Die sieben Worte Jesu am Kreuz/Das erste Wort Jesu am Kreuz

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« [[Die sieben Worte Jesu am Kreuz/|]] Hermann von Bezzel
Die sieben Worte Jesu am Kreuz
Das zweite Wort Jesu am Kreuz »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
Das erste Wort Jesu am Kreuz.
(18. Februar 1915.)
Luk. 23, 34. 
Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen;
denn sie wissen nicht, was sie tun!


Gemeinde des Herrn!
 Heute vor 369 Jahren, es ist auch ein Donnerstag gewesen, ist unser Vater in Christo, Martin Luther, aus dieser Zeitlichkeit abgefordert worden. Wir begehen das Andenken dieses apostolischen Mannes, indem wir uns die beiden letzten Worte kurz ins Gedächtnis zurückrufen, die er vor seinem Abschied geschrieben und gesprochen hat. Das eine Wort lautet: „Den Virgil in seinem Lehrgedicht „Bukolika“ kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Hirte gewesen. Den Virgil in seinem Lehrgedicht „Georgika“ kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Ackersmann gewesen. Den Cicero in seinen „Episteln“ kann niemand ganz verstehen, er habe denn 25 Jahre in einem großen Gemeinwesen sich bewegt. Die heilige Schrift meine niemand genugsam verschmeckt zu haben, er habe denn hundert Jahre lang mit Propheten wie Elia und Elisa, Johannes dem Täufer, Christus und den Aposteln die Gemeinden regiert. Du lege nicht die Hand an die göttliche Aeneis, sondern geh’ tief anbetend ihren Fußtapfen nach! Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Das war das letzte Wort, das aus seiner Feder geflossen ist: ein Bekenntnis seiner Armut und des Reichtums Jesu Christi. Und das Wort,| das seine Freunde nach seinem Tode sich wiederholt ins Gedächtnis riefen, weil er es zuerst erklärt und in seiner Todesstunde drei Mal vernehmlich gerufen hatte, ist das euch von Jugend auf bekannte: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab“ (Joh. 3, 16). Bei der Erklärung dieses Wortes sagt Luther: „Welcher Lakonismus, d. h. welche Kürze, mag dieser Kürze gleichkommen, die mit so wenigen Worten das Größte besagt“. „Die mit so wenigen Worten das Größte besagt“ – das wollen wir auch von jeder einzelnen Rede, die der scheidende Heiland vom Kreuze uns hinterlassen hat, uns vorhalten. Und je geringer unsere Größe ist gegenüber seiner unerfindbaren Liebe und seiner unübertrefflichen, reichen Art, desto andächtiger werden wir in diesen Wochen versuchen, in das Geheimnis seiner Passion und ihrer letzten Worte uns zu versenken.

 Wir stehen heute am Anfang einer Passionszeit, wie sie so ernst und trübe, so schwer und bedenksam für eins unter uns kaum schon gekommen ist. Und weil auf Erden der Trost so leicht versagt und weil der Ernst der Zeit so viel des Trostes bedarf, wollen wir mit besonderer Andacht unter sein Kreuz uns flüchten und vernehmen, was von demselben uns gesagt ist. Wir sprechen heute von drei ganz einfachen Dingen:

