Die zehn Gebote (Hermann von Bezzel)/Siebtes Gebot II

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Siebentes Gebot II.
Du sollst nicht stehlen!

 Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsers Nächsten Geld oder Gut nicht nehmen, noch mit falscher Ware oder Handel an uns bringen; sondern ihm sein Gut und Nahrung helfen bessern und behüten.

 Siehe, der Arbeiter Lohn, die euer Land eingeerntet haben, der von euch abgebrochen ist, der schreiet, und das Rufen der Ernter ist gekommen vor die Ohren des Herrn Zebaoth. Jak. 5, 4.


 „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsers Nächsten Geld oder Gut nicht nehmen,“ ruft uns der Katechismus zu, und wir haben in der letzten Betrachtung über den Wert des irdischen Gutes und über die Gefahr seiner Über- und Unterschätzung etliches geredet und gehört. „Sondern ihm sein Gut und Nahrung helfen bessern und behüten“ heißt uns der Katechismus weiter. Und damit diese Gedanken mit Gottes Hilfe euch recht praktisch an die Seele gelangen mögen, laßt mich einmal euch zwei Gruppen vorführen: der Verkäufer und der Käufer, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Wie übertritt ein Verkäufer das siebente Gebot? Ihr wißt es, welch eine Gefahr und welches Unrecht in dem sogenannten Vorbieten liegt. Da werden Preise ausgezeichnet und angegeben, die der Ware nicht entsprechen, Forderungen gestellt, berechnet, die Unwissenheit zu täuschen und die Unvorsichtigkeit auszunützen. Und manch einer ist dadurch reich geworden, daß er die Armut seines Bruders sich zunutze machte. Wir wissen, was der| Herr von solchem Reichtum denkt und redet: du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern! Es ist mancher reich geworden dadurch, daß er überforderte und überbot; seine Nachkommen aber haben im Armenhaus und im Elend ihr Leben beschlossen. Oder, wenn der Verkäufer nicht vorbietet, gibt er doch geringwertige Ware. Wie oft habt ihr es vielleicht erfahren, daß man euch Ware gegeben hat, die nicht preiswert gewesen ist, schlechte, ungute, unbedeutende Ware. Wenn ich so unsere Landleute in die Stadt kommen sah früherhin, wie sie sich ihr sauer erworbenes Geld abnehmen ließen, um geringe, ungute, untüchtige Ware einzukaufen, ist mir’s oft durch die Seele gegangen: was wird auf Märkten und Messen, wohl auch in den großen Geschäften, in denen man alles haben kann, doch dem einzelnen Käufer zugemutet! Ich streife bloß den Gedanken, ob es recht ist, diese großen, alle Waren führenden Geschäftshäuser zu unterstützen durch Kauf und Besuch, während das ehrsame Handwerk und der kleine Kaufmann kaum mehr sein Leben fristen kann. So kann der Verkäufer wider das siebente Gebot sündigen. Es war eine barbarische Strafe im Mittelalter, wenn in Nürnberg z. B. alle, die irgendwie das Gewürz mischten, einfach in der Pegnitz ersäuft wurden, weil man sagte: wer um des Geldes willen die Gesundheit seines Nächsten gefährden kann, ist ein Mörder. Wo kämen wir hin, wenn wir alle, die mit falscher Ware oder Handel das siebente Gebot übertreten, im ganzen Ernste ihres Unrechtes strafen wollten!
