Zwei Leseabende in der Stadt der Intelligenz
Die Herrschaft der Gräfin Lichtenau war vorüber. König Friedrich Wilhelm der Zweite von Preußen war gestorben, und das Volkslied: „Heil Dir im Siegerkranz“, von dem Holsteiner Dr. jur. Schumacher[WS 1] gedichtet, zum ersten Mal bei der Rückkehr des Königs aus dem Feldzuge in der Champagne, während der erstmaligen Durchfahrt durch das von Langhans erbaute Brandenburger Thor gesungen, ertönte nun zu Ehren seines Nachfolgers, des Königs Friedrich Wilhelm des Dritten. Rosenkreuzer und Illuminaten suchten das Weite, denn ihre Zeit war abgelaufen. Aber der Wahlspruch der Berliner, der während der Regierung des nun verstorbenen Königs zur vollen Geltung gekommen war, daß man leben und leben lassen müsse, sollte noch für längere Zeit seine Geltung behalten.
Während indeß der Luxus und die Sucht nach Vergnügungen zu einer fabelhaften Höhe gestiegen waren und eine geschmacklose Frauenrobe, mit ihrer zehn Ellen langen, mit Perlen und Diamanten besetzten Schleppe, nicht selten einen reichen Mann zum Bettler machte, verschlossen die Gebildeten, die Besseren im Volke sich nicht dem Einfluß der Ideen, die, nach der Revolution von Frankreich herüberkommend, Erziehung, Sitte und Lebensart umzugestalten strebten. Berlin vor Allem trachtete darnach sich zur Großstadt auszubilden. Kunst und Wissenschaft, Poesie und Leben knüpften sich aneinander und suchten sich gegenseitig zu ergänzen und zu fördern. Man strebte darnach das Leben künstlerisch zu gestalten und die Phantasiebilder der Romantiker in die Wirklichkeit zu versetzen. Es war ein Haschen und Jagen nach neuen Ideen und neuen Lebenselementen. Der befruchtende Hauch neuer Ansichten und Formen, der, aus den vergossenen Blutströmen der französischen Revolution auftauchend, einer Frühlingslerche gleich, über Deutschland dahinzog, fand im intelligenten Berlin ein wohlbeackertes Feld zur Bergung des Samens. Moses Mendelssohn, Lessing, Kant hatten nicht vergebens ihre Worte erschallen lassen; Schiller’s Don Carlos war längst über die Breter gegangen, und Emilie Galotti hatte sich bereits zum Liebling des Publicums gemacht. Unter solchen Umständen konnte es nicht fehlen, daß die Langweiligkeit und Nichtigkeit des bisherigen geselligen Lebens auf das Tiefste erkannt wurde und das man sich nach einem gegenseitigen Austausch der Meinungen und Ideen sehnte. Das Wort, in edelster Bedeutung, strebte darnach an das Licht des Tages zu treten; es trachtete zur vollen Geltung zu kommen; es drängte aus dem Dunkel der Studirstuben hinaus das Leben zu verschönen und mit tieferem Gehalte zu versehen.
Ein anhaltenderes Eingehen in die vorhandenen Schätze der deutschen Literatur wurde der Grundstein zu einer Umwandlung der Zeit, ihrer Ideen – und ihres bisherigen Strebens. Und wie es in dem Leben eines jeden Menschen eine Zeit giebt, wo das Blut rascher schlägt und der brausende Schaum einer himmelanstrebenden Jugend alle Formen und Schranken zu überspringen droht, um später ruhiger und gesetzmäßiger in gebahnte Wege einzulenken: so auch mußten in der Literatur die Romantiker kommen, um mit ihren Extravaganzen den brausenden Schaum jener Lebenszeit zu repräsentiren.
Tieck’s gestiefelter Kater und Novalis’ Ofterdingen waren die Pole dieser Richtung, die im Hause der berühmten Henriette Herz gleichsam ihre Strahlen concentrirte. Hier zur Seite und zu den Füßen der schönen Frau waren die Ideen der Romantiker zum Lebenselement geworden. Was dies Haus bislang jedoch nur den Eingeweihten gewesen war, sollte nun auch einem größeren Kreise zu Theil werden. Man wollte gleichsam einen Schritt weiter in die Oeffentlichkeit hinaus thun, und Feßler, der Meister vom Stuhl der Hauptloge Royal-York zur Freundschaft in Berlin, gründete eine Lesegesellschaft, deren erste und Haupttheilnehmer die Gäste und Freunde des Hauses Herz waren. War sein früher von ihm gestifteter Verein und Bund der Energeten, der einzelnen seiner Mitglieder so überaus verderbenbringend wurde, auf Politik und Staatsreformen abgesehen, so bezweckte dieser sein Leseverein nur das, was der Name besagte: man kam zusammen, um die Meisterwerke der Literatur zu lesen und durch ein gegenseitiges Besprechen des Gelesenen ein tieferes Verständniß desselben herbeizuführen. Das Treiben im Hause der Herz wurde in harmlosere Bahnen gelenkt. Und wie einfach, ruhig waren die Zusammenkünfte dieses Vereins!
