Ein schwäbisches Dichterleben

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Autor: Wilhelm Müller
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Titel: Ein schwäbisches Dichterleben
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 222–224
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein schwäbisches Dichterleben.


Es war Abends fünf Uhr. Wir traten, wie gewohnt, in das so Vielen lieb gewordene Häuschen des Dichters ein, das am nordöstlichen Ende der Stadt Weinsberg, an der alten Heerstraße, die von Heilbronn über Oehringen nach Nürnberg führt, in reizender Umgebung liegt. Wir fanden Justinus Kerner auf dem Sopha neben dem Fenster sitzen, von Raritäten aller Art, langsam schreitenden Schildkröten, wichtigthuenden Laubfröschen, riesigen Gurken, buntscheckigem, großkörnigem Welschkorn in schuhlangen Kolben, glänzenden Granatäpfeln, Kuckuk rufenden Schwarzwälder Uhren, hellklingenden Spieluhren – umgeben, ein kleines Tischchen vor sich und mit köstlicher Behaglichkeit seinen weißen „Lindelberger“ schlürfend, sein weißes Brödchen essend. Das Zimmer ist mit Portraits reich behängt. Hier sind alte und neue Familienbilder, dort ist Herzog Max von Baiern, der Virtuos auf der Bergcither, neben ihm die Kaiserin mit dem tiefschwärmerischen, liebesuchenden Blick, gegenüber ihre Schwester, die Heldin von Gaeta, Edelsinn und Entschlossenheit in den schönen Zügen, neben ihr Lenau mit dem dunklen Auge, mit dem er so manches Herz dämonisirte, bis ihn selbst die Dämonen faßten. Die kleine Büste dort stellt Breslau vor, König Ludwig’s trefflichen Leibarzt, der mit Kerner in Tübingen studirte und als sein Jugendfreund es vermittelte, daß der König mit dem Sänger ging. Im Nebenzimmer sind die Bilder der württembergischen und baierischen Königsfamilie, darunter das des Prinzen Adalbert, der so oft und so gerne bei seinem „väterlichen Freunde“ in diesen Räumen weilte. An einem besonderen Plätzchen sehen wir die Seherin von Prevorst, stille, himmlische Züge im Antlitz. In einem niedlichen Kästchen sind Geschenke aller Art ausgestellt, Trinkgläser von verschiedenem Caliber, groß genug, um auch den berechtigsten Durst bis auf den Grund zu stillen. Im Hintergrund steht auf hohem Postament ein Marienbild in Stein gehauen, von dem kunstsinnigen Dichter aus einer alten Rumpelkammer hervorgezogen und dem Verderben entrissen.

