Ein Hort des deutschen Volksliedes

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Autor: Gustav Schön
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Titel: Ein Hort des deutschen Volksliedes
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 411–412
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein Hort des deutschen Volksliedes.

Unsere Volkslieder, obgleich aus dem unmittelbaren, realen, vollen Leben entsprungen und in ihren Empfindungen und Schilderungen wahr vom Anfang bis zum Ende, zeugen dennoch von einer „poetischen Keuschheit, dichterischen Unschuld“, wie Vilmar es nennt, welche uns trotz Allem, was gegen jene Zeit gesagt werden mag, mit Ehrfurcht vor unseren Voreltern erfüllen und diese Lieder zu ewigen Mustern stempeln muß. Zugleich aber sind ihre Melodien, wie der Text, unmittelbar dem Volke entsproßte Blüthen, durch einfach ausgesprochene Empfindungen ausgezeichnet und vom Herzen kommend, zum Herzen gehend. Aus diesen Keimen, in denen Rhythmus, Tempo, Tact, kurz Alles liegt, was zur Musik gehört, ist unsere Kunstmusik emporgeblüht, eine Kunst bekanntlich, die über den Mitteln den Zweck, über Künsteleien die Kunst wie ihre eigene Quelle vergessen hat. Doch um deutsches Volksthum, deutsche Sitte und deutsche Musik vor der Vergessenheit zu bewahren, hat es zum Glück nie an Männern gefehlt, welche es als ihre Lebensaufgabe betrachteten, die alten verschütteten und überwucherten Quellen bloßzulegen und auch Anderen Gelegenheit zu bieten, sich an ihren Borden in Urwaldsluft und Duft zu erlaben. Wie Jahn, Maßmann etc. gehört zu ihnen auch der königliche Musikdirector und Lehrer der Musik am Seminar für Stadtschulen zu Berlin, Christian Ludwig Erk.

Unsere Mittheilungen über diesen längst schon über die Grenzen unseres Vaterlandes hinaus mit Verehrung genannten Mann müssen sich auf ein Weniges beschränken, da er sein Leben, das sich mit dem der Besten unserer Nation verwebt und in welchem sich ein zwar unscheinbares, aber nicht gewöhnliches Stück Zeitgeschichte abspielt, selbst beschrieben, die Veröffentlichung dieser Beschreibung aber bis zu seinem Ableben verschoben hat. Geboren zu Wetzlar genoß Erk eine gute Erziehung und zwar in dem berühmten, im Geiste Pestalozzi’s und Salzmann’s von Johann Balthasar Spieß geleiteten Erziehungsinstitut zu Offenbach am Main. Auch für seine musikalische Ausbildung hatte er das Glück sich der tüchtigsten Lehrer zu erfreuen, und so folgt er denn schon als neunzehnjähriger Jüngling einem Ruf als Musiklehrer an das Seminar zu Meury am Niederrhein, wo er neun Jahre verblieb und seine Mußestunden der Erweckung des Volksgesanges in rheinischen Landen widmete.

Von da ging Erk an das Seminar für Stadtschulen zu Berlin, an die Seite Adolph Diesterweg’s, des am 7. Juli 1866 zu Berlin verstorbenen Reformators der deutschen Pädagogik. Der Einfluß dieses freisinnigen Pädagogen wie der der Männer, die in gleichem oder ähnlichem Sinne wie Erk wirkten und von denen wir nur die Gebrüder Grimm, Uhland, Simrock, auf dem Gebiete des deutschen Volks- und Kirchenliedes noch Dr. Fr. Fielitz und Professor Dr. Hoffmann von Fallersleben nennen, war für Erk so bestimmend, daß er einzig die Erweckung und Veredlung des deutschen Volksliedes als seine Lebensaufgabe ansah. Die Früchte seines mühsamen Sammelns, der Festsetzung und Ueberarbeitung der Texte wie Melodien, der Harmonisirung der Melodien etc. hat der fleißige Mann für Schule, Haus und Leben theils allein, theils in Verbindung mit Anderen in einer Anzahl von Werken niedergelegt, deren Nomenclatur allein uns auf Stunden beschäftigen würde, da sie das ganze kunstwissenschaftliche Gebiet von der Originalform der Choralmelodien der evangelischen Kirche an bis herab zum deutschen Kinderliedchen und Kinderreim umfaßt. Sei es uns gestattet, aus dem Vielen nur Einiges herauszugreifen. „Der deutsche Liederhort, eine Auswahl der vorzüglicheren deutschen Volkslieder aus der Vorzeit und Gegenwart mit ihren eigenthümlichen Melodien“, bei Enslin in Berlin erschienen, wurde auf Empfehlung von Bettina von Arnim und Alexander von Humboldt von dem König Friedrich Wilhelm dem Vierten auf das eifrigste unterstützt. Ja, selbst Jakob Grimm, der dem Herausgeher als Gegengeschenk für den Liederhort seine „Deutsche Mythologie“ übersandte, schrieb: „Ich habe nun Ihr schönes Liederbuch fast vollständig genau durchgelesen und große Freude daran gehabt. Es ist die reichste und sorgsamste Sammlung unserer deutschen Lieder, die es giebt, und ich kann und werde davon wichtigen Gebrauch machen.“ Von den Schulbüchern, welche der deutschen Jugend aller Stände und Classen, in Gymnasien, Seminaren, Real-, Bürger- und Elementarschulen eine gesunde nationale Kost bieten, dürften die in höherem Auftrage erschienenen „Liederhefte für die Volksschulen der Provinz Brandenburg“, der eben in siebenunddreißigster Auflage herausgekommene „Liederkranz“, der „Sängerhain“, die „Chorgesänge berühmter Meister der Vorzeit und Gegenwart“ etc. etc. zu nennen sein.