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 Aber neben dem Verkäufer stehst auch du, der Käufer. Es ist doch ein übles Ding, wenn der Käufer handelt, herunterbietet, feilscht und marktet, wenn er um etlicher Pfennige willen einen kleinen Geschäftsmann, einen armen Handwerker schädigt. Manch wohlhabende Frau, die um ihres Putzes und äußeren Tandes willen Summen nicht ansieht, wird plötzlich sparsam, wenn sie einige Pfennige| herunterbieten und von dem Preis abdingen und abdringen kann. Das ist auch Diebstahl. Es ist immer ein widerliches Bild, wenn solch ein heißer Eifer um etliche Pfennige entbrennt, während vielleicht ein einziger Gesellschaftsabend Hunderte von Mark kostet, und es verursacht immer schwere Gedanken, wenn solche Leute sich um äußere, kleine Vorteile mühen, während sie um ihrer Seele willen nicht einen Schritt vor das Haus tun. Welch ein Anblick, wenn Käufer die Preislisten mit dem größten Eifer durchmustern, vielleicht die Kurszettel und Börsenberichte mit dem größten Interesse lesen, während sie, um ein ernstes Buch auf sich wirken zu lassen, nimmer die Zeit haben. Das ist auch Diebstahl! Und nun tretet herzu, ihr Arbeitgeber! Ich habe nicht umsonst das furchtbare Wort aus Jakobus gelesen: „Der Lohn, den ihr abgebrochen habt“ oder, wie es im griechischen Urtext heißt: „der Lohn, den ihr hinterzogen, schreit wider euch zu dem Herrn Zebaoth.“ Siehe, du Arbeitgeber, du hast irgend etwas in Bestellung gegeben: ein Kleid, ein Geräte, etwas für deinen Hausstand, und nun kommt am Samstag abend dieses Angeschaffte fertig und gut. Du siehst es dem Handwerksmann an, wie dankbar er wäre, wenn er gleich bare Bezahlung bekäme. In Mosis 3 heißt es: „Wahrlich, Ich sage euch, es soll der Lohn des Arbeiters nicht über Nacht bei euch bleiben; denn Ich bin der Herr Zebaoth.“ – Wie viele Hoffnungen hat der Meister an die Arbeit gewagt, wie viele Erwartungen an ihre Lieferung geknüpft, er hat schon berechnet, wie er mit dem Erlös aus seiner Arbeit da und dort einer Verbindlichkeit nachkommen, eine kleine Schuld tilgen, den Seinen Brot kaufen könne – und du weigerst ihm den Lohn. Vielleicht hast du nicht den Mut, es zu Hause zu sagen, daß du dies und jenes dir angeschafft hast; du hast nicht die Freudigkeit, für das Gelieferte dich alsbald von dem erbärmlichen Mammon frei zu machen. Es ist dir ein lieber| Gedanke, dein Geld noch ein Weilchen zu behalten, und dein Bruder muß warten. Er muß Zins zahlen, er muß seine Schulden weiter tragen und du erleichterst es ihm nicht.
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 Der Lohn, der abgebrochen und vorenthalten ist dadurch, daß man ihn nicht gleich gibt, wenn er fällig ist, schreit wider dich zum Herrn Zebaoth. Es kommt der Arbeitsmann heim, Frau und Kinder warten auf den Vater, der Geld bringen wird; doch mit bitterem Lächeln erklärt er, er sei auf die nächste Woche vertröstet worden. Manche Christen haben diese unfreie und unreine Gewohnheit, Zahlungen hinauszuschieben auf gelegene Zeit, die dann nicht mehr kommt, und dadurch werden die Verhältnisse verschoben und die Gegensätze erweitert und vertieft. Und du, Arbeitgeber, willst auch nicht, daß dein Diener und deine Dienerin gut und recht gehalten werden; denn du kannst dir nicht denken, daß sie auch die Bedürfnisse haben, die du hast. Wenn man durch unsere Stadt gehen und die Räume ansehen würde, in denen die Dienstleute Tag und Nacht wohnen müssen, wenn man manchmal die Verpflegung näher ansehen könnte, die den Dienenden zuteil wird, hineinblicken könnte in die erbärmlichen Summen, welche zur Bestreitung der nötigsten Bedürfnisse