 Von dem Heimweh des Herrn laßt mich zuerst reden. Denn das ist die Bewegung im Herzen Jesu, die ihn uns am nächsten und uns ihm am nächsten bringt. Er hat auch das Weh der Fremde erduldet. Er ist umhergegangen und niemand verstand ihn, er hat seine Sprache gesprochen und niemand wollte sie teilen, seine Klagen gehabt und| niemand wollte sie kennen, seine Lasten getragen und niemand konnte sie ihm, ja niemand wollte sie ihm abnehmen und so ward ihm das Leben ernstlich schwer bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze. Über das Leben anderer Helden fällt manchmal der lichte Schein des Erfolges, über sein Leben ist das Weh des Mißerfolges hereingebrochen. Das Leben anderer Großer wird schließlich verklärt, daß man der Ängste nicht mehr gedenkt, sein Leben endet in Angst und unter Gottlosen und Übeltätern ist sein Sterben gewesen. Unverstanden, den Nächsten ein Rätsel, seiner Aufgabe stets eingedenk und ihrer Lösung scheinbar so ferne, erhebt unser Herr jetzt, da sie ihn ans Kreuz erhöhen, seine Stimme und das einzige Wort, das erste Wort, das er vom Kreuz über die Erde hinsendet, die ihm das Kreuz gebracht und in den Himmel emporschickt, der sein Kreuzesleid verursacht hat, heißt „Vater!“ Kein Vorwurf, warum ihn Gott so geführt hat, nicht einmal der Ausdruck des Schmerzes! Den hat er in Gethsemane gebeichtet und erlitten und überwunden. Nun ist sein Wille ganz mit dem des himmlischen Vaters zusammengeschlossen, nicht weil er mußte, sondern weil er wollte. Nun hat er sich ganz in die Wege seines Vaters ergeben, von Herzensgrund all die Sorge und die Not auf sich genommen, die ihn der Vater tragen hieß. Nun hat er das Elend der Welt alles auf sich gezogen und in sich hereingetragen und in sich überlegt. Und aus solch völliger Ergebenheit in des Vaters Wege und Führung spricht er, daß die Welt es hört und die Übeltäter darüber staunen und das Volk unter dem Kreuze sich verwundert: „Vater“.
.
 Wie wären sie jetzt ausgebrochen, wenn er mit Murren und Klagen, mit Streit und Not, mit Widerrede und Widerspruch ans Kreuz sich hätte erhöhen lassen! Wie wäre es ein Triumph des Feindes und Versuchers geworden,| wenn er, eingedenk seines Angebotes auf Tempelzinnen und Bergeshöhen, jetzt bereut hätte, diesen einsamen Weg erwählt zu haben! Aber das ist eben die göttliche Größe des Herrn und seines heiligen Gehorsams, daß er in allem Leid, auch in dem schwerst zu erduldenden und härtest zu tragenden Leid, sagen darf: „Vater“. Nicht mehr sieht er die Härte des Weges, nicht mehr gedenkt er der Einsamkeit des Leidens: nun hebt die Sonne an über sein Kreuz zu scheinen. Es wird der Spott unter seinem Kreuz lebendig, zur Rechten der Feind, zur Linken der Gegner und ringsum all die Torheit der Welt; er aber bleibt gelassen und getrost: „Vater!“ Liegt nicht in diesem Worte die erquickliche Rechenschaft, die der Sohn dem Vater ablegt: „Nun habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf, was fehlt mir noch?“ Liegt nicht in diesem schlichten Worte die Gewißheit, daß niemand und nichts ihn von der Liebe Gottes scheiden kann, weil er des Vaters lieber und getreuer Knecht ist? Und wer mag es ihm wehren, daß über der Wirklichkeit der Dinge und über den Schrecken des Leidens und über dem Ernst des Abschieds seine Seele sich emporhebt und dem Heimweh das eine Wort verleiht als Ausdruck alles dessen, was ihn jetzt bewegt: „Vater“. Nun tut sich ihm die Herrlichkeit auf, die er um deinet- und meinetwillen verlassen hatte. Es begrüßen ihn all die Getreuen, die ihn bis zur Erde begleitet und dann Abschied von ihm hatten nehmen müssen. Es geht durch seine Seele das Einst des Friedens und das Jetzt des Streites, das Einst der Seligkeit und das Jetzt der Hölle, das Einst der völligen Sättigung und Einheit im Vater und das Jetzt der einsam verschmachtenden Seele. „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser – meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe“ (Ps. 22, 15. 16). „Vater!“ Kein Protest: warum hast du mir das getan? Kein| Gegenspruch: hast du nicht einen Segen für mich? Sondern indem er dem tiefsten Leide und dem größten Schmerze stille hält, weiß er: Heimweh ist Kraft, Heimweh ist Gabe, Heimweh ist nicht des Kindes Schwachheit, sondern des Mannes Zierde, Heimweh macht nicht zum Kampfe untüchtig, sondern stählt und stärkt zu dem großen Streit, der ihm verordnet ist. Heimweh ist nicht Illusion, die eine Heimat sich ausmalt, die man weder hat noch haben kann, ist nicht die verschönende Kraft der Unwahrheit, die ein Mensch in seiner irrenden Phantasie hat, sondern Heimweh ist die Gewißheit: „Denn wo du bist, da komm ich hin, daß ich stets bei dir leb und bin; drum fahr ich hin mit Freuden.“