In dieser Umgebung, unter Gewürm, das auf der Erde kriecht, unter vegetabilischen Ornamenten, unter Lebenden und Todten, unter Töchtern aus der Bauernhütte und aus der Königsburg trafen wir Justinus Kerner. Das ist immer noch eine imposante Gestalt, trotz der mehr als 70 Jahre, die auf seine Schultern drücken, groß und stark, zu einem kräftigen, gebietenden Wirken, scheint es, wie geschaffen, wenn nicht der Zug um den Mund das Weibliche in seinem Wesen verriethe, alle Gesichtszüge stark hervortretend, schöne, hohe Stirn, lange, weiße Locken, und diese ganze Figur in einem braunen, mönchartigen Gewand mit kurzem Kragen über die Schultern, eine Schnur um die Hüfte geschlungen. Es ist eine von den verschiedenen Eigenheiten Kerner’s, daß er in der Kleidung sich stets als einen Feind der Mode zeigte, und diese Eigenheit ist so tief eingewurzelt, daß wir sie bis zu seinem Confirmationstag verfolgen können. Als er im Jahre 1800 in seiner [223] Vaterstadt Ludwigsburg confirmirt wurde, ging er, obgleich der gute Ton den armen Confirmanden einen Frack vorschrieb, trotz aller Vorstellung der Seinigen, zum Entsetzen aller frommen Seelen, im Ueberrock in die Kirche und zum Altar. Das war ein schlechtes Prognostikon für seine Kirchlichkeit, für seine Orthodoxie. Und in der That war dieses Ueberröckchen des 14jährigen „Christian“, wie man ihn zu Hause nannte, nichts weniger als gleichgültig. Es war ein Protest gegen die Form, in die man sein religiöses Bewußtsein, die Art seines Cultus einzwängen wollte, und die steife Orthodoxie sorgt bekanntlich sehr dafür, daß solche Proteste sich erneuern müssen. Ein Mann, der mit Dr. David Friedrich Strauß, dem Verfasser des Lebens Jesu, so freundlich verkehrte, der von hervorragenden Jesuiten und Mitgliedern der katholischen Missionen besucht wurde und im friedlichsten religiösen Gespräch sich mit ihnen erging, der sein Zimmer zu einer Capelle für den indischen Missionär und den schwäbischen evangelischen Reiseprediger Hebich mit seinem widerlichen Hokuspokus machte, konnte unmöglich ein gut lutherischer Orthodoxer in des Wortes verwegener Bedeutung sein. Specielle theologische Fragen und Dogmen hielt er sich ebenso sehr vom Leibe wie politische. Er wollte Freiheit in allen Gebieten des menschlichen Lebens, aber vor Allem wollte er Ruhe und Frieden, haßte jeden Streit, jede persönliche Erhitzung und bildete sich seine eigene Religion, die, wenn sie auch nichts specifisch Christliches zur Schau trug, doch auch nichts Unchristliches enthielt und die Idee der Liebe zur Grundlage hatte. „Eine Liebe hat mich entstehen lassen, eine Liebe hat mich als Kind auf den Armen getragen, hat mich durch das ganze Leben geleitet, eine Liebe wird mich auch nach diesem Leben in ihre Mutterarme nehmen.“ In diesen wenigen Sätzen concentrirt sich des Dichters religiöse Anschauung. Sie ist weit genug, um die ganze Menschheit, alle Religions- und Confessionsformen darin unterzubringen, tief genug, um den Dichter zu warmen, lebendigen Gebilden zu begeistern, weich genug, um die Frauen, die er alle so innig liebte, magnetisch anzuziehen. „Wir sehen uns wohl in diesem Leben nimmer,“ sagte ein scheidender Freund zu Kerner. – „Nun, wir werden uns ja wiedersehen,“ entgegnete dieser in scherzender Manier, „entweder Parterre oder Beletage oder im oberen Stockwerk.“ – „Wenn wir uns nur wiedersehen, gleichviel wo!“ versetzte der Freund und wollte das Zimmer verlassen. Aber Kerner hielt ihn zurück, trat vor ihn, sah ihm lange in’s Auge, sprach in wehmuthsvollem Tone leise seinen Namen und küßte ihn noch einmal.

Es lag ganz in der schwäbischen Offenheit und Herzlichkeit Kerner’s, so mit seinen Freunden zu verkehren, und mehr als als eine Frau brachte er dadurch in einige Verlegenheit. So ist ja sein Verhalten gegenüber einer hohen Dame an einem deutschen Hofe bekannt. Kerner war zu derselben auf Besuch geladen und äußerte unter anderem sein Bedauern, daß er bei seinem schwachen Augenlicht die edlen Züge der Prinzessin nicht bewundern könne. „Kommen Sie nur näher, Sie dürfen mich wohl genau ansehen.“ Kerner ging mit ihr an’s Fenster, faßte sie mit beiden Händen am Kopf und sah in ihr wirklich ausdrucksvolles Auge, in dieses reine, blendend weiße Antlitz. Die Prinzessin verwies ihm dieses seltene tête à tête nicht, aber der ganze Hof erstaunte über diesen kühnen Griff eines deutschen Dichters.

Auch eine andere Eigenthümlichkeit seines Charakters finden wir schon sehr frühe bei ihm. Varnhagen, welcher zu gleicher Zeit, im Jahre 1808, mit ihm in Tübingen studirte, ja in einem Haus mit ihm zusammenwohnte und viel in Kerner’s und Uhland’s Gesellschaft kam, schildert ihn schon damals als einen Jüngling von sonderbaren Ansichten und auffallendem Wesen, als einen Menschen, jetzt tief in sich gekehrt, sinnend und träumerisch wie ein Alpensee, dann plötzlich aufspringend, auflachend, mit den Freunden herumtanzend, bald wild dämonisch den Wahnsinn nachahmend, daß es den Freunden schaudernd durch die Nerven fährt, bald Schwänke ersinnend darstellend, daß sie sich vor Lachen den Bauch halten mußten. Und so war Kerner noch in den letzten Jahren, wenngleich die Form schon durch das Alter gemäßigter war.

