätzen verfaßtes Lesebuch einführen wollte. Bei allen diesen Anfechtungen wurde der junge Lehrer von seinem geistlichen Schulinspector eher beargwohnt als unterstützt; aber trotz alledem ließ Wander nicht ab, seine Pflicht zu thun und auf dem als richtig erkannten Wege zu verharren. Und als er zwei Jahre darauf nach Hirschberg zog, da vergossen dieselben Leute Thränen, die ihn nach den ersten Wochen seiner Thätigkeit mit Hunden aus dem Dorfe hetzen wollten, und seine Schüler begleiteten ihn stundenweit auf dem Wege in seinen neuen Wirkungskreis.
In Hirschberg war Wander dreiundzwanzig Jahre lang als städtischer Lehrer thätig. Wie er gewirkt hat, davon giebt die Verehrung Zeugniß, die ihm seine zahlreichen Schüler noch nach einem Menschenalter entgegengebracht haben. Er war einer der Lehrer „von Gottes Gnaden“, ein Schulmann, wie er ihn selbst schildert: „Die Lehrer werden im Seminar nicht nach einer bestimmten Staatselle gemacht; sie werden, wie die Dichter, geboren. Sie werden nicht, wie Bücher und Baumwollenwaaren, verschrieben, sondern in glücklichen Augenblicken gefunden. Wenn der Himmel einen Ort, eine Jugendschaar lieb hat, dann schenkt er ihr eine solche Lehrkraft. Es ist die geheimnißvolle, Alles um sich erweckende Kraft, die vom ganzen Menschen ausgeht und den ganzen Menschen ergreift.“
Trotz seiner erfolgreichen Wirksamkeit als Lehrer, die auch seine Gegner niemals anzutasten gewagt haben, gehörte Wander doch schon in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre zu den Mißliebigen. Die Geradheit seines Charakters, die Unerschrockenheit, mit der er in Rede und That das als recht Erkannte verfocht, der beißende Hohn und die unerbittliche Logik, mit der er das Zopfthum und die Frömmelei bekämpfte: das Alles hatte längst dazu beigetragen, ihm das Wohlwollen der Behörde zu entziehen, und so konnte er denn in einer Zeit, die, besonders was die Schule anbetraf, sich aufmachte, mit vollen Segeln in das Fahrwasser der Eichhorn’schen Periode einzulenken, auch persönlich nicht unangefochten bleiben. Schon 1835 besuchte ihn unvermuthet der General-Superintendent Ribbeck und ließ ihn Religionsstunde abhalten. Als er sich verabschiedete, äußerte er: „Man hat mich förmlich mit Berichten über Sie und Ihr Wirken bestürmt, sodaß ich nicht ohne Vorurtheil gegen Sie hierhergekommen bin. Ich habe Sie in Ihrem Berufe kennen gelernt, und es ist mir ein Bedürfniß geworden, Ihnen selbst vor meiner Abreise zu sagen, daß ich in Ihnen einen andern Mann gefunden habe, als er mir in der Provinz geschildert worden ist.“
Nach diesem Besuche hatte Wander einige Jahre Ruhe. Desto heftiger brach unter Eichhorn’s Schulregiment das Ungewitter über ihn los. In einer Schrift über schlesische Präparandenbildung hatte Wander die Meinung ausgesprochen, daß es gut sein möchte, wenn die Schule aus der Vormundschaft der Kirche entlassen und auf eigene Füße gestellt würde. Daneben hatte er sich durch Gründung von Lehrerlesevereinen und besonders durch Veranstaltung der damals berühmten schlesischen Lehrerfeste um die Hebung seines Standes hohe Verdienste erworben. Als er 1842 auf eine ernstliche Verwarnung seiner schriftstellerischen Thätigkeit wegen entgegnete, daß er für die Thätigkeit seiner Mußestunden nur dem Gesetze verantwortlich zu sein glaube, erhielt er den Bescheid: es sei überhaupt nur eine Vergünstigung, daß Schullehrer schreiben dürften. Dem entsprechend wurde, als er mit einer neuen Broschüre für „den geschmähten Diesterweg“ in die Schranken trat, sofort Disciplinaruntersuchung gegen ihn eröffnet. Freilich ohne Erfolg; denn ein Erkenntniß der Liegnitzer Regierung, welches ihn „wegen Ungehorsams gegen die Befehle seiner vorgesetzten Behörde, wegen Erregung von Mißvergnügen unter den Lehrern, sowie wegen Aufregung in politischer Beziehung“ zur Versetzung in eine andere Stelle, sowie „wegen Abneigung gegen das positive Christenthum und Verletzung der Ehrfurcht gegen die christliche Religion“ zur Niederlegung des Religionsunterrichtes verurtheilte, ward auf Wander’s Recurs vom Oberpräsidenten aufgehoben. Doch blieb ihm bis zum Herbst 1848 der Religionsunterricht entzogen.
Inzwischen war er auch in einen politischen Proceß verwickelt worden. Wander war nebenbei als Volkslehrer im Hirschberger Bürgerverein thätig gewesen. Man fand darin ein neues Moment dafür, ihn als Umsturzmann, als Volksaufwiegler zu betrachten. Eine sogenannte „politische Rede“ Wander’s im Bürgerverein gab die längst ersehnte Gelegenheit, wider ihn einzuschreiten. In einer Sitzung hatte er nämlich bei Gelegenheit der Besprechung einer Industrie-Ausstellungs-Medaille mit Bezug auf eine darauf abgebildete „Germania“ folgende Aeußerung gethan: „Ich will nur nachträglich in Betreff der ‚Germania’ mir mitzutheilen erlauben, daß die ‚Germania’ sitzt, daß sie ein sehr trübes Gesicht macht und daß ihre Lippen nur ein wenig geöffnet sind. Ich will mich auf die Auslegung dieser unwichtigen Symbole hier nicht weiter einlassen; es möchte nicht allgemein gewünscht werden. Aber im Stillen sich zu fragen: Warum sitzt ‚Germania’ und befindet sich nicht in fortschreitender Stellung? Warum ist ihr Mund so fest zu, daß man die Perlenreihe ihrer Zähne nicht bemerken und bewundern kann? wird uns Allen wohl gestattet sein.“ Diese Aeußerung, die ein „gutgesinnter“ Zuhörer brühwarm nach Liegnitz sandte, an den Sitz der Regierung, war genügend, eine Anklage wegen Erregung von Mißvergnügen und Unzufriedenheit“ gegen Wander zu veranlassen. Am 6. März 1845 erschienen plötzlich zwei Regierungscommissarien in seiner Wohnung und nahmen eine Haussuchung vor. Unter den mit Beschlag belegten Papieren befanden sich auch einige Hefte Ausarbeitungen für den Unterricht im lutherischen Katechismus. Unglücklicher Weise schlug der eine Regierungsrath darin die Behandlung des vierten Gebots auf und fand dort die Begriffe Staat, Landesverfassung u. dergl., natürlich blos erklärt und mit passenden Bibelsprüchen versehen.
