Ob-Ost/Friedenswerk

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von Fritz Hartmann
Ob. östliche Presse
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VII. Friedenswerk
Hannover, den 15. November.

Was ich bisher geschildert, waren ausgesprochene Heereszwecke. Selbst die Entseuchungsmaßregeln für Land und Volk. Denn um unsere Feldgrauen gesund zu erhalten, mußte man die Einwohner gesund machen; ihre ortseingesessenen Ansteckungsherde ausrotten.

Aber bald schon begann man auch, Kulturarbeit um ihrer selbst willen zu betreiben.

Vor mir liegt eine amtliche Druckschrift: „Grundlegende Richtlinien für die Wiederbelebung des Schulwesens.“ Unterzeichnet: „Der Oberbefehlshaber Ost, von Hindenburg.“ Abermals frage ich: Hättest Du Dir je träumen lassen, daß dieser Säkularmann sich auch um Unterrichtsstoff und Lehrsprache, Schulinventar und Klassenbesuchsziffer, Kurzstunde und Zimmerlüftung kümmere?

[51] Es sah übel aus. Von hundert Einwohnern konnten neunzig weder lesen noch schreiben. In den Wirren der Einmarschwochen schlossen auch noch die wenigen vorhandenen Schulen ihre baufälligen Bildungspforten. Man mußte völlig von vorn anfangen. Völlig.

Schulinspektionen wurden eingesetzt. Sie stöberten die vorhandenen Lehrer auf und nahmen sie in Pflicht und Eid gegen deutschfeindliche Wühlerei. Wo es mangelte, sprangen Feldgraue ein. Die vorhandenen Klassenräume wurden auf Licht, Luft und Sauberkeit geprüft, unverbesserliche Trübsalshöhlen ausgeschaltet.

Bis zum Schulzwang hat man noch nicht vorschreiten können. Wer aber sein Kind angemeldet hat, ist auch für dessen regelmäßiges Erscheinen haftbar.

Lehrsprache soll die Muttersprache sein. Das sagt sich so. Aber wie viele Muttersprachen gibt es in diesem Ob. östlichen Zungenbabel? Deutsch, Polnisch, Litauisch, Lettisch. Weißrussisch, Jiddisch und Russisch! Einzig die letztere fiel aus. Sie darf nur während der Übergangszeit noch in den höheren Schulen wahlfrei gebraucht werden.

Im amtlichen Verkehr hat das Moskowitische [52] keine Stätte mehr. Hingegen ist von der untersten bis zur obersten Schulstufe das Deutsche eingeführt. Es wird den Kindern nach der naturgemäßen Art beigebracht; nicht übersetzend, wie bei uns immer noch das Französische, sondern sprechend wie in den Berlitz-Kursen. Wir konnten in Wilna die Früchte einjährigen Unterrichts prüfen. Die Dreikäsehoche plapperten unbefangen drauf los; Mädels dreister als die Jungen; am flottesten die regsamen Jüdinnen. Bei einlaufenden Beugungsschnitzern erscholl das überlegene Gelächter der Besserwisser und flackernde Fingerchen schwirrten empor zur Richtigstellung. Bis zur Entlassungsreife soll die fehlerreine Denksprache erzielt sein.

Schon Hunderte von Volksbildungsanstalten sind auf Grundlage eines zeitgemäßen Lehrplanes errichtet. Auch jüdische. Solche gab es bisher überhaupt noch nicht. In den Chederschulen wurde nur Religion und Hebräisch gedrillt; freilich täglich acht bis zehn Stunden lang. Die Schüler saßen mit den Mützen auf dem Kopfe in der Wohn-, Schlaf- und Kochstube des Lehrers. Man hat in Bialystok allein ihrer 55 festgestellt.

[53] Das bringt mich auf die religiösen Dinge. An diese mußte sehr behutsam angegangen werden. Denn alle Bekenntnisse sind sehr fromm und durch ihre Geistlichkeit mit einem Fingerwink beeinflußbar. Die russische Popenschaft ist allerdings im ganzen Lande bis auf zehn ausgekratzt, während Wilna allein schon zwölf orthodoxe Kirchen besitzt und das Gebiet gegen hunderttausend Griechisch-Katholiken zählte. Aber das sind meist weißrussische Zwangsbekehrte, die in Wahrheit der uniatischen Richtung angehören und den Russen gründlich abhold sind.