 Preist den Herrn für dieses starke, im Leiden bewährte, durchs Leiden verklärte Heimatverlangen! Dankt ihm dafür, daß er uns gezeigt hat, wie man in den Widrigkeiten des Lebens, in den schwersten Stunden des Tages, in der Angst und Not des Scheidens nicht sich etwas vorstellen muß, sondern nur an eine gegebene Größe glauben darf! Es ist nicht an dem, mein Christ, daß du einen Trost dir erst ersinnen müßtest, sondern an dem ist es – Lob sei dem Herrn dafür, daß dieser Trost bereitet ist –: „Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten“ (Joh. 14, 2). So sei auch das Heimweh nicht ein kindisches Spielen mit Möglichkeiten, nicht ein eilfertiges Denken an Wahrscheinlichkeiten, sondern die Ruhe deiner Seele ist die Wirklichkeit dessen, was Christus dir erwarb, die Befriedigung deines Herzens mit dem, was zu erwerben und dir zuzusichern er gekommen ist.

 Heimweh! Und – Erdenweh! Das ist das Zweite, wovon ich reden will. Unser Heiland hat eben erst über seine Stadt geweint. Er, der für sich und um sich nie die Träne kannte, hat sie geweint, wenn es um andere galt.| Er, der nie für sich die Wehmut und den Schmerz zu Gehilfen, daß sie sein Leben erleichtern möchten, herbeirief, hat den Schmerz und die Träne gefordert, wenn er an dich und an mich dachte. So steht er weinend vor den Toren Jerusalems und jede Träne ist die Tat des Mannes, der um diese Stadt gerungen, um ihr Herz gekämpft, um ihre Liebe geworben hat und schließlich seine Hände müde senkend spricht: „Ihr habt nicht gewollt“ (Matth. 23, 37). Jede Träne Jesu Christi, die er in Verborgenheit – nur sein Vater ist des Zeuge im heiligen Geiste – um dein und mein Leben, ehe es in Erscheinung getreten war, schon vergossen hat, ist nicht das schmerzliche Weh der Enttäuschung, sondern das Leid um dich und mich. Wie weit könntest du jetzt sein und wie ferne bist du noch! Wie viel könnte er an dir erreicht haben und wie wenig ist auf deinem Herzensacker gewachsen! Wie viel hat er an dich gewendet und der Ertrag seiner Treue ist deren Leugnung! Darum weint er.
.
 Dann hat er, als die Töchter Jerusalems über ihn weinten, ihnen gewehrt. Jesu Tränen und der Menschen Tränen gehören nicht zusammen. Menschen weinen, daß sie nicht das geworden sind, was sie werden wollten. Jesus weint darüber, daß er nicht erreichte, was er erreichen sollte. Menschen weinen, indem sie im tiefsten Grund sich selbst betrauern, die Schwere ihrer Führung, die Härte ihrer Fügung, die Unbill ihres Lebens. Jesus weint, weil er umsonst – nicht an sich hat arbeiten lassen, sondern an uns gearbeitet hat. „Ihr Töchter von Jerusalem“, hat er gerufen, „weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst“ (Luk. 23, 28). Es werden Tage heraufsteigen, an denen man Bergeslasten lieber trüge, als den Anblick des trauernden Heilandes. Es werden Jahre in das Leben manches Menschen kommen, die sich dann zu Ewigkeiten| ausweiten, ja wohl die Ewigkeit selbst sind, in denen ein Wort Jesu, ein Blick aus seinem heiligen Auge, eine Träne in diesem Auge furchtbarer zu ertragen ist als Bergeslast und Felsenschwere und Steingruft – dann wenn er einmal sprechen wird: Ich habe dich gesucht und du hast dich nicht finden lassen, ich habe dich gerufen und du hast nicht gehört, den ganzen Tag habe ich meine Hände nach dir ausgestreckt und du hast den ganzen Tag darüber gesonnen, wie du ihnen entrännest.