Bei all diesen wie bei den Arbeiten seines Berufs fand der unermüdliche, immer für seine Arbeit begeisterte Mann noch Muße, seine tüchtige Feder für musikalische Journale in selbstständigen Aufsätzen Recensionen etc. zu rühren, Musikunterricht im Familienkreise des Prinzen Karl von Preußen zu geben, auch die Leitung des liturgischen Chors im Dome einige Jahre hindurch zu übernehmen und die zweier Gesangvereine bis auf den heutigen Tag fortzuführen.

Die Anerkennung ist eine Blume, deren Gedeihen von dem Zusammentreffen verschiedener Umstände abhängig gemacht und daher selten genug gefunden wird. Unserm Erk blieb sie nicht versagt; nachdem ihm schon von städtischen Behörden und gelehrten Vereinen Ehrenbezeigungen aller Art erwiesen waren, wurde ihm zuletzt, trotz der Ungunst, welche seine deutschen Bestrebungen in gewissen Kreisen fanden, durch die Verwendung Meyerbeer’s, Rungenhagen’s, Franz Kugler’s etc. 1857 sein Patent als königlicher Musikdirector ausgefertigt.

Kommen wir zum Schluß unserer Mittheilungen über Erk. Was seine Persönlichkeit betrifft, so besitzt er eine mittelgroße und starke Gestalt, die sich in Haltung und Anzug stets schlicht, aber mit Sorgfalt giebt. Seine Bildung ist gründlich, namentlich besitzt er ausgezeichnete philologische, geschichtliche und literarische Kenntnisse. Sein Charakter ist wahr, treu und gleich dem Stoff, in welchem er „macht“, wie er selbst humoristisch sein vollständiges Aufgehen in seiner Thätigkeit auszudrücken liebt. Besonders bemerkbar an ihm ist Freude an Allem, was deutsch ist, am Beglücken Anderer, an Musik und Poesie, wie harmloser Geselligkeit. Bezeichnend für ihn dürfte auch sein, wie er mit Denen verfuhr, die seine Liederbücher in der unverzeihlichsten Weise plünderten. Er forderte nämlich nichts weiter von ihnen, als die ehrliche Anerkennung seiner Arbeit an den Liedern, und schloß seine milde Philippika wörtlich: „Nur das Suum cuique ist’s, um das es sich hierbei handelt. Im Uebrigen halten wir es mit Uhland:

Singe, wem Gesang gegeben,
In dem deutschen Dichterwald!
Das ist Freude, das ist Leben,
Wenn’s von allen Zweigen schallt.“

Das ist Erk, der Mann, der seinen Namen dem Vereine gab, welcher am 16. Juni dieses Jahres sein fünfundzwanzigstes Stiftungsfest gefeiert und ein Vierteljahrhundert lang durch ein anspruchloses, aber ernstes Streben zu allen anderen Instituten des Volksgesangs eine Stellung festgehalten hat, wie der Bergmann zu Denen, die im rosigen Licht wandeln während er in dunkle Tiefen taucht, um für sie schimmerndes Erz, edle Metalle heraufzuholen. Der Verein cultivirt unter Erk’s Leitung das Volkslied.