„Wie ich sehe,“ äußerte er, „kommt Politik darin vor, und da ich eben hier bin, will ich doch dergleichen Sachen mitnehmen, damit wir sehen, womit Sie sich so nebenbei beschäftigen.“
Wander bemerkt hierzu: „Welches Papier hat man in seiner Stube noch sicher, wenn sogar der lutherische Katechismus verdächtig ist und einer Untersuchung vom 6. März bis zum 19. December, an welchem Tage mir das Manuscript zurückgegeben wurde, unterliegen muß?“
Das war aber nur ein Vorspiel zu dem großen Ungewitter, das sich inzwischen über Wander’s Haupte zusammenzog. Von dem Superintendenten Roth in Erdmannsdorf war nach Berlin berichtet worden, daß sich im Hirschberger Thale eine communistische Verschwörung gebildet habe, die den Umsturz alles Bestehenden anstrebe. Kurze Zeit darauf erschien im Gebirge ein harmloser Vergnügungsreisender, ein sogenannter „Maler Schmidt“ aus Berlin. Unter dieser Maske verbarg sich aber kein Anderer als der bekannte Polizeiagent Stieber. Sein Zweck war, die Verschwörung zu entdecken. Er konnte indessen nichts Anderes herausbringen, als daß ein halbverrückter Tischler in Warmbrunn hier und da für seine überspannten Ideen Anhänger zu werben versucht hatte. Natürlich genügte das dem scharfsinnigen Polizeiagenten nicht. Er suchte nach den „intellectuellen Urhebern“ der Verschwörung. Als [459] einen solchen bezeichnete er frischweg den bekannten Demokraten und späteren Parlamentsabgeordneten Schlöffel aus Eichberg bei Hirschberg. Bei diesem und seinen Freunden wurde Haussuchung abgehalten. Am 14. März 1846 Abends 6 Uhr erschien Stieber auch in Wander’s Wohnung, die er genau durchsuchte. Seine Mühe wurde auch sogleich belohnt, indem er einen Streifen von einem Briefe Schlöffel’s und endlich sogar ein ganzes Billet desselben entdeckte. Natürlich wurde darauf die Haussuchung mit verdoppeltem Eifer fortgesetzt; aber es fand sich weiter Nichts.
Eine halbe Stunde nach der Haussuchung wurde Wander verhaftet und in das Bürgergefängniß im Rathsthurm gebracht. Die Kunde davon erregte in Hirschberg das größte Aufsehen. Eine Deputation angesehener Bürger verwandte sich für ihn, aber vergeblich. Zum Mittagsmahl sandten ihm Freunde einige Flaschen Wein in den Thurm. „Sonderbar,“ schreibt Wander, „daß man erst auf dem Hirschberger Rathhause eingesperrt werden muß, um einmal Wein zu trinken.“ Am dritten Tage ward er vernommen und natürlich, da nichts Gravirendes gegen ihn vorlag, entlassen, jedoch von Stund’ an von seinem Amte suspendirt. Zwei Petitionen Hirschberger Bürger, die seine Wiedereinsetzung erbaten, wurden abschlägig beschieden. Unterdessen war gegen ihn die von Stieber ausgearbeitete Anklage erhoben worden, er habe „durch frechen, unehrerbietigen Tadel und Verspottung der Landesgesetze und Anordnungen im Staate, insbesondere bei Gelegenheit der in den Versammlungen des in Hirschberg bestandenen Vereins zu gemeinnützigen Zwecken gehaltenen Vorträge, Mißvergnügen gegen die Regierung“ erregt. Nach einer glänzenden Vertheidigung durch den Justizrath Robe wurde Wander vom Hirschberger Landgericht freigesprochen zum Aerger Stieber’s und aller „Wohlgesinnten“. Der Jubel der Hirschberger war groß. Wander und seinem wackeren Vertheidiger wurden Ständchen gebracht. Trotz des freisprechenden Erkenntnisses wurde aber die Amtssuspension noch immer aufrecht erhalten, und erst nachdem das Breslauer Oberlandesgericht das erste Urtheil bestätigt hatte, erfolgte im Januar 1847 Wander’s Wiedereinführung als Lehrer.
Da kam das Sturmjahr 1848, jene hoffnungsselige Zeit, in der die kühnsten Wünsche des deutschen Volkes ihrer Erfüllung nahe schienen. Es ist wohl selbstverständlich, daß auch Wander an dieser Bewegung theilnahm. Er hielt es jedoch nicht für seine Aufgabe, wie andere Clubredner jener Zeit, die Leidenschaften der Menge aufzustacheln. Sein Wirken in Bürgervereinen und Volksversammlungen war einzig und allein darauf gerichtet, ein Verständniß der Zeit und ihrer Aufgaben in seinen Mitbürgern zu erwecken. Auch jetzt trat er nicht als Volksführer auf, sondern begnügte sich damit, Volkslehrer zu sein.
In der Pfingstwoche jenes Jahres fand in Eisenach eine allgemeine Versammlung deutscher Lehrer statt. Dort vertrat Wander einen Antrag auf Gründung eines deutschen Lehrervereins. Mit Begeisterung wurde sein Vorschlag angenommen. Als aber dann nach dem vorzeitigen Frühlinge die Aprilfröste der Reaction eintraten, als alle die üppig aufgesproßten Blüthen, vom eisigen Hauche berührt, verwelkten und dahinstarben: da trug man auch den deutschen Lehrerverein zu Grabe. Er wurde verboten, und die an seine Stelle tretende allgemeine deutsche Lehrerversammlung fristete jahrelang nur kümmerlich ihr Dasein.
Daß die Reaction Wander’s nicht vergessen würde, war vorauszusehen. Man suchte auch jetzt wieder lange nach einem Vorwande, um gegen ihn vorzugehen, und fand ihn endlich. Am 3. September 1849 hatte Wander in Hirschberg bei einem Schulfest ein Lebehoch auf „das glückliche Vaterland der Zukunft, in dem die Wahrheit frei, und die Freiheit wahr ist, das wir bauen, und das unsere Jugend bauen soll,“ ausgebracht. Schon am nächsten Tage war eine „sorgfältig verbesserte und stark vermehrte“ Nachschrift dieser Rede in den Händen des Superintendenten. Der Denunciant war ein Amtsgenosse Wander’s, ein Landschullehrer, der später zum Lohne für seine „Gesinnungstüchtigkeit“ mit einem Orden bedacht wurde.
Bereits am 21. September ward Wander zum zweiten Male von seinem Amte suspendirt und „wegen feindseliger Parteinahme gegen die Staatsregierung“ in Untersuchung genommen. Daß man jetzt das Möglichste that, dem unerschrockenen Lehrer endlich den Proceß zu machen, versteht sich von selbst. Der Superintendent Roth schrieb in seinem an die Regierung eingesandten Bericht: „Nicht unterlassen kann ich es, beizufügen, daß die allerbitterste Verlegenheit entstehen würde, wenn auch diese zweite Suspension nicht mit Amtsentsetzung endigen sollte. Der überaus geschickte Lehrer darf (wenigstens in Hirschberg) nicht Lehrer bleiben.“ Dennoch brauchte man ein halbes Jahr, um darzuthun, daß Wander sich „einer der bestehenden Staatsregierung, dem positiven Christenthum und der christlichen Kirche feindlichen, auf Untergrabung dieser Autoritäten grundsätzlich bedachten Gesinnung“ ergeben habe, dann aber verurtheilte ihn die Liegnitzer Regierung mit zwanzig Bogen voll Gründen in contumaciam zur Amtsentsetzung.
Die Luft im deutschen Vaterlande war nun doch unserem Wander nachgerade zu schwül geworden. Er sehnte sich nach einem Athemzuge auf freier Erde. Auf den Rath seines Arztes unternahm er eine Reise nach Nordamerika. Er verbrachte einen Winter in Baltimore, einen Frühling in Washington und Virginien. Dann reiste er durch die Alleghanies nach Pittsburg, auf dem Ohio nach Cincinnati, über die Seen zum Niagara, auf dem Hudson nach New-York und später über Philadelphia zurück nach Baltimore, wo er sich wieder nach der Heimath einschiffte. Während seiner Abwesenheit war er wegen eines gegen den Hirschberger Landrath gerichteten Zeitungsartikels zu einer mehrwöchentlichen Gefängnißstrafe verurtheilt worden, zu deren Abbüßung er unmittelbar nach seiner Rückkehr abgeholt wurde.