 Und obwohl der Herr eben über Jerusalem geweint und über die Bergeslast, die einmal den Vorzug erhalten soll, geklagt hat, hat er sein Erdenweh so barmherzig in die Worte gefaßt: „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Zwar, daß Pilatus nicht wußte, was er tat, das glauben wir alle. „Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet“ (Joh. 18, 35). Was weiß er von der Hoffnung Israels und von seinem Heilande! Und daß des Pilatus Weib es nicht gewußt hat, das glauben wir auch. Sie hat im Traum sich geängstet und hat aus der Angst heraus ihren Mann beschworen, aber Jesum kannte sie nicht. Und daß die Kriegsknechte, die unter dem Kreuze die Würfel um sein Gewand warfen und seine Kleider unter sich teilten, stumpf wie sie waren, nicht wußten, daß zu ihren Häupten der Welt Heiland erhöht wurde, daß diese armen römischen Legionäre keine Ahnung und nicht den geringsten Begriff hatten, unter wessen Kreuz sie stünden und an wessen Tod sie die Schuld trügen, das glauben wir alle. Und daß das Volk, das nichts vom Gesetz wußte, eben sein „Hosianna“ hat verstummen lassen und sein „Kreuzige“ gerufen hat, weil es eben beweglich ist, wie die Wellen des Meeres, unbeständig in all seinem Wollen, daß dieses Volk es auch nicht gewußt hat, was es tat, will uns auch zu Sinne gehen.

|  Aber daß Kaiphas, der das Gesetz kannte, daß die Jünger, die Jesum so lange bei sich gehabt und dann verlassen hatten, daß Petrus, der vom Herrn zum Felsengrund ernannt worden war und ihn verleugnet hat, daß vollends Judas, der vom Herrn erworben war und ihn verraten hat, nicht wissen sollen, was sie tun, das leuchtet uns nicht ein. Aber er sagt es. Und das ist das große Erdenweh des Herrn, daß er keine andere Entschuldigung hat als die trauervolle: „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Es ist die Entschuldigung mit der Stumpfheit des natürlichen Menschen, eine Entschuldigung, die im Munde des hochgelobten Heilandes wie ein Gruß bitteren Erbarmens mit der Macht der Sünde und mit der Gewalt der Finsternis sich ausnimmt.

 Seht, so hat er sich ins Erdenweh und in das Leid der uns blendenden Sünde und in den Schrecken der uns bannenden Alltäglichkeit hineinempfunden, daß er am Kreuzesstamm, da er sich anschickt, die Welt zu erlösen, von der Unwissenheit und ihrer schreckhaften Gewalt redet: „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Es ist die Stumpfheit der einen und die Trägheit der anderen und die Schläfrigkeit der Jünger und die Gewöhnung an das Große, das durch die Gewöhnung gemein wird. „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Die einen sind zu lange in die Tiefe gegangen, als daß sie die Höhe verstünden, und die anderen hatten zu lange auf den Höhen geweilt, als daß sie die Tiefen noch begriffen; die einen sind zu lange unter dem Gewölke der Finsternis gestanden, als daß sie ihr sich noch entnehmen könnten, und die anderen sind so lange unter dem Einfluß des Lichtes gewesen, daß sie dasselbe nicht mehr nach Würde und Gebühr schätzen.