Es ist ein rauher, kalter Winterabend des Jahres 1800. Von allen Enden und Gegenden der Stadt haben die einzelnen Mitglieder sich nach der Mohrenstraße aufgemacht, trotz Sturm und Wind, Regen und Schnee die kleine Blendlaterne vor sich tragend, um derart so viel als möglich die Regenpfützen in den schlecht oder gar nicht gepflasterten Straßen vermeiden zu können und im sogenannten Englischen Hause daselbst in einem langen, einem Handtuch gleichenden Saal bei dem Schimmer weniger mattleuchtender [31] Talglichte, ohne Eleganz und Bequemlichkeit, einen Leseabend zu verbringen.
Emilia Galotti soll noch einmal von einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft gelesen werden. Professor Feßler, als Schriftsteller bekannt und als genialer Mensch berühmt, steht, als Gründer des Vereins und als Vorsitzender desselben, im Anfange an der Thür, gleichsam als wolle er die eintretenden Häupter seiner Lieben zählen. Bunt, wie es Zufall und Laune gegeben, haben die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft Platz genommen.
Fleck, der geniale Fleck, die Zierde der Nationalbühne, der auf den Bretern so meisterhaft spricht und dessen Leseton in der Gesellschaft doch so häufig das tiefere Gefühl vermissen läßt, liest Don Odoardo, während die Emilia von der graziösen Unzelmann gelesen wird, der übrigen Mitlesenden nicht zu gedenken. Feßler hat am obersten Ende des Tisches Platz genommen. Nicht fern von ihm, ein wenig im Halbdunkel, zurückgezogen sitzt Henriette Herz, ihre classische siegreiche Schönheit auch hier unbewußt zur Schau tragend; während Alexander Graf von Dohna-Schlobitten, der Minister, in ihrem Anschauen versunken, wie hingeworfen zu ihren Füßen, an ihrer Seite ruht; indeß Schleiermacher mit seinem markigen, ausdrucksvollen Gesicht hinter ihrem Stuhle steht, den er, seiner Kleinheit und seines gedrungenen, etwas verwachsenen Körpers wegen, kaum ein Weniges überragt. Dorothea Veit, die Freundin, sitzt am jenseitigen Ende des Saals. Sie scheint mit ihren Gedanken abwesend zu sein – sie blickt träumend, wie in sich selbst versunken, nieder. Denkt sie an Friedrich Schlegel, der abwesend ihr doch ihr ganzes Herz und Empfinden gefangen nimmt? Fischer, der gewaltige Bassist lehnt am Tisch; wo auch Hirt, der Günstling der Lichtenau, der Kunstkenner, Platz genommen, seine weißseidene, mit Gold gestickte Weste, mehr als nöthig, zur Schau tragend, während er zugleich die Beine weit vorgestreckt hält, damit jeder der Anwesenden Gelegenheit hat, die prächtigen, theuren Schnallen seiner mit rothen Absätzen versehenen Schuhe bewundern zu können; des Jabots und der Manschetten mit den feinsten Brüsseler Kanten geziert nicht zu erwähnen. Reichardt, der Capellmeister, geht in genialer Ungebundenheit und Ungeduld bald rechts und links, von einem Platze zum andern. Er hatte, wie im Leben, auch hier keine Ruhe. Joh. Fr. Bolt, der beliebte Kupferstecher, der vier Jahre später ein wohlgelungenes Portrait von Schiller zeichnete, lehnt an der Wand, die ganze Gesellschaft überschauend, als beabsichtige er alle die Charakterköpfe auf einem seiner beliebten Bilder zu verwenden. Schadow, der Schneidersohn vom Dorfe Saalow, der Bildhauer des Grabmonuments des Grafen von der Mark in der Dorotheenstädt’schen Kirche zu Berlin, der Urheber der prächtigen Statue des alten Ziethen, sitzt breitschulterig, starkknochig, so recht als ein Mann aus dem Vollen und dem Volk, mit übereinandergeschlagenen Beinen, den Blick starr auf die Leser gerichtet. Er ist ganz Ohr und zeigt ein tiefes Verständniß für das Gelesene. Später aber wird er seine Ansichten und Meinungen in einem Deutsch kundgeben, das Adelung als mustergültig nicht anerkennen wird. Schadow liebt es nun einmal, sein: „Det is jut und det is nischt“ überall, wo er es kann, anzubringen. Und wie Derflinger als Feldmarschall unter dem großen Kurfürsten seiner früher gehandhabten Schneiderrolle gern gedachte, so verleugnete auch Schadow sein Herkommen nicht und ließ nur zu oft, gleichsam damit kokettirend, den Ton des Elternhauses in seiner Rede durchblicken.