Der größte Teil der Bevölkerung, die Polen und Litauer, sind römisch-katholisch. Ihre Klerisei hat sich mit uns auf guten Fuß gestellt und hält ihre Leute zum Gehorsam gegen die deutsche Obrigkeit an. Man zahlt ihnen die Gehälter ruhig weiter. Am wenigsten Mühe macht das lutherische Kurland. Dort wurde einfach das Mitauer Konsistorium, wie es ging und stand, in unsere Verwaltung eingegliedert. Es atmete erleichtert auf bei dem befreienden Übergang.

Auch die Kunstmusen haben unter den deutschen Waffen längst schon ihre Sprache wiedergefunden. Sie genießen freundliche Pflege. Das [54] polnische Theater in Wilna macht annehmbare Geschäfte. Ein deutsches hat sich soeben aufgetan. Wir sahen dort „Martha“. Gern hätten wir das jiddische besucht; allein es spielt nur Sonnabends nach ausgebetetem Schabbes.

Die deutsche Bühne in Kowno scheut sogar vor dem szenischen Drum und Dran von „Wallensteins Lager“ nicht zurück. Sie gab das Stück am Jahrestag der Erstürmung mit einem schwungvollen Vorspruch Herbert Eulenbergs. Außerdem erfreuen sich überall Reformlichtspielhäuser regen Besuches.

Barbaren, wie wir nun einmal sind, haben wir ferner sachverständige Denkmalspfleger eingesetzt. Von ihnen sind alle Kunstgegenstände des Landes wissenschaftlich aufgenommen worden. Nicht wie einst von Napoleons Denon, um für die Heimat ausgeplündert zu werden, sondern um sie an Ort und Platz unter unseren Schutz zu nehmen. Ein deutsches Jahr hat auch hier wieder mehr geleistet als ein russisches Jahrhundert. Professor Clemen konnte in mehreren Zeitschriften über den Befund berichten. Zu allem Sehenswerten wurden wir geführt; in Wilna ging über der Besichtigung der Kathedrale, Ostrabrama, [55] Kasimir-, St. Annen- und anderer Kirchen, wie des grobschlächtigen Barocks merkwürdiger Profanbauten ein ganzer anregender Vormittag hin. Es freute uns, zu sehen, wie diese feldgrauen Kunstgeschichtler bereits überall zu Hause waren in der vor kurzem noch so fremden Stadt. Die polnische Geistlichkeit erwartete uns stets an den Portalen, begrüßte uns mit artigem Handschlag und ergänzte die Vorträge unserer Führer in meist recht annehmbarem Deutsch.

In den Archiven wird mit gleicher Sorgfalt gearbeitet. Es sind schon wertvolle Geschichtsquellen erschlossen. Das kurländische Provinzialmuseum konnte man unter seiner von altersher deutschen Leitung belassen. Es enthält neben wertvollen Antiken auch die ganze tahitische Sammlung Reinhold Forsters. Außerdem vieles Denkwürdige aus der baltischen Vergangenheit. Namentlich den anderthalben Kettler-Jahrhunderten und den bewegten Tagen Ernst Johanns von Biron. Wir sahen diesen vorletzten Herzog Kurlands in der Gruft des Mitauer Schlosses. Der Sargdeckel ist abzuheben. Eigene Gefühle beschlichen mich bei dem Anblick des Mannes, der da wohlerhalten im schwarzsamtnen [56] Staatskleid mit dem Andreasstern auf der Brust und der Puderperücke auf dem Haupte vor uns ruhte ...

„Da liegen sie, die stolzen Fürstentrümmer,
Einstmals die Götzen dieser Welt.“

Bei Ernst Johann trifft diese zeitgenössische Grimm- und Verachtungsode Schubarts zu. Zuerst begünstigter Liebhaber und allmächtiger Günstling der Zarin Anna, dann gestürzt und nach Sibirien verschickt, später begnadigt und nach viel weiteren Torheiten zweiundachtzigjährig in der Heimat entschlafen. „An seinen Sünden tragen wir heute noch,“ sagte ein uns begleitender Balte.

Auch der staatlichen Büchersammlungen hat man sich angenommen. Sie machen den Eindruck, als ob irgendein General Knutosow oder Gamaschewski mit ihrer Oberleitung beauftragt gewesen wäre. Der Aufstellung ist nämlich militärische Eigenart nicht abzusprechen. Fein säuberlich nach der Größe und innerhalb des gleichen Formats nach der alphabetischen Reihenfolge der Druckorte. Im Gymnasium zu Bialystok ist wenig dazugekommen, seit vor 110 Jahren die Preußen das Land verließen. Die meisten [57] Bücher ziert noch das feingestochene Besitzzeichen: „Ex bibliotheca novae Borussiae orientalis“.