Wohl hätte man nun meinen können, daß die Reaction ihr Müthchen gekühlt habe, aber nein, sie suchte ihr Opfer vollständig zu vernichten. Der Lehrer Wander war unschädlich geworden; jetzt galt es, auch den Schriftsteller, den Volksmann mundtodt zu machen. Es begann eine Hetzjagd auf den Verhaßten, wie selbst die Geschichte jener Tage nur wenige ihres Gleichen aufzuweisen hat.
Zu Anfang des Jahres 1852 zog Wander nach Löwenberg, wo er ein kaufmännisches Geschäft einzurichten gedachte. Aber der Magistrat verweigerte die Aufnahme, da Wander, weil er in Amerika gewesen, nicht mehr preußischer Staatsbürger sei. Und als er auch seine Zugehörigkeit zum preußischen Staate zu begründen im Stande war, da verlangte man von ihm noch ein Sittenzeugniß und einen Vermögensnachweis. In dem ersteren erklärte der Hirschberger Magistrat Wander’s sittlichen Lebenswandel für vorwurfsfrei, fügte aber hinzu, daß sein politisches Verhalten zur Amtsentsetzung und zu einer gerichtlichen Bestrafung geführt habe. Auf Grund dieses Attestes wurde ihm die Niederlassung in Löwenberg versagt, und auf eine Beschwerde bei der Liegnitzer Regierung eröffnete ihm diese, daß nach § 2 ad 2 des Gesetzes vom 21. December 1842 der Magistrat im Rechte sei. Dieser Paragraph gab nämlich der Landesbehörde das Recht, „einen entlassenen Sträfling“ von dem Aufenthalte an gewissen Orten auszuschließen.
Wander übergab das bereits gegründete Geschäft seinem ältesten Sohne und zog nach Bunzlau, wo er einige Zeit unangefochten lebte. Plötzlich wurde ihm jedoch von der dortigen Polizeibehörde die Ausweisungsordre zugestellt, und als er sich wieder nach Löwenberg begab, wiederholte sich dort derselbe Vorgang. Wander ging nach Hirschberg zurück und ließ sich endlich 1853 am Fuße des Kynast im freundlichen Hermsdorf nieder. Kaum angekommen, ward ihm eine neue Haussuchung zu Theil. Der Landrathamtsverweser von Zedlitz erschien mit mehreren Gensd’armen. Thüren und Fenster wurden geschlossen und sämmtliche Schränke, Kommoden und Schubladen geöffnet; selbst die Schübe des neu eingerichteten Ladens wurden durchwühlt. Man suchte nach einem Manuscripte, das aber nicht aufgefunden wurde. Dafür belegte man eine ganze Reihe anderer Schriften mit Beschlag. Als Wander vorstellte, daß man sich doch auf das beschränken möchte, worauf der Antrag laute, ward ihm der Bescheid: „Ich habe die Gewalt; wer die Gewalt hat, übt sie, und der Gewalt muß man sich fügen; ich nehme, was ich Lust habe, und was ich nicht brauchen kann, bekommen Sie wieder.“
Der Hauptzweck der Haussuchung war wohl nur der gewesen, Wander und die Seinen als gefährliche Leute darzustellen und die Bewohner des Ortes vor dem Umgange mit ihnen zu warnen. Der Zweck war auch zum Theil erreicht worden.
Einige Wochen nach der Haussuchung wurde der Frau Wander’s durch landräthlichen Befehl der Fortbetrieb des kaufmännischen Gewerbes untersagt, auf Grund einer Verfügung, die sich auf die Ehefrauen solcher „Verbrecher“ bezog, die wegen eines [460] von ehrloser Gesinnung zeugenden Verbrechens, insbesondere „wegen Meineids, Raubes, Diebstahls oder Betruges verurtheilt worden“, und die das Gewerbe „zur Gefährdung der öffentlichen Sicherheit benutzen könnten.“ Wander beschwerte sich bei der Regierung, die aber nach acht Monaten dem Hirschberger Landrath Recht gab. Trotz dieser Verfügung betrieb Wander, der sich in seinem Rechte wußte, das Geschäft weiter. Mehrere gegen ihn eingeleiteten Untersuchungen „wegen unbefugten Gewerbebetriebes“ blieben erfolglos, und nach drei Jahren erlebte er die Genugthuung, daß seine Frau doch den Berechtigungsschein erhielt.
Inzwischen hatte er alle ihm möglichen Schritte gethan, um für die erlittene Behandlung auf dem gesetzlichen Wege Genugthuung zu erlangen. Vom Ministerium wurde er abgewiesen. Das Abgeordnetenhaus ging über seine Petition, die er alljährlich erneuerte, zur Tagesordnung über. Erst 1859 kam, Dank der Unterstützung Diesterweg’s, seine Sache zur Verhandlung. Das Abgeordnetenhaus erklärte das ganze Verfahren gegen Wander für ungesetzlich, aber über dessen Entschädigungsansprüche beschloß es abermals zur Tagesordnung überzugehen.
Seitdem lebte Wander still daheim, in Hermsdorf und seit 1874 in Quirl bei Schmiedeberg. Seine Hauptthätigkeit widmete er seinem Riesenwerke, dem bei Brockhaus erscheinenden „Deutschen Sprichwörterlexikon“. Im Jahre 1862 erschienen die ersten Lieferungen des Werkes, das jetzt in fünf sehr starken Bänden bis auf die Nachträge vollendet vorliegt. Es enthält gegen eine Viertelmillion Sprüchwörter. Sicherlich wird dieses Werk, das außer Grimm’s „Wörterbuch“ in der deutschen Literatur wohl kaum seines Gleichen hat, Wander’s Namen auch der späten Nachwelt übermitteln. Neben dieser wissenschaftlichen Arbeit gab Wander seit mehreren Jahren den „Schmiedeberger Sprecher“, ein Volksblatt, heraus, das seiner ganzen Anlage nach und besonders seiner kräftigen und gemeinverständlichen Schreibweise wegen ein Muster seiner Art genannt zu werden verdiente.
Leider sollte der alte Kämpfer und „Pflüger mit dem Geiste“ die Vollendung des Drucks der Nachträge seines großen Werks nicht erleben. Während wir uns im Stillen darauf freuten, den wettergrauen Einsiedler von Quirl mit diesem Blatt der „Gartenlaube“ zu überraschen, ist er rasch, ohne jeden Vorboten der Krankheit, von dannen gegangen. Ein Herzschlag machte am 4. Juni seinem Leben ein Ende. Wir brauchen an seinem Grabe nicht zu verschweigen, daß er im Anstürmen gegen die Burgen des Zopfthums und der Thorheit manchmal etwas mehr einriß, als gerade nöthig war, daß er in der Kampfeshitze auch Dem oder Jenem einen Streich versetzte, den ein Anderer bei ruhiger Ueberlegung hätte laufen lassen: anzuerkennen bleibt aber, daß das treibende Element seines Kämpfens und Streitens niemals ein subjectives Vorurtheil, sondern lediglich der Wunsch gewesen ist, durch Volksbildung die Volksfreiheit zu fördern. Dies ist wohl auch der Grund, warum Wander nicht, wie mancher Andere, dem das Sturmjahr 1848 eine Wunde geschlagen, sich mürrisch in den Schmollwinkel zurückzog oder vom sicheren Hinterhalt aus Giftpfeile gegen das neue Reich schleuderte, sondern daß er, allen alten Groll vergessend, voll und ganz zu Kaiser und Reich stand. Entsprach auch dieses Reich noch lange nicht seinem Ideale, jenem Reich, „in dem die Wahrheit frei und die Freiheit wahr ist“, und war er darum weit entfernt davon, in die Lobhudeleien und in den nationalen Cultus gewisser Optimisten und Genügsamen einzustimmen, so war ihm doch das neue Reich der Grundstein, auf dem allein sich das „Vaterland der Zukunft“ erheben kann, und deshalb war er auch in seinem engen Kreise bemüht, diese Errungenschaft der Neuzeit gegen alle Feinde von rechts oder links zu vertheidigen.