Jetzt aber, während eine Pause im Lesen eingetreten ist – öffnet sich die Thür und der Herzog von Sussex, vor einer Stunde nach Berlin gekommen, tritt ein. Er weiß die Gesellschaft heute hier versammelt und beeilt sich, wenn auch nicht an dem Lesevergnügen Theil nehmend, doch der verehrten Herz seine Aufwartung und Huldigung darzubringen. Er wußte es, daß er Allen ein gern gesehener Gast war. – –
Wie es aber heute der Fall war, an dem so eben geschilderten Leseabend der Feßler’schen Gesellschaft, wo dem Lesen noch eine sehr lebhafte Conversation folgte, so auch später, nachdem sich aus den bescheidenen Anfängen dieser Gesellschaft die später so berühmt gewordene Gesellschaft für in- und ausländische schöne Literatur herausbildete, mit allen mehr oder minder bekannten und berühmten Männern der Zeit als Mitgliedern. Die Mittwochs-Gesellschaft, wie dieser Verein gemeinhin genannt wurde und unter welchem Namen er am bekanntesten ist, obgleich er gemeinhin seine Versammlungen am Montag jeder Woche hielt, war und blieb für lange, lange Zeit – bis auch sie die Stürme der letzten vierziger Jahre hinwegfegten – der Centralpunkt des intelligenten Berlin. In ihr tagten die berühmtesten und angesehensten Männer der Zeit, und jeder Durchreisende von Bedeutung beeilte sich, als Gast in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Und wie die erste Versammlung im Englischen Hause sich zusammenfand, so haben auch alle nachfolgenden ihre Sitzungen in diesem Hause gehalten. Eine Geschichte dieses Hauses mit seinen Vereinen und Gästen, die es im Laufe der Zeit in seinen Räumen gesehen, würde zugleich eine Geschichte der Vereine und Vergnügungen, wie der Bestrebungen zur Bildung des gesammten Berlins abgeben.
Gedenken wir einer Versammlung auch dieses Vereins. Es ist der erste Montag im August des Jahres 1841. Der Schriftführer der Gesellschaft, Alexander Cosmar, der bekannte Redacteur und Herausgeber des Modenspiegels, der, wie Fama wissen wollte, mehr von seiner Frau als von ihm selber geleitet wurde, wie denn auch viele seiner kleinen Theatersachen nicht von ihm, sondern ebenfalls von der Genannten herrühren sollen, deren Anfangsbuchstabe ihres Namens, Alexandrine, nur zu leicht mit dem seinigen vertauscht werden konnte, – hat den einzelnen Mitgliedern durch Circular wissen lassen, daß Tieck in den nächsten Tagen nach einer Reihe von Jahren, wo er nicht in Berlin war, seine Vaterstadt wieder besuchen werde und daß ihm zu Ehren der Verein ein Festmahl zu veranstalten gedenke. Die Vorlesung, die von einem der Mitglieder an diesem Tage gehalten wurde, ist bereits vorüber und die Gesellschaft sitzt, wie sie während des Vortrags gesessen, noch beisammen, um ihre Meinung in Bezug des zu veranstaltenden Festmahls abzugeben.
Schien es doch überhaupt, als ob mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm des Vierten eine neue Aera für Kunst und Wissenschaft, wie für die deutsche Literatur begonnen habe. Rückert, Tieck waren nach Berlin berufen worden. Die Censur war überaus milde, und das Obercensurcollegium zeigte einen Freimuth und eine Freisinnigkeit, die in Erstaunen setzten. Jetzt kam die Frage zu Tage: wird Tieck sein schönes Vorlesertalent auch hier im Verein oder in seinem Hause, wie er es in Dresden seit Jahren gethan, ausüben? Holtei hatte in dem Saale des Englischen Hauses so oft seine Vorlesungen gehalten und in denselben sein schönes und glückliches Talent entfaltet, und es konnte nicht fehlen, daß in der Brust manches der Anwesenden der Gedanke sich breit machte: wird Tieck, der Meister in der Kunst des Vorlesens, den liebenswürdigen Vagabunden Holtei in den Hintergrund drängen?