Der deutsche Stadthauptmann von Wilna hat sofort einen neuen Ortsplan aufnehmen und veröffentlichen lassen. Er war bereits im vorigen Januar vollendet; wenige Monate nach der Besetzung. Auf ihm ist alles Russische ausgemerzt. Auch die Straßennamen sind deutsch und zieren auf reinlichen Schildern die Eckhäuser. Übrigens ist ebenso in den anderen Städten gründliche Umtaufe veranstaltet. Kaiser-Wilhelm-, Hindenburg-, Ludendorffstraße, Litzmann- und Siemensplatz – man käme sich wie daheim vor, wenn die schmierigen Schafspelze nicht wären und die überwiegende Fülle der scharfgeschnittenen langbärtigen Judengesichter.

Ich komme noch einmal auf den Bialowieser Forst. Auch aus ihm wird nicht nur geholt, auch ihm bestrebt man sich zu geben. Die Russen hatten nach ihrer Weise alle Karten verschwinden lassen. So wurde eine neue Vermessung befohlen. Eine ungeheure Arbeit, wobei es an heiteren Einblicken nicht fehlte. Im heiligen Rußland gibt es nämlich nicht nur Potemkinsche Dörfer, sondern auch Potemkinsche Wälder. Mitten aus manchem [58] Jagen waren sattsame Holzmengen herausgehauen; dergestalt, daß nur täuschende Baumkulissen ringsum die Lichtung verkleideten. Viele solcher Kahlschläge haben wir schon wieder angebaut. Es sind auf gegen 500 Morgen Zapfensaaten gelegt oder Eicheln eingestuft.

Binnen sieben Monaten hatte Hauptmann L. den Urwald Geviert für Geviert abgeschritten. Eine ebenso mühsame wie gefährliche Sache. Denn der Forst steckte voll von Wilderern, Kosaken, Nachzüglern und entsprungenen Gefangenen. Es ergab sich, daß er von den Russen eigens als Stelldichein bestimmt war. In einem der vielen Gefechte, die man liefern mußte, wurde ein feindlicher Offizierstellvertreter erschossen. Bei seiner Leiche fand sich ein lehrreiches Taschenbuch. Danach hatte er den Auftrag, alle Versprengten zu sammeln. Wer eintraf, wurde nach Namen und Truppenteil verzeichnet. Auch ob er Waffen und Schießbedarf bei sich trug. Die Wiedervereinigten hat er truppweise abgeschoben. Für die anderen waren im Dickicht warm gepolsterte Unterstände angelegt. Sogar eine Kapelle fehlte nicht, und hohle Bäume dienten als Patronenlager. Nahrung gab das überzahlreiche [59] Rotwild. Sollen doch gegen 10000 Hirsche vorhanden sein. Hauptmann L. erzählte, daß er auf seinen Gängen fast täglich beschossen worden sei. In einem dieser Treffen hat er 17 Schuß verfeuert. Aber am nächsten Tage setzte er seine Vermessungsarbeit ruhig fort.

Sollte man es glauben, daß manche unserer Leute auszogen mit dem Gewehr am Riemen und dem Schmetterlingsnetz in der Hand? Denn der verwaltungsmäßigen Aufnahme ging die wissenschaftliche Durchdringung zur Seite. In den oberen Räumen des Bialowieser Jagdschlosses ist bereits ein reichhaltiges Museum zusammengetragen. Sorgfältig hergerichtete Wisentgerippe und Vogelbälge, ganze Käfer-, Raupen- und Schmetterlingssammlungen; Musterstücke von Baumkrankheiten und Holzentartungen: Gräser- und Farrenherbarien. Anschaulich aufgebaut; jedem Kenner zur Lehre, aber jedem Deutschen zum hellen Stolz.

Es ist ein prachtvoller naturfrischer Schlag, diese oberbayerischen Forstleute, die dort vorwiegend am Werke sind. Weitsichtig, zielsicher, handfest, urwüchsig. Sie vermissen ihre Berge, fühlen sich aber kreuzwohl im übertragenen [60] Dienst. Der Fachmann beirrt den Menschen nicht. Wir haben einen von Schnadahüpferln durchjodelten Abend mit ihnen verlebt. In denselben Räumen, in denen sich vordem der Zar von Rasputin mystisch erleuchten, d. h. verdunkeln ließ.