Man macht dem gegenwärtigen Geschlechte nicht selten den Vorwurf, daß es ihm an unbeugsamen Charakteren mangele und daß man über Recht und Freiheit zwar viel theoretisire, dabei aber den Kampf scheue, wenn es darauf ankomme, diese Güter zu vertheidigen. Vielleicht war es darum nicht überflüssig, unserer Zeit wieder einmal das Lebensbild eines ungebeugten Kämpfers für Recht und Freiheit vom alten Schlage vor die Augen zu führen.
Eine graue sich rasch fortbewegende Wolkenfläche bedeckte weithin den ganzen Himmel, und die stolze Kette von Bergen, deren Riesenwand in langer Linie die bairische Hochebene begrenzt, lag mit ihren ungeheueren Schneefeldern und schwarzblauen Felsenmassen dem Auge so nahe, daß sie in wenigen Stunden erreichbar schien. Vereinzelte Windstöße, feucht und warm, bliesen über die weite Ebene, deren Schneehülle, als ob sie das Unheil ahne, von dem sie bedroht war, da und dort schon sachte in den Boden zu sickern und zu rieseln begann, und die Isar wälzte ihre reißenden schmutziggelben Fluthen mit vermehrtem Ungestüm daher. Bald stürzte sich auch der Orkan brausend mit voller Wucht von dem Kamme des Gebirges in die Ebene, brach die Eisdecke der Seen und Bäche, fegte in den rauschenden Wäldern die todten Blätter von den Bäumen und warf unter endlosen Regengüssen die morschen Stämme und mürben Zweige knatternd auf den versumpften Weg. Es war, wie wenn die Natur zerstörend gegen sich selbst wüthe. Aber in ungeheuerem Kampfe vernichtete und schied sie nur aus, was nicht mehr werth war, den kommenden Frühling zu schauen, und was nicht mehr gesunde Kraft in sich hatte, ihn mit schwellenden Blüthen und würzigen Trieben zu begrüßen.
Und dann kam der Frühling selbst, der Frühling mit all seinem jungen Wiesengrün, mit seinen bunten Blumen, mit seinem zarten Blätterlaub, mit seiner herrlichen Sonne, mit seiner Liebe und – mit seinem Trieb zum Wandern.
Aber nicht Allen, die wohl ihrer Sehnsucht nach rauschenden Baumhallen und schmetterndem Vogelsang, Tannenduft und Waldeinsamkeit Genüge thun möchten, wird es wirklich so gut, aus dem und jenem Grunde nicht, und wer nicht anders kann, sucht dann wenigstens der quetschenden Enge der Straßen zu entgehen, die ihn viele trostlose Monde lang eingeschlossen hat wie ein Gefängniß, in welchem der Winter Kerkermeister war, und flüchtet hinaus in die weitläufigeren Vorstädte, wo die Straßen breiter, die busch- und rasenbesetzten Plätze häufiger sind, wo Luft und Sonne freieren Eintritt in die Räume der Menschen haben und wo vielleicht sogar aus geringerer Ferne ein Stückchen Wald oder Feld in die äußerste Häuserzeile hereinblickt.
Dann gilt es freilich ein neues Nest zu suchen, in welchem man auch hausen kann, und als ich das letzte Mal mich in der Lage sah, nach einer solchen Villeggiatur in der Vorstadt Umschau zu halten, weil ich eine andere nicht ermöglichen konnte, da begegnete mir eine seltsame Geschichte, die ich hier erzählen will.
Die Frühlingsstürme, die über die Hochebene hereingebraust waren, hatten mich eines schönen Tages aus dem finsteren Häuserwirrwarr der innern Stadt bis in eine Straße hinausgeweht, die sich ziemlich am nördlichen Ende der Stadt in langer Linie hinzieht und zuletzt, wenigstens damals, in die freien Felder und Wiesen verlief. Gerade das aber war so sehr nach meinem Geschmack, daß ich nun mit größtem Behagen in der ziemlich menschenstillen Straße dahinschlenderte, die regenfeuchten Miethzettel an den Thoren der Häuser studirend und diese selbst mit prüfendem Auge musternd. Leider boten die wenigsten Häuser das, was ich suchte. In den ungeheueren Casernen der Häuserspeculanten zu wohnen fand ich widrig, und die paar kleinen niedlichen Häuser, die an der Straße lagen, vermietheten keine Zimmer.
Schon ziemlich mißmuthig, gelangte ich an das äußerste Ende der Straße. Dasselbe ward rechts durch einen außerordentlich großen, von der Bauwuth noch verschont gebliebenen Wiesenplatz gebildet, dem gegenüber links ein kleines und ein großes Haus standen. An diese Häuser schloß sich an der nämlichen Seite ein Zimmermannsplatz, der mit einem alten schwarzen Lattenzaun eingefaßt war; den Schluß bildete ebenfalls eine kleine Wiese, die nur von runden, schwer auf morschen Pfählen ruhenden Balken, wie von dickbäuchigen Schlangen, eingerahmt war, und von hier führten vielverschlungene Pfade in’s Freie.
Das große Haus hatte, so stattlich seine Steinmasse war,
[461]
Heimlich durch’s Fenster kam er geflogen,
Schüchterner Liebe duftiger Gruß. –
Sieht sich der hoffende Werber betrogen?
Sinnende Maid, warum zögert Dein Fuß?
Durch des Gemaches verschwiegene Räume
Fluthet der Rosen bestrickender Hauch,
Wiegt Dich in süße, berauschende Träume,
Wecket den Frühling im Herzen Dir auch.
Bald zu den Lippen wirst Du sie heben,
Rosen zu Rosen – blühende Zeit! –
Aber noch zagst Du mit innerem Beben –
Ahnst Du die Dornen? Ahnst Du das Leid?
Ernst Scherenberg.
[462] nichts Einladendes; es schien zwar durchaus bewohnt, aber die Fenster hatten ein kahles Aussehen und entbehrten in ihrer Mehrzahl selbst der Vorhänge. Das kleine Haus daneben war alt und sah fast ärmlich aus. Es hatte in der Front nur drei Fenster, und der Eingang war zur Seite vom Hofe aus. Aber durch die Fenster des zweiten Stockwerkes leuchteten blüthenweiße Gardinen, und gerade in diesem zweiten Stockwerk waren, wie ein von Frauenhand geschriebener Zettel am Pfosten des Hofthores besagte, Zimmer zu vermiethen. Die blüthenweißen Gardinen schienen nur Gutes zu verkünden, und ich prüfte das Terrain. Gegenüber kein Haus, das mir seine dunklen Schatten in’s Fenster warf, keine Menschen, die mir mit Operngucker in die Stube sahen, sondern eine große, weite Wiese, deren Grün im Sommer nur angenehm sein konnte, wenn sich auf ihm voraussichtlich auch die ganze Kinderschaar der Häuser ringsum von früh bis Abend tummelte – dann die Nähe der Felder und über mir der weite, unbegrenzte Himmel mit der Sonne, an deren wonnevollem Lichtglanz ich mich den ganzen Tag erfreuen konnte; die Sonne, die Sonne – sie (ich bin immer ein heimlicher Anhänger des persischen Sonnendienstes gewesen) gab den Ausschlag, und halb vom Windstoß hineingeworfen, wie wenn er meinem Zaudern und Grübeln ein Ende machen wolle, betrat ich das Haus.