Nehmen wir dazu eine andere Aeußerung Varnhagen’s aus der gleichen Zeit, wo er es an einem Jüngling unbegreiflich findet, zu meinen, „es sei so wenig Freude in der Welt, daß man nur eben etwas – gleichviel was – thun müsse, damit die Zeit verstreiche und so das ganze Leben,“ so liegt das Wesen Kerner’s in seinen Grundzügen vor uns: einerseits ein tiefes Gefühl Schwermuth, der Nichtbefriedigung bei diesen menschlichen Verhältnissen, der Sehnsucht nach der wahren Heimath des Geistes, andererseits ein übersprudelnder Humor, eine unübertreffliche Gabe der Darstellung komischer Scenen, eine feine Auffassung der Lächerlichkeit in Verhältnissen und Personen.

Um mit dem Letzten anzufangen, so sind unter seinen Schriften vor allem die „Reiseschatten von dem Schattenspieler Lux, 1811“ und das „Bilderbuch aus meiner Knabenzeit, 1849“ zu erwähnen. Enthält auch das Erstere Manches, was vor der jetzigen Kritik nicht Stand halten kann, manches Phantastische, das eine fast übermenschliche Flugkraft voraussetzt, so enthält es doch auch Scenen, die zu den gelungensten Producten deutschen Humors gehören.

Gehen wir zu den erstgenannten Charakterzügen Kerner’s über, dem Gefühl der Schwermuth, des Schmerzes, der Nichtbefriedigung, der Sehnsucht nach höheren Zuständen, woraus alles Andere – Liebe zur Natur, zu früheren Zuständen, Geisterseherei – als aus seiner natürlichen Quelle entspringt, so ist allerdings nicht zu verkennen, daß Kerner seinen Schmerz, seine Todessehnsucht zu dick und zu oft aufträgt, jedoch beizusetzen, daß er nicht jenen Weltschmerz, jenen Kainstempel hat, der immer nur sich als vom Blitzstrahl getroffen ansieht, sondern daß er diesen Schmerzenszug in der ganzen Menschheit sieht. Aus dem Elend dieses Erdenlebens hinauszukommen, in einem höhern Geisterleben die rechte Befriedigung zu finden, ist das Thema, das in vielen Variationen besungen wird.

Daß der Dichter bei dieser Gesinnung sich um so inniger an die ewig gleiche, von ihm beseelte und vergeistige Natur anschließt, daß er, wie Uhland, das Ritterleben glücklich preisen zu können meint und, wie die edlen Ritter, der süßen Minne pflegt und all’ seine Liebe in zarte weibliche Herzen legt, vor allem in das seiner 1854 verstorbenen Gattin (vergl. die an Zartheit ihres Gleichen suchenden Gedichte „An Sie“ in den „Winterblüthen“), die, wenn sie auch glücklicherweise seinem schwärmenden Gefühl den ordnenden Verstand entgegenhielt, doch Gefühl und Poesie genug hatte, um ihn zu verstehen und mit ihm zu empfinden, und so sein Haus zum anmuthigsten, liebenswürdigsten Sitze machte – das Alles sind nur Consequenzen aus unsern obigen Prämissen.