manchmal gestattet werden, dann würde man es wohl und tiefer begreifen, wie der abgebrochene Lohn gen Himmel schreit. Arbeitgeber! Gebt mit Freuden, gebt gerne und gebt reichlich! Ich weiß wohl, Treue kann nicht mit Gold erkauft, denn sie kann auch nicht mit Gold aufgewogen werden; und wenn man den höchsten Lohn zahlte, innerliche Eigenschaften werden dadurch nicht bezahlt und nicht erreicht. Aber doch möchte ich euch mahnen, daß es auch Diebstahl sei, wenn man Zahlungen, Löhne, Besoldungen, Gaben vorenthält. Es soll, wie Paulus schreibt, niemand dem Andern etwas schuldig sein, als herzliche Treue und Liebe. Wie oft habe ich beim Einblick in eines der schwersten Kapitel| des sozialen Lebens: in die Ehescheidungsprozesse, bemerkt, daß die ersten Unstimmungen der Ehe durch Vorenthaltung des Lohnes, durch Rückbehaltung einer Zahlung entstanden. Da wagte die Frau es nicht, dem Gatten zu sagen, was sie gebraucht, und anzugeben, was sie zahlen muß. Und nun beginnt heimliche Schuld, allerlei Winkelzüge; nun wird dort eine Lücke geöffnet, um hier eine zu schließen, wird hier geliehen, um dort zu bezahlen. Und das, was die Ehe vergiftet und den Bund zweier Menschen um die Weihe und Treue betrügt, hebt an: die Heimlichkeit vor dem andern. Und wenn vollends der Mann von dem Vermögen der Frau mitleben und an ihm zehren muß, wenn er nicht die Kraft hat, durch eigene Arbeit das zu erreichen, was zu des Hauses Nahrung und Notdurft gehört, so wird er unfrei, schämt sich, das und jenes zu bekennen, es werden Schulden ins Große hinein aufgetürmt und aufgesammelt. Plötzlich kommt die ganze Heimlichkeit zutage und um das eheliche Vertrauen ist es geschehen, wobei man sich die Lehre nehmen soll, daß man nie etwas bestellen und anschaffen soll, was man nicht alsbald bar bezahlen kann. Lieber schickst du den Arbeiter mit seiner Arbeit wieder fort, lässest ihm dieses Faustpfand, als daß du ihm sie abnehmest und ihn ohne Zahlung gehen heißest. Die große Revolution in England z. B. vor etlichen zwanzig Jahren, eine große Geschäftsrevolution, ist durch jenes furchtbare Lohn- oder Zahlungssystem entstanden, daß die Arbeiter ihren Lohn nicht in Barem, sondern in Waren erhielten, deren Preis und Wert nicht der Arbeitnehmer bestimmen durfte, sondern der Arbeitgeber nach eigener Vollmacht und Schätzung. Da erhielt wohl mancher arme Weber für eine wochenlange Arbeit ein paar Pfund Zucker, Kaffee oder andere Nahrungsmittel, die er anderwärts wohlfeiler erhalten hätte, um einen Preis, den der Arbeitgeber selbständig angesetzt hatte. Das ist etwas von dem abgebrochenen| Lohne. Lieber Christ, bedenke, es ist auch Diebstahl, wenn du dem Nächsten sein Geld oder Gut vorenthältst. Gib gern, gib rasch, gib freudig, und wenn die Arbeit dir wohl gefällt, gib mehr, als dafür gefordert wird. Es sind einige Pfennige, es ist ein gutes Wort, und die sollen dich nicht reuen! Denn du kannst damit Sonnenschein in eines Menschen Herz und in eines Arbeiters Hütte bringen. – Und wenn Arbeitnehmer hier unter den Anwesenden sind, mögen sie wissen, was der große Katechismus in der Auslegung des siebenten Gebotes sagt: Du kannst immer ehrlich dastehen und doch deiner Herrschaft der Gulden 30 oder 40 jährlich nehmen, indem du verwahrlosest, Schaden geschehen lässest, indem du auf das Besitztum deiner Herrschaft nicht gebührend acht gibst. Wie viele Veruntreuung geschieht auch von ernsten Leuten, die doch nicht sorgsam mit fremdem Gute umgehen, die die übrigen Brocken nicht sammeln, die da leichtfertig mit dem Anvertrauten und wegwerfend mit dem ihnen Befohlenen umgehen. Das ist alles Diebstahl!