Die hölzerne Treppe war schmal, ausgetreten und etwas schmutzig. Die Thür der Wohnung im ersten Stock trug ein Messingschild, auf welchem ebenso schön wie einfach nur ein Name zu lesen war, der nichts weiter zu denken gab: „Huber“. Das etwas gebrechliche Geländer der Treppe war feucht anzugreifen, und das gefiel mir nicht. Was mich aber, als ich vor der Thür des zweiten Stockwerkes stand, wo die Zimmer zu vermiethen sein sollten, in ein äußerstes Erstaunen versetzte, war im Grunde eine Kleinigkeit, aber gerade hier und in diesem Hause, an diesem Orte erschien mir diese Kleinigkeit in hohem Grade bewundernswerth. Der lange, bequem in der Hand liegende Griff des Glockenzuges neben der Thür, die – wie ich gleich bemerken will – keinen Namen aufwies, war von äußerster Eleganz, war von schön geschliffenem grünem Glase und nahm sich, wie er aufleuchtend so hin und her schwankte, hier in dem halb ärmlichen oder doch höchst einfachen Hause so vornehm, so distinguirt aus, daß er gewiß geeignet war, durch seine Gegenwart meine bewundernde und staunende Aufmerksamkeit zu erregen.
Endlich wagte ich es auch, den schönen grünen Glasgriff zu berühren, und klingelte. Niemand öffnete. Ein zweiter und dritter Versuch blieb ebenso fruchtlos. Da beschloß ich, zu „Huber“ hinabzusteigen, ob man mir vielleicht dort die gewünschte Auskunft geben konnte. Der Klingelgriff neben dem Messingschild war nur von gemeinem Holze und einfach braun angestrichen. Eine hübsche, runde Frau erschien auf der Schwelle und fragte nach meinem Begehren.
„Die Wohnung oben ist durch mich zu vermiethen,“ sagte sie dann freundlich, „und Sie können sie sogleich ansehen.“
Dann holte sie den Schlüssel.
Als sie mir voraus die Treppe hinaufstieg, verlor sie auf einen Augenblick einen ihrer gestickten Hausschuhe. Ich sah, daß derselbe zwar bedenklich ausgetreten und in die Breite gelaufen war, aber der Strumpf zeigte dafür eine anerkennenswerthe und im Ganzen zufriedenstellende Weiße.
Das Vorzimmer der Wohnung war mit Spiegel, Kommode, Stühlen und rothen Vorhängen besser ausgestattet, als dies in der Regel bei Junggesellenwohnungen der Fall zu sein pflegt, die des Gewinnes halber vermiethet werden. Um die dunkelrothen Tapeten des Wohnzimmers, in das wir nunmehr traten, liefen oben am Gesimse und in den Ecken glänzende Goldleisten, die einen vornehmen Anstrich gaben. Zu beiden Seiten des Spiegels mit dem breiten, geschnitzten schwarzen Rahmen leuchteten zwei Gypsfiguren, von denen ich nicht mehr weiß, was sie vorstellten. Ein Vertikow und ein Schreibtisch zur Seite waren gleichfalls von schwarz polirtem Holze und mit ihren zierlichen Medaillons und Arabesken im anmuthigen Stil Ludwig’s des Fünfzehnten gehalten. Es fehlte nur ein reicher, bunter Teppich am Boden, um dem Gemach mit seinem schwellenden, mit blauem Seidenstoff überzogenen Sopha und mit seinen weitem bequemen Fauteuils das Gepräge vollkommenster Eleganz zu geben.
Frau Huber pries mir dieselbe auch gehörig an, aber schon war mein Interesse an der Wohnung bedeutend gesunken; denn indem ich ihren voraussichtlichen Preis im Stillen überschlug, fand ich, daß derselbe den Betrag, den ich für meine Wohnung ausgeben wollte, jedenfalls bedeutend übersteigen werde.
Von der blauen sternübersäten Tapete des daranstoßenden Schlafzimmers hob sich ein riesiges Himmelbett so verführerisch ab, daß ich einen Augenblick auf der Schwelle schüchtern stehen blieb, weil ich meinte, es müsse sofort eine schmale, weiße Hand die schweren Vorhangfalten zurückschieben und ein übermüthiger schwarzer Lockenkopf oder eine gretchenhafte Blondine mit schmachtenden hellblauen Augen daraus hervorschauen, um den Grund so unliebsamer Störung zu erfahren. Aber der Vorhang blieb unbewegt, und Nichts rührte sich. Dieses schöne, reiche, wunderbare Bett war wirklich leer, und diese merkwürdige Frau Huber neben mir war sogar bereit, es an mich zu vermiethen.
Eine kleine Kammer, deren Fenster in den Hof hinaus gingen, bot nichts Bemerkenswerthes; die Küche, welche mir Frau Huber gleichfalls zeigen zu müssen glaubte, war kahl und entbehrte jedes Geschirres und Geräthes.
Wir waren in das Wohnzimmer zurückgekehrt, und während ich noch einmal dessen Einrichtung zu prüfen schien, überlegte ich vielmehr, wie es mir am besten gelingen werde, einen anständigen Rückzug anzutreten und mich ohne weitere Beschämung aus diesen Prunkzimmern wieder auf die Straße zu versetzen. Aber den Preis hätte ich doch gerne gewußt. Ich sah Frau Huber fragend an; Frau Huber, die offenbar nichts weiter zu bemerken hatte, sah mich ebenfalls fragend an, und wer weiß, wie lange dieses zwecklose Fragespiel noch gedauert hätte, wenn die praktische Frau nicht endlich kurzweg auf den Kernpunkt der Sache losgegangen wäre und zuletzt aus eigenem Antrieb den Preis genannt hätte.
Ich erstaunte. Die Wohnung war viel, viel billiger als diejenige, die ich bisher inne gehabt hatte und die sich doch an Glanz und Bequemlichkeit mit dieser nicht im Geringsten vergleichen ließ. Aber ich glaubte mir meine Ueberraschung nicht merken lassen zu dürfen.
„Hm,“ sagte ich trocken, „das ist nicht zu teuer.“
Frau Huber war indessen auch nicht auf den Kopf gefallen.
„Nicht zu teuer?“ rief sie lachend. „Mein lieber Herr, Sie bekommen die Wohnung so gut wie geschenkt.“
Das war in der That wahr gesprochen und hätte mich zu weiteren Fragen veranlassen sollen. Aber wozu? Warum? Was ging mich der Grund an, aus welchem Frau Huber ihre schöne Wohnung so billig vermiethete? Sie mußte doch am besten wissen, wie viel sie in ihren Verhältnissen fordern müsse, und wenn sie mich für so geringen Preis in ihren Staatsgemächern hausen ließ, so war das ja ganz und gar ihre Sache, und nicht die meine. Wir besprachen noch einige nebensächliche Punkte. Wenn ich ihrer Dienste bedürftig sei, so solle ich mit einem Stock oder mit dem Stuhl auf den Boden des Wohnzimmers klopfen, da sie unter mir wohne, und die Stiefel sollte ich alle Abende in das Vorzimmer setzen. Ich hatte dagegen nichts einzuwenden, und schon in der Abendstunde des folgenden Tages zog ich ein.
Frau Huber hatte mich feierlichst in meine neuen Wohnungsräume eingeführt, Dann ließ sie mich allein, mit dem Wunsche, daß ich mir’s bequem machen möge. Aber ich nahm nur aus meinem Handkoffer das Dringendste, was ich für den Abend nöthig hatte; dann begnügte ich mich, in dem Wohnzimmer auf- und abzugehen, das jetzt von einem gastlichen Feuer durchwärmt war, und mich, bald Dies, bald Jenes betrachtend, jener inneren Behaglichkeit hinzugeben, welche uns überkommt, wenn wir unsere Freude und unser Gefallen am Schönen mit einem gewissen Luxus auch auf unsere nächste Umgebung, auf die Räume, die wir bewohnen, auszudehnen vermögen. Aber seltsam erschien es mir doch immer wieder, daß ich so plötzlich und im Handumdrehen in einen Glanz versetzt worden war, den ich bei den bescheidenen Ansprüchen, welche ich an’s Leben zu machen gewöhnt war, als durchaus neu bezeichnen mußte, wenn er mir auch keineswegs mißfiel und mir im Gegentheil rasch genug ein solches Selbstgefühl gab, daß ich mich, obgleich ich doch allein war, ganz unversehens in die Brust warf und im Zimmer wie ein Graf herumspazierte, der sein Lebelang keine andere Umgebung gehabt hat.