 „Sie wissen nicht, was sie tun“ – das ist das Erdenweh des Herrn. So viel hat er erreicht, daß der Aufenthalt| im Dunkeln und der Aufenthalt im Licht dasselbe Ergebnis zeigt. Das hat er erlangt durch eine Seelsorge ohnegleichen, durch eine Fürbitte ohne Maßen, durch ein Vorbild ohne Ende, daß Jünger und Feinde, Stumpfe und Anhänger, Getreue und Lästerer sich an einem Punkte begegneten und einander die Hände reichten und einander verstanden: Wir wissen nicht, was wir tun.
.
 Aber dieses Erdenweh des Herrn mit seiner jämmerlichen Entschuldigung, mit der allertrostlosesten Erbarmung ist zugleich ein furchtbares Endurteil. „Ihr wißt“, sagt Paulus in der Apostelgeschichte, „Gott hat die Zeit der Unwissenheit übersehen; nun aber gebeut er allen Menschen an allen Enden, Buße zu tun“ (Apost.-Gesch. 17, 30). Wir können uns einmal mit der Unwissenheit nicht entschuldigen, wenn er uns verwirft. Wenn wir Jesum verachten, unter seinem Kreuze teilnahmslos stehen, seine Passion wieder einmal verträumen, mit der Welt leben, als gäbe es keinen Weltheiland, für uns selbst leben, als gäbe es kein Lebensgut und kein Lebensziel, dann dürfen wir nicht sagen: wir haben nicht gewußt, was wir tun. Denn wir wissen es. O, daß wir das aus Jesu Worten hören möchten: Unwissenheit entschuldigt, Wissen klagt an! Unwissenheit entschuldigt auch noch den Verräter, den, von dem der Herr gesagt hat, ihm wäre besser, er wäre nie geboren. Aber Wissen um Jesum haben, wie ihr es seit eurer Jugend habt, wie es euch gepredigt und in der Kinderlehre dargelegt wurde, wie ihr es aus Büchern lest, wie ihr es im Buch eures Herzens geschrieben sehen könnt, solches Wissen um Jesum haben und ihn dann verlassen, das ist die größte Beschuldigung. „Wem wenig gegeben ist“ – das gilt noch bei diesen Kreuzesworten, auch noch für seine armen Jünger, denn sie haben den verklärten Herrn noch nicht gesehen – „von| dem wird man wenig fordern.“ „Wem aber viel gegeben ist“ – und euch ist eine 1900jährige Geschichte des Sieges und der Ehre des Kreuzes Christi gegeben – „wem viel gegeben ist, von dem wird man auch viel fordern“ (Luk. 12, 48). Ihr habt die Beispiele eines in Christo seligen Lebens, ihr habt die hohen Apostel, die Chöre der Heiligen, die Wolke der Zeugen, ihr habt euren ehrwürdigen Vater, Martin Luther, diesen größten Knecht Gottes seit der Apostel Zeiten. Wenn ihr nicht wollt, so habt ihr nicht dies Entschuldigung des Nichtwissens, sondern die Beschuldigung des wirklichen und wissentlichen Widerstrebens.

 Jesu Erdenweh ist also einmal ein entschuldigendes: „Sie wissen nicht, was sie tun“, und zum anderen ein beschuldigendes Moment: Aber wenn sie es wissen, was dann? –

 Jesu himmlische Gabe an die arme Erde, das ist das Dritte, wovon noch zu reden ist. Jeder Sterbende hat in Mienen, wenn ihm die Sprache versagt, hat in Zeichen, wenn das Wort sich ihm entzieht, eine Bitte an seine Umgebung. Jeder Sterbende denkt – und das ist nicht sündlich, sondern natürlich und natürlich zu sein, haben auch die Sterbenden die Pflicht – zunächst an sich. Hier stirbt Er. „Die Liebe suchet nicht das Ihre“ (1. Kor. 13, 5). Er sagt nicht: Lehre sie tun nach meinem Wohlgefallen. Er sagt nicht: Verkläre dich nun in mir, daß sie mich kennen. Er wünscht nicht ein Zeichen vom Himmel, daß die Unwissenden plötzlich weise und die Unguten plötzlich fromm und die Verräter und Verleugner mit einem Male Bekenner werden; das alles begehrt er nicht. Er hat nur ein Gebet, in das er alle Unwissenden und alle Toren, alle Armen und alle in Herzensnöten, alle Verlorenen und Verirrten, in das er schließlich noch einmal die ganze Welt hineinbezieht. Und die Bitte lautet: „Vergib!“| Erlaß! Größeres hat der Hohepriester nie beten wollen, Höheres wird er nie beten können; denn wenn er einmal Höheres verlangt, ist er nicht mehr der bittende Priester, sondern der fordernde König. So lange er aber im Priestergewande an seine Gemeinde denkt und so lange er am Kreuzesstamme erhöht an die Armut der Welt sich erinnert, betet er: „Vergib!“ und nicht einmal: vergib was sie getan haben, sondern, was sie tun.