Es war ein überaus lebhafter Abend; Gedanken und Meinungen jagten sich miteinander.
Wilibald Alexis dreht verlegen seinen kleinen polizeiwidrigen schwarzen Schnurrbart, blickt schüchtern auf und scheint erst jetzt zu bemerken, daß Karl Seidel, der Verfasser des etwas trockenen und nüchternen „Kreuzes in der Mark“, ihm zur Seite sitzt. Ein Gespräch muß begonnen werden, an welchem die Nahesitzenden: Philippi, Graff und Enslin, der Buchhändler, bald Theil nehmen. Eichendorff steht ans Fenster gelehnt. Es ist, als lausche er hinaus, ob nicht ein Posthorn von fern ertöne oder die Brunnen rauschen. Er scheint es träumend vergessen zu haben, daß er als wohlbestallter Regierungsrath im nüchternen Berlin ist und daß er eigentlich gegenwärtig kein Recht hat, seiner Poesie und seinen Träumen Audienz zu geben. Zeune, der Freund der Blinden, ist mit Hitzig in eifrigem Gespräch begriffen. Chamisso’s Name wird genannt und Beide gedenken der Zeit, wo der Dichter freudetrunken das Geld einsackte, das er im Verein zum Besten seiner alten Waschfrau für seine zwei Gedichte, die er für die Genannte hatte einzeln drucken lassen, eingenommen. Der gute Chamisso war niemals glücklicher gewesen, als in jener Stunde, wo der Verkauf jener zwei Lieder eine so namhafte Summe abwarf. Gaudy hatte vollkommene Ursache und ein Recht bei dem Tode des Verfassers des Schlemihl zu rufen: „Mein Chamisso! mein Chamisso ist todt!“ Auch der burschikose offene Gaudy war hinüber; er konnte nicht mehr, wie er dies noch kurz vor seinem Tode gethan, laut und vernehmlich seine Mißbilligung über die Länge und Langweiligkeit eines eben vernommenen Vortrags kund geben. Er schlief den ewigen Schlaf auf dem Kirchhofe vor dem Halleschen Thore.
[32] Streckfuß, der Uebersetzer des Tasso und des Ariost, saß plaudernd und debattirend mit Gruppe zusammen, während August Kopisch seine Worte neckend dazwischen warf, als liebe er es auch hier seine Wichtelmännchen und seinen Hausgeist: „Hätchen!“ walten zu lassen.
Gubitz lehnt unwohl am Tisch; seine Worte, die er an Ludwig Rellstab richtet, kommen etwas gezwungen heraus. Vielleicht gedenkt er der Zeit, wo in den ersten Tagen des Vereins Fleck, sein Schwiegervater, in diesem Hause sprach und las.
Rauch sitzt zurückgelehnt im Stuhl. Er freut sich sichtbar der Ankunft Tieck’s und hofft, schöne Abende an seiner Seite und in seiner Gesellschaft zu verleben. Viele Andere, mehr oder minder Berühmte, sind noch zugegen. Auch jüngere Genossen fehlen nicht. E. Ferrand, der jugendliche Sänger der Liebe, steht bescheiden im Hintergrund. Sein Auge ruht voll Verehrung und Liebe auf dem Angesichte Eichendorff’s. An seinen Freund Hermann Kletke sich wendend, schildert er in beredten Worten, mit volltönendem Organ jenen Vorlese-Abend, den er im Hause Tieck’s zu Dresden erlebt.
Wer ahnte und glaubte, daß auch dieser Sänger bereits im nächsten Jahre in das Grab steigen würde! Die Hoffnungen, welche die Ankunft Tieck’s erweckt hatte, gingen dem größten Theile nach nicht in Erfüllung. Wohl erfreute er von Zeit zu Zeit noch einzelne seiner Freunde und Bekannten durch eine Vorlesung, aber seine Blüthezeit war dennoch vorüber und die ihm seit langer Zeit innewohnende Krankheit beugte Geist und Körper nieder.
Auch Rückert fühlte in Berlin sich niemals wohl, wie ja der bei der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm des Vierten erhoffte Frühling sich als das letzte gelb und roth gefärbte Blatt eines Herbstes kund gab. Es war das letzte Aufglimmen der Leuchte der Romantiker.
Die neue Zeit mit ihren gährenden und brausenden Ideen, Hoffnungen und Wünschen löschte auch diese Flamme aus und streute das Blatt in den Wind. Die Harmlosigkeit der Vereine war vorüber; die Sonne einer anderen Zeit begann ihre Morgenröthe leuchten zu lassen.
Ist sie eine bessere als die damalige?
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ vergleiche dazu Wikipedia: Heil dir im Siegerkranz