Da kam mir plötzlich ein Gedanke. Ich zündete eine der Kerzen an, die auf dem Vertikow standen, und verschloß sorgfältig die Wohnung. Dann durchstöberte ich hastig und mit aller [463] Sorgfalt alle Räume, alle Ecken, alle Schränke, alle Kasten. Ich fuhr mit meinem fackelnden Lichte hinauf und hinunter, die Kreuz und die Quere – was ich suchte, wußte ich selber nicht, vielleicht nur einen kleinen, kleinen Handschuh, der in der Eile des Ausziehens vergessen worden war, vielleicht irgend etwas Anderes, was mir einen Schlüssel zu dem Geheimniß geben konnte, das ich mir nun einmal in den Kopf gesetzt hatte. Aber ich fand Nichts, gar Nichts, und das Einzige, was mir allerdings in hohem und höchstem Grade bemerkenswerth erschien, war ein süßer, feiner Duft, der die Kästen und Schränke erfüllte, und der mir aus ihnen, wenn ich sie öffnete, entgegenströmte, wie Patchouli oder Jockeyclub. Den obersten Kasten des Schreibtisches vermochte ich trotz aller Anstrengung nicht zu öffnen; der Schlüssel versagte, und ich ließ ihn endlich ärgerlich im Schlosse stecken.
In diesem Augenblick klingelte Frau Huber und ich öffnete. Sie stellte eine prachtvolle Porcellanlampe von riesigem Umfange auf den Tisch, die auf der einen Seite Raphael’s Galatea aus der Farnesina zeigte, auf der andern Joseph und Potiphar’s Weib von Biliverti im Palazzo Barberini zu Rom. Ich fragte Frau Huber, ob sie mir eine Tasse Thee brauen könne, da mein sämmtliches junggesellenhaftes Koch- und Küchengerät noch verpackt sei, und schon nach wenigen Minuten strömte der süße Duft des dampfenden Thees durch mein Zimmer – das Service aber, welches mir Frau Huber für immer zur Verfügung stellte, war köstliches Porcellan mit wundervollen blauen Blumen. An der unteren Bodenfläche der Tasse und des Sahnentopfes, die ich controllirte, sobald meine Wirtin das Zimmer verlassen, waren als Fabrikzeichen zwei sich kreuzende Schwerter zu sehen – das Porcellan stammte wirklich und wahrhaftig aus Meißen.
Aber schon überraschte mich Nichts mehr. Das mochte nun gehen, wie es wollte, und wenn morgen früh ein Kammerdiener in schwarzem Frack und mit weißer Halsbinde hereinkam, um mich unterthänigst anzukleiden, so waren mir seine Dienste gerade gut genug, und er mochte nur sehen, wie er mit mir zurecht kam. Für jetzt brannte ich mir, vollkommen zufrieden mit dem Lauf der Dinge, eine Cigarre an, fuhr mit der brennenden Spitze derselben prüfend ein paar Mal dicht unter der Nase herum, beschloß mir morgen eine bessere zu kaufen, die dieser Räume würdiger wäre, und streckte mich dann mit solchem Behagen auf dem blauseidenen Sopha aus, daß dieses in allen seinen Fugen krachte und bis ist sein Innerstes erbebte. Es war vermuthlich bis jetzt an leichtere und anmuthigere Lasten gewöhnt. Ich konnte mir das nun einmal nicht anders denken, und dann, woher sollte denn dieser verwünschte Patchouliduft in allen Kisten und Kasten kommen?
Draußen schlug der warme Frühlingswind noch immer stürmisch an die Fenster. Ich weiß nicht, wie lange ich so lag und welcher Roman mir durch den Kopf ging. Zuletzt mag ich müde geworden sein oder die gute Frau Huber hatte es mit dem Feuer im Ofen gar zu gut gemeint. Kurz, es war schon spät geworden; die Cigarre fiel mir aus der Hand, und ich schlief ein. Da –
Da plötzlich sprang – vielleicht vom Sturmeswehen –
Die Thüre auf, und auf der Schwelle stand
Ein Weib so schön, wie ich noch nie gesehen,
In weißem, lang hinschleppendem Gewand.
Mit großem Auge, um den Mund ein Flehen
So leidvoll, daß ihm Niemand widerstand,
Und königlich floß auf die zarten Glieder
Die schwarze Lockenfluth gelöst hernieder.
Sie ging nicht, nein, die Holde schien zu schweben,
Als geisterhaft sie durch das Zimmer glitt;
Sie sah umher, ein klagevolles Heben
Der schönen Arme sagte, was sie litt;
Doch ganz im Fieber schien ihr Leib zu beben,
Als wankend sie zuletzt nach vorne schritt
und nach dem Schreibtisch streckte ihre Hand,
Der, kaum berührt, schon offen vor ihr stand.
Dann hob sie langsam aus dem schwarzen Schreine
Von Marmor einen Kopf, der ganz ihr glich:
„Da bin ich nun und seh Dich an und weine;
Gebrochen sind wir beide, Du und ich.
Wie war es schön im goldnen Sonnenscheine,
Das Haus bekränzt, bekränzt für Dich und mich –
Nun braust vom Himmel der Vernichtung Wetter,
Zerreißt die Kränze und verweht die Blätter.
So sink’ auch ich, vernichtet und betrogen
Vom eignen Trotz, vom eignen wilden Blut;
In mein Verderben hab’ ich Dich gezogen,
Du schönes Bild, und war Dir doch so gut.
Doch sieh, auch mich verschlingt des Sturmes Wogen,
Bald weiß auch ich, wie sich’s im Tode ruht,
Wo Lieb’ und Haß auf ewig schweigen gehn –
Lebwohl, lebwohl auf Nimmerwiedersehn!“
Sie wandte sich, und stolz das Haupt gehoben
Ging sie dahin, wie zu Schaffot und Gruft;
Die mächt’ge Schleppe rauschte ihrer Roben,
Und durch die reine, leicht bewegte Luft
Schwamm, wie am Himmelsblau ein Wölkchen oben,
Von Jockeyclub und Patchouli ein Duft,
Bis sie am Schlafgemache strahlend stand,
In dessen Dunkel trat und dort verschwand.
Ein Windstoß, so gewaltig, wie er an das Ende einer jeden richtigen Gespenstergeschichte gehört, machte das Haus erbeben und schreckte mich jählings von meinem Lager. Hatte ich geträumt oder träumte ich noch? Blendete mich beim plötzlichen Erwachen das Licht der Lampe, oder war es wirklich die Schleppe eines weißen Kleides, die mir eben noch durch die Spalte der zum Schlafzimmer führenden Thür entgegen zu leuchten schien? War diese nur durch den Sturm aufgesprungen, oder war sie jetzt eben, während ich nur zu träumen wähnte, durch fremde Hand geöffnet worden?
Alle diese Fragen wirbelten mir durch den Kopf, und auf dessen Schädelfläche stiegen mir, so wenig furchtsam ich sonst auch bin, vor geheimem Grausen die Haare langsam zu Berge. Ich stürzte, die Lampe ergreifend, in das Zimmer – das Zimmer war leer, auch die Kammer, auch die Küche, auch der Vorsaal – die ganze Wohnung war leer. Mit einem Fluche, der meiner eigenen thörichten Gespensterseherei galt, stieß ich, in’s Wohnzimmer zurückgekehrt, die Lampe auf den Tisch, und ich wundere mich noch heute, daß ich mir, das abgeschmackte Abenteuer würdig zu beschließen, nicht mit einer kleinen Petroleumexplosion das Haus über dem Kopf angezündet habe.