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 Die heilige Schrift sieht tief und weiß: je mehr der Mensch sich mit dem äußerlichen und vergänglichen Gut einläßt, desto ferner wird er von dem ewigen. Es ist merkwürdig: die Liebe zum Kreatürlichen kann die allergrößte Abneigung gegen den Schöpfer erwecken. Je mehr du dich an eine Gabe hängst, ohne ihres Gebers zu gedenken, desto mehr lösest du die Gabe von ihrem Herrn und dich mit ihr von ihm. Es ist ja bei Menschen schon so. Wenn du dich an einen Menschen recht anklammerst ohne zu denken, daß in ihm dir ein Gottesgedanke entgegentritt, so wirst du immer ferner von Gott kommen und schließlich auch dieses Menschen überdrüssig werden. Alles, was Leidenschaft heißt, gebiert nicht Liebe, sondern Abneigung. Alles, was Leidenschaft heißt, erweckt einen Sturm und nach dem Sturm die große, öde Ruhe. Ihr habt wohl bemerkt, wenn| man an einen Menschen sich leidenschaftlich hält, wird der Mensch allmählich zur Last, er lähmt die Arbeitsfreude, er stört den Gebetsernst, er hält den Heiligungslauf auf, und aus der Leidenschaft wird schließlich schwere Feindschaft. Und wenn dies erst in der Sterbestunde wäre: dieser Mensch hat sich zwischen mich und meinen Gott gedrängt; nun muß ich ihn lassen und Gott habe ich verloren. Noch weit mehr aber ist der Mensch gefährdet, der an äußeres Gut sein Herz hängt: an Ehre, Reichtum, Einfluß, Geld und Gut. Er wird immer ärmer, seine Gedankenwelt wird immer kleiner, sein Gesichtskreis wird immer eingeschränkter: du Narr, heute Nacht wird man deine Seele von dir fordern.
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 Wie werde ich denn frei von der Lust an Geld und Gut? Indem ich, sagt der Katechismus, meines Nächsten Geld und Gut bewahre und behüte, indem ich, wie der lateinische Text sagt: dazu beitrage, daß sein Hab und Gut sich mehre. Gemeinde Jesu, je weniger du auf irdischen Besitz ausgehst, desto reicher füllt dir der Herr Hände und Haus. Wie es im 19. Kapitel der Sprüche Salomonis heißt: wer dem Armen leiht, der leiht dem Herrn. Indem du dich nicht an Geld und Gut hängst, nur so viel besitzen mögest, daß du Elend lindern und eigener Sorge quitt wirst, wirst du reicher, je mehr du gibst. Ich greife wieder aus dem Leben heraus. Soll ich jedem etwas geben, der mich bittet? Doch, zweifellos. Nachdem ich täglich so viel Sonnenstrahlen habe, deren keinen ich wert bin, und so viel Gnadenregen über mein Haupt niedergeht, dessen ich keinen Tropfen verdiene, nachdem ich täglich überschwänglich viel Gut über Bitten, Verstehen und Verdienst empfange, will ich auch geben ohne Wahl, ohne Besinnen und Prüfung. Ich weiß wohl, man sagt uns, man ziehe dadurch nur die Liederlichkeit groß, man mehre dadurch nur die Faulheit und wie die ähnlichen tugendhaften Sprüche heißen. Aber hinter diesen Tugendsprüchen stehen selten| Grundsätze, sondern Bequemlichkeit und Eigenliebe. Der Deutsche, ja ich sage, der evangelische Deutsche, hat eine Menge von Prinzipien, wenn er nicht geben will. Es ist eigenartig, wie der natürliche Mensch die Zahl seiner Grundsätze erweitert, wenn er sich seiner Pflicht entziehen will. Das dritte Wort bei den meisten ist „Prinzip“ obwohl der Menschheit größtes Prinzip, Prinzipienlosigkeit ist; fragst du einen nach seinem Prinzip, kann er dir nichts nennen. O gib, damit du von der Liebe zum äußeren Besitz frei wirst! Die Freude am äußeren Besitz ist kein Unrecht; wenn Gott uns der Sorge ledig macht und zu bescheidenem Wohlstand uns hilft, ist es eine Freundlichkeit, deren wir uns von Herzen freuen dürfen. Aber von der Freude am Besitz, der Lust am Besitz, zur bösen Lust zum Besitz, ist nur ein