Nicht minder hängt auch Kerner’s Geisterseherei mit diesem Grundzug seines Wesens zusammen. Wem die Erde, das Körperliche so wenig, so nichts ist, der strebt mit vollen Segeln nach dem Geistigen und sucht, zumal wenn mit so viel Phantasie begabt, das Geisterleben, zu dem er sich noch nicht emporschwingen kann, zu sich herabzuziehen. Schon Strauß in seinen „friedlichen Blättern“, 1839, sagt: „Ueberhaupt ist Kerner der Magnetiseur und Geisterfreund nur aus dem Dichter zu begreifen.“ Ohne uns übrigens in dieses mystische Halbdunkel weiter hineinzuwagen, glauben wir bei aller Achtung vor Kerner’s Streben, ein Buch mit sieben Siegeln öffnen zu wollen, die Bemerkung nicht unterdrücken zu dürfen, daß hier, den ganzen Gemüthszustand des Dichters im Auge behalten, sehr viel Täuschung nothwendig mit unterlaufen mußte. Auch ist es sehr auffallend, daß, seitdem sich Kerner nicht mehr auf Geister legte, es auch keine mehr in Weinsberg gab.

Daß ein so gearteter Dichter, der noch dazu selbst sagt: „alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte; denn nur aus Veranlassungen aus meinem und meiner Freunde Leben habe ich sie gedichtet,“ sich in Romanzen und Balladen nicht so erging, als der mehr verständige, männliche Uhland, ist nicht zu verwundern. Doch gehören Kerner’s „Kaiser Rudolph’s Ritt zum Grab“, „der reichste Fürst“ und „der Geigner zu Gmünd“ zu den besten Dichtungen dieser Art. Dagegen zeichnen sich viele seiner Lieder durch den Charakter der Singbarkeit aus, wie ja auch mehrere („Schwarzes Band, o Du mein Leben!“ „ Dort unten in der Mühle“, „Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein“, „Preisend mit viel schönen Reden“) in allen Kreisen gesungen werden. Den Ton des Volkslieds versteht Kerner auf’s Beste zu treffen, und bekannt ist, daß sein Lied eines Handwerkburschen: „Mir träumt’, ich flög’ gar bange“ für ein altes Volkslied gehalten und als solches von Armin und Brentano in „des Knaben Wunderhorn“ aufgenommen wurde.

Bei einer Persönlichkeit von so ausgezeichneter Begabung, von so scharf ausgeprägten Eigenthümlichkeiten, bei einem Manne, der so durch und durch Original war, daß man sagen muß, einen Menschen wie Kerner trifft man in ganz Europa nicht, konnte es nicht fehlen, daß er bald die Aufmerksamkeit Deutschlands auf sich zog, daß sein Ruf die Grenzen Deutschlands überschritt. Hier ist daher [224] der Ort, einzelne Momente aus seinem Weinsberger Leben hervorzuheben, nachdem wir erst einige biographische Andeutungen über ihn gegeben haben.

Andreas Justinus Christian Kerner wurde am 18. Sept. 1786 zu Ludwigsburg, das er in den „Reiseschatten“ unter dem Namen Grasburg aufführt, als der Sohn des dortigen Oberamtmanns geboren. Im Jahre 1795 zog die Familie in das alte Cisterzienserkloster zu Maulbronn, wohin der Vater als Oberamtmann versetzt wurde. Nach dem im Jahre 1799 erfolgten Tode seines Vaters zog die Familie wieder nach Ludwigsburg, und hier erhielt nun Kerner regelmäßigern Schulunterricht; besonders nahm der dortige Diakonus und Dichter Philipp Conz sich seiner an. Nach seiner Confirmation kam er in die herzogliche Tuchfabrik in Ludwigsburg, und während sein lebhafter Geist für Poesie und Naturwissenschaften glühte, sollte er Geschmack daran finden, Tuchsäcke und Musterkarten zu machen und Indigofässer auszuklopfen. Das konnte auf die Länge nicht gehen. Er wurde diesem qualvollen Zustand besonders durch Vermittelung des inzwischen nach Tübingen beförderten Conz entrissen und bezog im Herbst 1804 diese Universität, um Naturwissenschaften und Medicin zu studiren. Im Jahre 1808 erwarb er sich den Doctortitel, verließ darauf die Universität und begab sich im Jahre 1809 auf Reisen nach Hamburg, Berlin und Wien. Bald nach seiner Rückkehr ließ er sich als Badearzt in Wildbad nieder. Eine Frucht dieses Aufenthaltes ist seine 1813 erschienene Beschreibung dieses besonders in neuerer Zeit berühmt gewordenen Schwarzwaldbades. Nachdem er einige Jahre in Gaildorf als Oberamtsarzt zugebracht hatte, wurde er 1819 in gleicher Eigenschaft nach Weinsberg berufen, und damit fing die glänzende Stellung, die er im Leben einnahm, an, damit seine für ihn selbst ebensowohl ehrenvolle, als für Weinsberg rühmliche und nützliche Thätigkeit.