Aber der Marmorkopf! Ich eilte zum Schreibtisch. Seltsam! Derselbe Kasten, den zu öffnen ich mich vor einer Stunde mit aller Anstrengung umsonst abgequält hatte, gab diesmal dem Drucke meiner Hand so leicht wie möglich nach, und wahrhaftig, aus seiner dunklen Ecke leuchtete mir der weiße Marmorkopf entgegen, still und geisterhaft, aber am Halse durch einen scharfen Bruch von der schönen Büste getrennt.
Die Furcht zwingt uns, kühn zu sein. Darum griff ich, obwohl mir das Herz heftig klopfte, mit fester Hand nach dem verhängnißvollen Marmor, und als ich die beide Stücke an das Licht gezogen, sah ich, daß ich eine vorzüglich gearbeitete Copie jener Klytiabüste in der Hand hielt, die, in Italien, dem Lande der Schönheit, ausgegraben, jetzt eine der ersten und bedeutendsten Zierden des Museums in London bildet. Aus dem geöffneten reichen Kelch der Sonnenblume steigt die wunderbar liebliche und anmuthvolle Büste jener Nymphe empor, die geliebt so zärtlich, verrathen so rachedürstig war und die, auf immer verlassen von dem Sonnengott, den gerade ihre grausame Rache an der Nebenbuhlerin bis in’s Herz getroffen, nun viele Tage lang, des Trankes und der Speise vergessen, ihr Auge zur leuchtenden Sonne gerichtet hielt, ihrem Laufe folgend vom Aufgang bis zum Niedergang, bis mitleidige Götter sie endlich in die Sonnenblume verwandelten, die noch heute sehnsüchtig zum Gott des Tages emporblickt und verlangend ihre Krone nach der Fülle seines ewigen Lichtes wendet.
Dieser Büste nun glich das Weib, das ich im Traume gesehen, auf’s Haar, in dem ganzen feinen und edlen Schnitt des jugendlichen Gesichtes, in dem wehmuthsvollen, klagenden Zug um den schönen Mund, in den feinen Wellenlinien des vollen und tief in die schmale Stirn reichenden Haares, in der wie vom tiefen Kummer leicht gesenkten Haltung des classischen Kopfes – Alles, Alles war so hold, so schön, so lieblich und zugleich so unendlich traurig, wie ich es schon in meinem Traumbild gesehen, und ich erschrak auf’s Neue.
Denn es war zweifellos: ich hatte geschlafen, fest geschlafen und mit geschlossenem Auge. Ich hatte geträumt. Hatte ich wahr geträumt? Hatte ich jenen eigenthümlichen Zustand des Schlafwachens an mir erfahren, in welchem wir die uns umgebende Wirklichkeit selbst träumen, in welchem wir die gegenwärtige [464] Wirklichkeit zu sehen vermögen und in welchem unser Schädel durchsichtig zu werden scheint, sodaß es nicht anders ist, als wenn die Außenwelt nunmehr, statt durch den Umweg und die enge Pforte der Sinne, geradezu und unmittelbar im Gehirn Eingang fände?
Aber was sollte das Ganze dann bedeuten? Ich hatte immer eine kleine Schwäche für den Aberglauben und habe mich oft genug auf ihm ertappt. Mir fielen die Faust’schen Worte ein:
„Es eignet sich; es zeigt sich an; es warnt.“
Es warnt? Befangen und seltsam beklommen legte ich endlich die geheimnißvolle Marmorbüste in den Kasten des Schreibtisches zurück, den ich sorgfältig verschloß. Den Schlüssel steckte ich zu mir. Dann suchte ich mich, langsam im Zimmer auf und abschreitend, zu beruhigen. Ich wollte, wie ich mir mahnend vorsagte, wieder Herr der Situation werden. Und es gelang mir, besser und rascher, als ich nur geglaubt hatte. Als es auf einem Thurm in der Nähe Mitternacht schlug, hatte ich meinen Humor schon völlig wiedergewonnen, und ich lachte laut auf über den Schnickschnack, den mir meine aufgeregten Sinne im Traume vorgespiegelt hatten. Es war Zeit schlafen zu gehen. Und wie, dachte ich dreist, als ich die Lampe gelöscht hatte und mit der brennenden Kerze in’s Schlafzimmer schritt, wie wäre es, wenn das schöne Gespenst, das im Schlafzimmer verschwunden und in der ganzen Wohnung nicht mehr zu finden gewesen war, nun gar von deinem Bette schon Beschlag genommen hätte? Das wäre eine heitere Verwickelung gewesen. Aber damit war es nichts. Mein Besitztitel auf das weiße Linnen und die seidene Decke blieb mir ungeschmälert. Da zog ich denn die schweren Vorhänge zu, und indem ich mich dem Schutze aller guten Geister noch einmal dringend anempfahl, genoß ich den festen und tiefen Schlaf der Jugend ganz als die große Panacee des Lebens.
Karl Friedrich Friccius. Am 25. Juni vollendete sich ein Jahrhundert seit der Geburt eines hervorragenden Kämpfers aus dem Jahre 1813. Karl Friedrich Friccius wurde am 28. Juni 1779 zu Stendal in der Altmark geboren. Im Herbste 1806, als nach der unglücklichen Schlacht von Jena Alles für Preußen verloren schien, machte er den Gedanken, daß jeder Waffenfähige die heilige Pflicht habe, dem bedrängten Vaterlande seinen Arm zur Vertheidigung darzubringen, zuerst zur That, indem er (ein damals unerhörter Fall) aus seiner Stellung als Obergerichtsassessor in das preußische Heer trat, in welchem ihm von seinem Könige die Stelle eines Lieutenants ertheilt wurde. So dürfen wir Friccius als den ersten preußischen Freiwilligen bezeichnen. Nach dem Frieden von Tilsit in seine Civilstellung zurückgetreten, verließ der nunmehrige Oberlandesgerichtsrath Friccius 1813, als König Friedrich Wilhelm der Dritte sein Volk zu den Waffen rief, von neuem sein Richteramt und trat dem soeben errichteten Königsberger Landwehrbataillon bei, zu dessen Major und Commandeur er ernannt wurde. Unter Friccius’ tüchtiger Führung machte das Bataillon die Schlachten von Groß-Beeren und Dennewitz in ruhmvoller Weise mit und nahm endlich auch am 18. und 19. October 1813 an der Völkerschlacht von Leipzig Theil und zwar durch die blutige und opferschwere Erstürmung des äußeren Grimmaischen Thores durch seine Landwehr. Dieser Heldenthat hat die „Gartenlaube“ zwei illustrirte Artikel gewidmet: im Jahrgang 1862, Seite 649 und im Jahrgang 1863, Seite 734, wo die Weihe des „Friccius-Denkmals“ in Leipzig als erhebendster Moment der großen Schlachtfeier geschildert worden ist.
Friccius wurde für diesen glorreichen Antheil an dem Siege der Völkerschlacht durch Verleihung des Eisernen Kreuzes erster Classe geehrt. Später Commandeur des neu errichteten ostfriesischen Landwehr-Regiments bewährte er sich besonders als Organisator. Der Wiederausbruch des Krieges im Jahre 1815 traf ihn in Ostfriesland; er nahm an der Spitze seines neuen Regiments wiederum thätigen Antheil am Kampfe, insbesondere an der für Preußen zwar unglücklichen, aber ruhmvollen Schlacht bei Ligny, in welcher er bei dem Sturm auf Ligny, nachdem er sein Pferd durch einen Kanonenschuß verloren, am Arme verwundet wurde.
Wie Friccius im Felde seine Schuldigkeit in vollem Maße gethan, so geschah dies auch demnächst im Frieden, nach dessen Abschluß er in seine Civillaufbahn zurücktrat als Richter und Chef des General-Auditoriats. Er starb am 7. November 1856.