Schritt. Damit du also frei wirst, gib und gib jedem. Und wenn ich getäuscht werde? Ja wie oft täuschest du deinen Herrn und Gott! Wie oft täuschest du deinen Nächsten! Heute morgen hieß es: ich will dich von ganzem Herzen lieben – und nun? – Je mehr Versprüche du machst, desto weniger hältst du. Wie es eine Unart ist, jemand hundertmal zu grüßen, so ist es eine abgeschmackte Unart, dem lieben Gott tausendmal zu sagen, wie man ihm danke, wie man ihn liebe, wie man ihm dienen wolle usw.; denn nach zehn Minuten ist alles vorüber. Du enttäuschest ihn so oft und immer wieder erfüllt Er dein Herz mit Freude. Du bist jetzt zu hohen Jahren gekommen; wenn du die Echtheit deiner Gelübde, die Ernstlichkeit deiner Gebete, die Wahrheit deiner Versprüche auf Eines tun würdest, o, wie erbärmlich wäre der Ertrag deines Lebens. Und wenn du die Gnadenerweisungen deines Gottes und die Erfahrungen seiner uns beschämenden Treue auf die andere Seite stelltest, welche Berge der Güte, welcher Reichtum der Treue zeigte sich da! So oft hast du ihn getäuscht und dies alles hat Er dir erlassen, dieweil du ihn batest. So oft| hast du ihn betrogen, doch dies alles hat Er dir gegeben! Darum gib auch du wahllos, wunschlos, gib unbeschränkt und gib jedermann, auch dem, dem du nachweisen kannst, daß er dich oft betrog, und wenn es nur darum wäre, daß ihm feuerige Kohlen aufs Haupt und ins Herz brennen, und wenn es nur darum wäre, daß er etwas von der überschwänglichen Gnade Gottes verspürt und erfährt! Ich rede dem leichtfertigen und gedankenlosen Geben das Wort nicht. Wer will und soll dich daran hindern, daß du deine Gabe mit einem guten Worte begleitest? Daß du dem Bettler noch einen Gruß auf den Weg mitgibst, wer soll’s wehren? Laß dir seine Geschichte erzählen, du hast Zeit dafür! Wenn dir ein lieber Mensch seine Geschichte erzählt, hast du viel Zeit; o habe auch Zeit für ein armes Weib, das dich in seiner Not angeht, für einen unguten, unreinen Menschen, der seine Not dir klagen möchte! O gib, habe Zeit, mache dich los von irdischem Gut und Geld, damit einmal an deinem Grabe etliche stehen und um Aufnahme in die ewigen Hütten für dich bitten und damit, wenn du einmal heimkehrst, etliche, deren Namen du nie kanntest und deren Anblick du ganz vergaßest, vor deinen himmlischen Vater treten und sagen können: dieser Mensch hat Zeit für mich gehabt, ein gutes Wort, als niemand mehr mich kannte und liebte, eine Gabe, als jedermann sich mir versagte, einen freundlichen Blick, der mich bis in die letzte Stunde wie ein Strahl göttlicher Leutseligkeit verfolgte. Ich höre dich klagen, dich Einsamen, über ein inhaltsloses Leben. Weißt du nicht, daß diese Klage eine Anklage ist? Nicht das Leben ist inhaltslos, sondern du hast ihm keinen Inhalt gegeben. Du warst der Zeit gegenüber zu träge und dem Anlaß gegenüber zu öd und langweilig. O, liebe Christen! Gut und Nahrung bessern und behüten helfen, ist ein großes, ein rechtes Ding. Und so wollen wir das siebente Gebot erfüllen nicht nur,| daß wir selbst unsere Hände vor unrechtem Gute ängstlich und ernstlich bewahren, sondern daß wir auch unser Herz von allem Irdischen lossagen und anderer Herz mit Irdischem erfreuen. Was ist das, spricht der Herr, für ein Gewinn, wenn auf der einen Seite eine ganze Welt gewonnen wird, und auf der andern Seite die unsterbliche Seele verloren geht? Was ist das für ein Gewinn, wenn ein Mensch Freunde, Gönner, Ehren, Anerkennung, Reichtum, Güter sich erwirbt, und der Herr steht neben ihm und spricht: dies will Ich dir nehmen und deine Seele soll nichts mehr haben, weil sie mich nicht kennt? Was hülfe es den Menschen, wenn er durch Handel und Sparen, durch