 Noch ist er nicht gekreuzigt, noch sind seine Hände und Füße nicht durchgraben, noch hat der Hohn nicht sein Haupt erreicht und der Spott derer, die seinen Namen schalten, ihn noch nicht getroffen. Aber seine Fürbitte geht ins Vergangene, rankt sich um die Gegenwart und nimmt auch das Kommende in ihren Schutz.

 Die Fürbitte wendet sich ans Vergangene. Ach, sie hätten wohl wissen können und haben nicht gelernt, sie hätten erfahren mögen und haben es nicht versucht. Ein Leben bei Jesu verträumt ist eine schwere Schuld, aber doch nicht so schwer, daß sie nicht in die Vergebungsgnade einbezogen werden könnte.

 Und er betet für alles, was geschieht; seine Fürbitte umrankt die Gegenwart. Jetzt richten sie das Kreuz empor, jetzt ziehen sie ihn zum Kreuz hinan, jetzt schlagen sie neben ihm die zwei Uebeltäter ans Kreuz: „Vergib ihnen, was sie tun!“

 Und der Blick geht hinaus in die kommende Zeit, wo sie unter dem Kreuz höhnen und spotten und ihn dann allein lassen werden, wo sie zweifeln, ob er erstanden ist, wo sie ihre Hoffnung begraben am Grabe ihres Herrn. Denn auch die Zukunft umfaßt die Fürbitte Jesu: „Vergib!“ So gewiß wir uns aus seiner hohepriesterlichen Bitte kein Ruhekissen machen wollen, als ob wir durch die Fürbitte die Stunde der Gnade verschlafen dürften, und so| wenig wir aus dem ersten Kreuzeswort uns ein Angeld nehmen dürfen, als ob wir unser Leben einrichten könnten nach unserem Belieben, die Fürbitte Jesu gehe uns auch in die fernste Entlegenheit von ihm nach, so gewiß dürfen wir einander in dieser Abendstunde mit dem Gruß dieses seligen Wortes und Trostes der Christengewißheit begrüßen, stärken und ermuntern: Jesus betet für uns: „Vergib!“ Alles, was wir gegen ihn getan haben in Gedanken, Worten und Werken und was uns leider ist als wir’s nur sagen können und mögen, und alles, was wir tun in Säumigkeit und Träumerei, und alles, was wir, bis man uns hinausträgt, noch fehlen werden und versäumen, vergessen und bewahren, an Gutem ablegen und im Bösen zunehmen – all das befehlen wir ihm nach dem Troste, dem seligsten, den er vom Himmel auf die Erde gesandt hat: „Vergib!“

 Und indem er so betet, schickt er sich an, damit der Vater des Vergebens froh werden könnte und die Schuld erlassen möge, sie selbst zu zahlen.

 Er heiligt sich selbst für seine Gemeinde, er gibt sein Leben zum Lösegeld für viele. Der Vater fordert von uns allen die Gabe, die er uns vertraute: Gib mir, was mein ist und meine Güter. Und wir haben das Gut verpraßt und haben es keine Zinsen tragen lassen. Da tritt der Sohn für uns ein und bezahlt „nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben“[WS 1], bezahlt, was ich hätte zahlen sollen und kann es doch nimmermehr. Und der Vater fordert mich an: Warum hast du mir das getan? und zeigt mir neben der Menge meiner Versäumnisse und Unterlassungen die Menge der wider mich redenden Taten. Und ich kann mich nicht entschuldigen und ich sehe mich um| nach einem, der für mich eintrete und vor den Riß trete und mich entlasten möchte.