Als Kerner nach Weinsberg kam, war man nahe daran, die schönen Quadersteine der Burg vollends zu Weinbergmauern zu verwenden, und ein elender Weinberg wurde im Innern derselben angepflanzt. Kerner’s Verdienst ist es, der Wiederhersteller der jetzt schön hergerichteten Burgruine zu sein. Er stiftete einen Weibertreuverein, veranstaltete in allen ihm zugänglichen Kreisen Sammlungen, klopfte an mancher hohen Pforte an und kehrte mit vollem Beutel davon zurück und ließ mit diesem Geld dem weitern Einsturze des Mauerwerkes vorbeugen, Wege und Gartenanlagen herrichten und in dem nordöstlichen Thurme, auf dem man eine so prachtvolle Fernsicht hat, Aeolsharfen anbringen.

Am Fuße der Weibertreu baute sich Kerner eine hübsche Wohnung und ließ an der Hinterwand eine Art Schweizerhaus erbauen, an welchem ein großes Christusbild am Kreuze hängt mit der Ueberschrift: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ An dieses Schweizerhaus stößt ein Blumengarten mit hübscher Laube und hohen weitästigen Zierbäumen. Er ist begrenzt von der alten Stadtmauer und von dem von der Gemeinde dem Dichter geschenkten Thurme, der unter dem Namen Geisterthurm bekannt ist. In der Mitte des Thurmes befindet sich das „Geisterzimmer“, das vollständig meublirt, mit zwei lebensgroßen Mönchsstatuen versehen und mit Glasmalereien geziert ist. Es ist im heißen Sommer zur Erweckung der schlaffen Geister ein sehr angenehmer, kühler Sitz. Von da geht man an einem steinernen Zwerg vorbei auf einer hölzernen Treppe auf die Plattform des Thurmes, über welcher ein Zeltdach sich erhebt. Hier hatte Kerner, als der Griechensänger Wilhelm Müller 1827 vor seiner Reise nach Griechenland, den Tod schon im Herzen, zu ihm kam, ihm zu Ehren eine Fahne mit den griechischen Nationalfarben aufgepflanzt. Hier saß Kerner mit „edlen Polensöhnen“, aus einem Becher mit ihnen trinkend, Freiheitslieder mit ihnen singend, mit ihnen weinend und hoffend für’s verlorene Vaterland.

Gegenüber vor seinem Wohnhaus, nur durch die Straße getrennt, hatte sich Kerner einen Garten von ein paar Morgen angekauft, der hauptsächlich für Obst- und Gemüsebau verwendet wurde. In der Mitte desselben befindet sich ein Gartenhäuschen, das drei niedliche Zimmerchen enthält und in denselben schon manchen interessanten Gast beherbergt hat. Einige Wochen lang wohnte hier der polnische General Rybinski, Monate lang Nikolaus Lenau, und wie oft hörte man um Mitternacht, wenn der ermattete Arzt und Dichter an der Seite seines „Rickele“ schon behaglich schnarchte, die verzweifelten Töne der Lenau’schen Geige, sei es in einem Zigeunertanz, sei es in einer Todtenklage, wilde und wehmütige Gefühlte austobend!