heißes Rennen, unchristliches Brennen nach Gut sich ein Vermögen erwerben würde, und seine Seele litte ewigen Schaden? Was hülfe es den Menschen, wenn er sein Sterbezimmer ausgefüllt und sein Sterbelager ausgeschmückt hätte, und sein Herr sieht die Seele an und sie ist ungeschmückt und unbereitet ihn zu empfangen? Darum, weil wir noch das einzige Kapital haben, das wir vergeuden und das wir verzinsen können, weil wir noch Zeit haben, – wer weiß, wie lange noch? – laßt uns Gutes tun an jedermann, sei es auch nur deswegen, daß wir frei von irdischem Besitz durch diese Welt gehen! Der stirbt am leichtesten, der die wenigsten Ansprüche an die Welt gemacht hat und an den die Welt kein Anrecht mehr haben darf. Der ergreift den Wanderstab am herzhaftesten, der nichts zu hinterlassen hat als Schuld, die ihm sein Herr vergibt, und nichts zu hoffen hat, als Gnade, die ihm sein Herr verheißt. O denke daran, wie das Stäublein im Auge das ganze Augenlicht nehmen kann! Wenn das Auge ein Schalk ist, wie groß wird die Finsternis sein! O denke daran, wie ein Sandkörnlein im Schuh dich auf den Tod verwunden und den Gang dir erschweren und schließlich unmöglich machen kann! Tue das Stäublein weg, schütte den Sand aus deinen Schuhen,| räume das Schwere aus der Seele, damit du heimkommst und Frieden hast! So sollen wir das siebente Gebot betrachten und betrachten lehren! Wie wäre es, wenn du, arbeitgebende Frau, heute nach dem Feierabend mit deinen Dienstboten einmal freundlich reden wolltest, weil sie auch Erben der Seligkeit und von Christo teuer erkauft sind, und ihnen einmal vorstellen würdest, wie sie fehlen gegen das siebente Gebot durch Untreue und Säumigkeit? Sage ihnen aber auch, wie du gegen das siebente Gebot gefehlt hast! So arm ist selten ein Mensch, daß ihn nicht ein Gruß und Hauch der freundlichen Barmherzigkeit berühre und ein Geständnis der eigenen Sünde entwaffnete. Ihr Arbeitgeber, denkt euch in die Seele euerer Untergebenen und dadurch ist die große Schwierigkeit der sozialen Frage gelöst! Unsere Besitzenden haben Buße gepredigt, aber nicht sich selbst; sie haben zur Einfachheit ermahnt, aber nicht ihrer eigenen Seele; sie haben den Arbeitnehmern ihre Pflichten ernstlich eingeschärft, aber die eigenen Pflichten vernachlässigt. Und nun sind die Gegensätze so schroff, daß Menschen sie nicht mehr beseitigen können. Laßt mich schließen! Die soziale Frage beginnt in deinem Haus, in deiner Kammer, in deinem Gelaß, in deinem Herzen. Wenn du heute abend dich deinen Dienstleuten freundlich zuwendest, morgen dem Arbeitnehmer ein gutes Wort gönnst, dem Lieferanten seine Gebühr zur rechten Zeit gibst, den Bettler begrüßest und das schlichte Almosen mit einem freundlichen Wort und Blick ihm würzest, hast du mehr zur Lösung der sozialen Frage beigetragen, als wenn du bis zur mitternächtlichen Stunde einer Sitzung darüber angewohnt hättest. Rat, Debatte, Vorschlag ist’s übergenug. Wir wollen mit Christo handeln, das wird das Beste sein. Und der Herr, der Gold und Silber die Menge hatte und doch nicht wußte, wohin Er sein Haupt lege, der Herr Jesus, den sie um etliche armselige Silberstücke verraten und verkauft haben, und der| nun über alle Schätze Himmels und der Erde ein reicher Herr gesetzet ist, mache unser Herz frei von allen Erdendingen, und lehre es heimisch werden bei ihm allein! Es wird etwas Großes sein, wenn die Zeit, die Er uns gönnt, und das Gut, das Er uns lieh, heimkehren und zeugen: Herr, wir haben Zinsen getragen, nicht von uns, sondern von Dir, nicht für uns, sondern für Dich, auf daß Deine Güte alle Welt erfülle!
Amen.





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