 Und für all das, was ich begangen habe, für das ganze schweigende Meer der Sünden, das in der Todesstunde plötzlich Worte bekommt und zu reden anhebt, tritt er ein und will, was ich getan habe, büßen und alles, was ich begangen habe, an seiner heiligen Persönlichkeit zahlen, auf daß ich wüßte: vergeben heißt nicht verzeihen, vergeben heißt erlassen auf Grund einer Gabe. Er hat die Gabe in ihm selbst dargebracht, da er „unsere Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz“ (1. Petr. 2, 24), er hat die Bitte: „Vergib!“ durch sein ewig teueres Verdienst erhörbar gemacht und hat Leben und volles Genüge einer armen Gemeinde geschenkt. „Denn, wo Vergebung der Sünden ist, da ist auch Leben und Seligkeit.“[WS 2]

 Heute vor 369 Jahren haben etliche arme Männer sich um das Totenbett Martin Luthers gestellt und das Wort aus dem Munde Melanchthons war ihr gemeinsames Bekenntnis: Wir sind wie Waisen, die ihren Vater verloren haben. Wir wollen jetzt nicht mehr von Verwaistheit und Verlust reden, aber dafür wollen wir das Andenken unseres geistlichen Vaters in Zeit und Ewigkeit segnen, daß er uns so klar auf Jesu Verdienst hinwies. Ist es doch das Einzige, das im Leben stärken, im Leiden trösten und im Sterben erretten kann: das Kreuz Jesu Christi, unseres einigen und ewigen Erbarmers.

 „So oft ich bete“, sagt Luther einmal, „so tritt mir der Mann am Kreuz vor Augen.“[WS 3] Gegenüber einer die Gemeinde um ihr seligstes und sonderlichstes Gut betrügenden Theologie, die nicht mehr das Kreuz in den Mittelpunkt des ganzen Lebens stellen will, rufe ich euch zu: Im| Kreuze allein und in des Gekreuzigten heiligem Verdienste allein ruht unser Leben und dessen Gewißheit!

 „Vater“ – der Gruß des Heimwehs! Der Vater hat ihn verstanden und seinen Sohn heimgeholt und in einer Kürze ihn errettet.

 „Sie wissen nicht, was sie tun“ – viel Armut des Nochnichtkönnens, viel Dürftigkeit des Nimmerkönnens, viel Ohnmacht des Unvermögens! Der Vater hört die Entschuldigung; denn sie kommt ja nicht von den Lippen des Schwächlings, sondern aus dem Munde des Menschensohnes.

 „Vergib!“ – weil ich für sie bete, für ihr Leiden, um ihr Sterben. Der Vater hat dies Gebet erhört; denn in Jesu Leiden und Sterben ruht das Geheimnis meiner Rechtfertigung aus Gnaden.

 Und weil es heute der Todestag Luthers ist und weil es aus freundlicher Fügung gerade ein Donnerstag ist, an dem er geschieden, so beten wir mit einem seiner treuesten Schüler:

In Christi Wunden schlaf ich ein,
Die machen mich von Sünden rein,
Ja Christi Blut und Gerechtigkeit,
Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid.[WS 4]
 Amen.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Martin Luther im Kleinen Katechismus zum 2. Artikel des Glaubensbekenntnisses (BSLK 511,27–33). Vgl. 1. Petr. 1, 18–19.
  2. Martin Luther im Kleinen Katechismus zum Abendmahl (BSLK 520, 29–30).
  3. Zitat mittels Google nicht zu verifizieren.
  4. Paul Eber (1511–1569).
« [[Die sieben Worte Jesu am Kreuz/|]] Hermann von Bezzel
Die sieben Worte Jesu am Kreuz
Das zweite Wort Jesu am Kreuz »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).