Fernab vom Lärm der Residenz, im Rauschen der Linden, umwölkt von ihrem Duft, fand sich im Sommer 1843 eine Schaar von Männern zusammen, die größtenteils dem Berliner Lehrerstande angehörten. Die „deutsche Gemüthlichkeit“, jene eigenthümliche Empfindungsweise, welche anderen Völkern so fremd ist, wie der Name dafür, der wir aber den ganzen Schatz unserer Lieder verdanken, gründete hier durch eine freie Vereinigung einen Hort der Lieder, der sich am 16. Juni 1845 als Verein constituirte und, wie weiland die rebellischen Bauern den Bundschuh, das Volkslied in seine Fahne nahm. Anfangs nur aus dreiundzwanzig Mitgliedern bestehend, wuchs der Verein im Laufe der Zeit bis auf hundert und darüber, um in den letzten Jahren zwischen hundert und neunzig zu schwanken. Die tüchtigsten Pädagogen Berlins haben diesem Verein angehört, wurden ersetzt und ergänzt von jüngeren Collegen, von Bau- und Kaufleuten, Künstlern, wie anderen Bürgern Berlins. Für Erk, der an der Spitze stand, wurde der Verein dasselbe, was das Heer für den Feldherrn; mit ihm zog er zu Felde gegen die verbreiteten Gassenhauer und alle Couplet- und Schwindelmusik, die dem deutschen Wesen Verderben drohte und nicht einfach das Echo war [412] von des Volkes Lust und Leid. Zu diesem Zweck veranstalte der Verein Concerte, oft in den ersten Etablissements von Berlin, während die Sommerversammlungen in frei gelegene Locale verlegt wurden, zu denen das Volk Zutritt hatte. „Zur Zeit der Pfingsten“ aber zog die Sängerschaar hinaus in die deutschen Lande, in’s Riesengebirge, die sächsische Schweiz, den Harz, nach Thüringen etc., um im Herzen des Volkes dem Volke zum Herzen zu singen.

Und was hat der Verein erreicht? Die Erweckung und Verbreitung des Volksliedes ist ihm gelungen, kein nationales Fest wird gefeiert ohne seine Mitwirkung, er hat mit seinen Einnahmen schon manche Sorge und manche Noth gelindert und hat Vielen nach des Tages Last und Mühe einen wahren Genuß, Behagen und Vergnügen verschafft. Er hat’s; es bezeugen es die regelmäßig starken Besuche der Concerte wie die Dolmetscher dieser Besucher, die Recensenten. Hören wir einige der Letzteren. Indem ein Ungenannter „nach allen krankhaften Ueberreizungen, mit denen ihn die Neuzeit Jahr aus und ein foltert, sich von den Volksliedern des Vereins erquickend anwehen läßt,“ athmet Rellstab regelmäßig mit Vergnügen den „Feldblumenduft der Volksliedersträußchen“. Ein Dritter spricht mit George Sand: „Die Poesie kann nicht sterben; trotz ihrer umgestürzten Tempel und der auf den Trümmern derselben angebeteten falschen Götter ist sie unsterblich wie der Duft der Blumen und wie der Glanz des Himmels. Aus Theatern, Kirchen und Akademien verbannt, flüchtet sie sich in das Volksleben und saugt ihre Nahrung aus Allem, was des Volkes Herz bewegt.“ Sollen wir noch andere Zeugnisse bringen?


Christian Ludwig Erk.


In Groß-Tabarz am Fuß des Inselsberges, wo der Verein auf seiner Harzfahrt übernachtete und in den duftigen Pfingstabend hinein mit den Nachtigallen um die Wette sang, drängte sich ein schlichtes Bauernweib durch die Haufen der Zuhörer, um dem Vater Erk die Hand zu drücken und für die schönen Lieder zu danken. Erk, an Applaus und Hochs gewöhnt, antwortete ergriffen: „Dieser Abend ist mir mehr werth, als zehn Concertabende in der Residenz.“ Auf derselben Fahrt brachte der Verein dem Volksdichter Fritz Reuter im Marienthale bei Eisenach ein Ständchen, und auch der Dichter fühlte sich von den schlichten Volksweisen so angeheimelt, daß er einen ganzen Abend im Verein verbrachte und damit einen unvergeßlichen Moment in das Leben der Sänger streute.

Möge der Verein ferner gedeihen! Möge sich vor Allem erfüllen, was Hoffmann von Fallersleben zum 6. Januar 1867, dem sechszigsten Geburtstage Erk’s, sang und einer von Erk für Männerstimmen arrangirten Volksmelodie unterlegte. Der Dichter rief aus der Ferne dem lieben Freunde zu:

„Der Winter ist erschienen ringsum in Stadt und Land, uns aber ist hienieden ein Frühlingstag erschienen: nun ist Alles grün, Alles will heute blüh’n! Laßt uns singen diesem Tag, ja diesem Tag zu Ehren!
Heut’ sind es sechszig Jahre, daß er geboren ward, der aus des Volkes Munde geschöpft des Volkslieds Kunde, für sein Werk heiß gestrebt, treu gewirkt, ganz gelebt, uns gelehrt hat, Volksgesang zu üben und zu ehren.
Und wie das Volkslied ewig im deutschen Volke lebt, so soll sein schönes Streben fortan für Deutschland leben, hier und da, weit und breit, fern und nah! Unserm Meister Ludwig Erk, dem schalle Dankesjubel!“

Gustav Schön.