Es war eine schöne Zeit für Kerner, besonders die dreißiger Jahre. Er hatte sich durch seine Kunst als Arzt und Dichter nicht blos Ruhm und Achtung verschafft, sondern nach und nach auch irdische Güter erworben und eine behagliche Existenz sich gegründet. Seine „lyrischen Gedichte“ waren bei Cotta erschienen und erlebten mehrere Auflagen, die „Seherin von Prevorst“ war 1829 ausgegeben worden (der „letzte Blüthenstrauß“ 1853, die „Winterblüthen“ 1859), es war kaum ein Dichter in ganz Deutschland, der so viel Liebe genoß, so viel Interesse einflößte, so viele Verbindungen hatte. Kerner saß in Weinsberg wie ein Fürst mit einem kleinen Hofe. Er war damals ein rüstiger Vierziger, seine nächsten Freunde alle im besten Mannesalter. Das Dichterhaus in Weinsberg war nicht blos für die Jünger der schwäbischen Schule ein Sammelplatz, sondern für Personen aller Art, vom Fürsten bis zum armen Dorfschullehrer, von der Prinzessin bis zur geisteskranken Schuhmachersfrau, ein zweites Mekka. Da kam der ritterliche Graf Alexander von Württemberg auf feurigem Rosse angesprengt, hielt Nachtrast in dem gastlichen Hause, still seufzend an des Freundes Brust über den Druck, der auf ihm lag, und ritt am frühen Morgen mit verwegenem Reitermuth auf dem nur etwa sechs Fuß breiten Kranz des Thurmes auf der Weibertreu herum. Da gingen die anderen schwäbischen Dichter ab und zu, da kehrten Freiligrath, Geibel und wie sie alle heißen, wie in einer Zunftherberge ein. Es kamen kunstsinnige Prinzen, geheimnißvolle Diplomaten, stoffbedürftige Literaten, begeisterte Studenten, Liederkränze und Turner mit ihren frischen, fröhlichen Gesängen. Ohne Zahl aber kamen die zartfühlenden Frauen, die vor allen Dichtern einen Sänger liebten, der die Frauen so hoch hielt, der mit solcher Innigkeit die zartesten Gefühle des Herzens sang, der mit so feiner Hand über kaum vernarbte Wunden hinstrich, der mit jenem Selbstbekenntniß, das an dem Thurme auf der Weibertreu angeschrieben ist, ihnen so sehr schmeichelte. Es lautet:

„Getragen hat mein Weib mich nicht,
Aber ertragen;
Das war ein schwereres Gewicht,
Als ich mag sagen.“

Wie glücklich waren diese Frauen, wenn Kerner ihnen einen alten oder neuen Vers in ihr Album schrieb, wenn er in seiner freundlichen, wohlwollenden Manier sie in seinen Gärten herumführte, wenn er Nachts bei ausgelöschten Lichtern auf der Maultrommel spielte, der er so geisterhafte Töne zu entlocken wußte! Aber nicht blos in der Blüthezeit seines Lebens, auch noch in den letzten Jahren, wo er, vom Alter schon gedrückt, nur mit Mühe gehen konnte, sah man jeden Sommer Fremde aus den verschiedensten Ländern bei ihm: aus Irland, Spanien, Italien, der Türkei, Rußland, Preußen, Oesterreich, Lübeck, Hamburg.

Das ist offenbar ein Leben, wie es Wenige haben, ein schönes, reiches, volles Leben. Aber Alles hat seine Grenzen. Im Verlauf des letzten Winters nahmen seine körperlichen und geistigen Kräfte auffallend ab, und am 21. Februar 1862 trug ihn ein schmerzloser Tod unbewußt in das ersehnte Geisterreich.

Die Beerdigung fand statt am 24. Februar Vormittags 9 Uhr. Bürger der Stadt Weinsberg, der es so viel Gutes erwiesen, die er aus einem unbedeutenden Orte zu einer Stadt von europäischem Rufe erhoben hatte, trugen seinen Sarg. Es folgte eine große Schaar Freunde, manche ruhmvolle Häupter Schwabens, aus der Nähe und Ferne.

Als im Herbst 1858 auf die Nachricht, daß die Heilbronn-Haller Eisenbahn über Weinsberg geführt werden solle, in dem für diese Bahnrichtung sehr interessirten Heilbronn ein Bankett veranstaltet und Kerner dazu eingeladen wurde, schickte er, da er der Einladung nicht Folge leisten konnte, ein Gedicht an seine Heilbronner Freunde („Winterblüthen“ S. 135), dessen letzte Strophe lautet:

„Auf Weinsbergs Friedhof hebet sich mein Grab,
Wann mit dem Dampfroß ihr vorüberflieget,
Dann ruft, ihr Lieben: „Grüß Dich Gott!“ mir zu,
„Mein Geist fliegt mit euch, nicht vom Tod besieget.“

Wilhelm Müller.