Möge das Andenken dieses wahrhaft deutschen Mannes, welches durch das an der Stelle des äußeren Grimmaischen Thores in Leipzig errichtete Denkmal monumental geehrt wird, in Segen bleiben und als leuchtendes Beispiel das jüngere Geschlecht zu gleicher Treue und Mannhaftigkeit aneifern!
Nachtrag zu „Der Sperling und die öffentliche Meinung“. Herr C. Becker, Mädchenlehrer a. D. in Jüterbogk, gegen dessen Sperlingsfeindschaft der Verfasser des genannten Artikels (in Nr. 18 der „Gartenlaube“ S. 307), Dr. Karl Ruß, für den vielgeschmähten Proletarier der „gefiederten Welt“ eine Lanze einlegt, hat uns dargethan, daß Herr Dr. Ruß ihm Mancherlei in die Schuhe geschoben, von dem er sich frei weiß und mit dem er nicht im Auge der Oeffentlichkeit belastet sein möchte. Dr. Ruß findet es „bedauernswerth“, daß Herr Becker „zur völligen Ausrottung“ der Sperlinge auffordere, während dieser in einer Broschüre über die Feinde der Obstbäume und Gartenfrüchte, in einem Anhang über die Schädlichkeit der Sperlinge, ausdrücklich sagt, daß die Ausrottung derselben so unmöglich sei, wie die der Ratten und Mäuse – ohne einen „Rattenfänger von Hameln“, setzen wir hinzu. Er dringt nur, in allerdings feindseligerer Weise, als Dr. Ruß selbst, auf Verminderung derselben und erwähnt die von Letzterem aufgeführten Vertilgungsmittel nicht gerade mit directer Aufforderung zur Anwendung, sondern nur in Verbindung mit Beispielen bereits geübter Vertilgungsmaßregeln. Auch den Vorwurf des Aufwiegelns der Harzer Canarienvogelzüchter gegen die Sperlinge weist er zurück, wie denn jene Broschüre thatsächlich weder diese Aufforderung enthält, noch mit dem Ausruf schließt: „Die Vernichtung der Sperlinge ist eine Forderung der rationellen Landwirthschaft.“ Müssen wir somit nach Prüfung der kleinen Schrift, auf welche unser geschätzter Mitarbeiter seinen Angriff richtete, die Verwahrung des Herrn Becker für die angegebenen Fälle gerechtfertigt finden, so kann es uns im sachlichen Interesse nur erwünscht sein, wahrzunehmen, daß die beiden streitenden Theile in der letzten Beantwortung der Sperlingsfrage einig sind – ein schätzenswerther Fingerzeig, daß die gegebene Lösung wohl die richtige sein dürfte.
G. Sie schreiben uns: „Wenn es bei uns genau 12 Uhr Mittags 20. Februar (oder irgend ein anderer Tag) ist, so ist es genau zu derselbe Zeit
90 Grade weiter östlich 6 Uhr Abends 20. Februar,
180 Grade weiter östlich 12 Uhr Mitternacht 21. Februar,
270 Grade weiter östlich 6 Uhr Morgens 21. Februar,
360 Grade weiter östlich 12 Uhr Mittags 21. Februar
(wieder bei uns angelangt).
Es kann doch aber nicht zu gleicher Zeit 12 Uhr Mittags den 20. und auch den 21. Februar sein – an demselben Orte?
Geht man dagegen von uns aus nach Westen, so kommt das umgekehrte Verhältniß heraus; wir langen nämlich einen Tag früher, also im obigen Falle den 19. Februar, wieder bei uns an. Demnach wäre es zu gleicher Zeit Mittags den 19., 20. und 21. Februar oder irgend drei andere Tage. Wo fängt überhaupt jeder Tag von 24 Stunden an? Und auf welchem Orte wird jedes Datum zuletzt geschrieben?
Diese höchst interessanten Fragen scheinen in keiner Schule, auf keinem Gymnasium und sogar nicht einmal auf der Universität behandelt zu werden, müssen doch aber z. B. von Seeschulen oder Astronomen leicht zu beantworten sein. Jedenfalls kann man ruhig wetten, daß es Städte von 30,000, 40,000, 50,000 Einwohnern giebt, wo nicht Einer die obigen Fragen beantworten kann.“
Hierauf haben wir Ihnen Folgendes zu erwidern:
Wir glauben doch, daß Sie den meisten Realschulen und Gymnasien Unrecht thun, wenn Sie voraussetzen, daß die hier aufgeworfene Frage nirgends beim Unterricht in der physikalischen Geographie klar gestellt werde. In den Seeschulen wird der Gegenstand jedenfalls berücksichtigt; haben doch die Seefahrer auf ihren Fahrten um die Welt die Gewohnheit, jedes Mal, wenn sie den 180. Grad, von Greenwich gerechnet, überschreiten, entweder – nämlich wenn sie von Osten nach Westen fahren – einen Tag aus ihrem Kalender zu streichen, das heißt Wochentag und Datum zu überspringen, oder – im umgekehrten Falle – wie Josua aus zwei Tagen einen zu machen. Darauf, daß jenes Mitglied des Excentric Clubs, welches gewettet hatte, in 80 Tagen die Welt zu umsegeln, diesen Seemannskniff vergessen hatte, beruht jener hübsche Schlußeffect des Verne’schen Ausstattungsstückes, daß er die Wette verloren zu haben glaubt, weil er nicht aus zwei Tagen einen gemacht hat, und nun natürlich um einen Tag zu spät gekommen zu sein meint. Jedenfalls hat dieses Theaterstück das Verdienst, die Thatsache zum allgemeineren Bewußtsein gebracht zu haben, obwohl freilich manchem Zuschauer dadurch schweres Kopfzerbrechen entstanden sein mag.
Es ist einmal nicht anders; ebenso wenig wie wir auf der ganzen Erde überall gleichzeitig Tag und Nacht haben können, können wir überall zugleich Sonnabend oder Sonntag, Sylvester oder Neujahr haben. Praktisch Verwirrung angerichtet hat die Thatsache nur insofern im stillen Meer, als die einen Land- oder Inselbewohner dort unsere Zeitrechnung von Osten, die anderen von Westen her bekommen haben, wodurch die einen Sonnabend haben, wenn ihre westlichen Nachbarn schon Sonntag schreiben; es ist das der Fall auf der Linie, wo die aus den beiden verschiedenen Richtungen kommenden Missionäre auf einander getroffen sind. Sie folgt leider keineswegs einfach dem hundertachtzigsten Meridian, sondern läuft, wie so vieles, worin die Kirche entschieden hat, zum Erbarmen krumm, aus der Behringstraße längs der japanischen und chinesischen Küste südwestlich, um sich dann wieder über Neuguinea, Australien und Neuseeland östlich zurückzubiegen.
Näheres über den Gegenstand finden Sie Jahrg. 1872, Nr. 13 der „Gartenlaube“.
G. M. in R. Ist noch zu haben. Einzelne Nummern werden bei Franco-Einsendung von 40 Pfennig unter Kreuzband franco abgegeben.
H. Deli auf Sumatra. Für die Nordsee kennt die Geographie in der That noch den Namen „Deutsches Meer“.
Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig, – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
- ↑ Einiges über Witterungsangaben. Gemeinfaßlich dargelegt von Hermann Kopp. Mit 6 Tafeln. Braunschweig, Vieweg und Sohn, 1879.
- ↑ Uebrigens ist der große Kepler, obwohl er der Astrologie, die er die „närrische Tochter der Astronomie“ nennt, aus ökonomischen Gründen dienen mußte, doch zugleich als der Vater der wissenschaftlichen Klimatologie und Witterungskunde zu betrachten, wie dies in einem soeben erschienenen französischen Schriftchen (Essai sur la météorologie par M. H. Brocard. Grenoble 1879) überzeugend nachgewiesen wird.